Aerien von Nah-HaradAls die gelben Mauern Aín Salahs vor Aerien auftachten atmete sie erleichtert auf. Sie hatte die Stadt also tatsächlich gefunden. Ihr Ritt nach Süden war in großer Eile erfolgt, doch sie hatte die ungeheure Weite unterschätzt, die die Ebenen und Wüsten Harads ihr in den Weg stellten. Das Land kam ihr so leer und weit vor, dass sie sich sehr klein und unbedeutend vorgekommen war. Doch die Straße, der sie gefolgt war, war nur selten von ihrer geraden Richtung abgewichen. Nachdem Aerien in der Nähe des Gasthofes, wo sie Narissas Medaillon gefunden hatte, nach dem Weg nach Ain Salah gefragt hatte, war sie kein einziges Mal davon abgewichen. Dennoch nickte sie nun, erschöpft, aber zufrieden, als sie die Stadt erreichte.
Sie war dankbar dafür, die Reise durch Ithilien, Harondor und Nah-Harad gemeinsam mit Beregond unternommen zu haben. Der Gondorer hatte ihr gezeigt, wie man Feuer machte und wie man nachts so bequem es in der Wildnis nun einmal möglich war, schlafen konnte. Die Nächte am Rande der Wüste waren überraschend kalt, doch Aerien hatte glücklicherweise unterwegs immer wieder auch in kleineren Herbergen am Straßenrand übernachten können. Karab war ein genügsames Tier, das ihr, je weiter sie nach Süden kam, mehr und mehr vertraut wurde und sie die Schmerzen an den Beinen, die die Tage im Sattel verursachten, schon bald kaum mehr spürte. Zwar würde Aerien sich trotzdem nicht als besonders begabte Reiterin bezeichnen, doch immerhin fühlte sie sich auf Karabs Rücken nun nicht mehr gänzlich fehl am Platz.
Am nördlichen Tor hielt eine Gruppe gelangweilter Männer Wache, die Aerien zwar einige interessierte Blicke zuwarfen, sie jedoch nicht anhielten. Sie musste sich einige Kommentare in der haradischen Sprache gefallen lassen, von denen sie, obwohl sie die Sprache nicht verstand, eine relativ gute Vorstellung von deren Bedeutung hatte. Die Stadt und ihr Fürst standen in Sûladans Diensten, doch Aerien sah davon nur wenig Anzeichen. Die Flagge des von Qúsay neu gegründeten Malikats war jedenfalls nirgendwo zu sehen - von den Mauern und Türmen hingen die Farben Ain Salahs oder die Rote Schlange Sûladans. Doch abgesehen davon machte die Stadt auf Aerien nicht den Eindruck, sich auf einen Krieg vorzubereiten. Die Straßen waren belebt, aber längst nicht so sehr wie es in Ain Séfra der Fall gewesen war, und bewaffnete Krieger sah man nur hier und dort. Aerien ließ Karab im Schritt gehen und sah sich aufmerksam um während sie die Hauptstraße überquerte. Sie rief sich die Beschreibung des Mannes namens Abel wieder ins Gedächtnis, die ihr der Gastwirt eher unfreiwillig gegeben hatte: Ein großgewachsener Mann von knochigem Wuchs, mit kurzem, dunklen Haar und silbernen Strähnen nahe der Ohren, markanten Augenbrauen und Hakennase. Zu ihrem Unglück gab es unter den Haradrim Aín Salahs einige Männer, auf die diese Beschreibung passte. Sie konnte sie niemals alle überprüfen und im Augen behalten. Aerien beschloss, sich zunächst einmal eine Unterkunft zu suchen.
Die Gaststätte "Zur geflügelten Schlange" bot sich ihr an, da diese eine große Terasse auf dem Dach besaß von der man einen guten Überblick auf die Hauptstraße und das Nordtor Ain Salahs bot, durch das die meisten Menschen die Stadt betraten und verließen. Sie hatte nun schon einige Tavernen von innen gesehen, und auch diese war keine Ausnahme darin, dass sie aus zwei Teilen bestand: dem Schankraum sowie den Gästezimmern. Aerien bezahlte mit ihrem letzten Geld ihr Zimmer für eine Woche und legte sich erschöpft auf das kleine Bett, das man ihr zur Verfügung stellte. Der Raum war kein Vergleich zu dem, in dem sie mit Beregond in Aín Séfra gewohnt hatte: Er besaß nur ein kleines Fenster, keinen Zugang zu einem Balkon und bot allgemein deutlich weniger Platz. Ihr wurde klar, dass Dirar damals eine wirklich sehr gute Unterkunft für sie organisiert hatte. Sie fragte sie, wo der Mann wohl inzwischen war - wahrscheinlich weiterhin in Ain Séfra in Qúsays Diensten.
Nachdem sie einige Zeit hin- und her überlegt hatte ohne eine Entscheidung zu treffen verließ sie ihr Zimmer und setzte sich an einen der leeren Tische im Schankraum, der sich nun langsam zu füllen begann, denn es war Nachmittag geworden. Aeriens Laune war auf einem Tiefpunkt angekommen. Zwar war sie jetzt in Aín Salah, doch von Narissa oder Abel fehlte jede Spur. Die Stadt war viel zu groß, um sie auf eigene Faust zu durchkämmen. Sie bezweifelte, dass sie dabei etwas finden würde.
Ob dieser bazîr(1) von einem Gastwirt wirklich die Wahrheit gesagt hat? fragte sie sich.
Vielleicht sollte ich zurückreiten und..."Einen Anblick wie Euch sieht man in diesen Gefilden selten," sagte eine leise Stimme neben ihr und riss sie aus den Gedanken. Aerien zuckte überrascht zusammen. Sie hatte nicht aufgepasst! Sie konnte ihren Vater quasi vor sich sehen, wie er streng sagte:
Halte stets deine Umgebung im Auge!"Es tut mir Leid, wenn ich Euch erschreckt habe," sagte der Mann, der sich ihr gegenüber an den Tisch gesetzt hatte. Er hatte kurzgeschorenes braunes Haar, ein breites Kinn und dunkle, braune Augen, die Aerien neugierig musterten.
"Wer seid Ihr?" wollte sie wissen und vergewisserte sich, dass Dolch und Schwert griffbereit waren.
"Mein Name ist Eayan al-Tayir," stellte sich der Unbekannte vor. "Ihr müsst nichts von mir befürchten, meine Schöne. Ich werde mich hüten, Euch auch nur Unbehagen zu bereiten. Ich sehe, Ihr seid sowohl bezaubernd als auch gefährlich."
Na großartig, stöhnte Aerien innerlich auf und befürchtete schon, auf einen zweiten Sahír getroffen zu sein. Beinahe verfluchte sie ihr Aussehen und nahm sich vor, ab sofort überall eine Kapuze aufzusetzen.
"Solche Worte hört Ihr wahrscheinlich ständig, nicht wahr?" fuhr Eayan fort. "Nun, es ist nicht von der Hand zu weisen, dass Ihr für das Auge sehr ansprechend seid. Doch jemand wie ich, der in der Lage ist, dahinter zu blicken, erkennt, dass Ihr mehr als nur ein hübsches Gesicht seid. Lasst mich Euch auf ein verfrühtes Abendessen einladen und wir unterhalten uns ein wenig. Ganz zwanglos. Ich kenne mich in Aín Salah gut aus. Da Ihr neu hier seid, habe ich womöglich nützliche Informationen für Euch."
"Was springt für Euch dabei heraus?" fragte Aerien misstrauisch.
"Nun, einem geringeren Mann würde vermutlich Eure Gesellschaft reichen, und wahrscheinlich würde er darauf hoffen, an das zwischen Euren Beinen zu gelangen," sagte Eayan mit einem schiefen Lächeln. Bevor Aerien eine empörte Antwort geben konnte winkte ihr Gegenüber jedoch ab. "Glücklicherweise verfolge ich andere Interessen. Ihr werdet schon sehen. Es ist nichts gefährliches, keine Sorge. Nur ein einfaches Gespräch." Er machte eine kurze Pause und fügte dann zwinkernd hinzu: "Was aber nicht bedeutet, dass ich Euch nicht begehrenswert finde, meine Liebe."
"Ein Essen," beschloss Aerien. "Mehr nicht."
Eayan nickte zufrieden. "Das wird vollauf genügend. He, Wirt!" rief er und bestellte zwei großzüge Portionen des Tagesgerichts, bei dem es sich um diverse haradische Speisen bestehend aus Trockenfleisch, Kichererbsen und Salat handelte.
"Wie lautet Euer Name?" fragte Eayan.
"Azruphel", antwortete sie. Ein gondorischer Name würde in Sûladans Reich wahrscheinlich weniger gut ankommen als ein Name, der nach Mordor oder Umbar klang.
"Ah," machte Eayan und grinste zufrieden in sich hinein. "Ich hatte es vermutet. Ihr seht einem
Bekannten meinerseits so ähnlich, dass mir bereits dachte, dass Ihr vom langlebigen Volk Mordors stammen müsst."
"Wer ist dieser Bekannte?" fragte Aerien.
"Ein Mann namens Karnûzîr. Kennt Ihr ihn?"
"Karnûzîr? Aglazôrs Sohn? Ja, ich habe ihn ein- oder zweimal getroffen."
Eayan blickte sie prüfend an. "Und wie steht Ihr zu ihm, Azruphel, wenn ich fragen darf?"
"Ich kenne ihn nicht gut genug um mir eine Meinung über Karnûzîr gebildet zu haben," antwortete sie wahrheitsgemäß. "Sein Vater allerdings ist ein echter Gauner, dessen Loyalität dem gehört, der am besten zahlt. Wenn sein Sohn genauso ist, hege ich nur wenig Sympathie für ihn."
Eayan nickte, offenbar zufrieden mit dieser Antwort. "Nun, nicht jeder kann ein bis in den Tod treuer Diener des Dunklen Herrschers sein, nicht wahr?"
"Wohl nicht," gab Aerien zurück und blickte zur Seite. Ihr wurde das Gespräch langsam ungemütlich. Sie hatte mehr verraten, als sie geplant hatte. Also beschloss sie, in die Offensive zu gehen. "Erzählt mir von Euch," sagte sie und legte einen bewundernden Klang in ihre Stimme; eine Übung, die sie dank der Ausbildung ihrer Mutter mit Leichtigkeit beherrschte. Obwohl sie nicht glaubte, bei Eayan tatsächlich den Eindruck erwecken zu können, dass sie ihm verfiele, wollte sie es wenigstens versuchen.
"Ich? Oh, da gibt es nicht viel zu sagen," winkte ihr Gegenüber ab. "Ich bin ein einfacher Mann, der hin und wieder Aufträge für eine Gruppe von
Freunden übernimmt, die hier in der Nähe eine... Unterkunft betreiben. Nichts spektakuläres, nur einige Lieferungen oder Nachrichten, die überbracht werden müssen."
"Nun, offenbar bezahlen diese Leute Euch gut," befand Aerien.
"Gut genug um mir ab und zu die Gesellschaft eines hübschen Mädchens wie Euch zu leisten," gab Eayan zurück.
"Habt Ihr jemals etwas von einem Mann namens Abel gehört?" fragte Aerien. "Ich bin auf der Suche nach ihm. Er hat jemanden in seiner Gewalt, den ich gerne zurück hätte."
Eayans Gesichtsausdruck veränderte sich schlagartig und seine Stimme nahm einen ersten Klang an. "Der Name ist mir bekannt, und der Mann leider auch. Der, den Ihr sucht, ist hier, in der Stadt. Aber Ihr solltet ihn nicht suchen. Abel ist ein gefährlicher Mann, gefährlicher als Ihr oder ich es jemals sein werden. Lasst die Finger davon, Azruphel! Wen auch immer er gefangen hat - die Person ist längst tot oder wird es bald sein, wenn die Geschichten stimmen, die man sich über Abel erzählt."
"Geschichten?" wiederholte Aerien, doch Eayan winkte ab.
"Ich will Euch keine Albträume bescheren. Wenn Ihr wirklich daran festhalten wollt, nach Abel zu suchen, solltet Ihr Euch im Westen der Stadt umsehen. Mehr kann ich Euch leider nicht sagen - dorthin habe ich Abel heute morgen gehen sehen. Ich rate Euch aber deutlich davon ab."
"Ich muss es versuchen," sagte Aerien mehr zu sich selbst als zu Eayan. "Habt Dank, Eayan. Ich werde es euch vergelten, wenn ich mit Abel fertig bin."
"Oh, Ihr schuldet mir nichts, meine Liebe," wehrte Eayan ab. "Ich behalte Euch im Auge. Wir sprechen uns später." Er erhob sich geräuschvoll und ging hinaus. Aerien blieb voller Fragen, Zweifel und Sorge zurück, unsicher, wie ihr nächster Schritt aussehen sollte.
(1) adûnâisch "Idiot, Nicht-Denkender"