Das Schicksal Mittelerdes (RPG) > Gortharia
Im Untergrund von Gortharia
Curanthor:
Dragan, Tiana, Kenshin und der Fuchs aus den Straßen von Gortharia
Dragan saß mit hochgelegten Füßen an einem Tisch und kaute gelangweilt auf einem Strohhalm herum. Mit zusammengekniffen Augen blickte er zu Tiana, die seit Wochen über Karten brütete, Bücher wälzte und gelegentliche Besucher begrüßte, mit denen sie sich dann für mehrere Stunden in einen abgelegenen Raum verzog. Was dort besprochen wurde, wollte sie ihm nicht verraten. Dass es eindeutig um die Angelegenheiten des Zirkels ging, verrieten die Masken der Besucher, welche meist ausdruckslose Gesichter zeigten. Einmal hatte er sogar Ivailo, seinen Vater mit der Wolfsmaske gesehen. Sie hatten es gekonnt vermieden miteinander zu sprechen. Seitdem sie vor einigen Wochen ein Gemetzel auf einem öffentlichen Platz mit den Goldröcken hatten, versteckten sie sich nun. Dragan stieß entnervt die Luft aus und musterte Kenshin, der gerade die lange Treppe zu dem Versteck herunterstieg, die Arme beladen mit Vorräten, die ein Zirkelmitglied alle zwei Trage in einem Lagerhaus in der Nähe versteckte. Der Krieger nickte ihm respektvoll zu und verschwand in dem Nebenraum, den sie als Küche benutzten. Dragan wusste, was als nächstes geschehen würde: Kenshin kreuzt mit mehreren Bechern Tee auf und Tiana beendet just in dem Moment ihre Besprechung. So kam es auch. Die beiden Türen zu den anliegenden Räumen fielen fast gleichzeitig zu. Tiana verabschiedete gerade sich von zwei Zirkelmitgliedern, die er schon öfters gesehen hatte. Er erkannte sie mittlerweile an der Art, wie sie sich bewegten. Er schätzte sie auf knapp dem Jugendalter entsprungen. Die zwei antworteten ihr, wobei er den Dialekt heraushörte, den sie sprachen. Es kam ihm seltsam vertraut vor. Tiana setzte sich zu ihm an den Tisch, Kenshin stellte die dampfenden Becher vor ihnen auf den Tisch. Dragan war den Geschmack des heißen Tees inzwischen gewöhnt und hatte verstanden, warum der Krieger anfangs immer so viel Zucker in seinen Becher geschaufelt hatte. Bei dem Geschmack war das auch manchmal nötig. Seine Aufmerksamkeit wurde von dem Fuchs auf sich gelenkt, da die noch immer spärlich gekleidete Frau sich an das Kopfende saß. Bisher war sie immer in den Besprechungsraum geblieben. Dort hatte sie sich eine Ecke mit einem Vorhang abgetrennt und wohnte scheinbar dort.
Tiana räusperte sich, als Dragan den Fuchs immer weiter anstarrte, die sich sichtlich unwohl unter seinem stechenden Blick fühlte.
"Es ist soweit, euch in meine Planungen einzuweihen", verkündete die Tavernenbesitzerin schließlich und nickte zum Fuchs, "Durch ihre Hilfe ist der Auftrag überhaupt möglich geworden."
"Und wer ist sie? Ich sehe keine Ohren, als ist sie mit Sicherheit kein Fuchs", warf Dragan ungehalten ein. Ihn nervten die ewigen Decknamen.
"Ich bin Nerassa, oder Nera ganz wie du willst, Dragan", stellte sich der Fuchs schließlich vor.
"Woher kennst du meinen Namen?", zischte er sofort und packte seinen Dolch fester. er hatte seinen Gefährten verboten ihn weiterzugeben und sich selbst nicht vorgestellt. Sein Misstrauen war geweckt.
"Jeder in Govedalend kennt den Sohn Ivailos, der einst den Bauern etwas Gutes tat und dafür ins Exil geschickt wurde. Das Volk vergisst so etwas nicht", erwiderte sie eindringlich.
Dragan horchte auf und blickte zu Tiana. Sein anfängliches Misstrauen war verflogen.
"Und was hast du damit zu tun? Warum ist Nera mit dabei? Was ist das für ein Auftrag? Geht es um Cheydan?"
Es wurde kurz still in dem Raum, bis auf Kenshin, der an seinem Becher schlürfte.
"Ja, das tut es, Dragan", sagte Tiana schließlich leise und nickte dem Fuchs zu, "Nerassa war lange Zeit in den Reihen der fürstlichen Attentäter. Der Wolf hatte einst den Zirkel um Hilfe gebeten und hat sich dafür voll in seine Dienste gestellt. Er hat viele Randgruppen ausgebildet, alte Beziehungen genutzt, auf die wir nun ebenfalls Zugriff haben. Das zahlt sich langsam aus. Meine treue Freundin Nera hier, war in Draganhrod und ist erst wenige Tage vor unseren Zusammentreffen in Gortharia eingetroffen."
"Inzwischen hat sich aber viel getan", fuhr Dragan dazwischen, "Ein Fürst ist vor kurzem getötet worden, Anschläge erschüttern die Oberschicht und wir sitzen hier unten im diesen Loch legen die Hände in den Schoß. Die anderen Geheimniskrämer sind schon lange dabei dieses Pack von ihren Posten zu jagen -..."
"- Und das werden wir nun auch tun", unterbrach Neressa ihn scharf, "Der Zirkel hat viele Jahre geschlafen, hat sich ausgebreitet wie ein Geschwür und alle Bevölkerungsschichten durchdrungen. Es gibt mehrere Kreise, die sich erst richtig anpassen mussten, rund werden, sich der natürlichen Ordnung hingeben. Es hat viele Jahre gedauert alle nötigen Steine in Postion zu bringen. Während Ihr fast zwei Jahre in Govedalend auf den Feldern gearbeitet habt, Dragan, habe ich Leute getötet, die es nicht verdient haben und viele Dinge getan, auf die ich nicht stolz bin..."
Die grünen Augen von Neressa blitzten unheimlich bedrohlich auf, sodass Dragan seine Füße vom Tisch nahm. Diese Frau meinte alles was sie sagte ernst, fuhr es ihm durch den Kopf.
"In der Zeit habe ich viel gelernt und Leute in Positionen gebracht. Bald zahlt sich die ganze Arbeit aus, all die Mühen und all die Opfer, die nicht wussten, wofür sie geopfert wurden. Der Preis ist hoch, aber das Gut der Freiheit wiegt immer mehr als jegliche Opfer, seien sie noch so unschuldig! Dieses Geschmeiß hat diese Land viel zu lange beherrscht! Sie treten auf die kleinen Bürger und pressen den Bauern immer mehr Abgaben ab und in ihrer überheblichkeit sehen sie nicht, dass sie alle gegen sich aufbringen. Und das werden wir sein! Wir werden den Rest aufbringen, der sich nicht traut. Das Blut wird in Draganhrod fließen, wie der Zorn des Meeres in den Straßen von Gortharia gewütet hat. In dem Blut werden die Köpfe der Fürsten rollen und die, die ihnen blinden Gefolgsam geschworen haben, werden in diesem Strom untergehen!"
Nerassa hatte sich so in Rage geredet, dass sie mit gezogenen Dolchen vor dem Tisch stand. "In Govedalend wird es beginnen!", schloss sie wütend und rammte den Dolch in die Karte, nagelte diese an den Tisch.
Dragan hob vorsichtig den Blick und erkannte, dass sie genau die Fürstenstadt getroffen hatte. Seine Heimatstadt. Also geht es zurück nach Hause, dachte er sich.
"Cheydan ist dort", sagte Tiana nun ruhiger, "Vakrim, der Fürst von-.."
"Ich weiß wer er ist", knurrte Dragan plötzlich mit kaum beherrschter Wut, "Der, der mein Fürstentum genommen hat. Und der, der die Bauern unterdrückt, wie Nera es berichtet hat. Was macht sie dort?"
Nerassa antwortete an Tianas Stelle: "Ich habe sie dort gesehen. Vor ein paar Wochen. Einige in der Führungsebene befürchteten Unruhen. Es gab Geflüster. Sie war unerkannt in den Diensten von König Goran und ist scheinbar aufgeflogen. Dann wurde plötzlich eine Leiche gefunden, von der sich niemand erklären konnte, woher sie kam. Dann fiel der Verdacht auf sie. Ich habe nicht lange mit ihr sprechen können damals. Sie war in einem Gefangenentransport nach Govedalend um dort auf den Feldern zu arbeiten. Scheinbar hat man ihr diesen Mord angehängt."
"In Govedalend wird der gesamte Zirkel zuschlagen", schaltete sich Tiana wieder ein, "Vakrim bedrängt die Bauern dort schon zu lange. Die Abgaben sind so hoch, dass sie nicht mehr ihre eigenen Familien ernähren können. Das verursacht Unzufriedenheit. Unzufriedenheit, die wir nutzen können. Und die wir auch nutzen werden. Vakrims Kopf wird auf einer Lanze aufgespießt werden und auf dem Platz des goldenen Drachen ausgestellt."
"Wie wollte ihr das machen?", warf Kenshin überraschend ein, sodass die Drei ihn anblickten, "Die Oberen fürchten sich. Menschen tun unbedachte Dinge, wenn sie Angst verspüren. Sie sind unberechenbar. Den Kopf eines Fürsten vor dem Königspalast aufspießen? Das klingt anmaßend."
Dragan platzte der Kragen. Die vielen Wochen der Untätigkeit rächten sich nun.
"Vakrims Kopf wird noch blutend dort für alle zu sehen sein!", polterte er los, "Besonders für König Goran, der mir mein rechtmäßiges Erbe weggenommen hat. Dann weiß er, dass er der Nächste ist. Bis dieses elende Königreich am Ende ist."
Wieder trat eine Stille ein. Kenshin schien noch immer nicht überzeugt, schweig aber und trank seinen Tee. Tiana wirkte zufrieden und tauschte mit Nerassa vielsagende Blicke. Dragan hingegen juckte es schon lange in den Fingern wieder seine Heimat zu bereisen. Doch mehr noch, wollte er seine Liebe wiedersehen und sie den Klauen der regierenden entreißen. Der Gedanke an Cheydan beruhigte in wieder. Seine Atmung normalisierte sich wieder.
"Gut, dann denke ich, dass wir diesen Auftrag ruhigen Gewissens annehmen können", verkündete Tiana und blickte jeden in der Runde abwechselnd an.
"Und was ist das Ziel? Kenne deinen Ziel und der Weg erleuchtet sich von alleine.", warf Kenshin ein.
"Der Sturz von Vakrim und der Zusammenbruch der Nahrungsversorgnung aus Govedalend." Nerassa hatte sich erhoben und deutete auf die Karte. "Tianas Taverne erhält bald eine Lieferung Brandwein aus ihrer Heimat. Die Fässer, die wieder zurückreisen, werden mit kleinen Überraschungen gefüllt sein. Wir werden uns dieser Karawane anschließen und auch ein paar kleinere Kreise werden uns begleiten. Der Stier, den ihr vor Kurzem befreit habt, hat seine Männer in den Wochen, die wir hier verbracht haben zusammengezogen. Es sind gut ausgebildete Soldaten, Kämpfer, die das tun, was wir nicht können. Er war das fehlende Bindeglied zwischen einer ganzen Kette von verdeckten Operationen. Jetzt gehen wir in die Offensive."
"Auf, auf, es geht Heim. Ich bin dafür", befand Dragan und legte wieder lässig die Füße auf den Tisch, "Kenshin kommt so oder so mit und Tiana will mal ihre Familie wiedersehen... eigentlich ist es auch meine, immerhin gehört Cheydan zu mir."
Tiana warf ihm einen unergründlichen Blick zu, nickte aber dann kaum merklich. Ihm geisterte im Kopf herum, dass er eigentlich fast gar nichts über sie wusste. Sie war die Cousine von Cheydan, seiner Geliebten. Er wusste, dass sie im Zirkel war und dort eine hohe Postion inne hatte, aber ihre Maske mit dem Decknamen bereitet ihm noch immer Kopfzerbrechen. Was war so schrecklich, dass man sie danach benannte? Dragan fand darauf keine Antwort. Sein Blick wanderte zu Nerassa, die sich hingesetzt hatte und ihre Dolche schärfte. Hin und wieder warf sie Tiana Blicke zu, die Dragan nicht einordnen konnte. Es war aber offensichtlich, dass sich die beiden Frauen recht gut kannten. Trotzdem war da eine gewisse Disharmonie zu spüren. Was da zwischen ihnen war, ging ihn aber nichts an. Dragan freute sich, bald wieder in seine Heimat zu gelangen.
Fine:
Cyneric aus der Stadt
Das Gespräch mit Morrandir war kurz gewesen. Cyneric hatte sich bei ihr, die sie für seinen Auftrag in Rhûn die kommandierende Befehlshaberin war, offiziell zurückgemeldet und hatte sich eine Rüge dafür anhören müssen, dass er zugelassen hatte, dass Fürst Radomir ermordet worden war. Diese Rüge war natürlich nur für etwaige Lauscher bestimmt gewesen. Während Morrandir ihn kritisiert hatte, hatte sie ihm ein beschriebenes Stück Papier zugeschoben, auf dem ein einziger Satz gestanden hatte:
Gut gemacht; Belohnung heute Abend.
Cyneric hatte mit den Fingern versucht, die Form des Brunnens Anntírad nachzuzeichnen, und Morrandir hatte verstanden, was er wollte. Die Schattenläuferin hatte ausdruckslos genickt und ihm damit bestätigt, dass sein Wunsch sich endlich erfüllen würde und er einen weiteren Blick in den geheimnisvollen Brunnen in den Tiefen des Untergrunds von Gortharia werfen durfte.
Die Wachschicht, die er wenig später außerhalb des Haupteingangs des Palastes geschoben hatte, war Cyneric beinahe unerträglich lange vorgekommen. Er hatte es kaum noch ausgehalten, darauf zu warten, endlich die Stufen der gewundenen Treppe hinab zu steigen, die zu der verborgenen Höhle führten, in der sich der Brunnen der Schattenläufer befand.
Als die Sonne hinter den hohen Dächern Gortharias versunken war, war es schließlich beweit gewesen. Ryltha - gehüllt in die eng anliegende schwarze Tracht der Schatten - hatte Cyneric am Palast abgeholt und ihn durch das Gewirr der Straßen Gortharias bis zu dem versteckten Eingang in den Untergrund geführt. Und eine halbe Stunde später hatten sie die finstere Halle erreicht, die von vier mit bläulich leuchtenden Lampen versehen, massiven Säulen getragen wurde und in deren Zentrum sich die mystisch schimmernde Wasseroberfläche Anntírads befand.
"Willkommen," sagte Morrandir beinahe tonlos. Sie stand mit Salia auf der gegenüberliegenden Seite des Wassers und ihr blasses Gesicht war zum Großteil unter ihrer dunklen Kapuze verborgen. Eine weitere, hochgewachsene Gestalt war undeutlich im Schatten zwischen den beiden Säulen hinter Morrandir zu erkennen. Cyneric vermutete, dass es sich dabei um Merîl, die geheimnisvolle Anführerin der Schattenläufer handelte.
"Du hast deinen Auftrag wie von uns gefordert erfüllt," fuhr Morrandir fort, ohne eine Spur von Emotion zu zeigen.
"Gut gemacht, Cyneric!" fügte Ryltha enthusiastisch hinzu.
Salia blieb stumm. Vermutlich haben sie ihr schon wieder diese verdammte Flüssigkeit eingeflößt, dachte Cyneric.
"Nimm nun deine Belohung in Anspruch. Blicke in den Brunnen und konzentriere dich auf das, was du zu sehen erhoffst. Téressa, das Wasser bitte."
Bei diesen Worten regte sich Salia und trat an den Rand des Beckens. Aus einer kleinen, silbernen Schale goss sie eine bläulich schimmernde Flüssigkeit auf die Wasseroberfläche Anntírads, was leichte Wellen erzeugte.
"Nun mach schon," drängte Ryltha. "Der Effekt hält nicht ewig an."
Cyneric fühlte sich merkwürdig. So lange hatte er auf genau diesen Augenblick gewartet, doch nun, da es soweit war, zögerte er. Was, wenn ihm der Brunnen etwas zeigen würde, das er nicht würde sehen wollen? Was, wenn sein kleines Mädchen tot war? Er schluckte und suchte Salias Blick. Doch anstatt dort Ermutigung oder gar Trost zu finden, fand er nur Leere in ihren Augen.
Morrandir räusperte sich dezent. Da endlich gab sich Cyneric einen Ruck und kniete sich an den Rand des Wassers. Die Wasseroberfläche hatte sich inzwischen beruhigt und war stumm und schwarz geworden.
Déorwyn, dachte er. Zeig mir meine Tochter.
Sieben kleine, kaum sichtbare Lichtpunkte erschienen in der Mitte des Brunnens. Einer nach dem anderen verloschen sie, doch die Schwärze kehrte nicht zurück. Stattdessen erschien ein Bild auf dem Wasser; zunächst unscharf, doch dann immer deutlicher. Ein von Hügeln durchzogenes, teilweise bewaldetes Land, das von einem breiten Fluss begrenzt wurde. Als der Fluss näher kam, sah Cyneric, dass in seiner Mitte ein anmutiges Schiff stromaufwärts fuhr, von einem günstigen Wind angetrieben. Eine dunkelhaarige Gestalt hockte auf der Bugspitze des Bootes, doch Cynerics Blick wurde vom Hauptdeck angezogen. Dort stand ein blondes Mädchen, den Blick nach vorne gerichtet. Seine Tochter, daran gab es keinen Zweifel. Gerade wendete sie den Blick ab und drehte sich zu jemandem um, der Cyneric bekannt vorkam. Spitze Ohren, hellbraunes Haar...
Herr Oronêl? Er war sich nicht sicher, ob er seinen Augen trauen konnte. Die Erinnerung an den Elben kehrte zurück, den er vor vielen Monaten in Aldburg kennen gelernt hatte, und der ihm die Obhut des Mädchens Irwyne anvertraut hatte. Für einen Augenblick schweifte Cyneric ab und hielt inne. Ich frage mich, wie es Irwyne wohl ergangen ist. Ich hoffe, dass es Antien und Finelleth gelungen ist, sie wohlbehalten nach Bruchtal zu bringen...
"Sieh hin, oder du wirst deine Gelegenheit verpassen," riss ihn Morrandir scharf aus seinen Gedanken.
Und tatsächlich war das Wasser wieder beinahe vollständig dunkel geworden, nur noch der blonde Haarschopf von Cynerics Tochter stach aus der Finsternis hervor. Rasch konzentrierte er sich darauf und wisperte leise ihren Namen.
Die Wasseroberfläche erhellte sich wieder, doch diesmal zeigte sie ein anderes Bild. Wieder war ein breiter Fluss zu sehen, doch er durchfloss ein Tal, das zwischen einem großen Wald und einer gewaltigen Gebirgskette lag. Inmitten des Flusses und von ihm an beiden Seiten umströmt ragte ein mächtiger Felsen in die Höhe. Cyneric beobachtete, wie seine Tochter durch das flache Wasser der Furt rings um den Felsen sprang. Sie wirkte ausgelassen und fröhlich. Und sie war nicht alleine. Eine kleine Gruppe folgte ihr durch die Furt hindurch. Doch Cynerics Sichtfeld war zu weit entfernt, als dass er einen von Déorwyns Gefährten hätte erkennen können. Erneut glaubte er Oronêl zu sehen, doch es hätte genausogut ein anderer Elb mit ähnlicher Haarfarbe sein können.
Das Bild verschwamm und an seine Stelle trat ein gewaltiges Felsmassiv, das vor einem dunklen Himmel aufragte. Weiter und weiter hinauf schwang sich die Sicht, die sich Cyneric bot, entlang der Felsenklippe und hinauf bis zu dem schmalen Kamm, der sich an der Spitze befand. Cyneric sah seine Tochter dort stehen, umringt von grimmigen Gestalten in grauen Gewändern, die Bogen und Schwerter gezogen hatten. Doch sein Blick wurde augenblicklich von einer weiteren Erscheinung angezogen. Dort, nur wenige Schritte von Déorwyn entfernt, stand niemand anderer als der Weiße Zauberer persönlich.
Saruman! Cyneric war entsetzt. Er konnte nur zusehen, wie der verhasste Zauberer seine Tochter am Arm packte und mit sich zog.
"Nein!" entfuhr es ihm. Verzweifelt versuchte er, das Bild irgendwie zu verändern, doch stattdessen verdunkelte sich die Oberfläche Anntírads und blieb diesmal schwarz.
Sie ist Saruman in die Hände gefallen, dachte Cyneric entsetzt. Nein, das muss eine Täuschung sein. Der Zauberer würde sich nicht mit ihr abgeben. Oder etwa doch? Gewiss hatte er Wichtigeres zu tun. Aber der Brunnen zeigte stets die Wahrheit...
"Das kann nicht alles gewesen sein," wandte er sich an die Schattenläufer. "Wieso zeigt mir der Brunnen nicht mehr?"
"Stelle nicht den Brunnen infrage," antwortete Morrandir streng. "Du hast gesehen, was du gesehen hast. Es ist keine Lüge in Anntírads Weisheit. Was du gesehen hast, ist bereits eingetreten. Du kannst es nicht verändern."
"Aber das hilft mir nicht weiter, meine Tochter zu finden! Ich wüsste nicht einmal, wo ich nach Saruman suchen sollte, wenn er sie tatsächlich in seiner Gewalt haben sollte. Er könnte längst überall sein!"
"Tut mir Leid für dich, Cyneric", erwiderte Ryltha. "Vielleicht hast du bei deinem nächsten Blick in den Brunnen mehr Glück..."
Cyneric ballte die Hände zu Fäusten. Oh, ich weiß ganz genau, was hier gespielt wird, dachte er wütend. Ihr haltet mich hin, weil ihr mich braucht. Ihr könnt es euch nicht leisten, mich gehen zu lassen. Und ihr habt den Brunnen so beeinflusst, dass er mir keinen eindeutigen Hinweis darauf gegeben hat, wo mein kleines Mädchen ist. Ich hätte es ahnen sollen und mich niemals mit euch Schlangen einlassen sollen!
Von diesen Gedanken drang nichts nach außen. Er wusste es besser, als es sich mit den Schattenläufern zu verscherzen. Cyneric hatte gesehen, wie tödlich Ryltha und Salia bereits waren. Um wieviel gefährlicher war da wohl erst Morrandir, von Merîl selbst ganz zu schweigen?
"Téressa," sagte Morrandir leise. "Bring ihn zurück zum Palast."
Salia trat vor und nahm Cynerics Hand, ohne etwas zu sagen. Dann setzte sie sich in Richtung der Treppe in Bewegung, und ihm blieb nichts Anderes übrig, als ihr zu folgen.
Kurz vor dem oberen Ende der Treppe blieb Salia ohne Vorwarnung stehen, sodass Cyneric fast in sie hineingelaufen wäre.
"Was ist los?" wollte er wissen.
"Shhh!" machte sie und drehte sich zu ihm um, den Finger auf die Lippen gelegt. Sie beugte sich vor und schien angestrengt auf irgend etwas zu lauschen, das Cyneric nicht hören konnte. Schließlich legte Salia sogar ihr Ohr an die oberste Stufe, ehe sie zufrieden nickte.
"Sie sind fort. Wir können zurückgehen."
"Zurückgehen? Wie meinst du das?"
Der Blick, den Salia ihm nun zuwarf, hatte nichts mehr mit der Leere gemein, die er zuvor in ihren Augen gesehen hatte. Er sagte vielmehr: Wie beschränkt bist du eigentlich?
"Sie haben dich reingelegt. Und das wird immer so weitergehen. Du wirst niemals etwas Nützliches im Brunnen sehen, solange sie es nicht wollen. Deswegen müssen wir jetzt die Dinge selbst in die Hand nehmen."
"Wie das? Ich dachte, du hast wieder von diesem unheimlichen Trank trinken müssen."
"Das haben sie gedacht. Doch gleich nach unserer Rückkehr in die Hauptstadt habe ich Rylthas Trankvorrat gegen Wasser ausgetauscht. Ich habe brav meine Medizin genommen, aber sie hat nicht gewirkt! Und ich muss schon sagen, ich habe ihnen die Wirkung dennoch geradezu meisterlich vorgegaukelt."
"Das hast du in der Tat," lobte Cyneric. Dann blickte er den Weg zurück, den sie gekommen waren. "Bist du sicher, dass sie nicht mehr dort unten sind?"
"Ganz sicher kann man sich bei Merîl nie sein. Aber Ryltha und Morrandir sind definitiv weg. Sie haben den Geheimgang zum Palast benutzt, denn heute findet eine Besprechung der wichtigsten Heerführer statt, die sie nicht verpassen können, ohne ihren Rang zu verlieren. Ich habe die Glocke am Turm des Palastes vorhin bereits läuten hören. Wenn sie nicht zu spät gekommen sind - und Morrandir kommt nie zu spät - dann sind sie bereits dort. Komm jetzt, ehe die Gelegenheit verstreicht."
Sie presste sich an Cyneric vorbei und eilte einem Schatten gleich die steilen Stufen zurück hinab in die Dunkelheit des Untergrundes.
Zurück in der weiten Halle Anntírads angekommen verlor Salia keinerlei Zeit und kniete sich an den Rand des Beckens. "Zeig mir seine Tochter," forderte sie.
"Moment, was ist mit dem Wasser, das man darauf schütten muss?"
"Es ist nichts als eine Täuschung. Sie tun so als würde der Brunnen nur funktionieren, wenn man das Wasser darauf schüttet. Aber das ist Unsinn. Sie gaukeln dir vor, dass man den Brunnen nur mit ihrer Hilfe und mit einem geheimnsivollen Ritual benutzen kann. Aber das stimmt nicht."
"Noch eine Lüge," stellte Cyneric fest und kniete sich neben Salia. Angestrengt starrte er auf das Wasser, das sich bereits erhellte.
"Sieh mal einer an," murmelte Salia, als ein Bild erschien, das Cyneric bekannt vorkam. Erneut sah er Saruman, wie er die Hand nach seiner Tochter ausstreckte. Der Zauberer packte Déorwyn am Arm, doch diesmal gebot ihm jemand Einhalt. Eine der in Grau gekleideten Gestalten hielt den Zauberer mit unhörbaren Worten auf und tatsächlich ließ Saruman von Cynerics Tochter ab und verschwand kurz darauf aus dem Bild.
"Das... das ist der Erebor!" stellte Salia überrascht fest. "Der Rabenberg, genauer gesagt. Als Kind hat mich mein Vater einmal dorthin mitgenommen. Dort steht ein Aussichtsposten der Zwerge... nein, dort stand ein Aussichtsposten der Zwerge. Jetzt nicht mehr." Ihre Stimme hatte einen traurigen Klang angenommen.
"Dann ist mein kleines Mädchen also am Erebor?"
"Es scheint so," überlegte Salia. "Brunnen - zeig uns, wo Déorwyn in diesem Augenblick ist!"
Doch anstatt zu wechseln, wurde das Bild nur größer, während die sichtbaren Personen kleiner wurden. Die Spitze des Berges kam in Sicht und schließlich auch das Tal, das sich zwischen den beiden Bergflanken ausbreitete, die unterhalb der Spitze lagen.
"Ja, eindeutig der Erebor. Dazwischen liegt Thal... meine Heimat. Und deine Tochter ist definitiv dort."
"Dann werde ich nach Thal gehen," sagte Cyneric entschlossen. "Ich breche gleich nach dem Fest auf, das Herrin Bozhidar veranstaltet."
"Wieso nicht sofort? Du gehst das Risiko ein, dass die Schatten herausfinden, was wir getan haben."
"Ich habe eine Schuld gegenüber Lilja von den Stahlblüten," erklärte Cyneric. "Wenn ich die nicht begleiche, was wird dann aus Zarifa werden?"
"Ich glaube, die würde schon zurecht kommen," meinte Salia und hob die Schultern. "Aber es ist deine Entscheidung."
Cyneric nickte. "Es sind nur noch wenige Tage, bis das Fest beginnt. Ich werde tun, was die Stahlblüten von mir wollen, und dann breche ich nach Thal auf."
"Wenn du gehst, werde ich mit dir kommen", sagte Salia und sah sich vorsichtig um. "Ich muss mir nur noch eine passende Ausrede ausdenken."
"Dir wird bestimmt etwas einfallen. Doch zunächst..." Cyneric gähnte herzhaft. "Zunächst sollten wir von hier verschwinden, und dann brauche ich dringend ein weiches Bett. Es war ein langer Tag."
Während er Salia zurück an die Oberfläche folgte, nahm er sich vor, gleich am nächsten Tag nach Zarifa zu sehen. Er hoffte, dass es ihr im Haus der Stahlblüten einigermaßen gut ergangen war...
Cyneric auf die Straßen von Gortharia
Curanthor:
Klirrend rasselte die Kette durch den Raum, bis Dragan sie mit einem Ruck zurückzog. Der daran befestigte Dolch flog ihm mit einer gekonnten Bewegung aus dem Handgelenk wieder in die Hand.
"Beeindruckend", kommentierte die Stimme Nerassas.
Er tat das Lob mit einem Schulterzucken ab und übte weiter seinen Kampfstil mit dem Zirrat. Erneut rasselte die Kette durch den Raum, diesmal wirbelte der Hammer in einem Halbkreis durch die Luft. Diesmal fing er die Waffe eher schlecht als recht und knallte sie entnervt auf dem Tisch.
"Ich hasse es dabei beobachtet zu werden", sagte Dragan und funkelte Nerassa gereizt an, die nicht ihren Blick abwandte.
"Ich kann nicht anders. Ein Zirrat ist eine äußerst ungewöhnliche Waffe. Wenn ich mich recht entsinne, stammt sie von einem der Küstenvölker."
Dragan knifft die Augen zusammen, fragte sich, woher sie das wusste.
Nerassa schien seine Gedanken zu erraten, denn sie lächelte schmallippig.
"Die königlichen Attentäter haben große Ohren und viele Augen. Außer bei Euch."
"Das dachte ich mir schon", antwortete er ausweichend und nickte, "Ein ehemaliger Kampfgefährte hat mir den Zirrat überlassen. Er stammte aus einem Land, das talentierte Seefahrer hervorgebracht hatte, bis es in Unruhen verfiel und dann zerbrach."
Damit schien er Nerassa zu überraschen, denn sie zog die Augenbrauen in die Höhe, sagte aber nichts.
"Du bist nicht sehr gesprächig oder?", hakte Dragan nach.
Die Attentäterin zuckte mit den Schultern und setzte sich an den Tisch, an dem sie sonst aßen und Pläne schmiedeten.
"Ich war es einmal. Früher."
"In Govedalend konnte man damals auch freier Reden als heute."
Nerassa warf ihm einen Blick zu. Eine Mischung aus Unsicherheit und Wehmütigkeit lag in ihren grünen Augen. Als sie blinzelte, war der Eindruck verschwunden und die professionelle, distanzierte Attentäterin war wieder vorherrschend. Dragan hatte ziemlich schnell anhand ihrer Aussprache gemerkt, dass sie ebenfalls aus Govedalend stammte. Das erklärte auch, warum sie wusste, dass er einige Zeit bei den Bauern dort untergekommen war. Gleichzeitig war er aber auch erleichtert, dass sie nicht von dem Jahr wusste, indem er ganz andere Dinge erlernt hatte.
"Du redest im Schlaf", sagte Nerassa langsam und lauerte auf eine Reaktion, doch Dragan beherrschte sich. Als er nichts sagte, wandte sie den Blick ab und spielte mit ihren Dolchen, "Ich habe gehört, was dein Vater tat. Tiana hat mir zwar ein wenig erzählt, aber das was du Nachts sagtest-"
"Tut nichts zur Sache", unterbrach er sie scharf und stürmte zur Küchentür.
"Doch, das tut es!", rief sie ihm nach.
Er verharrte und wartete, bis sie weitersprach.
"Deine Gefühle für Cheydan sind dein Antrieb. Wie eine Flamme verzehrt es dich. Noch kannst du dich an diesem Feuer wärmen, doch irgendwann verbrennt es dich. Du wirst dich verbraucht, kalt und leer fühlen. Bis nur noch verbrannte Schwärze übrig ist."
Dragan drehte sich langsam um. Nerassa erhob sich von ihrem Platz und ging halb um den Tisch. Mit dem Finger strich sie über den Zirrat und fuhr fort: "Ich kenne dich kaum, Dragan, Ivailos Sohn, aber ich kenne Männer wie dich. Sie haben ein Ziel und räumen alles aus dem Weg, das sie abhält dieses zu erreichen. Es ist ein gefährlicher Weg. Was wirst du machen, wenn du es erreicht hast? Ganz gleich welches Ende dich dort erwartet."
"Darum mache ich mir Gedanken, wenn es soweit ist", antwortete er schlicht.
Sie schnaubte und nickte. "Ja, das hatte ein Freund von mir auch einst gesagt. Das Letzte, was ich von ihm hörte war, dass er sich als Söldner verdingte und in einer großen Gruppe umherzog. Er nahm jegliche Arbeit an, meist für den Schatten im Westen, denn ihm war es gleich woher die Bezahlung kam. Pass auf, dass du dich auf deinem Weg nicht selbst verbrennst, bis nichts mehr von dir übrig ist."
"Dann werde ich mir einen Eimer Wasser suchen und das Feuer löschen." Mit den Worten schlüpfte er durch die Küchentür um dem unangenehmen Gespräch zu entgehen. Kenshin, der gerade Kartoffeln schälte, blickte ihn überrascht an.
"Braucht Ihr Alkohol, oder was treibt Euch in die Küche?", fragte der Krieger schmunzelnd.
"Sehr witzig", brummte Dragan zur Antwort, konnte sich ein Heben der Mundwinkel aber nicht verkneifen. Es war bekannt, dass er kein einziges Mal in den Wochen ihres Aufenthalts in der Küche gestanden hatte. Meist war es Tiana oder Kenshin gewesen, die eine warme Mahlzeit auf den Tisch gebracht haben. Trotzdem konnte er sich nicht darüber amüsieren wie sonst, denn die Warnungen von Nerassa hingen ihm noch immer im Ohr.
"Euch scheint etwas zu belasten", stellte Kenshin sogleich fest. Ehe Dragan etwas erwidern konnte, warf der Krieger ihm eine Kartoffel samt Schäler zu. Geschickt fing er beides mit einer Hand auf, was ihm einen anerkennenden Blick einbrachte. "Das hilft den Kopf freizubekommen, so sagt man hier."
Wenig begeistert begann Dragan die Schale von der Kartoffel zu entfernen.
"Ich weiß nicht ob es hilft. Es nervt mich nur noch mehr. Ich weiß wo Cheydan ist und weiß auch, wo ich nach ihr suchen kann. Trotzdem sitzen wir hier schon seit Tagen hier unten rum und schälen Kartoffeln. Ich hasse Kartoffeln. Genau wie ich diese Geheimnisskrämer hasse. Oder ein gewisses Raubtier, dass sich hier versteckt hält."
"Ah, daher der Ärger", stellte Kenshin fest und warf ihm eine weitere Kartoffel zu.
"Das ist ja noch nicht alles", regte sich Dragan auf und schälte weiter, "Mein Vater hat ständig und überall seine Finger im Spiel, so wie er es schon damals hatte, bevor er unfreiwillig seinen Arsch vom weichen Fürstenthron erheben musste. Ständig lauert er wie ein Schatten über meinem Leben und beeinflusst es, wo er es nur kann. Selbst jetzt tut er es noch und nutzt den Zirkel für seine eigenen Zwecke. Ihm sind die einfachen Leute doch scheißegal, er sieht sich über ihnen. Er will sie nur wieder beherrschen."
"Aber das lasst Ihr nicht zu, oder?"
Kenshins Zwischenfrage brachte Dragan zum vertummen. Falls Ivailo tatsächlich wieder nach dem Fürtenthron greifen würde, was würde er dann tun? Oder er hat noch höher gesteckte Ziele, ging es ihm durch den Kopf.
"Eine schwere Frage. Trete ich aus dem Schatten das Vaters oder lasse ich ihn weiterhin der ungreifbare Schatten in meinem Leben sein, der alles kontrolliert. In meinem Dorf wäre die Frage erst gar nicht aufgekommen", murmelte Kenshin leise und ließ eine Kartoffel geräuschvoll in den Wasserbottich fallen.
"Wie meinst du das?", hakte Dragan nach, froh darüber, dass es nicht mehr um ihn ging.
Der Krieger zögerte kurz, als er nach der letzten Kartoffel griff, schnappte sie sich aber dann mit den Worten: "Andere Kultur, andere Regeln."
"Dann erläutere sie mir. Was wäre in deinem Dorf in meiner Situation geschehen?"
"Eine Frage der Ehre. Wenn das Familienoberhaupt sich in das Liebesleben seiner Kinder einmischt und deren Ehre kränkt, muss er sich seine Ehre wieder verdienen. Tut er das nicht, verliert er alles. Seine Familie, sein Haus, seinen Posten und sein Platz im Dorf."
"Also wird er verbannt?"
"Das wäre der beste Fall. Hätte mein Vater so etwas getan, würde ich ihn bei unser beider Ehre herausfordern. Shi no buyō nennt sich das bei uns." Dragan merkte, wie Kenshin es aussprach, dass es um Leben und Tod ging. Eine kurze Stille folgte, bis der Krieger fortfuhr: "Die Niwas sind ein Teil des Familienclan der Drachenklingen. Wir sind bekannt dafür, die besten und ehrenvollsten Krieger hervorzubringen. Unsere Klingen sind die schärfsten der Ostküste. Ein Duell zwischen dem alten Drachen - so nennen wir das Familienoberhaupt - und dem Nachwuchs ist immer ein Kampf bis zum fatalen Treffer. Irgendwann muss der Ältere Platz machen, bevor er eine Belastung für die anderen Dorfbewohner wird."
Die Erklärung ließ Dragan die Stirn runzeln, zu seltsam war die Vorstellung, dass sowas normal sein würde. "Also geschieht das öfters? Dass man seinen Vater tötet, wenn es soweit ist?"
Kenshin schwieg, was für ihn wie eine Zustimmung war, also fragte er weiter: "Und was ist, wenn es irgendwie nicht geht? Dass der Vater bei dem Versagen des Sohnes nicht zuschlagen kann?"
Aus dem Augenwinkel sah er, wie der Ronin sich versteifte. Klirrend fiel der Schäler auf den Boden. Dragan hob überrascht den Blick und sah nur noch, wie Kenshin zur Tür hinausmarschierte. Verwundert über die Reaktion des sonst so beherrschten Kriegers erhob er sich und folgte ihm. In dem Hauptraum war aber nicht nur Kenshin und Nerassa anwesend, sondern auch Tiana und den Kerl, die sie vor ein paar Wochen befreit hatten. Dragan erinnerte sich, dass der muskulöse Mann mit dem Decknamen Stier angesprochen wurde. Dieser machte seinem Decknamen alle Ehre, denn die tief liegenden Augen und die bullige Erscheinung des Mannes machten deutlich, dass er für das Grobe zuständig war.
"Ah, Dragan", begrüßte Tiana ihn freundlich, "Ich denke, du erkennst noch den Stier. Da du ihn ohne Maske gesehen hast, kann er dich auch so kennen."
Der Mann verneigte sich knapp, seine dunkelbraunen Augen huschten über Dragans Körperbau. "Mein Name ist Ukko Rantala", stellte er sich vor, "Ich bevorzuge aber Stier."
"Kein Wunder", murmelte Dragan leise und sagte dann lauter: "Mein Name ist Dragan."
Der Stier hatte es gehört und grinste kurz, wobei sich zwei Zahnlücken in der oberen Zahnreihe zeigten.
"Ist alles bereit?", fragte Nerassa streng, woraufhin der Stier nickte.
Tiana, die offenbar die Oberbefehl führte verkündete: "Ich habe den Zirkel bereits unterrichtet. Uns werden sechs Gruppen begleiten, der Kreis von Govedalend wird uns mit zehn weiteren Gruppen unterstützen."
"Kreis?", warf Dragan verwirrt ein.
"So nennen wir die größten Untergruppierungen innerhalb des Zirkels. Ein Kreis für jeweils ein Fürstentum, wobei der Kreis von Gorak im Moment am meisten zu tun hat. Sie können uns keine Hilfe schicken. Wir wissen aber nicht warum, darauf baut der Zirkel auf, dass ein Kreis nicht weiß, was der andere macht, bis hin zu kleinsten Zelle."
"Wenn einer auffliegt, zieht er nicht den Rest mit. So wie Tianas alte Zelle", ergänzte Kenshin knapp.
"Ich habe schon davon gehört", mischte sich Ukko wieder ein und wandte sich an Tiana, "Tut mir leid um Darius. Ich weiß, dass er dir ein guter Freund war und ein ein gern gesehehner Kunde in deiner Taverne."
"Opfer müssen gebracht werden", tat sie es ab und pochte auf den Tisch, "Nochmal zur Klärung: In Gortharia handelt nur der Innere Zirkel direkt, weil es die Hauptstadt ist, in Govedalend ist aber nur der dortige Kreis aktiv. Wenn wir dort sind, verliert kein Wort über unser anderen Missionen, denn sie werden auch nichts von ihren Aktionen erzählen, genau wie wir. Nicht die Rettung des Stiers oder andere Kleinigkeiten, wie die Zerschlagung meiner Zelle. Je weniger die anderen wissen, umso sicherer sind wir. Ihr seid jetzt meine Zelle, verstanden? Ihr hört auf das, was ich sage. Ganz egal was andere des Inneren Zirkels sagen."
Beim letzten Satz blickte sie Dragan in die Augen, der sofort verstand, dass sie gerade Ivailo gemeint hatte. Die anderen drei Anwesenden nickten und bekräftigten, dass sie zusammenhalten würden. Ein merkwürdiges Gefühl stieg in Dragan auf. Ein Gefühl von Zugehörigkeit. Alle blickten ihn an, bis ihm aufging, dass er bisher nichts gesagt hatte.
Er grinste breit. "Also sind wir jetzt ein Haufen von Geheimnisskrämern, was ich absolut hasse. Perfek, auch wenn ich euch zwei Neuzugänge nicht gut kenne, denke ich, dass wir ein gemeinsames Ziel haben. Ich bin dabei."
Nerassa wirkte ein wenig pikiert und hatte die Lippen geschürzt, Ukko grinste dagegen breit und klopfte Dragan kräfitg auf die Schulter, sodass er ein Schritt nach vorn stolperte.
"Das wird schon", sagte er und lachte schallend, "Wir holen deine Holde da raus und treten Vakrims fetten Arsch so heftig, dass er unsere Stiefelspitzen sauber lecken kann. Er hockt schon zu lange auf einem Platz, der ihm nicht gebührt, da ist der Hintern plattgesessen genug, dass es passt."
Dragan stimmte in das Lachen Ukkos ein und erwiderte das Schulterkopfen. "Gut gesprochen! Govedalend, wir kommen."
"Da haben sich ja zwei gefunden...", murmelte Tiana kopschüttelnd, grinste aber dennoch, "Morgen bei Dämmerung treffen wir uns in meiner Taverne. Einzelnd und auf verschiedenen Wegen. Die Lieferung wird bei Einbruch der Nacht starten. Die Leibwachen sind alles Leute vom Stier, die übrigen Händler der Karawane sind nur Tarnung und alles Leute von uns. Es sind die anderen sechs Zellen, die uns begleiten."
"Klingt gut durchdacht, so kann man Spione leicht ausmachen", kommentierte Kenshin anerkennend.
"Gut, also eine Zirkel-exklusive Karawane. Wo soll es hingehen?"
Tiana lächelte, diesmal mit einer Herzlichkeit, die sonst nur in der Taverne zu sehen war: "Zum Gehöft meiner Familie. Mein altes Zuhause."
Die vier blickten sich kurz an und stimmten ohne zu zögern zu. Dragan war schon gespannt zu sehen, wo Tiana ihre Kindheit verbracht hatte. Vielleicht sogar mit gelegentlichen Besuchen von Cheydan, die in einem Dorf weiter gelebt hatte, bevor sie nach Draganhrod gezogen war.
Dragan mit der Gruppe zu Tianas Taverne
Eandril:
Milva aus dem Anwesen der Bozhidar
"Ich bin euch dankbar für eure... Dankbarkeit. Aber ich glaube nicht, dass ich noch einmal in diesen Brunnen schauen will." Milva ging nervös vor dem rechteckigen Becken auf und ab, und vermied es, Morrandir oder Ryltha, die ihr gegenüber auf der anderen Seite des Beckens Aufstellung genommen hatten, anzusehen. Die beiden Schattenläuferinnen tauschten einen rätselhaften Blick, bevor Ryltha antwortete: "Wir wollen dich nicht dazu zwingen, sondern dir raten, dich dazu zu entscheiden, deine Belohnung anzunehmen."
"Du hast getan was wir von dir verlangt haben, doch gewisse Ereignisse sind schneller eingetreten, als selbst wir erwartet haben", ergänzte Morrandir, und das freimütige Geständnis überraschte Milva. Sie hätte nicht gedacht, dass die Schattenläufer eine solche Fehleinschätzung eingestehen würden. "Und gerade das besorgt uns. Da du eine... persönliche Beziehung zu den Geschehnissen der letzten Tage hast, könnte es sein, dass der Brunnen dir mehr verrät als uns."
Nicht zum ersten Mal fragte Milva sich, wie viel genau die Schattenläufer wussten. Sie hatte jedenfalls nicht erwähnt, wie genau es ihr gelungen war, das Pergament zu stehlen, und Silans Beteiligung hatte sie vollständig verschwiegen. Warum genau war ihr selbst nicht klar. Sie blieb stehen, und verschränkte die Hände hinter dem Rücken. "Wieso glaubt ihr, dass der Brunnen mir mehr verraten würde als euch?" Dieses Mal war der Blick, den Morrandir und Ryltha tauschten, beinahe mitleidig. "Wir wissen inzwischen ziemlich genau, was vor zwei Nächten vorgefallen ist", sagte Ryltha schließlich sanft. "Das ist die persönliche Beziehung, von der wir sprachen."
Milva bemühte sich, keine Miene zu verziehen und hoffte, dass man ihr Erröten im flackernden Licht der Fackeln nicht erkennen konnte. Das erklärte jedenfalls, wie viel die Schattenläufer wussten - und in diesem Fall beunruhigte Milva die Tatsache, dass sie offenbar überzeugt waren, irgendetwas entscheidendes nicht sehen zu können.
"Es gibt noch einen weiteren Grund, Kind", sagte eine leise Stimme hinter ihr. Milva fuhr erschreckt auf der Stelle herum, denn sie hatte die Frau nicht kommen hören, obwohl ihr Gehör durch lange Übung äußerst geschärft war. "Man kennt mich bei Hofe als Laladria, doch du kannst mich Merîl nennen." Sie war mittelgroß, mit pechschwarzen Haaren und durchdringenden, blauen Augen, und flößte Milva ein instinktives Unbehagen ein.
"Ich nehme an, ihr seid die Anführerin der Schattenläufer?", fragte sie, beinahe ein wenig herausfordernd und bemüht, sich ihr Unbehagen nicht anmerken zu lassen. Um Merîls Lippen spielte ein unheimliches Lächeln, während ihre Augen Milvas Blick gefangen nahmen und nicht wieder losließen. "So könnte man es sagen. Und der zweite Grund, warum du in den Brunnen schauen solltest, ist dieser: Du bist dafür geboren. Dies hier ist das, wofür das Schicksal dich auserwählt hat."
"Ich kann nicht sagen, dass dieses Schicksal mir allzu gut gefällt", murmelte Milva, zuckte aber mit den Schultern und fügte hinzu: "Aber meinetwegen... ich reiß' mich nicht besonders darum, aber wenn ihr meint, dass es sein muss..."
Ryltha zog das Fläschchen mit der geheimnisvollen silbrigen Flüssigkeit hervor, dass sie bereits beim letzten Mal verwendet hatte, doch Merîl winkte ab. "Nein, Schwester. Nicht jetzt, da Teressa uns verraten hat..." Milva biss die Zähne zusammen, um sich nichts anmerken zu lassen. Offenbar brauchte es nicht viel um die Schattenläufer zu verraten, und sie fürchtete, was mit Salia geschehen würde, wenn diese je nach Gortharia zurückkehren würde. Und außerdem begann sie sich zu fragen, was genau es war, dass die Schattenläufer mit ihr vor hatten.
Merîl zog ein eigenes Fläschchen mit einer dunklen und doch schimmernden Flüssigkeit aus ihrem eigenen Gewand und hielt es Milva entgegen. "Trink das, Kind." Milva nahm das Fläschchen entgegen, zögerte aber. "Was ist das? Und warum sollte ich es trinken?"
"Es wird dir beim Sehen helfen", antwortete Merîl mit dem gleichen merkwürdigen Lächeln wie zuvor. "Vertrau mir."
Das tue ich nicht, dachte Milva, doch sie sprach es angesichts des stählernen Ausdrucks in Merîls Augen nicht aus. Ihr war beinahe instinktiv klar geworden, dass sie hier jemandem gegenüber stand, der um etliche Male größer war als sie selbst - selbst, wenn man es nicht sehen konnte. Statt also zu widersprechen entkorkte sie das Fläschchen und trank die geruchs- und geschmacklose Flüssigkeit in einem Zug leer. Merîls Lächeln wurde eine Spur zufriedener.
Wie im Traum wandte Milva sich um und blickte auf die dunkle, spiegelglatte Oberfläche des Brunnens. Wie beim letzten Mal erschienen zuerst sieben helle Lichtpunkte, die nach und nach verblassten, doch dieses Mal wurden sie nicht durch Bilder ersetzt. Stattdessen trübte sich die Oberfläche, als ob sie in dichten Nebel blicken würde. Milva glaubte, gedämpfte Geräusche zu hören, doch sie konnte nicht ausmachen, worum es sich dabei handelte. Sie fühlte sich blind und taub, und wollte sich gerade abwenden, als sie einen Hand auf der Schulter spürte. "Streng dich an, Kind", hörte sie Merîls Stimme. "Konzentriere dich auf das, was du sehen musst."
Milva atmete tief durch und rief sich Silans Bild vor Augen, wie er am Fuß der Treppe gesessen hatte, der Leichnam seiner Tante vor sich. Doch der Nebel schwand nicht, sondern schien noch ein wenig dichter zu werden. Milva starrte auf die Wasseroberfläche, bis ihre Augen begannen zu schmerzen, und plötzlich blinkte ein Bild durch den Nebel. Eine brennende Stadt. Schiffe auf einem dunklen Meer. Und plötzlich wieder die Herrin der Quelle, die Milva direkt in die Augen blickte.
Merkwürdig, was für Dinge aus der Vergangenheit in den letzten Tagen auftauchen, hallte ihre Stimme in Milvas Kopf wieder. Bevor Milva fragen konnte, was sie damit meinte, machte die Herrin eine rasche Bewegung mit der Hand, und mit einem Mal wurde Milvas Kopf wieder klar. Lass dich von Merîl nicht benutzen wie von mir, Weihe. Die Stimme klang gleichzeitig warnend und entschuldigend, und plötzlich veränderte sich der Ausdruck in den Augen der Herrin. Dir liegt eine Frage auf dem Herzen.
Mehr als eine, erwiderte Milva stumm. Ihr kennt diesen Brunnen, habt ihr gesagt. Wieso zeigt er mir nur Nebel?
Das Gesicht der Herrin zeigte tiefe Besorgnis. Etwas mächtiges muss am Werk sein, um den Blick des Brunnens zu trüben. Nimm dich in Acht.
Bevor Milva etwas erwidern konnte, riss die Hand auf ihrer Schulter sie zurück, und ihr Blickkontakt mit dem Brunnen brach. Sofort wurde die Oberfläche wieder dunkel, und nichts war mehr zu sehen.
Merîls Augen hatten sich geweitet. "Du hast... sie gesehen. Mit ihr gesprochen. Tarásanë. Wie ist das möglich?" Milva blickte zu Ryltha und Morrandir, doch diese wirkten ebenso ratlos und erschreckt wie sie selbst. Merîl schloss die Augen und schüttelte den Kopf, wie um einen Gedanken zu vertreiben. "Bringt sie fort", befahl sie. "Für heute sind wir fertig. Ich... muss nachdenken, was zu tun ist."
Ryltha führte Milva schweigend bis zum Ausgang, doch bevor sie hinaus auf die Straßen traten, hielt sie sie zurück. "Warte, Milva... was hast du gesehen?"
Milva schüttelte den Kopf. "Nichts... nur etwas wie Nebel. Dichter Nebel, den ich nicht durchdringen konnte." Auch in Rylthas Augen stand nun tiefe Besorgnis. "Seit letzter Nacht sehen Morrandir und ich ebenfalls nichts anderes. Irgendetwas mächtiges scheint den Blick des Brunnens zu trüben. Und was immer es ist - es weiß mehr über uns als wir fürchteten, und es ist uns keinesfalls wohlgesonnen."
Milva auf die Straßen Gortharias...
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