Das Schicksal Mittelerdes (RPG) > Weit-Harad

In der Nähe von Ain Salah

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Eandril:
Narissa von Norden

Die Reise durch die Wüste nach Süden dauerte lange, und beinahe jeder Tag brachte für Narissa neue Schmerzen und Erniedrigung. Abel schien nicht zu wissen, wen genau er in seiner Gewalt hatte - nur, dass Suladân einen hohen Preis für Narissa zahlen würde, nicht warum. Diese Ungewissheit quälte ihn offensichtlich, denn an mehreren Tagen versuchte er diese Informationen aus Narissa herauszuprügeln. Doch da er seine Beute nicht allzu sehr beschädigen wollte, begnügte er sich mit Schlägen und Fausthieben, anstatt seine Waffen einzusetzen. Und so zog sich Narissa während dieser Verhöre in den hintersten Teil ihres Verstandes zurück, und sagte kein Wort.

Am ersten Tag ihrer Reise hatte sie einen Fluchtversuch unternommen, den Abel geradezu erwartet hatte. In dem Moment, in dem Narissa es gelungen war ihre Fessen durchzuschneiden, war er bereits über ihr gewesen, und hatte ohne einen Funken Emotion in seinen schwarzen, toten Augen zugeschlagen. Nach diesem Tag hatte Narissa keinen Widerstand mehr gezeigt, obwohl tief in ihr immer noch der Wille zu entkommen brannte. Doch solange sie alleine mit Abel war, hatte sie keine Chance - vielleicht in Ain Salah, auch wenn ihr rätselhaft blieb, was ihr Peiniger dort vorhatte.

Narissa hatte aufgehört die Tage zu zählen, als die Wüste allmählich in eine trockene Steppe überging, in der vereinzelte Bäume wuchsen. Je weiter sie nach Süden kamen, desto häufiger wurden kleine Baumgruppen, und obwohl das Land insgesamt trocken blieb, gab es hin und wieder kleine schlammige Flüsse, die sich durch die Steppe schlängelten. In diesem Land erreichten sie schließlich ein kleines, von einer hölzernen Palisade umgebenes Dorf, dessen Torwachen die Farben von Ain Salah trugen und Abel ohne ein Wort passieren ließen - obwohl vor ihm auf dem Pferd die gefesselte Narissa saß und die Gegend mit leerem Blick betrachtete. Ihr eigenes Pferd hatte Abel nicht beachtet, sondern einfach im Norden im Stall stehen lassen - was Narissa wunderte, denn ihre Waffen hatte er eingesammelt und sorgfältig verstaut. Auch das Medaillon von Elenosse war im Norden zurückgeblieben, denn Narissa hatte es im Kampf gegen Abel verloren und im staubig-blutigen Hof war es liegen geblieben.
Vor dem örtlichen Gasthof stieg Abel vom Pferd und stieß Narissa mit einer knappen Bewegung einfach hinunter, ein Ritual, das ihm zumindest immer wieder ein Zucken der Mundwinkel entlockte. Narissa landete hart auf der Straße, denn mit gefesselten Händen konnte sie sich nicht gut abstützen, doch weniger unsanft als es einem Menschen ohne ihre Ausbildung gelungen wäre. Sie kam schnell wieder auf die Füße, denn inzwischen war sie geübt darin, und betrat vor Abel das Gasthaus. Der dämmrige Raum hatte eine niedrige Decke und war nur von wenigen Leuten bevölkert. Der Wirt lehnte gelangweilt auf dem Tresen, und in einer hinteren dunklen Ecke blubberte eine Wasserpfeife vor sich hin. Der Kopfgeldjäger stieß Narissa unsanft auf einen Stuhl, band ihre Arme daran fest und setzte sich ebenfalls, nachdem er dem Wirt bedeutet hatte, ihm etwas zu essen und zu trinken zu bringen.
Während Abel mit dem Wirt sprach, bemerkte Narissa, dass der Mann mit Kapuze am Nebentisch sie aufmerksam beobachtete. Auch Abel schien es bemerkt zu haben, denn als der Wirt verschwand um seine Bestellung auszuführen, wandte er sich an den Kapuzenträger und sagte in gleichmütigem Tonfall: "Setzt das Ding ab wenn ihr etwas wollt, ansonsten verzieht euch."
Der Mann hob die Hände, streifte die Kapuze ab, und Narissa erkannte ein Gesicht mit edlen Zügen und pechschwarzen Haaren, dass ihr sofort bekannt vorkam.
"Abel."
"Karnûzîr Wüstenklinge", gab Abel zurück ohne dass sich ein Muskel in seinem knochigen Gesicht regte, und bei dem Klang des Namens begriff Narissa, wem der Mann ähnelte. Zum ersten Mal seit Tagen dachte sie wieder an Aerien, und der Gedanke schloss sich wie eine Faust um ihr Herz und zerbrach gleichzeitig den Panzer aus Gleichgültigkeit, den sie um sich gelegt hatte. Sie musste Abel entkommen, so bald wie möglich und egal auf welche Weise.
"Zu euren Diensten", meinte Karnûzîr mit einem spöttischen Lächeln, und Abels Hand verirrte sich auf seinen Schwertgriff. "Was wollt ihr hier?"
"Ich?" Karnûzîr hob die Schultern. "Ich bin rein zufällig hier. Viel interessanter ist doch die Frage, was ihr hier treibt - wenn man bedenkt, wen ihr bei euch habt." Er schenkte Narissa einen anzügliche Blick, doch in seinen Augen sah sie, dass er kein bisschen zum Scherzen aufgelegt war. In diesen grauen Augen brannten großer Ehrgeiz und die Gier nach Macht und Reichtum. Abel verzog keine Miene, doch Narissa hatte genug Zeit in seiner Gesellschaft verbringen müssen um zu bemerken, wie er sich anspannte und zum Kampf bereit machte. "Wen habe ich denn bei mir, denkt ihr?"
Das Lächeln auf Karnûzîrs Gesicht schien gefroren zu sein, denn seine Augen fixierten Abel jetzt mit höchster Aufmerksamkeit. Dennoch war Narissa sich sicher, dass er es nicht zum Kampf kommen lassen würde, denn offensichtlich wusste er um Abels Kampfkünste und behielt seine Hände daher deutlich sichtbar über der Tischkante.
"Eine ziemlich wertvolle Person, die den Sultan sehr interessiert", erwiderte er. "Und deshalb frage ich mich, was ihr mit ihr hier treibt, weit von Qafsah entfernt."
"Meine Angelegenheiten mit dieser Kleinen sind meine Angelegenheit. Und ihr irrt euch, sie ist keineswegs wertvoll, sondern ganz und gar unbedeutend." Unter dem Blick von Abels toten, feuchten glänzenden Augen erschauerte Narissa unwillkürlich.
Karnûzîr zuckte erneut mit den Schultern. "Nun, wenn ihr das meint." Er leerte den vor ihm stehenden Becher mit einem Zug, legte eine Münze auf den Tisch, und stand auf. "Ich wünsche euch viel Erfolg bei was immer ihr vorhaben mögt. Und auch wenn dieses Mädchen noch so unbedeutend sein mag - passt lieber gut auf sie auf, denn ungefährlich ist sie ganz bestimmt nicht." Einen winzigen Augenblick blickte er Narissa direkt in die Augen, und das genügte um ihr zu zeigen, dass er genau wusste wer sie war, woher sie kam und was Suladân von ihr wollte. Während er an ihr vorbeiging, erkannte sie an einem quer über die Brust verlaufenden Ledergurt mehrere Sterne aus Metall, die vermutlich zum Werfen gedacht waren.

Als Karnûzîr auf die Straße hinaus getreten war, stieß Abel einen leisen Fluch in einer Narissa unbekannten Sprache aus. Narissa wunderte sich, denn nach ihren Erlebnissen mit dem Kopfgeldjäger hätte er Karnûzîr vermutlich besiegen können - und außerdem hatte der Mann nicht den Eindruck vermittelt, Abel seine Beute mit Gewalt abnehmen zu wollen. Der Wirt brachte das Essen, und Abel schob Narissa einen Teller zu.
"Iss", sagte er auf ihren verwunderten Blick hin. Zuletzt hatte sie höchsten die Reste seiner Mahlzeiten bekommen und niemals so reichhaltig wie jetzt. "Du bekommst das nicht weil ich so freundlich bin", erklärte Abel mit ausdrucksloser Stimme. "Morgen erreichen wir Ain Salah, und dann wirst du deine Kräfte brauchen." Narissa nickte stumm, und begann zu essen. Was auch immer sie in Ain Salah erwartete, es konnte nichts gutes sein.

Narissa nach Ain Salah

Eandril:
Aerien und Narissa aus Ain Salah

Als Aerien sie auf den Pferderücken hob, begann vor Narissas Augen alles zu verschwimmen - besser gesagt, vor dem einen Auge, denn das linke sah nur rotes Blut. Sie spürte ihr Bewusstsein entgleiten und kämpfte trotz der Schmerzen in ihrer linken Gesichtshälfte noch einen Augenblick dagegen an. Doch als das Pferd sich unter ihr in Bewegung setzte, fiel sie hinab in die Schwärze.

~~~~
Narissa fand sich am Ostufer von Tol Thelyn wieder, und sie wusste sofort, welcher Tag es war. Von Norden trieben schwere Regenwolken über das Meer heran, und von Osten näherten sich Boote mit schwarzen Gestalten darauf über den schmalen Meeresarm, der die Insel vom Festland Harads trennte. Neben ihr stand ihr Großvater, und mit ihnen hatten sich beinahe alle Bewohner der Insel versammelt und erwarteten ihr Schicksal.
Nach einem Moment der Stille, während sich die Bote unbarmherzig weiter näherten, sagte Hador bitter: "Nun, anscheinend habe ich mich geirrt, und du hattest Recht, Narissa." Er wandte sich ihr zu, zog den Dolch den er immer bei sich trug, hielt ihn Narissa mit dem Griff nach vorne entgegen. "Hier. Du weißt, dass dieser Dolch zusammen mit dem Amulett, das du bereits trägst, eines der beiden Erbstücke unseres Hauses ist." Narissa nickte, nahm den Dolch, und ihr Kiefer verkrampfte sich. Sie wusste, was ihr Großvater ihr sagen wollte, doch sie hatte Angst davor.
"Du musst gehen, damit unsere Familie überlebt, und du musst m..." Hador unterbrach sich, und in seinen Augen stand Traurigkeit. "Nimm Bayyin mit, denn die Sache, der er auf der Spur ist, ist von großer Wichtigkeit. Und außerdem wäre er uns im Kampf wohl keine große Hilfe. Und... Elendar!" Ein junger Mann, der nur wenige Jahre älter als Narissa war, trat zu ihnen. Trotz seines Names trug er keinerlei númenorische Züge, denn er war der Sohn Yulans, des Mannes der früher ihr Lehrer gewesen war, und hatte den Namen zu Ehren von Hadors in Umbar gefallenem Bruder erhalten.
"Hast du dich von deinem Vater verabschiedet?", fragte der Herr des Turmes, und Elendar nickte.
"Gut. Du wirst Narissa und Bayyin begleiten. Verlasst die Insel, und wartet an einem sicheren Ort ab. Und wenn ihr in Sicherheit seid, verfolgt Bayyins Spur weiter. Es ist wichtig."

Plötzlich verschwand die Insel vor Narissas Augen, und sie war in Qafsah, und ihre Mutter verabschiedete sich von ihr, Sorge in den Augen, die ebenso grün wie Narissas eigene waren. Willst du sie noch länger leiden lassen?, flüsterte eine boshafte Stimme in ihrem Kopf, und dann zerplatzte das Bild zu schwarzem Rauch. Die Bilder wechselten schneller, sie sah Qúsay, der ein Heer in die Schlacht führte, Abel, der einen Gegner niederstreckte und sich dann mit einem Grinsen zu ihr umwandte, das Gesicht ein Totenschädel, Edrahil, der mit einer edel gekleideten Frau sprach, und schließlich ein schreckliches rotes Auge, das ihren Blick gnadenlos anzog. Und unter dem Auge stand... Aerien. War es wirklich Aerien gewesen, die ihr geholfen hatte? Das konnte nicht sein. Wahrscheinlich war dies hier nur ein weiteres grausames Spiel, dass Abel mit ihr trieb. Sein Totenschädel schien zu nicken, und bevor Narissa einen klaren Gedanken fassen konnte, war sie zurück auf der Insel.

Dieses Mal kauerte sie mit Bayyin und Elendar im Eingang des Tunnels, der unter der Insel angelegt worden war und zu einer Höhle mit einem Boot am Nordufer führte. Elendar und Bayyin hatten so schnell wie möglich fliehen wollen, doch Narissa hatte sich geweigert, und so beobachteten sie den letzten Kampf des Turmherren und seiner Gefolgsleute. Hador und seine Gefährten brachten den Gegnern schwere Verluste bei, doch sie selbst fielen ebenso, einer nach dem anderen, und wichen immer weiter zurück in Richtung des Turmes. Vor der Haupttür des Turmes sammelten sie sich, Hador selbst und vier weitere seiner Kämpfer, darunter der alte Yulan.
"Der Turm wird immer überdauern, ganz gleich was ihr tut", rief der Herr des Turmes seinen Feinden entgegen, doch er klang müde.
"Wo ist sie, alter Mann?", entgegnete eine kalte Stimme, und Narissa erschauerte. "Weit fort von hier", gab Hador zurück, und die andere Stimme lachte. "Du lügst. Aber gut, so soll es sein. Tötet sie alle."

Das Bild verschwamm erneut, doch dieses Mal war Narissa dankbar dafür. Sie, Bayyin und Elendar waren gerade noch rechtzeitig durch den Tunnel entkommen und hatten mit dem Boot die Insel verlassen, während hinter ihnen der Turm in Flammen stand.
Zu ihrem Glück waren sie nur wenige Tage später auf Níthrar und seine Nomaden getroffen, ein Wiedersehen, dass von den Geschehnissen auf Tol Thelyn überschattet wurde.
Elendar war nur kurze Zeit vorher gefallen, als Suladâns Häscher sie aufgespürt hatten, um Narissa und Bayyin Zeit zur Flucht zu verschaffen.

~~~~
Am Rand ihres Bewusstseins spürte Narissa sanfte Hände auf ihrem Gesicht, der Hälfte die verwundet war. Mit großer Mühe schlug sie die Augen auf, doch alles war verschwommen und sie erkannte das Gesicht nicht, das über ihr schwebte. Sie versuchte die Lippen zu bewegen, etwas zu sagen, doch vergeblich, und ihr Bewusstsein verließ sie erneut.

Als sie erneut erwachte, konnte sie mit ihrem linken Auge nichts sehen, und ein dumpfer Schmerz pochte in ihrer linken Gesichtshälfte. Sie hob tastend die Hände, was ihr bereits große Mühe bereitete, und konnte gerade noch einen dicken Verband über ihrem Gesicht ertasten, bevor sich raue aber sanfte Hände um ihre Handgelenke schlossen und sie zurückhielten. "Das solltest du lieber noch nicht machen", sagte eine weibliche, Narissa gut bekannte Stimme.
"Aerien...", murmelte sie, ohne die Augen zu öffnen, und musste mit einem Schwindelanfall kämpfen. "Du kommst aus Mordor... warum hast du mir geholfen? Warum..." Wieder verlor sie das Bewusstsein.

Narissa hatte keine Ahnung wie viel Zeit vergangen war, als sie das nächste Mal erwachte. Dieses Mal spürte sie, dass sie in einem weichen Bett lag, und der Schmerz in ihrem Gesicht hatte ein wenig nachgelassen. Nun kam allerdings ein bohrender Hunger ihn ihrem Magen dazu, und Narissa erkannte, dass einige Zeit vergangen sein musste. Sie schlug die Augen auf und blickte mit dem freien Auge einen Moment orientierungslos umher, bis sie Aerien neben sich sitzen sah. Narissa schwieg, bis Aeriens Blick ihren traf, und fragte dann mühsam: "Was ist passiert?" Alles, was nach ihrer Ankunft in Ain Salah geschehen war, erschien ihr jetzt wie ein Fiebertraum, und sie wusste nicht, was Realität und was Traum war.

Narissa und Aerien zum Versteck von Eayans Gruppe

Fine:
Narissa, Aerien, Thorongil und Karnuzîr von der Harduin-Ebene


Nur wenige Stunden des schnellen Rittes durch die frühe Dämmerung genügten, um die Gruppe bis nach Ain Salah zu bringen. Als die Sonne im Osten über den Horizont kletterte, tauchten die Mauern der Stadt in der Ferne auf. Zu Aeriens Erstaunen lenkte Thorongil, der vorausritt, und hinter dem der noch immer bewusstlose Karnuzîr im Sattel hing, sein Pferd in einem weiten Bogen nach rechts. Dort, ungefähr zwei Meilen westlich der Stadt, lag eine ausgedehte Ruine, die Aerien bei ihrem ersten Besuch in Ain Salah gar nicht aufgefallen war. Damals war sie nur darauf konzentriert gewesen, Narissas Spur zu folgen. Jetzt hingegen staunte sie, denn die teilweise verfallenen Mauern zeugten eindeutig von númenorischer Bauweise.
"Ein alter Vorposten aus dem Zweiten Zeitalter, als die Dúnedain dank ihrer Schiffe die Küsten der bekannten Welt beherrschten?" fragte sie neugierig, als die Gruppe ihre Pferde neben einem breiten, eingestürzten Torbogen zum Stehen brachte.
"Nein, ganz so alt ist dieser Ort nicht," antwortete Thorongil. "Narissa wird dir sicherlich mehr über die Festung von Sarn Amrun erzählen können, wenn sie so von meinem Vater unterrichtet wurde, wie ich auch."
Narissa verdrehte die Augen, doch sie sagte einen Text auf, den sie wahrscheinlich irgendwann auswendig gelernt hatte: "Sarn Amrun, der Fels im Osten, war eine Festung und Grenzposten des Reiches der Turmherren, der von Valandil I. im Jahr 301 des Dritten Zeitalters errichtet wurde. Unter Palandras I. kam es schließlich zu einer großen Rebellion der Haradrim, die gegen die Herrschaft der Turmherren aufbegehrten, im Zuge derer Sarn Amrun belagert und erobert wurde." Sie machte eine kurze Pause und fügte dann hinzu: "Und deswegen vertrauen wir heutzutage auf unsere Fähigkeiten und auf Heimlichkeit, anstatt auf angeberische Mauern."
"Gut aufgepasst, auch wenn du dir den Kommentar hättest sparen können," sagte Thorongil, der sich seinen Gefangen über die Schulter geworfen hatte und den Innenhof der Ruine betrat. Aerien und Narissa folgten ihm, sich aufmerksam umschauend.

Es war kühl im Schatten der Mauern, die trotz ihres Alters und des Schadens, den sie erlitten hatten, noch immer recht hoch hinaufragten. Thorongil legte Karunzîr neben einer aufrecht stehenden Säule ab und überprüfte dessen Fesseln, ehe er an einer unscheinbaren Stelle mit dem Fuß am Boden herumscharrte. Zu Aeriens Überraschung förderte Narissas Onkel ein großes Bündel zum Vorschein, das offenbar hier gut versteckt gewesen war.
"Vorräte," erklärte er. "Dies ist nur eines von vielen Verstecken dieser Art, die die Thelynrim überall in Harad angelegt haben. Die Leute, die mein Vater ans Festland entsandt hat um seine Augen und Ohren zu sein, konnten sich nicht immer selbst versorgen."
Aerien strich staunend über eine alte Wandmalerei, die ein Schiff mit vom Wind prallen Segeln zeigte, und von der bereits viel Farbe abgeblättert war. Am Bug stand ein Mann mit silbernem Haar und einem Dolch in der Hand, den er empor gestreckt hielt.
"Das ist Ciryatan von Eldalondë, mein Vorfahr," erklärte Narissa. "Die Malerei zeigt ihn auf seinem Schiff, der Rossigil, wie er von Númenor zur Insel fährt."
"Ist das das gleiche Schiff das im Hafen von Tol Thelyn liegt?" fragte Aerien.
"Ja, ist es," erwiderte Narissa. "Es hat all die Jahre überdauert. Genau wie meine Vorfahren."
"Es war Meister Edrahil, der den entscheidenden Hinweis auf den Verbleib des Schiffes entdeckte," sagte Thorongil, der neben Karnuzîr in die Knie gegangen war. Er versetzte dem Gefangen einen festen Hieb gegen die Wange. "Wird Zeit aufzuwachen, Freund. Ich habe noch ein paar weitere Fragen an dich."

Während Thorongil den Gefangenen verhörte, erkundeten die beiden Mädchen die weitläufige Festung, denn Aerien hatte sich in Karnuzîrs Gegenwart unbehaglich gefühlt und wollte nicht mit ihm sprechen, sondern viel lieber die Ruinen genauer unter die Lupe nehmen. Und Narissa wollte Aerien offenbar nicht alleine gehen lassen.
"Wer weiß, was sich in den Jahren hier so alles eingenistet hat," sagte sie und ließ Ciryatans Dolch lässig in der Hand herumwirbeln. "Wir sollten vorsichtig sein und nicht alleine herumstreunen."
"Ich streune nicht herum", erwiderte Aerien. "Ich bin doch keine Katze."
"Und wenn doch, dann wärst du eine besonders schöne," antwortete Narissa spielerisch und stupste Aerien sachte in die Seite, was ein warmes Kribbeln bei ihr auslöste. "Komm. Da hinten hab' ich eine Treppe gesehen."
Die Stufen waren zwar teilweise abgebrochen, aber nach einer kurzen Kletterpartie standen sie nebeneinander auf den Mauern der Festung und blickten nach Osten, wo die Sonne nun bereits etwas höher stand und Ain Salah in ein warmes Licht tauchte. Aerien fragte sich, weshalb die Haradrim der umliegenden Stämme die Festung nach deren Eroberung nicht selbst genutzt hatten. Stattdessen hatten sie eine Stadt in der Nähe gegründet. Vielleicht hatten sie nicht die baumeisterlichen Fähigkeiten, die Mauern der Dúnedain instand zu setzen, überlegte sie.
"Glaubst du, hier drin könnte ein Schatz versteckt sein?" fragte Narissa und riss Aerien aus ihren Gedanken.
"Die Festung fiel doch schon vor über zweitausend Jahren," erwiderte Aerien. "Seitdem war bestimmt jeder Grabräuber, Plünderer und Schatzjäger, der jemals gelebt hat, mindestens einmal hier."
"Also - nein?"
"Hier gibt es nichts, nein."
"Eine Sache gibt es schon," sagte Narissa und ihre Hand schloss sich um Aeriens. "Dich."
"Ja," hauchte diese. "Und dich."

Eine Stunde später sprang Aerien auf, da sie leise Schreie aus dem Innenhof hörte. Auch Narissa rührte sich und hob ihren Dolch auf, der dort lag wo sie ihn fallen gelassen hatte.
"Hörst du das? Klang, als würde dein Onkel noch immer Antworten aus Vetter Karnuzîr herausholen... auf die unsanfte Art und Weise."
"Sag nicht, dass er das nicht verdient hat," meinte Narissa.
"Oh, und wie er es verdient hat. Ich frage mich nur, was er Thorongil alles erzählt hat - und wieviel davon wahr ist," gab Aerien zurück.
"Ich glaube nicht, dass er Thorongil belügen könnte. Der weiß, was er tut, und kann die Wahrheit erkennen," sagte Narissa. "Komm, sehen wir nach, was es zu erfahren gibt."
Sie kletterten die verfallene Treppe wieder hinunter und kamen zurück an die Stelle, wo sie Thorongil mit dem Gefangenen zurückgelassen hatten. Karnuzîrs Kopf hing schlaff auf seine Brust herab, und er schien wieder das Bewusstsein verloren zu haben. Aerien stellte mit einer gewissen Genugtuung fest, dass ihm zwei Finger fehlten.
"Ah, da seid ihr beiden ja," begrüßte Thorongil sie gut gelaunt. "Wie ich sehe, haben wir alle die Zeit für ein wenig Spaß genutzt."
Aerien und Narissa tauschten einen vielsagenden Blick, und Thorongil nickte. "Was hast du herausgefunden?" fragte Narissa.
"Einige wichtige Dinge," antwortete ihr Onkel. "Am Ende war Freund Karnuzîr sehr gesprächig. Ich habe einige möglicherweise kriegswichtige Informationen aus ihm herausbekommen, die ich so bald wie möglich an Edrahil weiterleiten werde. Ihr wisst schon: Truppenbewegungen, Armeegrößen, solche Sachen."
"Und?" hakte Narissa nach.
"Ich habe ihn noch einmal etwas genauer zu den beiden Gefährten befragt, die ihn auf die Insel begleitet haben. Rae und Breyyad. Zu Breyyad hatte er nicht sonderlich viel zu sagen. Der Mann ist einer der Banu Abbas, ein Haradrim-Stamm, der östlich von Qafsah lebt und mit Suladan verbündet ist. Er ist ein sehr fähiger Krieger, aber ansonsten unwichtig. Die Frau hingegen..." Thorongil verstummte und blickte nachdenklich zu Boden.
"Was ist mit ihr?" fragte Aerien und überlegte. Ihr fiel ein, was sie Rae in Qafsah hatte sagen hören; irgendetwas über ein Anrecht auf den Fürstentitel von Umbar und eine Verwandschaft zu Haus Minluzîr...
"Wenn Karnuzîr die Wahrheit sagt, handelt es sich bei Rae um Taraezaphel Bellakanî... Die Jungfrau von Arzâyan."
"Sagt mir nichts," meinte Narissa. "Dir etwa?"
"Mir auch nicht," wunderte sich Aerien. "Das sind eindeutig adûnâische Namen, aber ich habe noch nie von ihr gehört. Und... sie sah auch nicht... wie eine Jungfrau aus."
"Arzâyan, für diejenigen die in nachnúmenorischer Geschichte nicht aufgepasst haben, war ein Reich, das weit südlich von hier nach dem Untergang Númenors gegründet wurde," erklärte Thorongil. "Ich habe es bereist, auch wenn dort heute kaum noch Menschen mit Dúnedain-Blut leben und die Herrscherlinie längst ausgestorben ist. Vor ungefähr fünfzehn Jahren begannen die ersten Gerüchte über eine Kriegerin, die die Jungfrau von Arzâyan genannt wurde, und die mit ungewöhnlichen Kriegstaten in den vielen kleinen Konflikten der örtlichen Stämme von sich reden machte. Es hieß, sie könne in Windeseile ganze Armeen unter ihrem Banner vereinen, allein durch ihre Ausstrahlung. Zuerst war ihr Gefolge nur sehr klein, doch mit der Zeit schaffte sie es, die zerstrittenen Fraktionen im Gebirgsland zu vereinen; sogar jene, die am Rande der großen Urwälder leben, hatten sich ihr angeblich angeschlossen. In den letzten Jahren hatte ich nichts mehr von ihr gehört, doch wenn Suladan es geschafft hat, sie auf seine Seite zu ziehen, bedeutet das nichts Gutes."
"Wir werden sie finden und aufhalten," sagte Narissa entschlossen.
"Erst einmal sollten wir zur Insel zurückkehren," antwortete Thorongil. "Lasst uns noch ein Weilchen hier ausruhen, ehe wir entscheiden, welche Route wir nehmen."

Fine:
Thorongil hatte im Schutze der Ruinen ein kleines Feuer entzündet, und streute nun ein weißliches Pulver darüber. Staunend sah Aerien zu, wie er Rauch der Flammen nahezu farblos wurde, nachdem das Pulver knisternd im Feuer aufgegangen war.
"Was war das denn?" fragte sie neugierig.
"Osphlim," erklärte Thorongil. "Es stammt aus Westernis. Jeder der Späher meines Vaters trug etwas davon bei sich, um selbst dann nicht auf Feuer verzichten zu müssen, wenn eine Entdeckung vermieden werden sollte."
"Äußerst praktisch," kommentierte Aerien. "Das hätten wir auf dem Weg vom Silbernen Bogen zur Insel gut gebrauchen können."
"Es ist sehr selten, und seine Zusammensetzung ist ein Geheimnis der Turmherren," stellte Thorongil klar. "Ich vermute, in Gondor ging dieses Wissen bereits verloren. Aber hier im Süden ist es von besonderer Wichtigkeit, da die Nächte in den Wüsten und Einöden Harads sehr kalt werden können."   
"Eine der ersten Lektionen Hadors," murmelte Narissa. "Ich vermisse ihn," fügte sie leise hinzu und stocherte mit einem Stock im Feuer herum.
"Ich wünschte, ich hätte ihn kennenlernen können", sagte Aerien mitfühlend.

Narissa war an diesem Abend sehr einsilbig und schien einer merkwürdigen Trübsal anheim gefallen zu sein. Aerien vermutete, dass es mit den Erinnerungen an ihren Großvater zu tun hatte. Sie sprach ihre Freundin nicht darauf an sondern beschränkte sich darauf, neben Narissa zu sitzen und ihr hin und wieder über den Rücken zu streichen, während sie ins Feuer starrte. Schließlich stand Narissa auf und verkündete, dass sie sich hinlegen würde. Aerien hingegen war noch nicht müde und beschloss, noch ein Weilchen wach zu bleiben. So saß sie einige Zeit alleine am Feuer, bis Thorongil zurückkehrte, denn er hatte sich ungefähr eine halbe Stunde in der Umgebung der Festung umgesehen nachdem er den gefangenen Karnuzîr in einem der intakten Räume im Inneren eingesperrt hatte.
Der Herr von Tol Thelyn ließ sich ihr gegenüber nieder und blickte einige Zeit schweigend zu Aerien hinüber. Hoch über ihnen waren die Sterne zu sehen, denn es war eine klare Nacht. Das Feuer strahlte eine angenehme Wärme aus, nun, da die Sonne untergegangen war.
"Wir hatten noch gar nicht die Gelegenheit, uns einmal richtig zu unterhalten, Aerien," sagte Thorongil nach mehreren Minuten der Stille. "Ich bin auf meinen Reisen weit herumgekommen und habe viele Länder gesehen, doch trugen mich meine Schritte nie nördlicher als bis zu den Ufern des Poros-Flusses. Wenn du möchtest, dann erzähle mir vom Schattenland. Es erscheint mir, als sei es Narissas Absicht, Arandirs versteckten Pfad zu benutzen und in das Land unseres größten Feindes zu reisen. Ich will wissen, was sie dort erwartet."
"Ich spreche nicht gerne über Mordor," sagte Aerien leise, doch ehe sie weitersprechen konnte, unterbrach Thorongil sie mit einer Handbewegung.
"Sprich diesen Namen nicht aus, Mädchen. Selbst hier sind wir vor seinen Schatten nicht sicher. Gerade du solltest doch wissen, welche Macht Namen haben können."
Aerien blickte betroffen zu Boden. "Es tut mir Leid," presste sie hervor. "Ich werde ihn nicht mehr verwenden. Es ist nur so, dass es in... meiner ehemaligen Heimat normal ist, sie beim Namen zu nennen."
"Und damit verleihen die Menschen dem Dunklen Herrscher eine gewisse Macht über sie," erklärte Thorongil. "Umso schlimmer, dass es für sie ganz normal geworden ist."
Aerien wunderte sich ein wenig über diese Aussage. Narissas Onkel kam ihr nicht abergläubisch vor sondern schien ein großes Maß an Vernunft und Verstand zu besitzen. Sie schlussfolgerte daher, dass er auf seinen Reisen mit eigenen Augen gesehen haben musste, welche Macht der Name Mordor besaß. Sie beschloss, ihn nicht weiter damit zu behelligen, und fing an, das Land Saurons zu beschreiben. Sie begann mit den geographischen Eigenschaften Mordors und zog im Sand neben dem Feuer den Verlauf der zwei großen Gebirgsketten nach, die das Schattenland umschlossen. Außerdem erwähnte sie die Zugänge nach Mordor und die Befestigungen, die es schützten. Dann ging sie zu seinen Bewohnern über.
"Menschen leben innerhalb der Grenzen des Landes eigentlich nur an zwei Orten: Als Sklaven auf den Feldern von Nurn, und im Tal von Aglarêth, wo ich geboren wurde."
"Der Name hat einen üblen Klang, selbt wenn man des adûnâischen mächtig ist," meinte Thorongil. "Ist damit die alte Festung Durthang gemeint, die einst von Gondor erbaut wurde?"
"Ja," bestätigte Aerien. "Der Dunkle Herrscher gab sie meinem Vorfahren zum Sitz, als er nach... als er in sein ehemaliges Reich zurückkehrte."
"Wie viele schwarze Númenorer leben dort?" fragte Thorongil.
"Wenige," gab Aerien zurück. "Etwas mehr als hundert, schätze ich. Es gibt nicht viele Kinder in Aglarêth."
"Es muss schlimm gewesen sein, an einem so finsteren Ort aufzuwachsen," meinte Narissas Onkel.
"Ich kannte kein anderes Leben, und es ging mir als Tochter des Fürsten vergleichsweise gut. Die Anforderungen an mich waren immer sehr hoch, und es gab kaum Lob, aber ich weiß, dass meine Mutter mich liebte und es noch immer tut. Sie hat mich nicht verraten, als ich ihr Lebewohl sagte."
"Und dein Vater?"
Darüber musste Aerien einen Augenblick nachdenken. Ihr fiel ein, was ihr Vater ihr gesagt hatte, als sie sich das letzte Mal gesehen hatten - ehe er nach Dol Guldur aufgebrochen war. "Du bist mir wichtiger als alle Schätze auf Erden." Doch damals war sie noch Azruphel gewesen. Sie hatte sich verändert. Aerien wusste nicht, was Varakhôr heute von ihr hielt. Sie hoffte, dass sie ihm nicht eines Tages gegenübertreten musste. "Ich weiß es nicht," gab sie daher zu. "Er schenkte mir dies," sie zog den Stern von Akallabêth hervor, "Aber seine Erwartungen an mich waren hoch. Ich schätze, er wird sehr enttäuscht sein, wenn er von meinem Verrat hört."
"Warhscheinlich hat er bereits davon erfahren," meinte der Herr von Tol Thelyn.

Das Feuer prasselte und knackte, doch mit der Zeit brannte es herunter, denn Thorongil legte kein neues Holz nach. Sie hatten in Sarn Amrun nur wenig Brennbares gefunden.
"Du hast vorhin von Arzâyan gesprochen, einem ehemaligen númenorischen Reich tief im Süden," sagte Aerien nach einiger Zeit des Schweigens. "Kennst du die Geschichte dieses Reiches?"
Thorongil kratzte sich nachdenklich am Bart. "Ich bin viel herumgekommen, vor allem im Süden. Und man schnappt auf solchen Reisen durchaus das ein oder andere über die Gegenden auf, die man durchquert. Aber über Arzayân gibt es nur alte Legenden - bis Taraezaphel auftrat. Im Zweiten Zeitalter beherrschten die Númenorer eigentlich alle Küsten der bekannten Welt, aber der Kontinent, von dem Harad ein Teil ist, lag ihrer Insel genau gegenüber. Deswegen waren sie natürlich hier besonders stark vertreten, und gründeten hier viele befestigte Häfen. Die Stadt, die später zur Hauptstadt von Arzayân werden sollte, und deren Name heute vergessen ist, lag am Oberlauf eines großen Flusses, weit im Süden von hier. Die Númenorer fuhren auf diesem Fluss weit ins Landesinnere hinein. Und mit der Zeit siedelten sich einige von ihnen dauerhaft in dem Hafen an, der inmitten der fruchtbaren Ebene gebaut wurde - genau an der Stelle, an der der Fluss aufhörte, von Hochseeschiffen befahrbar zu sein."
"Wie kam es, dass diese Stadt in Vergessenheit geriet?" fragte Aerien fasziniert.
"Dazu komme ich später," beschwichtigte Thorongil sie. "Jedenfalls blieb diese Stadt beim Untergang Númenors bestehen, und seine Bewohner errichteten in den Jahren während Saurons Abwesenheit ein kleines, selbstständiges Reich und wählten einen König, der stellvertretend für Tar-Calion regieren sollte. Als der Dunkle Herrscher einige Jahrzehnte später wieder nach Mittelerde zurückkehrte und Gondor angriff, kamen seine Gesandten auch nach Arzayân, doch die Menschen dort verweigerten ihm die Gefolgschaft. Sie wussten nun, dass er sie nur für seine Zwecke benutzen wollte, und dass er verantwortlich für den Untergang Akallabêths war. Doch sie schlossen sich auch nicht Elendil an, sondern hielten sich aus dem Krieg des Letzten Bündnisses heraus. Und auch im Dritten Zeitalter blieben die Azaryâni meist unter sich, obwohl sie sich mit der Zeit langsam mit den an sie angrenzenden Haradrim-Stämmen vermischten."
"Meine Vorfahren hingegen achteten darauf, dass Dúnedain-Blut möglichst rein zu halten," warf Aerien ein.
Thorongil musterte sie einen Augenblick nachdenklich und fuhr dann fort: "Die Erzählungen werden an dieser Stelle widersprüchlich, aber fest steht, dass eines Tages ein großer Bürgerkrieg in Arzayân ausbrach. Ich vermute, es hatte mit der Thronfolge zu tun. Jedenfalls gab es keinen richtigen Sieger, denn der Krieg verwüstete das Land und zerstreute seine Bewohner in alle Winde. Seitdem war Arzayân ein kaum bewohntes, verödetes Land gewesen und seine Hauptstadt lag in Trümmern. Bis Taraezaphel Bellakanî kam."
"Wer ist die Jungfrau von Arzayân? Weißt du mehr über sie?"
"Nein, leider nicht," sagte der Herr von Tol Thelyn. "Ich habe bisher nur Gerüchte über sie gehört. Man sagt, dass sie durch einen sonderbaren Zufall von mehreren wichtigen Blutlinien abstammt: den Fürsten von Umbar, den Herren von Lónik und eben den Königen von Arzayân, um nur einige zu nennen."
"Das würde erklären, was Rae über ihre Verbindung zu Umbar gesagt hat," murmelte Aerien.
"Jedenfalls hat ihr Name und Titel im Süden viel Gewicht," fuhr Thorongil fort. "Sie als Feind zu haben verkompliziert unsere Lage ziemlich. Ehrlich gesagt hoffe ich, dass der Krieg sie für den Augenblick ablenkt."
"So scheint es zumindest," meinte Aerien und gähnte herzlich.

Wenige Minuten später wünschte sie Thorongil eine gute Nacht und machte sich auf die Suche nach Narissa. Aerien fand sie schließlich im Winkel zwischen zwei hohen Mauerstücken, wo es windgeschützt war. Narissas helles Haar fiel ihr in Strähnen über das Gesicht, und das Licht der Sterne ließ es geheimnisvoll schimmern. Aerien ging neben ihr in die Hocke und betrachtete sie. Narissa wirkte friedlich und entspannt, doch Aerien konnte auch Spuren der anstrengenden Verfolgung und dem eiligen Ritt von der Insel bis hierher erkennen. Du hast all das wegen mir auf dich genommen, dachte sie. Wie kann ich dir dafür jemals genug danken? Wie kann ich diese Schuld begleichen? Sie fand keine Antwort. Nachdenklich legte sie sich neben Narissa und starrte eine Weile zu den Sternen hinauf. Aerien war zu müde, um sich weiter darüber den Kopf zu zerbrechen. Als sie die Augen schloss, kam der Schlaf innerhalb kürzester Zeit über sie.

Eandril:
Narissa erwachte früh am nächsten Morgen, erst ein schwacher rötlicher Schein war über dem östlichen Horizont zu sehen. Sie fröstelte ein wenig in der noch kühlen Morgenluft, und zog vorsichtig ihre linke Hand unter Aeriens Rücken hervor. Ihre Freundin schien sich im Schlaf darauf gerollt zu haben, und Narissa musste die Finger erst ein wenig bewegen, um das Blut wieder zirkulieren zu lassen. Dann strich sie Aerien eine verirrte Haarsträhne aus dem Mundwinkel, und fragte sich nicht zum ersten Mal, ob das irgendein Scherz der Welt war - Schwarz und Weiß.
Sie erhob sich langsam, streckte sich um den Schlaf aus ihrem Körper zu vertreiben. Dann machte sie sich auf die Suche nach ihrem Onkel.
Narissa fand Thorongil im Hof der Turmruine, wo er das kleine rauchlose Lagerfeuer bereits wieder in Gang gebracht hatte und darüber eine kleine Mahlzeit zubereitete. Sie ließ sich ihm gegenüber auf einem flachen Mauerbruchstück, dass eine wie zum Sitzen geschaffene Kuhle bildete, nieder, und zog eine Grimasse.
"Schläfst du eigentlich auch mal?", fragte sie. "Ich hatte gehofft, das heute mal für euch machen zu können."
Thorongil stocherte mit einem Ast in der Glut, während er antwortete: "Je älter man wird, desto weniger Schlaf braucht man." Er zwinkerte Narissa zu. "Und außerdem wusste ich nicht, dass du Kochen kannst." Das kam nicht von ungefähr, denn während ihrer Verfolgung hatte Narissa andere Dinge im Kopf gehabt und die Verpflegung vollständig ihm überlassen. Trotzdem stieß sie heftig die Luft aus, und erwiderte: "Vielleicht nichts, was man in einem Palast servieren könnte, aber... irgendjemand musste schließlich dafür sorgen, dass wir nicht verhungern. Aerien ist vollkommen unfähig, was das angeht."
Sie musste grinsen, und hinter sich hörte sie Aeriens verschlafene Stimme: "Wobei bin ich unfähig?"
Narissa rutschte ein Stück auf ihrem Stein zur Seite, sodass Aerien sich links neben sie setzen konnte. "Kochen", antwortete Narissa noch immer grinsend und schlang ihren Arm um Aeriens Taille. Diese gähnte herzhaft, legte dann den Kopf auf Narissas Schulter und meinte: "Da kann ich kaum widersprechen." Beide mussten lachen, denn Narissa war sich sicher, dass Aerien an den selben Tag dachte wie sie. Auf ihrer Reise nach Qafsah hatte Aerien ein Mal darauf bestanden, sich abends im Lager ebenfalls nützlich zu machen, und hatte das Kochen übernommen. Als Serelloth das Ergebnis gesehen hatte, hatte sie Aerien in unnachahmlicher Art heftig ausgeschimpft, und Narissa hatte sich vor Lachen beinahe nicht mehr beherrschen können. Es war das einzige Mal auf der Reise gewesen, dass sie Ziel und Zweck ihrer Unternehmung einige Zeit vergessen hatten.
Es war klar, dass Aerien ebenfalls daran gedacht hatte, als das Lächeln von ihrem Gesicht verschwand und sie leise sagte: "Ich hoffe, es geht Serelloth gut. Ich könnte nicht ertragen, wenn sie..."
"Ich bin mir sicher, dass sie auf dem Weg der Besserung ist", erwiderte Narissa sanft, und bettete ihre linke Wange gegen Aeriens weichen Haarschopf.
"Die Wunde, die Karnuzîrs Wurfstern gerissen hatte, war tief", sagte Thorongil ruhig. "Aber sie hat wie durch ein Wunder nichts lebensbedrohliches verletzt, und wir haben sie rechtzeitig gefunden. Es geht ihr gut, da könnt ihr sicher sein."
"Ganz im Gegensatz zu Karnuzîr", murmelte Aerien, und ihre Mundwinkel zuckten. Narissas Blick wanderte in die Ecke, wo Karnuzîr zusammengekrümmt und offenbar bewusstlos lag, und unwillkürlich fragte sie sich, welche Pläne ihr Onkel und Edrahil noch für ihn haben mochten. Sie hoffte, dass er noch lange für seine Taten büßen müssen würde.

Die Sonne hatte gerade den Horizont überschritten, als sie ihre Sachen zusammengepackt hatten und bereit zum Aufbruch waren. Sie verließen Sarn Amrun in südlicher Richtung, würden also in etwa dem Weg folgen, den Aerien und Narissa bereits genommen hatten, als sie von der Burg des Silbernen Bogens zur Insel aufgebrochen waren. Karnuzîr hing noch immer bewusstlos und gefesselt über dem Rücken des überzähligen Pferdes, doch trotz dieser Erinnerung an die unangenehmen Geschehnisse war Narissa bester Laune. Mit Karnuzîr schien das letzte Hindernis zwischen ihr und Aerien gefallen zu sein, und ganz egal welche Macht Sauron auch besaß, in diesem Moment schien er ihr nicht länger unbesiegbar zu sein.
Während sie ritten unterhielt Narissa sich viel mit ihrem Onkel, und sie erfuhr vieles über das Leben, dass er vor seiner Rückkehr nach Tol Thelyn geführt hatte. Er hatte sich als Söldner in den endlosen Kleinkriegen der Haradrim verdingt, hatte sich einige Zeit als Händler durchgeschlagen, schließlich damit begonnen, im Geheimen gegen Mordor zu arbeiten und am Ende Pläne für eine Versöhnung mit seinem Vater gefasst. Diesen Plänen war leider Suladâns Angriff zuvorgekommen.
Am zweiten Tag ihrer Rückreise stießen sie auf Spuren einer großen Menschengruppe, die ebenfalls in Richtung Westen unterwegs war.
"Meint ihr, es könnte der Silberne Bogen sein?", vermutete Narissa, und Thorongil strich sich durch den Bart. Es war Narissa bereits zuvor aufgefallen, dass er das häufig tat wenn er überlegte, und es selbst gar nicht wirklich zu bemerken schien. "Das wäre eine Möglichkeit", meinte er schließlich. "Die Richtung stimmt, und die Gegend ebenfalls. Trotzdem sollten wir vorsichtig sein, wenn wir sie einholen, es könnte auch jemand anderes, weniger freundliches sein."
"Es wäre schön, wenn es wirklich der Silberne Bogen wäre - ich würde mich freuen, Eayan zu sehen", sagte Aerien, und Thorongil nickte langsam. "Ich würde den legendären Schattenfalken sehr gerne kennenlernen... nun, ich denke wir werden sie ohnehin bald einholen. Eine größere Gruppe kommt langsamer voran."

Narissa, Aerien und Thorongil zur Mehu-Wüste...

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