Das Schicksal Mittelerdes (RPG) > Weit-Harad

Ain Salah

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Eandril:
Narissa von Norden

Die Stadtmauer von Ain Salah war aus gelben Lehmziegeln errichtet worden, schloss aber nicht die gesamte Stadt mit ein. Da Abel die Stadt nicht durch das nördliche Stadttor betrat - offenbar fürchtete er einen Hinterhalt von Karnûzîr und seinen Leuten - konnte Narissa die ärmlichen Hütten sehen, die sich westlich und südlich der Stadt an die Mauern schmiegten.
Sie betraten Ain Salah durch das Westtor, und die Häuser innerhalb der Stadtmauern waren deutlich größer und luxuriöser als die außerhalb. Und dennoch haftete allem ein leichtes Gefühl des Verfalls an - als ob Ain Salah einst größer und mächtiger gewesen wäre, aber seinen Status und Reichtum mit der Zeit allmählich verlor. Von einigen Häusern bröckelte der Stein ab, und die Straßen waren zwar belebt, aber längst nicht so sehr wie in Aín Sefra oder Umbar. Während sie langsam durch die Straßen ritten, fragte Narissa sich, was Abel an einem solchen Ort wohl suchen konnte - und was er mit ihr vorhatte. Anscheinend hatte er noch Pläne für sie, bevor er sie an Suladân auslieferte, wenn er das überhaupt vorhatte. Doch ganz gleich was diese Pläne waren, vielleicht boten sie Narissa eine Gelegenheit zur Flucht, denn die Begegnung mit Karnûzîr hatte ihren Widerstandsgeist erneut geweckt.

Abel zügelte sein Pferd vor einem sehr großen Haus, hinter dem Narissa ein rundes, hölzernes Gebilde zu sehen glaubte. Dieses Mal verzichtete Abel darauf, sie vom Pferd zu stoßen. Stattdessen hob er sie vom Rücken des Tieres und stellte sie unsanft auf die Füße. Narissa suchte einen Augenblick nach ihrem Gleichgewicht, während Abel knurrte: "Keine Tricks und keine Fluchtversuche, oder du kannst dir nicht vorstellen, wie leid es dir tun wird."
Narissa nickte nur stumm. Seit Abel sie in seiner Gewalt hatte, hatte sie nahezu kein Wort gesprochen, denn wenn sie sprach war es meist Widerspruch, und darauf reagierte Abel grundsätzlich mit brutalen, wenn auch leidenschaftslos ausgeführten, Schlägen.
Der Kopfgeldjäger betätigte dreimal den silbernen Türklopfer in Gestalt eines Skorpions, und in der Tür öffnete sich ein kleines, kreisrundes Loch, durch das ein einzelnes Auge blickte und sofort wieder verschwand. Dann schwang die Tür nach innen auf, und auf der anderen Seite erwartete sie ein teuer gekleideter Diener, der in einer Verbeugung in den Gang zur rechten Seite zeigte. "Der ehrenwerte Meister Kimyet erwartet euch bereits."
Abel erwiderte nichts, sondern stieß Narissa grob durch die Tür und folgte ihr. Ohne weiteres Zögern betrat Narissa den durch kleine Fenster zur Straße erhellten Gang, Abel immer hinter ihr. Sie erreichten am Ende des Ganges eine hölzerne Tür mit eisernen Beschlägen, an der Narissa stehen blieb - in der Erwartung, sich einen weiteren Stoß einzuhandeln. Doch der Stoß blieb aus, stattdessen klopfte Abel an die Tür und eine Stimme antwortete: "Kommt herein."
Bei dem Raum handelte es sich eindeutig um das Arbeitszimmer des Hausherren, denn an sämtlichen Wänden erhoben sich mit Papieren gefüllte Regale, und in einer Ecke stand ein mächtiger Schreibtisch aus Ebenholz, hinter dem ein kleiner Mann mit Glatze und einem grauen Kinnbart saß. Er hatte ein warmes Lächeln aufgesetzt, dass sich jedoch nicht bis auf seine Augen erstreckte, und als Narissa gefolgt von Abel das Zimmer betrat, erhob er sich von seinem Stuhl. Wäre die Lage für sie weniger ernst gewesen, hätte Narissa über die Tatsache gelacht, dass der Mann stehend nur wenig größer als sitzend war.
"Abel, mein Freund", sagte er, und ließ grinsend eine Reihe weißer Zähne sehen. "Wie schön, dass ihr es einrichten konnte."
"Meister Kimyet", erwiderte der Kopfgeldjäger, der im Kontrast zu dem Händler noch größer wirkte als ohnehin schon, ohne eine Miene zu verziehen. "Ich danke euch für den herzlichen Empfang."
Kimyet winkte ab, kam händereibend um den Tisch herumgelaufen und betrachtete Narissa eindringlich von Kopf bis Fuß, obwohl er etwa einen halben Kopf kleiner war als sie.
"Ihr kennt doch meine Hausregeln", sagte er schließlich mit strenger Miene an Abel gewandt. "Keine Fesseln."
Abel schnaubte zur Antwort unwillig. "In diesem Fall ist das besser, die kleine ist nämlich verdammt gefährlich." Der Händler zog eine dünne, schwarze Augenbraue in die Höhe, sagte aber nichts und blickte Abel unverwandt an. Der zuckte schließlich mit den Schultern, zog einen der Dolche die er Narissa abgenommen hatte - den Dolch ihres Großvaters, Ciryatans Dolch - und durchschnitt die Stricke, mit denen ihre Hände vor dem Bauch gefesselt gewesen waren.
"Sehr gut." Kimyet wandte sich wieder Narissa zu, die gleichgültig über seinen Kopf hinweg blickte. "Was habt ihr denn hier für mich?"
"Eine ziemlich gute Kämpferin", erklärte Abel. "Und trotzdem habt ihr sie besiegt", meinte der Händler in einem Tonfall, in dem Narissa leichten Spott zu erkennen glaubte. Doch Abel ging nicht auf die Provokation ein, sondern antwortete gleichmütig: "Nun, einen Kämpfer der mich besiegt werde ich sicherlich nicht zu euch bringen können."
"Da habt ihr wohl recht. Noch etwas?"
"Suladân hat ein Kopfgeld auf sie ausgesetzt, und zwar ein ziemlich hohes. Außerdem will er sie auf jeden Fall lebend, was ungewöhnlich ist."
"Hm...", machte Kimyet, und zwirbelte mit einer Hand seinen Kinnbart. Dann ging er wieder um seinen Tisch herum, öffnete eine Schranktür und warf Abel einen Geldbeutel zu, den der Kopfgeldjäger geschickt auffing. "Eure Belohnung. Und eure Entschädigung für ihren Tod." Er warf einen zweiten Beutel, den Abel allerdings sofort wieder zurückwarf.
"Sie wird nicht sterben", widersprach er, und für einen Moment streiften seine toten Augen Narissa, die dem ganzen Austausch stumm gelauscht hatte. Noch immer hatte sie keine Ahnung, was dieser Händler mit ihr vorhatte - würde er sie als Sklavin verkaufen? Aber dabei starb man in der Regel nicht, also musste es etwas anderes sein. Womöglich etwas schlimmeres.
Kimyet wog den Beutel für einen Moment in der Hand, und betrachtete Narissa mit neuem Interesse. "Nun denn." Er legte das Geld zurück in den Schrank und verschloss die Tür. "Dann bewahre ich das Geld auf und werde es euch hinterher geben, falls sie nicht überlebt."
"Sie wird überleben", sagte Abel, und Kimyet setzte sich wieder hinter seinen Schreibtisch. "Euer übliches Zimmer steht bereit", sagte er. "Wollt ihr sie direkt heute Abend antreten lassen?"
"Ja", antwortete Abel, sah dabei aber nicht den Händler, sondern Narissa an. "Sie ist bereit, und hat eine Lektion zu lernen."

Fine:
Aerien von Nah-Harad


Als die gelben Mauern Aín Salahs vor Aerien auftachten atmete sie erleichtert auf. Sie hatte die Stadt also tatsächlich gefunden. Ihr Ritt nach Süden war in großer Eile erfolgt, doch sie hatte die ungeheure Weite unterschätzt, die die Ebenen und Wüsten Harads ihr in den Weg stellten. Das Land kam ihr so leer und weit vor, dass sie sich sehr klein und unbedeutend vorgekommen war. Doch die Straße, der sie gefolgt war, war nur selten von ihrer geraden Richtung abgewichen. Nachdem Aerien in der Nähe des Gasthofes, wo sie Narissas Medaillon gefunden hatte, nach dem Weg nach Ain Salah gefragt hatte, war sie kein einziges Mal davon abgewichen. Dennoch nickte sie nun, erschöpft, aber zufrieden, als sie die Stadt erreichte.

Sie war dankbar dafür, die Reise durch Ithilien, Harondor und Nah-Harad gemeinsam mit Beregond unternommen zu haben. Der Gondorer hatte ihr gezeigt, wie man Feuer machte und wie man nachts so bequem es in der Wildnis nun einmal möglich war, schlafen konnte. Die Nächte am Rande der Wüste waren überraschend kalt, doch Aerien hatte glücklicherweise unterwegs immer wieder auch in kleineren Herbergen am Straßenrand übernachten können. Karab war ein genügsames Tier, das ihr, je weiter sie nach Süden kam, mehr und mehr vertraut wurde und sie die Schmerzen an den Beinen, die die Tage im Sattel verursachten, schon bald kaum mehr spürte. Zwar würde Aerien sich trotzdem nicht als besonders begabte Reiterin bezeichnen, doch immerhin fühlte sie sich auf Karabs Rücken nun nicht mehr gänzlich fehl am Platz.

Am nördlichen Tor hielt eine Gruppe gelangweilter Männer Wache, die Aerien zwar einige interessierte Blicke zuwarfen, sie jedoch nicht anhielten. Sie musste sich einige Kommentare in der haradischen Sprache gefallen lassen, von denen sie, obwohl sie die Sprache nicht verstand, eine relativ gute Vorstellung von deren Bedeutung hatte. Die Stadt und ihr Fürst standen in Sûladans Diensten, doch Aerien sah davon nur wenig Anzeichen. Die Flagge des von Qúsay neu gegründeten Malikats war jedenfalls nirgendwo zu sehen - von den Mauern und Türmen hingen die Farben Ain Salahs oder die Rote Schlange Sûladans. Doch abgesehen davon machte die Stadt auf Aerien nicht den Eindruck, sich auf einen Krieg vorzubereiten. Die Straßen waren belebt, aber längst nicht so sehr wie es in Ain Séfra der Fall gewesen war, und bewaffnete Krieger sah man nur hier und dort. Aerien ließ Karab im Schritt gehen und sah sich aufmerksam um während sie die Hauptstraße überquerte. Sie rief sich die Beschreibung des Mannes namens Abel wieder ins Gedächtnis, die ihr der Gastwirt eher unfreiwillig gegeben hatte: Ein großgewachsener Mann von knochigem Wuchs, mit kurzem, dunklen Haar und silbernen Strähnen nahe der Ohren, markanten Augenbrauen und Hakennase. Zu ihrem Unglück gab es unter den Haradrim Aín Salahs einige Männer, auf die diese Beschreibung passte. Sie konnte sie niemals alle überprüfen und im Augen behalten. Aerien beschloss, sich zunächst einmal eine Unterkunft zu suchen.

Die Gaststätte "Zur geflügelten Schlange" bot sich ihr an, da diese eine große Terasse auf dem Dach besaß von der man einen guten Überblick auf die Hauptstraße und das Nordtor Ain Salahs bot, durch das die meisten Menschen die Stadt betraten und verließen. Sie hatte nun schon einige Tavernen von innen gesehen, und auch diese war keine Ausnahme darin, dass sie aus zwei Teilen bestand: dem Schankraum sowie den Gästezimmern. Aerien bezahlte mit ihrem letzten Geld ihr Zimmer für eine Woche und legte sich erschöpft auf das kleine Bett, das man ihr zur Verfügung stellte. Der Raum war kein Vergleich zu dem, in dem sie mit Beregond in Aín Séfra gewohnt hatte: Er besaß nur ein kleines Fenster, keinen Zugang zu einem Balkon und bot allgemein deutlich weniger Platz. Ihr wurde klar, dass Dirar damals eine wirklich sehr gute Unterkunft für sie organisiert hatte. Sie fragte sie, wo der Mann wohl inzwischen war - wahrscheinlich weiterhin in Ain Séfra in Qúsays Diensten.

Nachdem sie einige Zeit hin- und her überlegt hatte ohne eine Entscheidung zu treffen verließ sie ihr Zimmer und setzte sich an einen der leeren Tische im Schankraum, der sich nun langsam zu füllen begann, denn es war Nachmittag geworden. Aeriens Laune war auf einem Tiefpunkt angekommen. Zwar war sie jetzt in Aín Salah, doch von Narissa oder Abel fehlte jede Spur. Die Stadt war viel zu groß, um sie auf eigene Faust zu durchkämmen. Sie bezweifelte, dass sie dabei etwas finden würde. Ob dieser bazîr(1) von einem Gastwirt wirklich die Wahrheit gesagt hat? fragte sie sich. Vielleicht sollte ich zurückreiten und...
"Einen Anblick wie Euch sieht man in diesen Gefilden selten," sagte eine leise Stimme neben ihr und riss sie aus den Gedanken. Aerien zuckte überrascht zusammen. Sie hatte nicht aufgepasst! Sie konnte ihren Vater quasi vor sich sehen, wie er streng sagte: Halte stets deine Umgebung im Auge!
"Es tut mir Leid, wenn ich Euch erschreckt habe," sagte der Mann, der sich ihr gegenüber an den Tisch gesetzt hatte. Er hatte kurzgeschorenes braunes Haar, ein breites Kinn und dunkle, braune Augen, die Aerien neugierig musterten.
"Wer seid Ihr?" wollte sie wissen und vergewisserte sich, dass Dolch und Schwert griffbereit waren.
"Mein Name ist Eayan al-Tayir," stellte sich der Unbekannte vor. "Ihr müsst nichts von mir befürchten, meine Schöne. Ich werde mich hüten, Euch auch nur Unbehagen zu bereiten. Ich sehe, Ihr seid sowohl bezaubernd als auch gefährlich."
Na großartig, stöhnte Aerien innerlich auf und befürchtete schon, auf einen zweiten Sahír getroffen zu sein. Beinahe verfluchte sie ihr Aussehen und nahm sich vor, ab sofort überall eine Kapuze aufzusetzen.
"Solche Worte hört Ihr wahrscheinlich ständig, nicht wahr?" fuhr Eayan fort. "Nun, es ist nicht von der Hand zu weisen, dass Ihr für das Auge sehr ansprechend seid. Doch jemand wie ich, der in der Lage ist, dahinter zu blicken, erkennt, dass Ihr mehr als nur ein hübsches Gesicht seid. Lasst mich Euch auf ein verfrühtes Abendessen einladen und wir unterhalten uns ein wenig. Ganz zwanglos. Ich kenne mich in Aín Salah gut aus. Da Ihr neu hier seid, habe ich womöglich nützliche Informationen für Euch."
"Was springt für Euch dabei heraus?" fragte Aerien misstrauisch.
"Nun, einem geringeren Mann würde vermutlich Eure Gesellschaft reichen, und wahrscheinlich würde er darauf hoffen, an das zwischen Euren Beinen zu gelangen," sagte Eayan mit einem schiefen Lächeln. Bevor Aerien eine empörte Antwort geben konnte winkte ihr Gegenüber jedoch ab. "Glücklicherweise verfolge ich andere Interessen. Ihr werdet schon sehen. Es ist nichts gefährliches, keine Sorge. Nur ein einfaches Gespräch." Er machte eine kurze Pause und fügte dann zwinkernd hinzu: "Was aber nicht bedeutet, dass ich Euch nicht begehrenswert finde, meine Liebe."
"Ein Essen," beschloss Aerien. "Mehr nicht."
Eayan nickte zufrieden. "Das wird vollauf genügend. He, Wirt!" rief er und bestellte zwei großzüge Portionen des Tagesgerichts, bei dem es sich um diverse haradische Speisen bestehend aus Trockenfleisch, Kichererbsen und Salat handelte.
"Wie lautet Euer Name?" fragte Eayan.
"Azruphel", antwortete sie. Ein gondorischer Name würde in Sûladans Reich wahrscheinlich weniger gut ankommen als ein Name, der nach Mordor oder Umbar klang.
"Ah," machte Eayan und grinste zufrieden in sich hinein. "Ich hatte es vermutet. Ihr seht einem Bekannten meinerseits so ähnlich, dass mir bereits dachte, dass Ihr vom langlebigen Volk Mordors stammen müsst."
"Wer ist dieser Bekannte?" fragte Aerien.
"Ein Mann namens Karnûzîr. Kennt Ihr ihn?"
"Karnûzîr? Aglazôrs Sohn? Ja, ich habe ihn ein- oder zweimal getroffen."
Eayan blickte sie prüfend an. "Und wie steht Ihr zu ihm, Azruphel, wenn ich fragen darf?"
"Ich kenne ihn nicht gut genug um mir eine Meinung über Karnûzîr gebildet zu haben," antwortete sie wahrheitsgemäß. "Sein Vater allerdings ist ein echter Gauner, dessen Loyalität dem gehört, der am besten zahlt. Wenn sein Sohn genauso ist, hege ich nur wenig Sympathie für ihn."
Eayan nickte, offenbar zufrieden mit dieser Antwort. "Nun, nicht jeder kann ein bis in den Tod treuer Diener des Dunklen Herrschers sein, nicht wahr?"
"Wohl nicht," gab Aerien zurück und blickte zur Seite. Ihr wurde das Gespräch langsam ungemütlich. Sie hatte mehr verraten, als sie geplant hatte. Also beschloss sie, in die Offensive zu gehen. "Erzählt mir von Euch," sagte sie und legte einen bewundernden Klang in ihre Stimme; eine Übung, die sie dank der Ausbildung ihrer Mutter mit Leichtigkeit beherrschte. Obwohl sie nicht glaubte, bei Eayan tatsächlich den Eindruck erwecken zu können, dass sie ihm verfiele, wollte sie es wenigstens versuchen.
"Ich? Oh, da gibt es nicht viel zu sagen," winkte ihr Gegenüber ab. "Ich bin ein einfacher Mann, der hin und wieder Aufträge für eine Gruppe von Freunden übernimmt, die hier in der Nähe eine... Unterkunft betreiben. Nichts spektakuläres, nur einige Lieferungen oder Nachrichten, die überbracht werden müssen."
"Nun, offenbar bezahlen diese Leute Euch gut," befand Aerien.
"Gut genug um mir ab und zu die Gesellschaft eines hübschen Mädchens wie Euch zu leisten," gab Eayan zurück.
"Habt Ihr jemals etwas von einem Mann namens Abel gehört?" fragte Aerien. "Ich bin auf der Suche nach ihm. Er hat jemanden in seiner Gewalt, den ich gerne zurück hätte."
Eayans Gesichtsausdruck veränderte sich schlagartig und seine Stimme nahm einen ersten Klang an. "Der Name ist mir bekannt, und der Mann leider auch. Der, den Ihr sucht, ist hier, in der Stadt. Aber Ihr solltet ihn nicht suchen. Abel ist ein gefährlicher Mann, gefährlicher als Ihr oder ich es jemals sein werden. Lasst die Finger davon, Azruphel! Wen auch immer er gefangen hat - die Person ist längst tot oder wird es bald sein, wenn die Geschichten stimmen, die man sich über Abel erzählt."
"Geschichten?" wiederholte Aerien, doch Eayan winkte ab.
"Ich will Euch keine Albträume bescheren. Wenn Ihr wirklich daran festhalten wollt, nach Abel zu suchen, solltet Ihr Euch im Westen der Stadt umsehen. Mehr kann ich Euch leider nicht sagen - dorthin habe ich Abel heute morgen gehen sehen. Ich rate Euch aber deutlich davon ab."
"Ich muss es versuchen," sagte Aerien mehr zu sich selbst als zu Eayan. "Habt Dank, Eayan. Ich werde es euch vergelten, wenn ich mit Abel fertig bin."
"Oh, Ihr schuldet mir nichts, meine Liebe," wehrte Eayan ab. "Ich behalte Euch im Auge. Wir sprechen uns später." Er erhob sich geräuschvoll und ging hinaus. Aerien blieb voller Fragen, Zweifel und Sorge zurück, unsicher, wie ihr nächster Schritt aussehen sollte.


(1) adûnâisch "Idiot, Nicht-Denkender"

Eandril:
Als der Abend nahte zog Abel Narissa, die bislang regungslos in einer Ecke des Zimmers auf dem Boden gesessen hatte, grob auf die Füße. "Zeit für deinen Auftritt." Aus einer seiner Taschen zog er einen kleinen Lederbeutel und schüttete ihr ein wenig eines feinen weißen Pulvers in die offene Handfläche. Narissa wusste, worum es sich handelte. Es war eine Droge, die manche Männer vor dem Kampf einnahmen um ihre Sinne zu schärfen und ihre Reflexe zu verbessern. Sie selbst hatte sie nie genommen, denn ihr Großvater hatte streng darauf geachtet, dass seine Gefolgsleute nicht von solcherlei Mitteln abhängig waren. Denn hatte man zu viel davon genommen konnte man irgendwann nicht mehr kämpfen ohne es vorher eingenommen zu haben. Und es hatte Nebenwirkungen - Narissa hatte von mehr als einem Krieger gehört, der daran gestorben war.
"Durch die Nase einziehen", befahl Abel, doch Narissa rührte sich nicht. Es war das erste bisschen Widerstand, dass sie seit langem zeigte. Allmählich begriff sie, was ihr bevorstand und worum es sich bei dem runden Holzgebäude hinter dem Haus handeln musste. "Tu es", sagte Abel drohend. "Sonst mache ich es. Es gibt nämlich noch ein paar andere Stellen an deinem Körper über die du das aufnehmen kannst, aber ich verspreche dir, das wird deutlich unangenehmer."
Narissa zögerte noch einen kurzen Moment, hob dann die Hand an die Nase und zog das Pulver mit einem kräftigen Atem ein. Für einen Moment kribbelte ihre Nase und die hatte das Gefühl, Niesen zu müssen, doch das ging schnell vorbei. Stattdessen schienen die Farben der Umgebung plötzlich kräftiger zu werden, und auch ihre anderen Sinne wurden besser. Nun hörte sie Abels ruhigen, langsam gehenden Atem, roch das Leder ihrer Stiefel und den Tabak, den Abel bei sich trug.
"Gut", knurrte der Kopfgeldjäger. "Also los."

Nur wenige Minuten später trat Narissa vor Abel durch eine große hölzerne Tür, und fand sich in einer komplett aus Holz erbauten runden Arena wieder. Um den mit Sand bestreuten Kampfplatz in der Mitte zogen sich im Kreis mehrere Sitzreihen, deren niedrigste etwa fünf Fuß höher lag als der Boden. Auf der Nordseite der Arena war ein metallenes Fallgitter zu sehen, dass im Augenblick geschlossen war.
Auf den Sitzen hatte sich bereits ein Publikum verschiedenster Menschen versammelt, die sich angeregt unterhielten und gespannt auf etwas zu warten schienen. Während Abel Narissa einen Durchgang zwischen den Sitzreihen in Richtung des Kampfplatzes stieß, verstummten die Gespräche nach und nach, und immer mehr Augenpaare wandten sich ihnen zu. Schließlich, am Rand der Arena, stand plötzlich der kleine, glatzköpfige Kaufmann Kimyet vor ihnen.
"Ist sie bereit?", fragte er Abel, und sah an Narissa vorbei als wäre sie Luft. So aus der Nähe und mit ihren unnatürlich geschärften Sinnen sah sie, dass trotz seiner oberflächlich freundlichen Erscheinung in seinen Augen kein Funken Mitgefühl oder Freundlichkeit zu sehen war.
"Ist sie", bestätigte Abel, und Kimyet rieb sich zufrieden die Hände. "Hervorragend. Dann mal hinein mit ihr." Er öffnete eine Tür in dem Geländer, dass die Sitze von der Arena abtrennte, und Abel stieß Narissa ohne Vorwarnung hinein. Zum Glück waren fünf Fuß kein allzu tiefer Sturz, und es gelang Narissa sich halbwegs abzurollen.
"Habt ihr nicht etwas vergessen?", hörte sie Kimyet von oben fragen, und im nächsten Augenblick landeten zwei Dolche neben ihr im Sand: Ciryatans Dolch, und einen der Waffen, die ihr König Músab geschenkt hatte. Auf den Sitzen war wieder Gemurmel zu hören, als Narissa langsam die Waffen aufnahm, und sich in der Arena umsah. An mehreren Stellen waren alte Blutflecken auf dem Sand zu erkennen, und an einer Stelle der hölzernen Umrandung deuteten graue Flecke auf getrocknete Gehirnmasse hin. Narissa atmete tief durch, und fasste einen Entschluss. Sie würde sich von diesen Menschen nicht zum Kämpfen zwingen lassen. Sie würde ihnen nicht das Spektakel bieten, dass sie offenbar hier suchten.
Rund um den Arenazaun hatten Männer mit langen Lanzen Aufstellung genommen, während Kimyet zum etwas erhöhten Teil über dem Fallgatter geeilt war.
"Verehrte Gäste", begann er schließlich zu reden. "Ich freue mich, dass ihr alle hier erschienen seit. Ihr kennt unsere Regeln, daher werde ich euch nicht damit langweilen. Dieses Mädchen hier ist eine Gefangene unseres geschätzten Freundes Abel, und nach seiner Erzählung eine äußerst gerissene und gute Kämpferin." Abel, der neben Kimyet auf die Brüstung gelehnt stand, erwiderte den Applaus der Menge mit starrer Miene, die schwarzen, toten Augen nur auf Narissa gerichtet.
"Wer es schafft sie zu töten, wird reich entlohnt werden", fuhr Kimyet fort. "Wer tritt freiwillig gegen sie an?"

"Ich." Ein großer Mann mit einem Krummsäbel an der Seite erhob sich. Sein Gesicht trug die Narben vieler Kämpfe, und an der Art, wie er sich bewegte erkannte Narissa, dass er durchaus ein erfahrener Krieger war. "So ein dürres Mädchen werde ich noch mit der linken Hand besiegen." Er schwang sich über die Brüstung, kam weich auf dem Sand auf und ließ den Säbel aus der Scheide fahren. Narissa wich einen Schritt zurück. "Nein, bitte." Ihre Stimme war rau und leise vom langen Schweigen. "Zwing mich nicht dazu."
Ihr Gegner ließ den Säbel locker in der Hand kreisen. "Tut mir leid, Kleine. Aber ich kann das Geld gut gebrauchen, und dazu musst du sterben." Er trat einen Schritt nach vorne, und Narissa einen weiteren zurück. Sie stand jetzt genau in der Mitte des Sandplatzes, und sagte wieder: "Bitte. Ich will das nicht." Ihre geschärften Sinne ließen sie das aufgeregte Geraune der Zuschauer hören, und sie hasste sie alle. Der Mann zögerte kurz, wog seine Säbel noch einmal in der Hand, und griff dann an. Narissa wich seinem Hieb aus, tänzelte um ihn herum, schlug aber nicht zu. Stattdessen wich sie wieder einen Schritt zurück, und erwartete den nächsten Angriff. Diesem wich sie mit einer Rolle aus, kam hinter ihrem Gegner wieder auf die Füße, nutzte ihren Vorteil aber erneut nicht. Erneut wartete sie nur auf den Angriff, während von den Rängen erst Buhrufe zu hören waren.
Das Spiel trieb sie noch einige Minuten erfolgreich weiter, bis ihr Gegner schweißgebadet war und keuchte. Sie erkannte jetzt, dass der Mann sie unterschätzt hatte, und eigentlich auf einen leichten Gegner für schnelles Geld gehofft hatte. Schließlich hörte sie Abels Stimme direkt über sich: "Schluss mit den Spielchen, Mädchen. Töte ihn, oder lass dich töten. In diesem Fall wäre ich allerdings sehr enttäuscht. Aber wenn du so weitermachst, komme ich runter und töte dich persönlich - und das wird nicht schnell und schmerzlos."
Als ihr Gegner erneut anstürmte, wich sie nicht aus sondern blieb bis zur letzten Sekunde stehen. Dann parierte sie seinen Säbel, stieß sich davon in eine Drehung ab und nutzte den gewonnenen Schwung dazu, ihm den Ellbogen gegen den Hals zu rammen. Der Mann brach auf der Stelle zusammen, die Hände an die Kehle gepresst. Als Narissa zum stehen kam sah sie, dass sein Gesicht bereits blau anlief und begriff, dass ihr Schlag ihm die Kehle zerschmettert haben musste.
"Nein..." Sie ließ ihre Waffen fallen und sank auf die Knie. "Das... wollte ich nicht."
"Der erste Kämpfer hat verloren, die Belohnung für den Sieger steigt", hörte sie Kimyet sagen. "Wer wagt sich als nächstes in die Arena?" Narissa begriff, dass sie solange kämpfen würde, bis sie genug Menschen getötet hatte dass niemand mehr gegen sie antreten wollte - oder sie starb.
Sie erhob sich langsam, hob ihre Dolche auf und warf einen Blick entlang der Sitzreihen. Die Zuschauer schienen vor ihren Augen zu einem einzigen Wesen zu verschmelzen, dass nur Blut und Tod sehen wollte, und sie verachtete sie. Es gab nur einen Ausweg um ihnen nicht zu geben, was sie wollten.
Narissa ließ den Dolch aus Kerma fallen und setzte sich den anderen Dolch, das Erbstück ihrer Familie, eine Waffe aus Westernis, auf die Brust, direkt über dem Herzen.
"Bist du auch dazu bereit, Turmherrin?", erklang Abels kalte Stimme über ihr, und plötzliche Stille hatte sich über die Arena gelegt. Narissa drückte zu, sodass sie die Spitze des Dolches durch ihr Hemd auf der Haut spürte. Ihre Hand zitterte.
"Ja, ich weiß wer du bist, woher du kommst und wo du gelernt hast, so zu kämpfen", fuhr Abel fort, und aus dem Rest des Publikums war noch immer kein Laut zu hören. Und noch immer konnte Narissa nicht zustechen. "Dort haben sie dir beigebracht, Leben zu nehmen, aber auch, dass Leben wertvoll ist. Und welches Leben könnte wertvoller sein als das eigene?" Abel lachte, und es war ein grauenerregender Laut. "Aber sie haben sich gerirrt, denn Leben sind gar nichts wert. Also los, tu es. Ich gewinne, was auch immer du tust."
Der Dolch zitterte.

Narissas Atem ging stoßweise, als Bilder vor ihren Augen auftauchten, von ihrem Großvater, Níthrar, Bayyin... Aerien... und ihrer Mutter. Ihr Atem beruhigte sich, und ein Gefühl des Friedens breitete sich in ihr aus.
Der Dolch zitterte nicht mehr, und die Stille in der Arena war ohrenbetäubend.

Dann wurde eine Tür mit Gewalt aufgestoßen, Narissa blickte hoch und der Moment war vorüber. Eine Gruppe schwarzgekleideter und schwerbewaffneter Männer betrat den Raum, angeführt von dem Mann, dem sie und Abel einen Tag zuvor bereits begegnet waren: Karnûzîr.
"Halt", sagte dieser mit gebieterischer Stimme. "Ich erhebe Anspruch auf dieses Mädchen."
"Unsere Regeln sind eindeutig. Wenn ihr sie haben wollt, geht in die Arena und holt sie euch", erwiderte Kimyet in ebenso stählernem Tonfall. Karnûzîr zuckte mit den Schultern, und gab drei seiner Männer ein Zeichen, die sich sofort über die Brüstung schwangen. Narissa nahm den Dolch von ihrer Brust und den anderen vom Boden auf. Sie würde sich diesen Männern, die sie vermutlich zu Suladân bringen würden, nicht ergeben. Doch bevor die Männer sie angriffen, sprach Karnûzîr erneut. "Wer nicht sterben will, sollte diesen Raum sofort verlassen."
Einen Augenblick herrschte wieder Stille, bis den Zuschauern aufzugehen schien, dass er es ernst meinte. Dann drängten die meisten panisch dem Ausgang zu, und nur einige wenige, deren Absicht es offenbar gewesen war, heute zu kämpfen und die daher bewaffnet waren, stellten sich zu Abel, Kimyet und seinen Wachen. Ein Blick nach oben verriet Narissa, dass Abel sein Schwert gezogen hatte, und ihr graute vor dem, was geschehen würde.

Im selben Moment machte Karnûzîr zwei rasche Handbewegungen, Abel riss blitzschnell sein Schwert in die Höhe und wehrte einen metallenen Gegenstand ab. Kimyet, der unbewaffnet war, hatte weniger Glück. Der Wurfstern bohrte sich direkt in seine Stirn, und der Händler und Arenameister stürzte zuckend nach hinten. Noch eine Sekunde zögerten die Kämpfer beider Parteien, dann stürzten sie aufeinander los. Narissa packte ihre Dolche fester und erwartete den Angriff ihrer drei Gegner.

Fine:
Aerien blieb noch eine ganze Stunde im Schankraum ihres Gasthauses, ohne auch nur einen einzigen Schritt weiter zu kommen. Sie schwankte zwischen zwei Optionen: Auf gut Glück ins Westviertel Ain Salahs zu gehen und dabei hoffentlich eine Spur von Narissa zu entdecken, oder die Lage vom relativ sicheren Aussichtspunkt auf dem Dach der "Geflügelten Schlange" zu beobachten und erst einmal nichts zu unternehmen. Beide Optionen wogen in ihren Gedanken gleich schwer. Die Begegnung mit Eayan hatte ihr gezeigt, dass sie sich mehr konzentrieren und die Regeln, die ihr ihr Vater eingeschärft hatte, erneut verinnerlichen musste. Sie durfte keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Doch gleichzeitig wusste sie nicht, wie viel Zeit Narissa noch blieb... ob es vielleicht nicht schon zu spät für sie war.

Leises Gerede am Nachbartisch riss sie aus ihren Gedanken. Zwei Gestalten, eine Frau und ein Mann, unterhielten sich leise auf adûnâisch. Aerien horchte auf, denn ihre Muttersprache war ihr in Harad (abgesehen von ihrem Onkel Aglazôr) noch nicht begegnet. Sie gab vor, nichts zu bemerken und starrte intensiv ihren leeren Krug an, als wäre sie nur eine weitere Südländerin, die zu schnell und zu viel getrunken hatte. Bei den Personen am Nebentisch handelte es sich eindeutig um Haradrim, und sie sprachen die Sprache Númenors mit starkem Akzent. Aerien hatte sogleich einen Verdacht, von wem die beiden die Sprache gelernt hatten: von ihrem Vetter Karnûzîr. Vielleicht hielt er sich ja gerade in Aín Salah auf. Dies würde Aerien einige Möglichkeiten geben. Doch ehe sie weiter darüber nachsinnen konnte wandten sich die beiden Haradrim einem für sie sehr interessanten Thema zu.
"Dieser Kopfgeldjäger, Abel, ist heute morgen hergekommen," sagte die Frau mit deutlicher Abneigung in der Stimme.
"Ja, ich habe auch davon gehört," knurrte der Mann. "Hat offenbar Frischfleisch für die Gruben Kimyets 'rangeschafft."
"Kimyet? Warte mal... ist heute nicht sogar ein "besonderer" Kampf angesagt worden?"
Der Mann nickte. "Ich schätze, Abel hat da einen außergewöhnlichen Fang gemacht. Du hast ja gehört, was Wüstenklinge gesagt hat. Wir sollen die ganze Truppe zusammenrufen."
"Das ist bereits erledigt," gab die Frau zurück. "Wir sollten uns mit ihnen treffen, wenn du ausgetrunken hast."
"Nun, nichts leichter als das," sagte der Mann leichthin und trank seinen Krug mit einem großen Schluck leer. "Machen wir uns auf den Weg."

Aerien war klar, dass dies eine einmalige Gelegenheit war. Sie setzte die Kapuze ihres grauen Umhangs auf und folgte den Haradrim so gut sie konnte. Die beiden schlugen wenig überraschend den Weg in den westlichen Teil Ain Salahs ein. Aerien wünschte sich, in Durthang die Ausbildung einer Attentäterin der schwarzen Númenorer durchlaufen zu haben - dann wäre ihr die Verfolgung ein Leichtes gewesen. Doch ihr Training war ein anderes gewesen - das der List, Intrigen und Manipulation. So blieb ihr nichts übrig, als sich durch den Menschenstrom zu schlängeln und zu versuchen, die beiden Haradrim nicht aus den Augen zu verlieren. Irgendwie gelang es ihr, ob durch Glück oder Schicksal, den beiden bis zu einem großen Gebäude im Westviertel zu folgen, hinter dem sich eine hölzerne Arena befand. Hier bogen die Haradrim ab und verschwanden in einer Seitengasse. Doch Aerien hatte den Ort gefunden, von dem sie gesprochen hatten. Nun musste sie nur noch hineinkommen. Am Eingang standen zwei breitgebaute Schläger, die die Straße aufmerksam im Auge behielten und Aerien bereits misstrauisch beäugten. Da sie keine Chance sah, diese Wächter zu umgehen, setzte sie die Kapuze ab, setzte ein echt wirkendes Lächeln auf und marschierte hoch erhobenen Hauptes auf den Eingang zu. Ehe die Wächter reagieren konnten sagte sie mit aller Arroganz und Hochmut in der Stimme, die sie aufbringen konnte: "Karnûzîr schickt mich. Ich soll ihm einen guten Platz freihalten."
"Was bist du, seine Schwester, oder was?" gab einer der Wächter zurück.
"Ganz recht," erwiderte Aerien, dankbar für die Gelegenheit. "Macht Platz, ehe ich ungemütlich werden muss."
"Verdammt," knurrte der andere Wächter. "Jetzt gibt es schon zwei von denen. Also gut, hereinspaziert. Richte deinem Bruder die besten Grüße Meister Kimyets aus."

Drinnen roch es nach Blut. Aerien durchquerte einen kurzen Gang und kam durch einen Torbogen in die Arena, auf der Höhe der obersten Sitzreihe. Die Ränge waren bereits gut gefüllt - offenbar würde der Kampf bald beginnen. Aerien setzte ihre Kapuze wieder auf und verbarg ihr Bastardschwert so gut es ging unter ihrem Umhang. Dann suchte sie sich einen Platz auf mittlerer Höhe und wartete ab. Sie beobachtete etwas, das einer der Ansager "Vorkämpfe" bezeichnete; Kämpfe, die von geringerer Wichtigkeit waren und bei denen Kämpfer antraten, die noch nicht sonderlich gut bekannt waren. Dabei bekam Aerien einen ziemlich guten Eindruck, was dieser Meister Kimyet für ein Mensch war - niemand, dessen Tod sie betrauern würde.
Schließlich trat ein Mann durch einen der Eingänge auf der Tribüne auf Kimyet zu, um den es sich nur um Abel handeln konnte. Er passte genau auf die Beschreibung, die man Aerien gegeben hatte; und er strahle eine bösartige Aura aus, die Aerien seit Mordor nicht erlebt hatte. Und vor ihm her ging... Narissa.
Sie ist es tatsächlich, dachte Aerien mit einer Mischung aus Erleichterung, Sorge und Aufregung. Ich habe sie wirklich gefunden. Und jetzt werde ich sie retten.
Sie musste zugeben, dass Narissa nicht gut aussah. Die Kleidung war an vielen Stellen zerissen und und ihre Arme und Beine wiesen Schrammen, Beulen und blaue Flecken auf. Abel stieß das Mädchen in die Arena hinab und ihr wurden Dolche zugeworfen. Alles in Aerien schrie danach, aufzuspringen und ihrer Freundin zu helfen, doch die Vernunft und die Stimme ihres Vaters zwangen sie, still zwischen den anderen Zuschauern sitzen zu bleiben und auf eine günstige Gelegenheit zu warten.

Die Gelegenheit kam, nachdem Narissa den ersten Mann getötet hatte. Eine Gruppe Personen betrat unter großen Aufruhr die Zuschauerränge. Aerien erkannte die beiden Haradrim, denen sie hierher gefolgt war, unter ihnen. Und angeführt worden sie von keinem anderen als ihrem Vetter Karnûzîr. Sie erkannte ihn sofort wieder. Getroffen hatte sie ihn nur ein einziges Mal, und das hatte ihr für den Rest ihres Lebens genügt. Karnûzîr war mit seinem Vater Aglazôr nach Durthang gekommen. Und er hatte eindeutiges Interesse an Azruphel gezeigt, trotz ihrer Blutsverwandschaft. Glücklicherweise hatte ihr Vater diese Verbindung sofort verboten. Als er abreiste, hatte Karnûzîr Azruphel ein Versprechen gegeben: Wenn wir uns das nächste Mal wiedersehen, wirst du mir gehören. Sie zog die Kapuze tiefer über ihr Gesicht. Er durfte sie nicht erkennen, sonst wäre alles aus.
"Halt", rief Karnûzîr, und Aerien stellte fest, dass sich seine Stimme seit ihrem damaligen Treffen verändert hatte. "Ich erhebe Anspruch auf dieses Mädchen." Sie war tiefer, machtvoller und kälter geworden. Aus dem Jungen war ein Mann geworden.
"Unsere Regeln sind eindeutig," gab Kimyet zurück, den Karnûzîrs Auftritt nicht zu beeindrucken schien. "Wenn Ihr sie haben wollt, geht in die Arena und holt sie Euch".
Und genau das schien Karnûzîrs Plan zu sein, denn drei seiner Begleiter sprangen sogleich zu Narissa in die Arena hinab. Aeriens Hand legte sich auf den Griff ihres Schwertes, doch da sprach ihr Vetter weiter: "Wer nicht sterben will, sollte diesen Raum sofort verlassen," verkündete er und löste damit Panik unter den Besuchern aus. Die meisten eilten sofort auf die Ausgänge zu, doch einige wenige stellten sich kampfbereit zu Abel und Kimyet. Aerien erkannte ihre Gelegenheit und schloss sich dieser Gruppe an, doch sie hielt sich im Hintergrund. Als die Waffen gezogen wurden machte sie ihr Schwert los und hielt es kampfbereit vor sich. Da fiel Kimyet, getroffen von einem agân-Wurfstern Karnûzîrs, die Aerien in ihrer Heimat schon oft im Einsatz erlebt hatte - und pures Chaos brach aus.

Karnûzîrs Leute stürzten sich auf Abel und die Gruppe, die Kimyet beigestanden war. Ein heftiges Gefecht entbrannte, doch Aerien beteiligte sich nicht daran. Mit einem großen Satz sprang sie in die Arena hinuter und rollte sich geschickt ab. Narissa war unterdessen von den drei Haradrim, die Karnûzîr auf sie angesetzt hatte, schwer in Bedrängnis geraten. Offenbar hatte ihre Gefangenschaft Spuren hinterlassen. Aerien kam hinter dem ersten Südländer auf die Beine und rammte ihm kurzerhand die scharfe Klinge Lôminzagars durch den Rücken, sodass die Spitze vorne zwischen seinen Schultern wieder austrat. Rasch riss sie das Schwert los und duckte sich unter einem Keulenhieb weg. Mit einer wirbelnden Drehung um die eigene Achse nutzte sie den Schwung, um dem zweiten Haradrim-Krieger den Kopf abzuschlagen. Aerien kam zum Stehen und sah, wie der dritte Narissa einen ihrer beiden Dolche aus der Hand geschlagen hatte und gerade zum erneuten Schlag ausholte. Mit einem Kampfschrei ließ Aerien ihre Klinge auf den Kopf des Mannes niedergehen, der gespalten zu Boden sank. Dabei rutschte ihr die Kapuze nach hinten und enthüllte ihr Gesicht. Narissa blinzelte, als würde sie aus einem Traum erwachen, und in ihren weit geöffneten Augen stand Unglauben.
"Sie wollten mich zwingen, zu...", stieß sie hervor, schüttelte dann den Kopf und sagte: "Aerien?" "
"Keine Zeit dafür," unterbrach Aerien und bedeutete Narissa, ihr zu folgen.
"Aber wie... du..." setzte Narissa erneut an, doch Aerien packte sie kurzerhand am Arm und zerrte sie auf das Gitter zu, das den einzigen Ausgang der Arena versperrte.
"Auch dafür keine Zeit! Wir müssen hier verschwinden, jetzt sofort, während unsere Gastgeber mit ihren Besuchern beschäftigt sind!" Sie zerrte die verdutzte Narissa mit sich, auf den Ausgang zu. Das Gitter war von einem Schloss versperrt, doch Narissa schien nun ganz instinktiv zu handeln. Mit einem gut gezielten Hieb ihres Dolches brach sie das Schloss auf und der Weg war frei. Dahinter lag ein Tunnel, an dessen Ende die Freiheit auf die Mädchen wartete. Ein weiteres Schloss stellte sich ihnen in den Weg, und erneut machte Narissa mit einer gut einstudierten Bewegung kurzen Prozess damit. Sie stürzten hinaus, auf die Straße.

Als sie gerade schon aufatmen wollte drang ein nur allzu gut bekanntes schwirrendes Geräusch an Aeriens Ohr, und Nariass schrie nieben ihr schmerzerfüllt auf. Eine rote Spur zog sich seitlich über ihr Gesicht. Im Tunneleingang war Karnûzîr aufgetaucht und hatte einen seiner agâni(1) geworfen. Und jetzt richtete sich sein Blick auf Aerien. Sein Gesichtsausdruck wechselte von Überraschung zu bösartiger Freude. "Azruphel Belkâli. Welch wunderbare Überraschung," rief er und kam heran. Aerien presste die Zähne zusammen und zerrte Narissa, die vor Schmerz wimmerte und sich die Hand auf ihre Verletzung presste, weiter mit sich, die Straße entlang. Schon glaubt sie, dass jetzt alles verloren war, da kamen ihr die unwahrscheinlichsten Retter zur Hilfe, die sie sich hatte vorstellen können: die beiden Wächter, die den Eingang zu den Zuschauerrängen bewacht hatten und die Aerien ausgetrickst hatte. Sie griffen nun in den Kampf ein und lenkten Karnûzîr lange genug ab, sodass es Aerien gelang, Narissa in eine Seitengasse zu bugsieren. Dort wartete bereits ein bekanntes Gesicht auf sie: Eayan al-Tayir, zwei Pferde am Zügel führend. Karab wieherte freudig, als er Aerien erkannte. Sie hievte Narissa mit großer Mühe in den Sattel und schwang sich hinter ihr auf Karabs Rücken. Sie hielt sich nicht damit auf, Eayan zu fragen, was er hier tat und woher er wusste, welches ihr Pferd war. Es zählte nur eines: so schnell wie möglich weg von hier zu gelangen.
"Kommt mit mir, wenn ihr überleben wollt!" rief Eayan, der seltsamerweise ein Lächeln im Gesicht trug. "Das wollte ich schon immer mal sagen," fügte er grinsend hinzu. Dann gab er seinem Pferd die Sporen und preschte los, durch die enge Seitengasse in südlicher Richtung. Aerien bedeutete Karab, dem Reiter zu folgen, und das große Ross trug die beiden Mädchen mühelos durch die von der Abendsonne rötlich gefärbten Gassen und Straßen der Stadt, einem ungewissen Schicksal entgegen.


Aerien, Narissa und Eayan in die Umgebung Ain Salahs

(1) adûnâisch "Wurfstern, Flugklinge"

Eandril:
Narissa, Valion und Valirë von vor der Stadt...

Allein der Anblick der gelblichen Stadtmauer von Ain Salah hatte ausgereicht, um Narissas eigentlich gute Stimmung erheblich zu trüben, und als sie unter dem Westtor hindurch ritten, erreichte sie einen Tiefpunkt. Die Erinnerung an das letzte Mal, als sie unter diesem bröckelnden Torbogen hindurchgeritten war schob sich immer wieder in ihre Gedanken, gleich wie entschlossen sie sie beiseite schob.
Bis sie den Gasthof, in dem sie mit den Zwilligen und den übrigen Gondorern untergebracht worden war, erreicht hatten, kämpfte Narissa mit Wellen von Übelkeit und einem diffusen Gefühl der Panik. Sie spürte den kalten Schweiß, der sich auf ihrer Haut gebildet hatte, und ihr Gesichtsfeld schien merkwürdig eng.
"He", hörte sie Valions Stimme wie durch Watte gedämpft. "Alles in Ordnung?" Narissa glitt von Grauwinds Rücken und schlang die Zügel um einen Pfosten vor dem Gasthof, bevor sie abwinkte.
"Alles... alles in Ordnung. Ich brauche nur... ein wenig frische Luft." Sie nahm vage wahr, dass Valirë eine Augenbraue hob. "Wir sind doch die ganze Zeit draußen."
Narissa beachtete sie nicht, sondern eilte so schnell sie konnte die Straße entlang davon, bevor sie in eine Gasse abbog und an jeder Kreuzung erneut wahllos die Richtung wechselte. Sie hatte ihr Zeitgefühl verloren und wusste nicht, wo sie war, als sie schließlich in einem kleinen Hinterhof in der Nähe der Stadtmauer stehen blieb. Ein Esel war an einem Pfahl festgebunden und betrachtete sie aus einem dunklen Auge, während er träge an einem Strohballen rupfte.
Narissa lehnte sich gegen den Zaun, den obersten Balken mit beiden Händen umklammernd. Ihr Atem ging schnell und flach, und Bilder stürzten in schneller Reihenfolge auf sie ein: Abel, wie er sie in Kimyets Haus zerrte, die Arena, ein Mann mit zerschmettertem Kehlkopf, der sich vor ihr auf dem Boden wand, Karnuzîr auf der Tribüne der Arena, Aerien, die plötzlich vor ihr auftauchte und dann ein Sirren und die Narbe auf ihrer Wange brannte wie frisch. Narissa beugte sich vor und erbrach sich heftig ins Stroh. Der Esel wich ein Stück zurück und blickte sie vorwurfsvoll an.
Sie wischte sich mit dem Handrücken über den Mund, und stellte dabei fest, dass ihr Gesicht nass von Tränen war.
Mühsam richtete sie sich auf, gerade als eine kleine, alte Frau aus dem Haus trat und sie lautstark zu beschimpfen begann. Narissa konnte zwar den Dialekt von Ain Salah einigermaßen sprechen, doch im Augenblick verstand sie kein Wort von dem, was die Alte ihr an den Kopf warf. Sie winkte mit einer schwachen Bewegung ab. "Schon gut, schon gut", murmelte sie mehr zu sich selbst. Offenbar hielt die Frau sie für eine Betrunkene, und tatsächlich fühlte Narissa sich ungefähr so. Ein wenig unsicher auf den Beinen wankte sie den Weg zurück, den sie gekommen war. Hinter jeder Ecke und in jedem Schatten glaubte sie, Gesichter zu sehen. Abel, Karnuzîr, der bleiche Herold...  Erst als sie die große Hauptstraße erreicht hatte, hatte Narissa sich wieder ein wenig gefangen - zumindest, bis sie die direkt gegenüber auf der anderen Straßenseite liegende Arena erkannt hatte.
Sie machte einen Schritt zurück, wobei sie beinahe gegen einen die Straße entlang eilenden Händler geprallt wäre, und legte Halt suchend eine Hand an die Wand des Hauses zu ihrer Rechten. Die Linke fuhr gedankenverloren den Verlauf ihrer Narbe nach. Hier war es geschehen. Der Gedanke verursachte ihr erneut Übelkeit, doch sie kämpfte sie nieder indem sie an das dachte, was eigentlich wichtig war. Hier hatte Aerien sie gerettet, vor Abel und Karnuzîr. Hier hatte das wichtigste Ereignis ihres Lebens wirklich begonnen.
Narissa überquerte die Straße, und legte mit einiger Mühe eine Hand an die hölzerne Wand der Arena. "He!", sprach sie ein Mann in gehobener Kleidung an, der gerade aus der Tür der Arena schaute. "Was soll das werden?" Narissa beachtete ihn nicht, sondern fühlte das warme, raue Holz unter ihren Fingern und wünschte sich, das Holz würde von selbst in Flammen aufgehen. Vielleicht war das die Lösung...
Bevor sie ihre Gedanken fortführen konnte legte sich sanft eine Hand auf ihre Schulter, und als sie herumfuhr sah sie sich Auge in Auge mit Valirë wieder. "Hier steckst du also", sagte Valions Schwester. "Wir haben uns Sorgen gemacht." Sie warf über Narissas Schulter hinweg einen neugierigen Blick auf die Außenwand der Arena. "Es sah aus, als wolltest du das Gebäude mit puren Blicken in Brand stecken."
"Der... Eindruck hat dich nicht getäuscht", erwiderte Narissa, und ihre Stimme klang wie die einer Fremden. Sie warf einen letzten Blick zurück. "Lass uns... lass uns zurückgehen, bitte."

Als sie den Innenraum des Gasthofes betraten, sprang Valion, der an einem Tisch in der Nähe der Tür gesessen hatte, auf die Füße. "Du hast sie gefunden!" Er musterte Narissas Gesicht. "Du siehst furchtbar aus", fügte er an sie gewandt hinzu, und Narissa zwang sich zu einem schwachen Lächeln, ehe sie sich erschöpft auf einen Stuhl fallen ließ.
"Schlechte Erinnerungen", sagte sie knapp. Valirë setzte sich neben sie, winkte den Wirt heran und bestellte eine Runde Wein. Als der Krug und die Becher vor ihnen standen, schenkte Valion ein und schob Narissa einen vollen Becher hin. "Trink", sagte er. "Du siehst aus, als könntest du es brauchen."
Nachdem Narissa einen Schluck genommen hatte - es war Rotwein, ein wenig zu sauer um als gut gelten zu können - fügte Valion hinzu: "Hat es etwas mit deiner Narbe zu tun?"
Narissa zuckte so heftig zusammen, dass sie beinahe ihren Becher umgeworfen hätte. "Woher... wie kommst du darauf?"
"Seit wir hier sind berührst du sie unablässig", sagte Valirë, die sich in ihrem Stuhl zurückgelehnt und Arme und Beine übereinander geschlagen hatte. "Da muss man nur eins und eins zusammenzählen." Narissa betrachtete die Zwillinge einen Augenblick lang mit einem Anflug von Neid. Sie schienen einander ohne große Worte zu verstehen und oft im Voraus zu wissen, was der andere dachte. Sie nahm einen großen Schluck Wein, und sagte dann: "Ich werde es euch erzählen, aber nur ein einziges Mal. Unter der Bedingung, dass ihr mit niemandem darüber sprecht." Beide nickte zustimmend, und rückten ein wenig näher an den Tisch heran, bevor Narissa zu erzählen begann. "Als ich das letzte Mal nach Ain Salah kam, war ich in der Gefangenschaft eines Mannes namens Abel..." Sie erzählte die ganze Geschichte ihrer kurzen Zeit in Ain Salah, bis hin zu ihrer Rettung durch Aerien und Eayan, und ließ keines einziges Detail aus. Es war schmerzhaft, doch gleichzeitig tat es gut, und sie war Valion und Valirë dankbar, dass sie sie an keiner Stelle unterbrachen. "... und an mehr erinnere ich mich nicht mehr, bis ich in der Burg des silbernen Bogens wieder zu mir kam", beendete sie ihre Erzählung. Valion fuhr gedankenverloren mit der Fingerspitze den Rand seines Bechers entlang. "Vielleicht sollten wir gehen und diese Arena anzünden", schlug er vor.
"Ich glaube nicht, dass Qúsay das gutheißen würde", wandte Valirë ein, doch sie klang als würde sie diese Tatsache bedauern. "Und Edrahil würde uns vermutlich den Kopf abreißen." Valion winkte ab. "Sie sollten uns dankbar sein, dass wir einen solchen Schandfleck beseitigen."
"Ich bezweifle, dass Qúsay das ebenso sehen würde", erklang Edrahils Stimme von der Tür her. "Vor allem nicht nach dem, was in Umbar geschehen ist." Er lehnte lässig an einer der Säulen, die die niedrige Decke stützten, Prinz Erchirion und zu Narissas Überraschung auch Hírilorn neben sich. Wie lange hatten sie bereits dort gestanden, und wie viel hatten sie gehört?
"Immer noch der gleiche Spielverderber", murmelte Valion leise in seinen Becher, doch Edrahil hatte ihn offensichtlich gehört. "Das hier ist kein Spiel", entgegnete er ernst, und die Zwillinge verdrehten zeitgleich die Augen. Zu ihrer eigenen Überraschung musste Narissa kichern, wurde aber sofort wieder ernst als ihr einfiel, worüber sie gerade gesprochen hatten. Edrahils Blick schien sie geradezu zu durchbohren und er deutete ihre Miene offensichtlich richtig, denn er sagte: "Keine Sorge, wir haben nur das Ende mitgehört - wo es darum ging, Teile der gerade eingenommenen Stadt in Brand zu setzen." Er entfernte sich mit Erchirion im Schlepptau in Richtung der Treppe, und Hírilorn folgte ihnen nach einem zögernden Blick in Narissas Richtung - worüber Narissa nicht unglücklich war. Sie würde später gerne mit Hírilorn sprechen, doch nicht gerade jetzt.
Als die drei außer Hörweite waren, sagte Valion leise und mit zur Abwechslung vollkommen ernster Miene: "Was dir hier passiert ist tut mir Leid, Narissa." Valirë fügte hinzu: "Falls es irgendetwas gibt was wir tun können... sag einfach Bescheid. Selbst wenn das heißt, dass wir diese Arena doch noch abfackeln." Narissa lächelte, und stellte zu ihrer Erleichterung fest, dass sie sich nicht länger dazu zwingen musste. "Ich glaube, das wird nicht mehr nötig sein. Tatsächlich tut ihr bereits alles was ihr müsst, und dafür... bin ich euch dankbar."

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