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Autor Thema: Die Burg des Silbernen Bogens  (Gelesen 11705 mal)

Fine

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Die Burg des Silbernen Bogens
« am: 18. Dez 2016, 16:27 »
Aerien, Narissa und Eayan von der Gegend um Ain Salah


"Was ist passiert?"

Eine einfache Frage, doch die Antwort war alles andere als einfach. So viel war geschehen seit Aerien aus Ain Séfra aufgebrochen war. Sie war so weit geritten und beinahe - beinahe wäre es ihr sogar wirklich gelungen, Narissa zu retten. Doch im letzten Moment war Narissa schwer verwundet worden und hatte bald das Bewusstsein verloren. Aerien hatte ihr die Hand auf die blutende Wunde gepresst und Karab zur Höchstgeschwindkeit angetrieben, denn Eayan, ihr geheimnisvoller Retter, hatte ein sehr hohes Tempo vorgegeben. Sie waren wie wild durch die Straßen Ain Salahs geprescht, immer weiter in Richtung Süden. Als sie auf das südliche Tor der Stadt zugeritten waren hatte Eayan einen Bogen gezogen, der an seinem Sattel gehangen war, und hatte einen Pfeil auf die Sehne gelegt. Mit einer geübten Bewegung hatte er sich im Sattel aufgerichtet und einen Pfeil zielgenau in den Rücken eines der Torwächter geschossen. Der Tumult und die Verwirrung, die diese Aktion bei den übrigen Wächtern und den übrigen Menschen in der Nähe ausgelöst hatte hatte Eayan geschickt für ihre Flucht genutzt. Doch er war kein bisschen langsamer geworden sondern hatte das Tempo sogar noch erhöht als sie die gelben Mauern der Stadt hinter sich gelassen hatten. Erst mehrere Meilen später hatte er im Schatten einiger Palmen angehalten.

"Lass mich die Wunde sehen," hatte er gesagt und sich mit besorgtem Blick über die bewusstlose Narissa gebeugt, die von Aerien vorsichtig unter eine der Palmen abgelegt worden war. Für einen kurzen Moment hatte das weißhaarige Mädchen die Augen aufgeschlagen, und ihre Lippen hatten einige stumme Worte geformt, doch wenige Sekunden später war sie bereits wieder ohnmächtig geworden.
"Hier," hatte Eayan gesagt und Aerien einen Verband gereicht. "Du musst ihre Haare beiseite halten, und den Verband um die ganze linke Gesichtshälfte wickeln. Ja, genau so. Nicht sparen damit." Er hatte trotz allem ein Lächeln aufgesetzt. "Ich schätze, das wird eine üble Narbe hinterlassen. Aber das wusstest du schon, nicht wahr, Azruphel?"
"Wer seid Ihr? Und warum helft Ihr uns?" hatte Aerien voller Sorge um Narissa gefragt.
"Du kennst doch meinen Namen bereits: Eayan al-Tayir. Keine Sorge, ich bin ein Freund von Narissas Volk. Und da du offensichtlich Mordors entsagt hast, bin ich auch dein Freund."
Aerien hatte darauf nicht gleich geantwortet. Eayan schien genau über sie Bescheid zu wissen. "Ich - " hatte sie angesetzt, doch der Mann hatte lächelnd abgewinkt.
"Du musst dich nicht rechtfertigen, meine Liebe. Unser Gespräch heute Mittag hat mir alles gesagt, was ich über dich wissen muss. Du musst dir doch im Klaren darüber sein, dass deine Flucht aus Mordor nicht ganz unbemerkt geblieben ist. Ich habe davon gehört, doch ich glaubte lange, dies sei nur eine weitere List deines Vaters. Ja, ich kenne ihn," hatte er gesagt ehe sie nachhaken konnte. "Aber deine Taten und Worte - dass du alles riskiert hast, um die Erbin des Turmes zu retten - sprechen eine andere Sprache."
"Und was geschieht jetzt?" hatte Aerien zweifelnd gefragt.
"Jetzt bringe ich euch beide erst einmal in Sicherheit, zu meinen Freunden. Wir haben keine Zeit zu verlieren - Abel und dein Vetter werden diese Schmach gewiss nicht auf sich sitzen lassen. Wir müssen hier weg, ehe die Nacht anbricht."
"Wohin gehen wir?"
"An einen verborgenen Ort," hatte Eayan geheimnisvoll geantwortet.

Während die Sonne langsam im Westen untergegangen war, war der Weg, dem sie folgten, immer weiter angestiegen und sie waren mit der Zeit in eine gebirgige Landschaft gekommen. Riesige, zerbrochene Felsen lagen überall zwischen den Hügel und machten es nahezu unmöglich, sich zu orientieren. Glücklicherweise kannte Eayan sich aus und hatte sie zielsicher auf verschlugenen Pfaden zwischen Felsen und dichten braunen Sträuchern hindurch geführt, bis sie schließlich an einen Höhleneingang gekommen waren. Hier war Eayan abgesessen und hatte sein Pferd am Zügel weitergeführt und Aerien ein Zeichen gegeben, dasselbe zu tun.
"Shalem-la Al-Qaws fiḍḍiyy!(1)" hatte er in den Tunnel gerufen, doch keine Antwort war gekommen. Eayan erklärte ihr später, dass man sie im Dunkeln erschossen hätte, wenn er die Parole nicht gekannt hätte. Auf der anderen Seite hatten sie ein offen stehendes Tor durchquert und waren in einen großen Talkessel gekommen. Eayan hatte gesagt, dass sie sich im Schlot eines uralten, erkalteten Vulkans befanden. Und an die Innenwand des Berges schmiegte sich eine Burg - die Burg des Silbernen Bogens.

Aerien saß nachdenklich auf der Kante von Narissas Bett. Die Leute, die sie aufgenommen und verpflegt hatten, waren allesamt äußerst schweigsam gewesen. Aerien wusste nur, dass Eayan sie in das Versteck einer Gruppe gebracht hatte, die sich "Silberner Bogen" nannte - mehr nicht. Man hatte ihr und Narissa ein Zimmer zur Verfügung gestellt, dessen Fenster einen guten Blick über den Krater bot. Die Burg reichte bis zur Spitze des Vulkans und bot den Mitgliedern des Silbernen Bogens einen idealen Aussichtspunkt über die umliegenden Lande, ohne selber gesehen zu werden. Alle Menschen, die hier lebten, waren offensichtlich Kämpfer, denn man konnte die Vielzahl von Waffen, die in diesem Stützpunkt gehortet wurden, kaum übersehen. Doch Aerien wusste nicht, welchen Rang Eayan unter ihnen einnahm, und in welcher Verbindung er zu diesem Ort stand.

Narisse regte sich, und lenkte Aeriens Aufmerksamkeit auf sich als ihre Hände mühevoll nach ihrem Verband tasteten.
"Das solltest du lieber noch nicht machen", sagte Aerien sanft und hielt Narissas Handgelenkte fest.
"Aerien...", murmelte Narissa, und Aerien musste genau hinhören um sie zu verstehen. "Du kommst aus Mordor... warum hast du mir geholfen? Warum..." Sie brach ab und erschlaffte wieder.
Aerien seufzte leise, voller Sorge über das was noch kommen würde. Narissa würde sie zur Rede stellen und Aerien würde erklären müssen, warum sie ihre Herkunft geheim gehalten hatte.
Narissa schlief in der folgenden Nacht friedlich und ohne Unterbrechung, doch Aerien wollte nicht von ihrer Seite weichen. Ein Teil von ihr fürchtete, dass Narissa über Nacht erneut verschwinden könnte, auch wenn sie nicht wirklich glaubte, dass das Mädchen dazu körperlich in der Lage war. Dennoch blieb sie auf der Bettkante sitzen, bis sie schließlich von ihrer Müdigkeit überwältigt wurde. Sie schaffte es gerade noch, sich auf das andere Bett zu legen. Sie wollte sich gar nicht vorstellen was Narissa sagen würde wenn sie erwacht wäre und Aerien schlafend im selben Bett vorgefunden hätte.

Am nächsten Morgen war Aerien trotz der Strapazen des vorherigen Tages früh auf den Beinen und nahm ein schnelles Frühstück zu sich, dass Eayan ihr bringen ließ. Sie erfuhr, dass ihnen vorerst das Verlassen der Burg verboten war bis der Meister dieses Versteckes zurückgekehrt und sich mit ihnen befasst hatte, doch Eayan ließ durchblicken, dass es sich dabei wohl nur um eine Formalität handeln würde. Und so wartete Aerien einigermaßen guter Dinge geduldig an Narissas Bett, bis diese schließlich die Augen aufschlug und sich einige Augenblicke orientierungslos umblickte, bis ihre Augen schließlich Aerien fixierte.
"Was ist passiert?" fragte sie.
Aerien atmete tief durch. "Du bist in Sicherheit," antwortete sie. "Zumindest fürs Erste." In einigen kurzen Sätzen fasste sie für Narissa die Flucht aus Ain Salah, den Weg ins Gebirge und die Ankunft in der Burg zusammen. Narissa hörte ihr aufmerksam zu und schien sich zumindest so weit von der Verletzung erholt zu haben, dass ihr Verstand klar blieb. "Eayan sagt, dass niemand diesen Ort finden kann, aber ich bin mir da nicht so sicher. Dieser Abel wirkte so, als könnte er uns aufspüren, ganz egal wo wir uns versteckten," sagte Aerien und stellte fest, dass sie der Frage bereits auswich, die Narissa noch gar nicht gestellt hatte: Wer bist du wirklich? Ein Teil von ihr hoffe, durch die Rettung bei Narissa genug Sympathien erwirkt zu haben um das Thema ihrer Herkunft einfach unter den Tisch fallen zu lassen, und ihre Freundschaft dort fortzusetzen, wo sie in Ain Séfra zerbrochen war, doch in ihrem Herzen wusste Aerien, dass diese Hoffnung trügerisch war. Sie zögerte, und der Moment schien sich beinahe ins Unendliche auszudehnen, während beide Mädchen nach den richtigen Worten zu suchen schienen.
"Hast du -" setzte Narissa an, doch gleichzeitig begann Aerien zu sprechen.
"Ich heiße nicht Aerien Bereneth," sagte sie leise. Und als das heraus war, die erste Lüge offengelegt war, ging ihr der Rest leichter über die Lippen, als sie befürchtet hatte. "Mein Name ist Azruphel, die Tochter Varakhôrs und Lôminzils, von Haus Balákar. Ich bin eine schwarze Númenorerin aus Durthang... aus Mordor."
Die Worte verhallten in dem kleinen Raum als Aerien - Azruphel - verstummte. Jetzt würde sich zeigen, wie viel die Wahrheit wert war....



(1) haradisch "Friede sei mit dem Silbernen Bogen"
« Letzte Änderung: 15. Mär 2017, 16:19 von Fine »
RPG:

Eandril

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Re: Die Burg des Silbernen Bogens
« Antwort #1 am: 18. Dez 2016, 21:36 »
Narissa atmete tief ein, und wich Aeriens Blick aus. All der Zorn und die Enttäuschung die während der letzten Ereignisse tief in ihr vergraben gewesen waren, kamen wieder an die Oberfläche, doch sie wurden von einer Tatsache im Zaum gehalten: Aerien war gekommen um ihr zu helfen, und hatte dazu ihr Leben riskiert. Und ohne sie wäre Narissa vielleicht aus der Arena gekommen, aber mit Sicherheit keinen Schritt weiter. Natürlich bestand die Möglichkeit, dass das alles nur irgendein kompliziertes Spiel war, das Narissa nicht verstand, doch warum sollten ihre Feinde das tun, wenn sie sie bereits in ihrer Hand gehabt hatten?
Narissa kämpfte mit sich selbst, und stellte schließlich die Frage, die ihr am meisten auf der Seele lag - und deren Antwort sie bereits zu kennen glaubte. "Warum hast du mir nicht die Wahrheit gesagt?"
"Hättest du mir dann noch vertraut?" gab Aerien etwas verwundert zurück. "Ich weiß jetzt, dass ich deine Reaktion nur verzögert habe - irgendwann wäre die Wahrheit sowieso herausgekommen - aber irgendwie hatte ich gehofft... " Sie brach ab und blickte mit einer Mischung aus Verlegenheit und Bedrücktheit zur Seite.
Narissa zögerte einen Moment. Ihr erster Impuls war Natürlich hätte ich dir vertraut zu sagen, aber sie wusste, dass das nicht die Wahrheit war. Ihre Reaktion wäre vermutlich weniger heftig ausgefallen als sie tatsächlich gewesen war, aber wenn sie ehrlich zu sich selbst war, wäre ihr Vertrauen zu Aerien auch dann stark beschädigt worden.
"Nein, hätte ich vermutlich nicht", gab sie langsam zu, und fuhr mit den Fingern der linken Hand nervös den Rand ihres Verbandes entlang. "Aber du hättest es trotzdem tun sollen", sagte sie etwas trotzig, und für für kurze Zeit herrschte Stille. Dann tastete Narissa mit der Rechten nach Aeriens Hand, und ergriff sie zögerlich. Zu ihrer Erleichterung zuckte Aerien nicht zurück. "Das ist jetzt egal. Ohne deine Hilfe wäre ich niemals aus dieser Arena gekommen." Bei dem Gedanken an das Geschehene schien sich eine Faust um ihr Herz zu klammern, und Narissa schluckte. "Vielleicht habe ich in Aín Sefra auch ein bisschen überreagiert..."
"Nein, hast du nicht," antwortete Aerien und drückte Narissas Hand sanft. "Ich kann dich verstehen - du hast dich verraten gefühlt. Und ich weiß, dass ich nicht das Recht habe, dass du mir wieder vertraust." Sie schwieg für einen Moment und starrte an Narissa vorbei durchs Fenster. "Und doch... wünsche ich es mir." Aerien suchte Narissas Blick und sagte: "Du kannst mich fragen, was du willst. Ich verspreche dir, es wird keine Lügen mehr geben."
Narissa erwiderte Aeriens Blick mit dem einen unverbundenen Auge, und erwiderte schließlich: "Ich werde... es versuchen. Es ist nur so... so seltsam mit jemandem zu sprechen, dessen ganze Familie Mordor dient." Immer, wenn sie Aerien ansah, sah sie für einen Moment nur die schwarze Númenorin vor sich, bevor die Freundin durchschimmerte. "Wie kommt es, dass du... anders als sie bist?"
"Ich habe mit Aragorn, dem König von Gondor gesprochen, als ich im Dunklen Turm war," sagte Aerien schlicht. "Mein Interesse galt schon davor den Nachfahren Númenors, doch er hat mir so viel Neues erzählt. Ich wollte wissen, warum mein Volk gegen Gondor kämpft, wenn wir doch alle von derselben Insel stammen. Als ich vom Bürgerkrieg erfuhr, wünschte ich mir, es gäbe einen Weg, dies zu beenden. Deshalb ging ich nach Gondor, wo ich Beregond traf."
Aragorn! Narissa versuchte sich in ihrem Bett aufzurichten, doch Schmerz schoss durch ihr Gesicht und sie ließ sich wieder zurückfallen. Wenn der König von Gondor in Mordor gefangen war, dann hatte Sauron ein mächtiges Druckmittel gegen den Westen in der Hand. Und vielleicht hatte sie einen Weg, etwas daran zu ändern. Doch sie schob den Gedanken daran zurück für einen anderen Tag. Sie würde später mit Aerien darüber reden. "Und... wie hast du mich gefunden?"
"Ich hatte Hilfe", antwortete Aerien. "Zuerst befragte ich den Wirt in dem Gasthof westlich von Ain Sefra, der mir sagte dass ein Mann namens Abel dich nach Ain Salah gebracht hat. Als ich schließlich dort angekommen war traf ich auf Eayan al-Tayir, der uns hierher gebracht hat und er verriet mir, wo dieser Kimyet seine Arena betreibt. Und von Karnûzîrs Gefolgsleuten erfuhr ich, dass du dort sein würdest. Also kam ich her und mischte mich unter die Zuschauer, auf eine gute Gelegenheit wartend. Glücklicherweise sorgte mein Vetter dafür. Ja - Karnûzîr ist der Sohn meines Onkels, den du in Ain Sefra getroffen hast und der dir meinen Namen verraten hat. Und Karnûzîr ist für den Schnitt in deinem Gesicht verantwortlich. Es tut mir Leid," sagte Aerien mitfühlend. "Falls es dir hilft: Ich konnte ihn schon davor nicht ausstehen."
Als Aerien ihre Verwundung erwähnte, setzte Narissa sich auf - diesmal etwas langsamer und vorsichtiger, und der Schmerz blieb erträglich. Dann fuhr sie sich mit den Händen an den Kopf, und riss den Verband auf, der seitlich an ihrem Kopf befestigt war. "Du solltest vielleicht lieber...", versuchte Aerien sie aufzuhalten, doch zu spät. Mit einer raschen Bewegung hatte Narissa sich den Verband heruntergerissen, und atmete jetzt tief ein und aus, um den Schmerz zu bekämpfen. Die kühle Luft auf der geschundenen Haut linderte den Schmerz außerdem etwas.
"Gibt es... gibt es hier einen Spiegel?", fragte sie, und Aerien griff auf den niedrigen Schrank hinter sich. "Hier", sagte sie, und hielt Narissa den Griff zögerlich entgegen. "Aber bist du sicher, dass du..."
Bevor sie zu Ende sprechen konnte, hatte Narissa ihr den Spiegel bereits aus der Hand gerissen und vor das Gesicht gehalten.
"Also...", sagte sie, und schluckte. Von ihrem Haaransatz zog sich eine rote Linie über die Stirn nach unten, über das linke Auge hinweg und setzte sich ein Stück weit auf der Wange fort. Die Wundränder waren geschwollen und rot, und die Wunde selbst mit dünnen schwarzen Fäden sorgfältig vernäht. Wer immer das getan hatte, hatte sein Handwerk verstanden, aber Narissa begriff sofort, dass eine lange Narbe zurück bleiben würde. "Also das..." Sie schluckte erneut, bis trotz der Schmerzen die Zähne zusammen und schloss kurz die Augen. Als sie sie wieder öffnete und Aeriens mitfühlendem Blick begegnete, sagte sie, betont trotzig: "Hätte schlimmer kommen können. Immerhin habe ich noch zwei Augen."
Bevor Aerien etwas sagen konnte, trat ein Mann mit kurzen braunen Haaren an Narissas Bett und sagte: "So sehr ich mich auch freue euch in wachem Zustand zu sehen - euren Verband solltet ihr lieber nicht ablegen." Er kniete neben ihrem Kopf nieder, und nahm eine frische Rolle Stoff von einem Regalbrett hinter dem Bett. "Mein Name ist Eayan al-Tayir. Wir sind uns bei eurer Flucht aus Ain Salah bereits begegnet, auch wenn ihr beklagenswerterweise nicht in einem Zustand wart, mich wirklich kennen zu lernen." Während er sich mit dem Verband an ihrer Wunde zu schaffen machte, warf Narissa Aerien einen fragenden Blick zu, die beruhigend nickte. Anscheinend war es in Ordnung, Eayan zu trauen, auch wenn Narissa sich jetzt besonders wunderte, wo sie hier überhaupt waren.
"Fertig." Eayan erhob sich wieder, und betrachtete sein Werk mit dem zufriedenen Lächeln eines Künstlers. "Auch wenn ihr sicherlich viele Fragen habt, solltet ihr euch dringend wieder etwas Ruhe gönnen. Eine solche Wunde ist kein Zuckerschlecken."
"Ich denke... ihr habt Recht", erwiderte Narissa mühsam, denn sie spürte, dass das kurze Gespräch mit Aerien und der Schock ihres verwundeten Gesichts sie stark angestrengt hatten. Aerien drückte noch einmal ihre Hand, und erhob sich dann von der Bettkante. Bevor sie allerdings mit Eayan zusammen den Raum verlassen konnte, sagte Narissa: "Aerien... kann ich dich weiter so nennen?" Auf Aeriens Gesicht zeigte sich Besorgnis, denn ihr war offenbar nicht klar, worauf Narissa hinaus wollte, und fürchtete das schlimmste. Doch dann lächelte Narissa, auch wenn es schmerzte, und erklärte: "Azruphel ist mir nämlich zu kompliziert."
Aerien erwiderte das Lächeln und sagte: "Aerien... ist genau richtig."
« Letzte Änderung: 19. Dez 2016, 12:10 von Fine »

Oronêl - Edrahil - Hilgorn -Narissa - Milva

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Der Schattenfalke
« Antwort #2 am: 19. Dez 2016, 15:34 »
Aerien blieb noch ungefähr eine Minute im Türrahmen stehen bis Narissa eingeschlafen war. Der regelmäßige Atem des Mädchens wirkte auf eine seltsame Art und Weise beruhigend auf sie und ließ sie hoffen, dass Narissa sich schon bald vollständig erholen würde.
"Ich schätze, du hast einige Fragen," sagte Eayan und riss Aerien damit aus ihren Gedanken.
"Viele," gab sie zurück.
"Geh' ein Stück mit mir spazieren," forderte Eayan sie auf. "Im Gehen spricht es sich leichter." Er setzte sich in Bewegung und bedeutete Aerien, ihm zu folgen.

Gemeinsam gingen sie den Gang entlang, in dem das Zimmer der Mädchen lag. Auf beiden Seiten gab es viele verschlossene Türen, doch der Durchgang am Ende des Ganges stand offen und Licht flutete herein. Eayan trat hindurch und Aerien folgte ihm auf eine freie, ebene Fläche, ungefähr doppelt so groß wie ihr Zimmer, und gesäumt von steinernen Zinnen. Sie befanden sich auf mittlerer Höhe der Burg und konnten den Großteil des Kraters überblicken. Unterhalb ihrer Position lag der ebenerdige Teil der Festung, und am anderen Ende des Kraters lag der Tunneleingang, durch den sie diesen verborgenen Ort betreten hatten. Aerien blickte sich staunend um und warf einen Blick hinter sich, wo sich der Bergfried an die Wand des gewaltigen Schachtes klammerte, in dem die Burg sich befand. Die Mauern waren, soweit sie erkennen konnte, nicht von númenorischer Bauart. Doch sie wiesen auch keine Ähnlichkeit zum Mauerwerk auf, wie es in weiten Teilen Harads verwendet wurde. Auffällig war, dass beinahe nirgendwo in der Burg runde Formen zu finden waren, sondern immer eckige Kanten verwendet worden waren. Auch die Türme waren viereckig und die Torbögen wiesen nur an den oberen beiden Ecken jeweils eine Diagonale auf. Und es gab sehr, sehr viele Treppen.

"Was ist das für ein Ort?" fragte Aerien nachdem sie ihren Blick einzige Zeit über die Mauern hatte schweifen lassen.
"Einst war diese Burg ein Stützpunkt der Assassinen," erklärte Eayan. "Damals war es Brauch, dass Novizen des Ordens eine Reise durch Harad unternahmen und verschiedene wichtige Ort aufsuchten: die Spitze von Kap Umbar, die Quelle des Sobat-Stromes oder die Höhlen von Sayalbir. Auch der alte Krater gehörte dazu und man errichte den Aussichtspunkt um sicherzustellen, dass nur Eingeweihte hierhergelangen konnten. Doch als die Assassinen begannen, sich zu verändern, gerieten die alten Bräuche in Vergessenheit. Heute erinnert sich niemand von ihnen mehr an diesen Ort."
"Dann sind die Leute, die hier jetzt wohnen, keine Assassinen?" wunderte sich Aerien, denn dies war bislang ihr Verdacht gewesen.
"Sie waren es," sagte Eayan. "Bis vor ungefähr zehn Jahren, als die Führung des Assassinenordens umstritten war. Eine Person setzte sich dabei durch, die die Ideale der Assassinen mehr verriet als jeder ihrer Vorgänger. Die heutigen Assassinen kämpfen nur noch um Bezahlung und um die Mehrung ihrer eigenen Macht. Diejenigen, die dem Alten Weg folgten, spalteten sich ab. Sie nennen sich Al-Qaws fiḍḍiyy - der Silberne Bogen."
"Ich verstehe," meinte Aerien. "Wenn der Silberne Bogen nicht für Geld oder Macht kämpft, wofür dann?"
Eayan blickte sie mit ernster Miene an. "Für eine bessere Welt," antwortete er. "Für die Rechte des Volkes. Für Gerechtigkeit." In seiner Stimme lag ein ehrfürchtiger Klang. "Saleme und ihre Schlangen haben unser Erbe mit ihren Verbrechen beschmutzt. Und nun jagen sie uns, wie Tiere. Aber das werde ich nicht länger dulden." Er schien nun nicht mehr zu Aerien zu sprechen und sein Blick schweifte in die Ferne. "Ob nah oder fern, es wird keine Gnade für jene geben, die dieses Land mit ihren Taten vergiften."
"Meister?" sagte eine Stimme hinter ihnen. Sie drehten sich um und fanden zwei junge Krieger vor, die eine Verbeugung vor Eayan andeuteten.
"Was gibt es?" antwortete er, nun mit einer neuen Autorität in der Stimme.
"Die Wachposten haben Feinde gesichtet. Vier Männer, die offenbar Eure Spur verfolgen."
Eayan nickte. "Sie sind schneller, als ich erwartet hatte. Also gut. Lasst die Falle zuschnappen."
Die Krieger nickten und eilten davon.
"Meister?" wiederholte Aerien. "Dann seid Ihr... der Anführer des Silbernen Bogens?"
"Ich bin der Schattenfalke, Meister des Silbernen Bogens," bestätigte Eayan. "Ich habe vielen Namen und viele Gesichter, denn meine Feinde sind zahlreich. Ich bin in den Wäldern der Elben gewandelt und habe die Bergwerke der Zwerge ebenso gesehen wie die Schrecken Mordors und die Weite von Rhûn." Er machte eine Pause und ein kleines Lächeln stahl sich auf sein Gesicht. "Aber du, meine Liebe, darfst mich weiterhin Eayan nennen."
"Sagtest du nicht, dass der Herr dieser Burg im Augenblick nicht hier ist?" wunderte sich Aerien.
"Ich mag der Meister des Silbernen Bogens sein, doch ich bin nicht der Herr der Burg," erklärte Eayan. "Eine gute Freundin von mir entdeckte sie in einem der alten Texte, die wir bei unserer Flucht aus dem Hauptquartier der Assassinen mitnahmen, und sie fand den Krater nach einer langen, beschwerlichen Suche. Dafür stand ihr das Recht zu, die Burg zu ihrem Eigentum zu machen, wie es im Alten Weg Sitte ist. Sie führt gerade einen Auftrag in Umbar aus, doch ich rechne mit ihrer baldigen Wiederkehr. Aber genug davon! Wir sollten uns jetzt mit den Eindringlingen befassen."

Er eilte los, die Treppen hinunter in Richtung des Tores, das Einlass durch die unterste Mauer der Burg bot. Aerien musste sich beeilen, um mit dem Schattenfalken Schritt zu halten. Sie überquerten den Kraterboden und kamen zum Tunneleingang, der jetzt von Fackeln erhellt wurde. Als sie eintraten erkannten sie, dass darin  große Gruppe Mitglieder des Silbernen Bogens standen und ihre Waffen bereit hielten. In der Mitte umzingelt knieten vier Männer, die Hände hinter dem Kopf verschränkt auf dem Boden, von gespannten Pfeilen in Schach gehalten. Eayan trat heran und warf einen ausführlichen Blick auf die Gefangenen, die seine Leute gemacht hatten.
"Ihr habt versucht, euch unerlaubt Zutritt zur Zuflucht zu verschaffen," sprach er. "Wer seid ihr, und was ist euer Begehr? Dient ihr der Schlange oder dem Aufstand? Sprecht schnell!"
Die Gesichter der Männer waren bis auf die Augen verhüllt, weshalb die Antwort leicht gedämpft erklang als einer sagte: "Wir sind im Auftrag Músabs von Kerma hier und auf der Suche nach... Eurer Begleiterin." Er warf Aerien einen finsteren Blick zu, der sie einen vorsichtigen Schritt rückwärts machen ließ.
"Músab von Kerma? Was hat er mit meinem Gast zu schaffen?" wollte Eayan wissen.
"Sie ist eine Dienerin Mordors," gab der kermische Krieger zurück. "Mein König verlangt Antworten."
"Er hat von mir alles erfahren, was er wissen wollte," mischte sich Aerien ein und spürte, wie sie zornig wurde. Offenbar hatte das, was ihr Onkel dem König Kermas erzählt hatte, Músab dazu gebracht, ihr einen Trupp seiner besten Leute hinterherzuschicken. Sie verstand es nicht. "Ich habe es ihm bereits gesagt: ich habe nichts mit dem Mord an seiner Mutter zu tun!"
"Aerien hat Mordors entsagt," bestätigte Eayan. "Wenn König Músab bessere Spione hätte, wüsste er, dass das die Wahrheit ist. Ihr seid hier nicht willkommen." Er gab seinen Leuten ein Zeichen, und etwas wie ein Windstoß fegte durch den Tunnel. Die vier Krieger aus Kerma fassten sich verdutzt zwischen die Augen, wo sie von winzigen Blaspfeilen getroffen worden waren. "Sie enthalten ein Gift, das euch vergessen lassen wird, wie ihr hierher gekommen seid, damit das Geheimnis dieses Ortes gewahrt bleibt. Ihr werdet erwachen und euch nur noch an diese Worte erinnern: Azruphel ist unschuldig." Als er geendet hatte lagen die Männer bereits bewusstlos am Boden. "Schafft sie weg," wies Eayan seine Leute an.

Aerien hofft, dass sich damit das Thema Kerma und dessen König bis auf Weiteres erledigt hatte. Sie begleitete Eayan zurück zur Burg. Inzwischen war es Mittag geworden, und sie stellte fest, dass sie Hunger hatte. An Verpflegung schien es dem Silbernen Bogen nicht zu mangeln, denn auf Eayans Geheiß durfte sich Aerien im Speisesaal der Burg bedienen. Sie vergaß jedoch nicht, dass auch Narissa etwas essen wollen würde, und beschloss, in das Zimmer, in dem sich das Mädchen von ihrer Verletzung erholte, zurückzukehren und nachzusehen, ob Narissa inzwischen wieder wach war. Sie nahm genug Essen für sie beide mit.
« Letzte Änderung: 19. Dez 2016, 15:39 von Fine »
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Re: Die Burg des Silbernen Bogens
« Antwort #3 am: 4. Jan 2017, 17:28 »
Einige Tage später stand Narissa am Fenster ihres Zimmers und blickte gedankenverloren über den Krater. Ihre Wunde war inzwischen einigermaßen verheilt, doch die lange Narbe würde bleiben. Auch wenn Narissa nach außen hin unbeschwert tat, zerfraß sie der Gedanke an ihre Entstellung innerlich. Sie hatte versucht, ihre Haare so ins Gesicht fallen zu lassen, dass die Narbe verborgen blieb, doch es war vergeblich gewesen. Sie würde lernen müssen, damit zu leben.
Zu der körperlichen Narbe kamen die seelischen. Beinahe jede Nacht träumte Narissa von Abel, von seinem Gesicht, knochig wie ein Totenkopf, mit schwarzen, kalten, toten Augen darin. Und sie träumte von der Arena, wie die Zuschauer sich gierig nach Blut über den Rand gebeugt hatten wie Geier. Oft schreckte sie schreiend aus dem Schlaf hoch, und weckte damit Aerien, die in ihrem Bett am Ende des Raumes schlief. Aerien... Narissa erinnerte sich an das erste wirkliche Gespräch, dass sie in der Festung geführt hatten.

~~~~

Als Aerien das Zimmer mit einem mit Essen beladenen Tablett in den Händen betrat, erwachte Narissa aus dem tiefen Schlaf, in den sie vorhin gefallen war. Der Geruch der Speisen ließ ihren Magen knurren, und erst jetzt bemerkte Narissa, wie hungrig sie eigentlich war.
"Essen!", sagte sie, richtete sich mühsam ein wenig im Bett auf, und lächelte Aerien zu. "Du bist eine Lebensretterin, Aerien - und das nicht zum ersten Mal."
Aerien errötete leicht und machte eine wegwerfende Geste. "Ach, das ist doch nicht der Rede wert...." sagte sie und stellte das Tablett vor Narissa ab. "Ich hoffe, es schmeckt dir - große Auswahl haben die hier nämlich leider nicht anzubieten."
Sie setzte sich auf die Bettkante und beobachtete, wie Narissa sich über das Essen hermachte. "Langsam, langsam," warf Aerien lachend ein. "Du wirst dich noch verschlucken!"
Kaum hatte Aerien das gesagt, verschluckte Narissa sich tatsächlich. Sie hustete bis ihr Tränen in die Augen traten, bevor sie wieder Luft bekam, und dann lachte sie. Es war ein befreiendes Gefühl, und etwas, dass sie seit langer Zeit nicht mehr getan hatte. Sie drohte der ein wenig verwundert dreinschauenden Aerien mit dem Finger und sagte: "Tu das nie wieder. Ich will nicht nach allem was geschehen ist am Essen ersticken." Narissa aß weiter, allerdings deutlich langsamer als zuvor. Noch kauend meinte sie: "Es ist nur so, ich habe schon lange kein Essen mehr wirklich genossen - in Frieden und Sicherheit." Sie ließ nachdenklich die Hand mit dem Löffel sinken und ergänzte langsam: "Das letzte Mal war eigentlich... auf der Insel."
"Die Insel?" wiederholte Aerien fragend und machte ein nachdenkliches Gesicht. "Ist das der Ort, wo du herkommst?" Ihre Augen hatten einen aufgeregten Glanz angenommen. "Bitte erzähl mir davon," bat Aerien. "Leben dort wirklich Nachkommen der Seefahrer von Westernis? Gehört sie zu Gondor? Wo liegt die Insel, und wie sieht es dort aus?" Sie unterbrach sich und man konnte ihr ansehen, dass sie versuchte, sich selbst zu bremsen. "Eine Frage nach der anderen," sagte sie, mehr zu sich selbst als zu ihrer Freundin gewandt.
Narissa lächelte, auch wenn ihr für einen Herzschlag das Bild des brennenden Turmes vor Augen stand. Aber sie würde sich von diesen Erinnerungen nicht beherrschen lassen, sie würde alle rächen, die an diesem Tag gestorben waren - und vielleicht, eines Tages, den Turm wieder errichten.
"Die Insel - Tol Thelyn - liegt vor der Westküste von Harad, weit südlich von Umbar", erklärte sie, und rief sich das Bild der Insel vor Augen, wie sie sie als Kind zum ersten Mal gesehen hatte. "Dort lebte bis vor einiger Zeit meine Familie, das Haus der Turmherren. Wir stammen von den Fürsten von Eldalondë in Númenor ab, und viele der anderen Bewohner sind Nachfahren der Leute, die ihn nach Osten begleitet haben." Narissa erinnerte sich an die Stimme ihres Großvaters, der ihr die Geschichte erzählte, wie Ciryatan angesichts des Verfalls von Númenor noch vor dem Untergang nach Mittelerde gesegelt war. Sie tastete nach dem Griff des Dolches, der auf dem kleinen Schrank neben ihrem Bett lag, und zeigte ihn Aerien. "Dieser Dolch ist ein Erbstück aus dieser Zeit genau wie... das Amulett, dass ich in Aín Sefra getragen habe. Ich habe es leider verloren als... als..." Sie verstummte, unfähig Abels Namen auszusprechen.
Sie tastete nach dem Griff des Dolches, der auf dem kleinen Schrank neben ihrem Bett lag, und zeigte ihn Aerien. "Dieser Dolch ist ein Erbstück aus dieser Zeit genau wie... das Amulett, dass ich in Aín Sefra getragen habe. Ich habe es leider verloren als... als..." Sie verstummte, unfähig Abels Namen auszusprechen.
"Oh, das Amulett!" rief Aerien, als würde sie sich gerade erst daran erinnern. Sie wühlte eilig in ihren Habseligkeiten herum, die neben ihrem Bett verstreut lagen und zog schließlich mit einem kleinen, triumphierenden Lächeln das Gesuchte hervor: Narissas Amulett, wie sie es im Sand zwischen den Blutspritzern an der Stelle gefunden hatte, an der Abel Elyanas Kriegerinnen niedergestreckt hatte. "Ich fand es, nachdem ich deine Spur aufgenommen hatte," erklärte Aerien geradzu fröhlich und reichte das Erbstück an Narissa weiter, die es staunend entgegennahm. "Hier, ich habe auch ein Erbstück aus Westernis," fuhr Aerien im Plauderton fort und streifte die Halskette ab, die sie jederzeit zu tragen schien. Der silberne Sternenanhänger, der offensichtlich der Form der Insel Númenors nachempfunden war, glitzerte im Sonnenlicht, das durch das offene Fenster fiel. "Er stammt von Míriel, der...." setzte Aerien an, doch Narissa beendete den Satz für sie: "...der letzten Königin Númenors."
Für einen Moment herrschte Stille, während Narissa den Anhänger nachdenklich betrachtete. Vielleicht hatte sie sich geirrt. Vielleicht war Aeriens Familie nicht böse, sondern nur... fehlgeleitet. Vom Weg abgekommen durch den Einfluss Saurons, doch die Kette die Aerien trug - und Aerien selbst - waren eindeutige Anzeichen dafür, dass sie nicht alles vergessen hatten, was die Menschen von Westernis einst ausgemacht hatte. Narissa wog ihr eigenes Medaillon in der Hand, bevor sie sich die Kette über den Kopf streifte. Es fühlte sich gut an.
"Ich danke dir, Aerien. Ich dachte, ich hätte es endgültig verloren. Mein Haus hatte es schon einmal verloren, weißt du?" Sie atmete tief durch, bevor sie erzählte: "Nach dem letzten Bündnis begannen meine Vorfahren damit, ein Reich in Harad zu erobern. Doch sie waren zu wenige um es dauerhaft zu halten, und viele von ihnen behandelten die Menschen von Harad schlecht. Und so kam es irgendwann zu einem Aufstand, der von außen unterstützt wurde, und das Reich fiel. Dabei wurde der erste Turm auf der Insel zerstört, und der Dolch Ciryatans und das Medaillon gingen verloren."
"Und wie haben deine Vorfahren sie zurückerlangt?", fragte Aerien interessiert, und Narissa fuhr fort: "Ein Vetter des Turmherren war dem Untergang mit einigen Gefährten entkommen, kehrte später auf die Insel zurück und sein Sohn konnte schließlich die Erbstücke zurückholen." Dieser Teil war immer ihr Lieblingsteil der Geschichte gewesen... und gerade jetzt, tröstete der Gedanke sie. Der Turm war bereits zuvor gefallen, doch ihr Haus hatte überlebt und war zurückgekehrt. Und auch wenn sie sich darüber zuvor nicht im Klaren gewesen war, wusste Narissa nun, dass sie eines Tages zurückkehren würde. Während sie über die Geschichte der Insel nachdachte, fiel ihr ein weiteres Detail ein, und sie musste lächeln.
"Seitdem haben wir Gondor und alle guten Menschen in Harad im Geheimen unterstützt - bis zu Atanar dem Schwarzen."
"Das klingt nicht sehr freundlich", meinte Aerien ebenfalls lächelnd, und strich sich eine schwarze Haarsträhne aus dem Gesicht. "War er auch nicht", erwiderte Narissa, verzichtete aber darauf den Kopf zu schütteln, denn sie wusste, es würde wehtun. "Er träumte davon, das alte Reich der Turmherren wieder zu errichten, und begann, offen Krieg gegen die Haradrim zu führen. Er wurde unterstützt von seiner Frau, deren Herkunft vergessen ist und von der nur ihr Name geblieben ist: Azruphel."
Aeriens Reaktion bestand daraus, skeptisch die linke Augenbraue in die Höhe zu ziehen. "Azruphel? Ich wüsste nicht, wieso..." sie brach ab und dachte einen Augenblick lang nach. Dann begann sie, stumm etwas an ihren Fingern abzuzählen, doch anschließend zog sie ahnungslos die Schultern hoch. "Der Name ist selten geworden seitdem meine Vorfahren Westernis verließen - du weißt ja bestimmt, was er bedeutet. Und Mordor ist nun einmal recht weit weg vom Meer. In meiner Familie bin ich erst die Zweite, die so genannt wurde. Die erste Azruphel heiratete damals einen Fürsten aus einem der kleineren Reiche südlich von ..." Sie stutzte und ihre Augen weiteten sich. "...Südlich von Umbar..." fuhr Aerien fort und blickte Narissa mit einer Mischung aus Überraschung und Verstehen an. "Meinst du etwa... ?" fragte sie und ließ den Satz unvollendet.
Narissa konnte sich das Grinsen nicht verkneifen, obwohl es einen stechenden Schmerz durch ihre verwundete Gesichtshälfte jagte.
"Ja, genau das meine ich." Sie versetzte Aerien einen schwachen Faustschlag gegen den Oberarm - eigentlich hatte er spielerisch sein sollen, doch härter hätte Narissa ohnehin nicht zuschlagen können. "He, dann sind wir sogar verwandt! Also ich meine, sind wir wahrscheinlich ohnehin irgendwie - aber enger als gedacht." Besonders eng war die Verwandtschaft natürlich nicht, immerhin war Atanar der Schwarze ihr Urgroßvater mit mindestens zehn mal "Ur-" davor... und dennoch hatte Narissa beinahe das Gefühl, in Aerien etwas wie eine lange verschollene Schwester gefunden zu haben.
"Und wo wir gerade bei Verwandten sind... würdest du mir von deiner Familie erzählen?", fragte sie leicht zaghaft, und fügte schnell hinzu: "Natürlich nur wenn du möchtest."
"Oh, natürlich gerne," sagte Aerien und grinste. "Ich hoffe, du magst Albträume," fügte sie mit einem belustigten Unterton hinzu, wurde allerdings schnell wieder ernster. "Meine Familie stammt von einem Númenorer namens Balákar ab, der am Ende des Zweiten Zeitalters nach Mittelerde kam und in Umbar lebte. Durch seine Ehe mit einer der Zofen Míriels kam die Halskette in seinen Besitz, die ich dir gezeigt habe. Wie viele Bewohner Umbars dienten meine Vorfahren dem Dunklen Herrscher, und als die Nazgûl dessen Land wieder in Besitz nahmen erhielt meine Familie die alte gondorische Festung Durthang als Erbsitz. Dort bin ich geboren und aufgewachsen - tatsächlich habe ich das kleine Tal von Durthang bis vor zwei Jahren nicht ein einziges Mal verlassen.
 Mein Vater... ist einer der wichtigsten Befehlshaber Mordors und der Fürst der schwarzen Númenorer," fügte sie etwas zögerlich hinzu. "Ich glaube, ich bin die einzige aus Balákars Linie, die sich je gegen Sauron gestellt hat." Aerien ließ den Kopf ein Stückchen sinken. "Sozusagen das weiße Schaf der Familie," sagte sie und brachte ein schiefes Lächeln zustande.
"Du bist alles andere als ein Schaf", meinte Narissa, und erwiderte das Lächeln. "Aber weißt du, ich glaube es kommt nicht darauf an, wer wir oder unsere Vorfahren sind - sondern was wir mit unserem Leben anfangen. Wer unter guten Menschen lebt hat es leicht, Gutes zu tun und das Böse zu bekämpfen. Aber wer nichts anderes kennt - wie du... Ich bewundere, was du aus deinem Leben machst, Aerien", schloss sie, und räusperte sich dann verlegen. "Nun, das war etwas ehrlicher als ich es beabsichtigt hatte, aber ich habe jedes Wort so gemeint."

~~~~

Narissa lächelte bei der Erinnerung. In den vergangenen Tagen hatte sie viel mit Aerien gesprochen, über alles mögliche. Doch etwas, dass Aerien nur einmal erwähnt hatte, beschäftigte sie nach wie vor. Sauron hielt Aragorn, den König von Gondor, im Barad-Dûr gefangen. Damit besaß er ein mächtiges Druckmittel gegen den Westen, und konnte die Linie der Könige jederzeit auslöschen - und irgendein Gefühl sagte Narissa, dass das niemals geschehen durfte. Sie trommelte mit den Fingern auf die Fensterbank, während sie nachdachte. Sie war darin ausgebildet, heimlich in Feindesgebiet einzudringen, hatte mit Aerien eine Verbündete, die sich in Mordor einigermaßen auskannte, und wenn Bayyin in Umbar mehr über den geheimen Pass nach Mordor hinausfinden konnte... Könnte sie es tun? Und könnte sie es mit ihrem eigenen Gewissen vereinbaren, Aerien zurück nach Mordor zu bringen, nach all den Gefahren die ihre Freundin ausgestanden hatte, um aus dem Land des Schattens zu entkommen?
Sie seufzte, und beobachtete einen Falken, der in der Ferne über dem Kraterrand seine Kreise zog. Im selben Moment hörte sie in ihrem Rücken jemanden den Raum betreten, und an der Stimme erkannte sie Eayan: "Es freut mich zu sehen, dass du auf den Beinen bist."
Narissa wandte sich um, und verzog das Gesicht. "Freut ihr euch immer noch, wenn ihr mein Gesicht seht?" Eayan lächelte, trat an sie heran und legte ihr eine Hand auf die vernarbte Wange. Seine Hand war warm, und die Berührung war Narissa nicht unangenehm. "Du machst dir zu viele Gedanken darüber. Ich denke, dass ein Makel wie dieser etwas Schönes nur noch schöner erscheinen lässt." Narissa erwiderte nichts, spürte aber, wie sie sich innerlich entspannte. Vielleicht sagte Eayan es nur um sie zu beruhigen, und meinte es nicht so. Doch in seinen Augen war keine Lüge zu erkennen gewesen.
Eayan nahm die Hand von ihrer Wange und ergriff stattdessen ihre Hand. "Komm. Da es dir besser geht, gibt es hier jemanden den du sicherlich gerne sehen würdest..."

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Eandril

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Re: Die Burg des Silbernen Bogens
« Antwort #4 am: 9. Jan 2017, 15:37 »
Hinter Eayan betrat Narissa den Wehrgang am oberen Rand des Vulkans. Hinter ihr gähnte der Abgrund des Kraters, und ein scharfer Wind ließ ihre Haare wehen. Nach außen fielen die Hänge des erloschenen Vulkans ein Stück steil ab wie eine Mauer, bevor sie in sanftere, aber felsige Hänge übergingen. Im Norden war nur wenig Grün zu sehen, doch als Narissa sich nach Süden wandte erkannte sie endlose Wälder, die sich dort erstreckten.
"Es ist schön hier oben", sagte sie, und Eayan lachte leise. "Allerdings, und man hat eine gute Aussicht über das Land. Trotzdem, die Aussicht ist nicht der Grund warum ich dich hergebracht habe." Er deutete auf einen Mann, der wenige Schritte entfernt Wache stand, und fuhr fort: "Er ist der Grund."
Der Wächter wandte ihnen das Gesicht zu, und Narissa erstarrte. "Elendar? Aber... du bist tot!"

~~~~

Nach der Flucht von der Insel hatten Elendar, Narissa und Bayyin sich entlang der Küste nach Norden durchgeschlagen, immer auf der Hut vor Suladâns Schergen. Keiner der drei wusste, wohin sie gingen, oder was sie tun sollte.
"Wir sollten nach Gondor gehen", hatte Elendar eines Tages vorgeschlagen, während sie  sich in einem dornigen Gebüsch auf die Nacht vorbereiteten. "Und später zurückkehren, wenn der Krieg vorbei ist."
"Wenn der Krieg vorbei ist?", hatte Narissa ungläubig geantwortet. "Wenn der Krieg vorbei ist, wird es vielleicht niemanden mehr geben, der zurückkehren könnte. Wir sollten... hier bleiben. Und kämpfen." Nur einen Tag später hatte sie ihre Gruppe in ein Dorf geführt, dessen Bewohner den Turmherren freundlich gesinnt waren, doch ihre Verfolger trafen nur wenige Stunden nach ihnen ein. Auch wenn die Dorfbewohner tapfer kämpften, gegen ihre Feinde hatten sie keine Chance, und als der Kampf verloren war, hatte Elendar Narissa und Bayyin befohlen zu fliehen. Sie waren nicht weit gegangen, sondern hatten das Ende des Kampfes aus einem Versteck beobachtet - das waren sie Elendar schuldig, hatte Narissa gefunden.

~~~~

Jetzt, in der Burg des Silbernen Bogens, lächelte Elendar. "Wie du siehst, bin ich keineswegs tot." Narissa setzte an etwas zu sagen, stockte aber und berührte mit zitternden Fingern seinen Arm, wie um sich zu vergewissern, dass sie keinem Geist gegenüberstand. "Ich habe dich sterben sehen", flüsterte sie, und Elendars Gesicht wurde ernst. "Beinahe wäre es auch so gekommen. Ich wurde sehr schwer verwundet, Suladâns Männer hielten mich für tot und ließen mich liegen. Dort wäre ich gestorben, wenn Eayan nicht gekommen wäre und mich geheilt hätte."
Narissa wandte sich zu Eayan um, doch der Anführer des Silbernen Bogens stand nicht mehr dort. Sie und Elendar waren allein auf dem Wehrgang. "Das macht er manchmal", erklärte Elendar mit einem Schulterzucken. "Eayan ist ein großer, aber auch ein merkwürdiger Mann, und ich habe nach wie vor nicht das Gefühl, ihn zu kennen."
Narissa wandte sich ihm wieder zu, und betrachtete sein Gesicht. Elendar hatte sich verändert, seine Erlebnisse schienen ihn reifer und erwachsener gemacht zu haben - wie sie selbst auch. Als das Bild Abels sich in ihre Gedanken schlich, erschauerte Narissa unwillkürlich.
"Ist etwas nicht in Ordnung?", fragte Elendar besorgt, doch Narissa winkte ab. "Nur der Wind. Elendar... es tut mir leid, dass ich uns damals in dieses Dorf geführt habe."
"Das muss es nicht." Er ergriff ihre Hand und drückte sie leicht. "Ich bin dir gefolgt und würde es wieder tun - und letzten Endes ist alles gut ausgegangen. Wer weiß, was sonst passiert wäre." Elendar beugte sich vor, und sein Gesicht näherte sich ihrem. Doch Narissa wich zurück, und so traf er nur ihre rechte Wange, als er versuchte, sie zu küssen. Sofort zog er sich zurück, und seufzte. "Manche Dinge ändern sich nie, schätze ich."
"Nein, tun sie nicht", erwiderte Narissa leise, und legte ihm eine Hand auf die Wange. "Es tut mir leid." Elendar legte seine Hand auf ihre, und sagte mit rauer Stimme: "Nein, mir tut es leid. Ich weiß nicht... weiß nicht, was ich mir gedacht habe."
"Ich verstehe." Narissa zog die Hand zurück, und sagte: "Du kannst zu mir kommen, sobald deine Wache zu Ende ist, und ich erzähle dir, was geschehen ist seit wir uns das letzte Mal gesehen haben."
Elendar nickte langsam. "Gut, ich werde kommen. Was wirst du in der Zwischenzeit tun?"
"Ich muss etwas herausfinden."

Sie fand Eayan am Grunde das Kraters, wo er gerade sein Pferd sattelte. "So dankbar ich euch auch für Elendars Rettung bin - war es Zufall, dass ihr dort wart, oder etwas anderes?"
Eayan lächelte, und reichte streichelte seinem Pferd über den Hals. "Ihr habt eine merkwürdige Art, Dankbarkeit zu zeigen, meine Liebe." Über den Hals des Pferdes hinweg blickte er Narissa direkt in die Augen, und Narissa musste sich zwingen sich nicht vor diesem kraftvollen Blick abzuwenden. Erst jetzt begriff sie, dass Eayan ein äußerst gefährlicher Feind sein konnte, wenn man sich gegen ihn stellte. Dann sprach er weiter, und der Eindruck verging. "Wenn ich ehrlich sein soll: Nein, es war kein Zufall. Ich hatte von dem Angriff auf eure Insel gehört, und bin sofort nach Westen geeilt."
"Aber wieso?"
"Zu dieser Zeit gehörten die Bewohner von Tol Thelyn zu den wenigen in Harad, die sich gegen Suladân und Mordor stellten, also lag es allein deswegen in meinem Interesse herauszufinden, was geschehen war." Eayan kam um das Pferd herum, und bot Narissa seinen Arm an, den sie zögerlich ergriff. "Und außerdem habe ich vor vielen Jahren mit eurem Großonkel zusammengearbeitet - Elendar, nach dem euer Freund der dort oben so pflichtbewusst Wache steht, benannt wurde. Dieser Elendar war mein Freund, und bevor er nach Gondor aufbrach bat er mich, ein Auge auf seine Familie zu haben. Damit meinte er damals natürlich nur seinen Bruder Hador und dessen Kinder, doch für mich erstreckt sich diese Bitte inzwischen auch auf euch."
Inzwischen hatten sie das Zentrum des Kraters erreicht, und Eayan blieb stehen. "Ich verfolgte eure Spur für einige Tage, bis zu dem Dorf, in dem ihr von Elendar getrennt wurdet. Und dort habe ich einen Fehler gemacht - oder zumindest erschien es später so. Ich erkannte, dass Elendar nur verwundet und noch nicht tot war, und entschloss mich dazu, ihn zu heilen. Dadurch verlor ich Zeit, und eure Spur - bis ihr in Ain Salah wieder aufgetaucht seid."
Er fixierte Narissa erneut, und fragte: "Stellt euch diese Erklärung zufrieden?"
"Vollauf", erwiderte Narissa leise, und senkte den Blick. "Es tut mir leid, dass ich euch bedrängt habe." Sie fragte sich, was geschehen wäre wenn Eayan sie damals aufgespürt hätte - vermutlich wäre sie niemals nach Umbar gegangen, und auch nicht nach Aín Sefra, und hätte niemals Aerien getroffen. Und Elendar wäre in dem Dorf gestorben, also war es vielleicht besser dass alles so gekommen war wie es geschehen war.
"Wohin reitet ihr?", fragte sie nach, und Eayan schüttelte den Kopf. "Ich weiß es noch nicht genau. Es gibt einige beunruhigende Gerüchte aus dem Norden, denen ich nachgehen muss. ich bitte euch lediglich um eines: Verlasst die Burg nicht, bis ich zurückkehre - Egal was geschieht."

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Fine

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Ein Leben in Mordor
« Antwort #5 am: 10. Jan 2017, 12:03 »
In den Tagen, die Narissa benötigte um sich von den Strapazen der Reise nach Süden und den Schrecken der Gefangenschaft zu erholen hatte Aerien seit langer Zeit wieder die Gelegenheit, etwas zur Ruhe zu kommen. Bis zu ihrer Ankunft in Burj al-Nar, wie die Bezeichnung des Stützunktes lautete, in dem sie sich nun befand, hatte es stets Wichtigeres gegeben, das sie davon abgehalten hatte: Zuerst war es die Flucht aus Mordor gewesen, ab Ithilien dann Damrods Auftrag. In Ain Séfra hatten sie Dinge wie König Músabs merkwürdiges Interesse an ihrer Person und natürlich vor allem Narissa und deren Entführung beschäftigt, welche sie auch auf dem weiteren Weg nach Süden begleitet und maßgeblich dafür verantwortlich waren, was Aerien in den letzten Tagen und Wochen zugestoßen war. Doch nun, da alle direkten Gefahren für den Augenblick gebannt zu sein schienen und Aerien sich zumindest teilweise in Sicherheit wähnte, fand sie tatsächlich Ruhe.

Sie saß am Fenster des kleinen Zimmers, das sie sich mit Narissa teilte. Ihre Freundin war irgendwo in der Burg unterwegs. Aerien wusste nicht, was Narissa tat, und sie hatte auch nicht gefragt. Sie hatte schnell gelernt, dass Sûladans Tochter ihr von selbst erzählen würde, was sie tat, wenn sie vorhatte, es nicht für sich zu behalten. Aerien genoss die warme Sommersomme auf ihrer Haut, denn sie trug weder ihre Rüstung noch den grauen Umhang, sondern war in die leichten haradischen Gewänder aus Ain Séfra gehüllt und hatte ein Oberteil gewählt, das Bauch und Arme frei ließ. Im Tal von Durthang war die Sonne nur sehr selten durch die dunklen Wolken gedrungen, die fast zu jeder Zeit über dem Schattenland Mordor dräuten, denn die Orks des Roten Auges verabscheuten das Sonnenlicht. Sonnenstrahlen waren daher für Aerien eine ebenso neue Erfahrung wie die freundschaftlichen Worte, die sie jetzt immer öfter mit Narissa wechselte. Als sie an Mordor und daran, wie ihr Leben früher gewesen war dachte, kam ihr eine alte Erinnerung in den Sinn, und sie versank tiefer in den Gedanken an ihre Vergangenheit.



Blutrote Fackeln warfen flackernden Lichtschein auf den mit dunklen, glatten Steinplatten gepflasterten, großen Hof von Aglarêth, der Festung der Adûnâi. Wächter in schwarz glänzender Rüstung, deren Helme sie wie gesichtslose Schrecken erscheinen ließen, hielten mit in den finsteren Himmel ragenden Hellebarden Wacht während sich der Platz zu füllen begann. Alle Bewohner des Tals waren dem Aufruf ihres Fürsten gefolgt und trafen nun nacheinander ein. An der Hand ihrer Mutter, Lóminzîl, ging ein kleines Mädchen von acht Jahren, in ein schwarzes Kleid gehüllt. Azruphel versuchte, ihre Aufregung zu verbergen wie man sie es gelehrt hatte, und behielt, so gut es ihr möglich war, einen ausdruckslosen Gesichtsausdruck bei. Sie wusste natürlich, was nun geschehen würde, doch als sie die große hölzerne Konstruktion im Zentrum des Hofes erblickte weiteten sich ihre Augen dennoch. Der Galgen ragte vor ihr auf, riesenhaft und drohend, genau wie seine Erbauer es beabsichtigt hatten. Der Große Gebieter kannte keine Gnade, und als seine wichtigsten Diener taten es die Adûnâi ebenfalls nicht. Zwei Foltermeister zerrten den geschundenen Gefangenen aus den Kerkern heran und führten ihn Schritt für Schritt über den Hof, während die Menge eine Gasse für sie bildete. Als der Mann an Azruphel vorbei kam warf er ihr einen Blick zu, in dem sie vollständige Verzweiflung und Entsetzen erkannte. Ihre Miene blieb ausdruckslos, wie man es ihr eingeschärft hatte, und sie konnte die Gedanken des Mannes förmlich vor sich sehen: "Selbst die Kinder hier kennen keine Gnade." Sie kannte weder den Namen des Verurteilten, noch den genauen Grund seiner Exekution. Ihr Vater hatte Azruphel nur gesagt, dass der Gefangene den Großen Gebieter bei einer wichtigen Mission im Osten durch sein vollständiges Versagen enttäuscht hatte. Und da er ein schwarzer Númenorer war, fiel er in die Zuständigkeit von Aglarêth. Die Adûnâi hielten sich nicht mit langwierigen Prozessen oder Verhandlungen auf. Wen der Große Gebieter für verurteilungswürdig erachtete, verdiente den Tod, welcher ihm ohne große Zeremonien gewährt wurde. Die Hinrichtung ging schnell vonstatten. Der Henker (einer von Azruphels Großonkeln) zog an einem langen Hebeln, nachdem man dem Gefangenen die Schlinge umgelegt hatte, und diese zog sich zu als er Mann durch die sich öffnene Falltür unter ihm stürzte. Und schon war alles vorbei und die Menschen begannen sich zu zerstreuen. Während die Wachen die Leiche wegschafften begann Azruphel bereits, an andere Dinge zu denken. Das Leben in Mordor ging weiter.



Aerien stellte fest, dass sie den Großteil ihres kurzen Lebens in einer Welt ohne Freundschaft und ohne Gnade gelebt hatte. Jetzt, da sie all diese Dinge erlebt hatte, wusste sie, dass das Leben in Mordor ein Bild dafür war, was Sauron mit der Welt der Menschen vorhatte. Seine Befehle sollten sie ohne Zögern und Zweifel ausführen und im Umgang miteinander sollten sie weder wahres Vertrauen noch Mitgefühl kennen. Sie ballte hasserfüllt die Faust als sie daran dachte. Doch noch bestand Hoffnung. Ein Teil Gondors leistete unbeirrt Widerstand und auch andere Reiche widersetzten sich dem Dunklen Herrscher. Sauron konnte noch immer besiegt werden, dessen war Aerien sich sicher. Wenn die Menschen nur aufhören würden, gegeneinander zu kämpfen und sich gegen Mordor vereinen würden...

Sie entschied, dass ihr ein wenig Bewegung gut tun würde, und schnappte sich ihr Bastardschwert, das am Fußende des Bettes lehnte. Ihr Ziel lag auf der untersten Ebene der Burg. Außerhalb der Mauer, die am Boden des Kraters verlief, hatte man mehrere Übungspuppen aufgestellt und einen Trainingsplatz eingerichtet. Dort verbrachte Aerien nun eine gute Stunde mit Übungen. Sie war entschlossen, ihr Geschick mit dem Schwert weiter auszubauen, denn sie wusste, dass in der Zukunft weitere Kämpfe auf sie warten würden. Schließlich hielt sie inne und blieb schwer atmend stehen. Sie spürte, dass ihre Ausdauer noch immer etwas zu wünschen übrig ließ. Daran würde sie ebenfalls arbeiten, beschloss sie.

Ehe sie weitere Gedanken fassen konnte, erfasste sie eine Bewegung aus dem Augenwinkel und drehte sich um. Vom Tunnel auf der anderen Seite des Kraters kam eine Reiterin im Schritt heran. Sie trug enge schwarze Kleidung und eine Kapuze, die sie jedoch abgesetzt hatte sodass ihre dunkelbraunen Haare zu sehen waren. Bei Aerien angekommen hielt die Reiterin an und musterte sie einen Augenblick. Dann sagte sie anerkennend: "Du führst eine kühne Klinge, jundi(1). Wie lautet dein Name?"
"Aerien," sagte Aerien vorsichtig. "Und Ihr?"

Die Frau lächelte geheimnisvoll. "Ich bin Ta-er as-Safar", sagte sie, als würde das alles erklären.



(1) haradisch "Kämpfer/in"
« Letzte Änderung: 20. Jan 2017, 13:02 von Fine »
RPG:

Eandril

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Re: Die Burg des Silbernen Bogens
« Antwort #6 am: 12. Jan 2017, 21:00 »
Narissa ging durch einen langen, engen Gang, der nur von einigen Fackeln an den Wänden erhellt wurde. In ihrer rechten Hand hielt sie einen Dolch von dem Blut tropfte, und in den flackernden Flammen der Fackeln glaubte sie, höhnisch grinsenden Gesichter zu erkennen. Sie biss die Zähne zusammen, packte den Dolch fester und ging weiter. Sie wusste nicht, wo sie war, oder wie sie an diesen Ort gekommen war - nur, dass sie erreichen musste, was auch immer am Ende des Ganges auf sie wartete.
Nach einer ihr endlos vorkommenden Weile erkannte sie vor sich einen hellen Schimmer, und trat schließlich durch eine offen stehenden Tür in einen Raum, der von silbernem Licht erfüllt war. "Was ist das hier?", flüsterte sie, und im selben Moment fiel hinter ihr die Tür mit einem Krachen ins Schloss. Vor ihr an der Wand kauerte eine zerschundene, blutige Gestalt, und als sie ihr das Gesicht zuwandte, erkannte Narissa sie.

Sie erwachte von ihrem eigenen Schrei, und spürte eine kühle Hand auf ihrer verschwitzten Stirn. "Ist alles in Ordnung?", fragte Aerien, die auf Narissas Bettkante saß und offenbar ebenfalls von ihr aus dem Schlaf gerissen worden war.
"Aerien?", keuchte Narissa, und ihr Blick irrte orientierungslos im dunklen Zimmer hin und her. Ihre rechte Hand tastete nach der ihrer Freundin, und Aerien ergriff sie und hielt sie fest. "Schsch", machte sie beruhigend. "Es war nur ein Traum."
Narissas Atem beruhigte sich allmählich, und sie richtete sich langsam im Bett auf. "Nur ein Traum..." In der Dunkelheit des Zimmer schien das, was sie eben gesehen hatte, nur allzu real zu sein. "Aerien, ich habe sie gesehen." In ihrem Kopf jagten Bilder ihrer Kindheit umeinander, die Stimme ihrer Mutter, die Wärme ihrer Hand...
"Ich habe meine Mutter gesehen."
"Deine Mutter?", fragte Aerien unsicher. "Aber hast du nicht erzählt, sie wäre..." "Tot", vollendete Narissa den Satz, und es auszusprechen gab ihr das Gefühl, als würde eine eiserne Faust ihr Herz zusammenpressen. "Das dachte ich zumindest. Aber was wenn... was wenn sie noch am Leben ist? Sie leidet, Aerien!" Im Dunkeln schimmerten Aeriens Augen silbern, als sie langsam sagte: "Es war nur ein Traum. Die Nacht... verändert viele Gedanken." Für einen Moment vergaß Narissa ihren Traum, und fragte sich stattdessen, was für Träume Aerien wohl haben mochte – von Mordor.
"Es war nur... so furchtbar real", flüsterte sie, und eine einzelne Träne lief ihr über die Wange. "Und wenn es wirklich wahr ist, muss ich zu ihr gehen." Für kurze Zeit schwiegen beide, bis Narissa fragte: "Wie spät ist es?" Aerien warf einen Blick aus dem Fenster, und antwortete: "Es dämmert erst langsam, also kein Grund aufzustehen." Narissa lächelte zaghaft und wollte sich gerade wieder in ihr Kissen zurücksinken lassen, als es leise an der Tür klopfte.
Eine braunhaarige Frau steckte den Kopf durch die einen spaltbreit geöffnete Tür, und sagte: "Ihr seid wach, gut."
"Ta-er, nicht wahr?", fragte Narissa, und richtete sich erneut vollständig im Bett auf. Aerien hatte ihr von dem Neuankömmling erzählt, und Narissa hatte sie trotz der Dunkelheit sofort erkannt – beinahe, als hätte sie sie zuvor bereits gesehen. "Das ist richtig." Ta-er glitt in den Raum hinein, und entzündete mit einer raschen Bewegung die Kerze, die auf dem kleinen Tisch neben Aeriens Bett stand. "Ich habe dich in Umbar gesehen, du hast mit Edrahil gesprochen... und mit Saleme." Ta-er sprach den letzten Namen wie ein Schimpfwort aus, doch dann lächelte sie. "Was würde Saleme sich ärgern, dich jetzt hier zu sehen."
"Ihr habt mich in Umbar beobachtet? Wieso?", fragte Narissa, und Ta-er lachte leise. "Ich bin mir zwar sicher, dass du eine hochinteressante Person bist – ansonsten wärst du vermutlich nicht hier – aber ich habe Edrahil und Saleme beobachtet. Für den Moment ist das allerdings unwichtig“, kam sie einer weiteren Frage Narissas zuvor. "Eayan benötigt eure Hilfe bei etwas. Oder eher, bei jemandem."

Kurze Zeit später gingen Narissa und Aerien hinter Ta-er vollständig angekleidet die Treppe, die zum Tunnel am Grund des Kraters führte, hinunter. "Wobei braucht Eayan unsere Hilfe?", fragte Narissa, die inzwischen hellwach war und den Traum beinahe vergessen hatte, und Ta-er zuckte mit den Schultern. "Ich weiß es selbst nicht genau. Er hat jemanden mitgebracht, und braucht nun eure Hilfe." Sie erreichten den Fuß der Treppe, wo sie Eayan bereits erwartete. Der kleine Vorplatz wurde von mehreren Fackeln erhellt, die ein flackerndes Licht auf sein Gesicht warfen, und für einen Herzschlag fühlte Narissa sich in ihren Traum zurückversetzt. "Ich habe jemanden getroffen, der behauptet, nach euch zu suchen", sagte er zur Begrüßung, und fügte mit einem Augenzwinkern an Aerien gewandt hinzu: "Das scheint auf viele Leute zuzutreffen."
Er schob eine schmale Gestalt mit zerzausten braunen Haaren und verbundenen Augen ins Licht, und sagte: "Diese junge Dame hat in Ain Salah einige Fragen über euch beide gestellt, und als ich sie schließlich zur Rede stellte, behauptete sie, zu euch zu gehören." Sobald Eayan das Mädchen ins Licht geschoben hatte, schnappte Aerien neben Narissa hörbar nach Luft, und nur einen Herzschlag später erkannte auch Narissa trotz der Augenbinde das sommersprossige Gesicht. "Serelloth?", fragte Aerien, und die Überraschung war ihr deutlich anzuhören. "Was tust du hier?"
"Aerien, wie schön!", erwiderte Serelloth fröhlich, und wandte suchend den Kopf hin und her. "Heißt das, ich darf diese Augenbinde loswerden?"
Eayan, der sich sichtlich entspannt hatte, nickte dem Mann neben sich, den Narissa erst jetzt als Elendar erkannte, zu, und dieser löste sanft die Binde von Serelloths Gesicht. "Endlich!" Das Mädchen verzog das Gesicht und blinzelte ein paar Mal. "Und Narissa ist auch hier, das freut mich. Und ihr seid...?" Der letzte Teil war an Elendar gerichtet, der Serelloth mit geöffnetem Mund gelauscht hatte und diesen schnell schloss.  "Ich bin, äh... Elendar bin Yulan“, antwortete er, ohne den Blick von Serelloths Gesicht abzuwenden.
"Ihr habt einen ungewöhnlichen Namen für einen Haradrim. Jedenfalls, erfreut euch kennenzulernen." Serelloth streckte ihm die rechte Hand mit dem Handrücken nach oben entgegen. Elendar ergriff sie zögerlich, und hauchte die Andeutung eines Kusses darauf. Zu ihrer Überraschung verspürte Narissa einen Stich der Eifersucht, als sie und Aerien einen bedeutungsvollen Blick wechselten. Dann räusperte Aerien sich, und sagte: "Ich unterbreche euch ja nur ungern." Ihre Augen zogen sich zu engen, verärgerten Schlitzen zusammen. "Serelloth," sagte sie leise und gefährlich. "Was, bei allen verdammten sieben Sternen, tust du hier?"
"Das ist eine hervorragende Frage, die selbst mich interessieren würde", warf Eayan ein bevor Serelloth etwas erwidern konnte. "Aber während ihr das besprecht, würde ich gerne einen Augenblick mit Narissa sprechen, wenn das geht."

"Ich... natürlich", antwortete Narissa ein wenig verwirrt, und folgte Eayan auf die andere Seite des Hofes. Während sie gingen dachte sie darüber nach, was sie eben gefühlt hatte, als Elendar und Serelloth einander angesehen hatten. Sie hatte kein Recht dazu, eifersüchtig zu sein, denn sie hatte nie etwas für Elendar empfunden. Sie waren Freunde, natürlich, und hatten einiges miteinander durchgemacht, aber das gab ihr noch lange keinen Besitzanspruch auf ihn. Und wenn er an Serelloth interessiert sein sollte und er ihr gefiel, sollte Narissa sich für sie freuen.
"Es ist an der Zeit, dir ein wenig über mich zu erzählen", riss Eayan sie aus ihren Gedanken. Der Schattenfalke stand mit dem Rücken zum erleuchteten Vorhof und blickte auf den noch dunklen Krater hinaus, über dessen östlichem Rand die ersten Sonnenstrahlen zu erkennen waren. "Über euch?", fragte Narissa, lehnte sich mit dem Rücken an die steinerne Wand eines der Ställe, und beobachtete die Sonnenstrahlen im Osten. "Hat es etwas mit den Gerüchten zu tun, die ihr im Norden gehört hattet?" Eayan wandte sich zu ihr um und lächelte, und dennoch glaubte Narissa, etwas wie Traurigkeit in seinem Gesicht zu sehen. "Du bist klug“, antwortete er. "Doch von einer aus dem Haus der Turmherren habe ich nichts anderes erwartet. Tatsächlich hatten diese Gerüchte mit jemandem zu tun, den du kennst – Elyana von den Sieben Schwestern." Er seufzte, während Narissa gespannt lauschte. Sie hatte nicht erwartet, dass Eayan irgendeine Verbindung zu den Sieben Schwestern haben könnte, und hoffte gleichzeitig, dass diese Verbindung nicht zu eng war. Sie hatte kein Interesse daran, erneut in Elyanas Fänge zu geraten. "Ich habe Gerüchte von dem Kampf der Schwestern gegen den Kopfgeldjäger Abel gehört, und dass sie dabei alle getötet wurden." Er sah Narissa scharf an, und vor ihrem inneren Auge blitzte das Bild der sieben weißgekleideten Leichen, die vor Abel im Staub lagen, auf.
"Und warum interessiert euch das?", fragte sie, und Eayan blickte sie scharf an. "Elyana war nicht immer eine der Sieben Schwestern. Vor langer Zeit, war sie einfach nur meine Schwester."
"Eure... Schwester?" Narissa beugte sich ein Stück vor. "Ihr meint, im übertragenen Sinne?" Wieder lächelte Eayan traurig, und Narissa begriff, dass sie einer der wenigen Menschen war, denen er davon erzählte. "Nein. Einst waren Saleme, Elyana und ich die drei besten Rekruten der Assassinen seit langem. Wir waren gute Freunde, auch wenn davon heute nicht mehr viel zu spüren ist. Dann geriet Elyana dem Kult der Sieben Schwestern in die Hände und stieg in ihren innersten Zirkel auf – und Saleme begann, den alten Orden der Assassinen nach ihren eigenen Vorstellungen zu formen, sodass sie heute nur noch ihrer Macht dienen. Und so sind aus Freunden schließlich Feinde geworden." Eayan breitete die Arme aus. "Elyana jedoch... so wenig ich den Weg, den sie eingeschlagen hat auch verstehe, sie ist noch immer meine Schwester, und deshalb musste ich gehen."
"Ich verstehe... glaube ich", sagte Narissa zögerlich. "Aber warum erzählt ihr mir das?" "Ich weiß nicht." Eayan hob die Schultern, und für einen Moment wirkte er mehr wie ein normaler Mann als ein mystischer Krieger mit dem Namen Schattenfalke. "Ich schätze, nach allem was Elyana getan hat, hast du ein Anrecht, ein wenig mehr über sie zu wissen, und sie zu verstehen."
"Sie verstehen", stieß Narissa hervor. "Ich verstehe ja nicht einmal, warum ich so wichtig sein sollte." Eayan machte einen Schritt auf sie zu, und legte ihr eine Hand auf die Schulter. "Eigentlich bist du nicht wichtig – jedenfalls nicht wichtiger, als jedes einzelne menschliche Leben. Und dennoch haben dir einige Leute Bedeutung zugewiesen – Dein Vater, dein Großvater, Elyana... Du kannst vor dieser Bedeutung davonlaufen, dich irgendwo verstecken bis der Sturm vorüber ist. Oder du kannst es gegen sie benutzen, und darüber hinauswachsen, dich davon befreien. Aber was und wie du es tust, musst du alleine entscheiden."
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Serelloths Gründe
« Antwort #7 am: 12. Jan 2017, 21:59 »
"Jetzt schau' mich nicht so an," sagte Aerien, der man den Ärger deutlich ansehen konnte. An Serelloth jedoch schien er völlig vorbeizugehen, denn sie blickte Aerien voller Verzückung an, kam zu ihr herüber und schloss die verdutzten Dúnadan in eine stürmische Umarmung.
"Ich kann's kaum glauben, dass ich dich wirklich gefunden habe!" rief das Mädchen und Aerien musste Serelloths Finger einzeln von ihrem Rücken lösen bis sie frei von der Umarmung war. Sie packte Serelloth am Armgelenk und zog sie beiseite, weg von Eayans Wachen, die aussahen, als wüssten sie nicht, ob sie lachen oder misstrauisch sein sollten.
"Serelloth," zischte sie. "Du hast dich in große Gefahr begeben als du nach mir gesucht hast. Was, bei den verdammten tausend jaulenden Hunden Huans, hast du dir dabei gedacht?"
"Ach Aerien," gab Serelloth grinsend zurück. "Du hast dich kein bisschen verändert."
"Antworte mir!" rief Aerien und war kurz davor, Serelloth eine schallende Ohrfeige zu verpassen. "Und mögen mich alle fünf Meeresgeister holen wenn ich dich nicht an deinen Ohren bis nach Ithilien zurückschleife!"
Statt einer Antwort besaß Serelloth die Dreistigkeit, zu kichern. Und das war es, was Aerien endgültig in Rage trieb. Sie riss an Serelloths Schultern und schüttelte des Mädchen, was das Kichern nur noch verstärkte. Ehe sie es sich versahen, lagen die beiden auf dem harten Boden des Vulkankessels und Aerien drehte der Waldläuferin den Arm auf den Rücken in einem Griff, den sie in Mordor gelernt hatte. Das brachte das Kichern endlich zum Verstummen.
"Du tust mir weh," beklagte Serelloth sich.
"Das ist noch das geringste, was du verdient hast," stieß Aerien zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. "Jetzt rede endlich. Bei den verrauchten Gipfeln von Thangorodrim, Serelloth. Wie konntest du nur?"
Serelloth riss sich überraschend geschickt los und kam behände auf die Beine. Dann bot sie Aerien die Hand an und zog sie hoch. "Behandele mich nicht wie ein Kind," sagte sie und schob die Unterlippe beleidigt vor.
"Aber genau das bist du," antwortete Aerien kopfschüttelnd.
"Ich bin siebzehn," korrigierte Serelloth spitz. "Das sind nicht einmal zwei Jahre weniger als bei dir." Doch während sie das sagte, kehrte bereits das breite Grinsen auf ihr sommersprossiges Gesicht zurück. "Jetzt schau' nicht so trübsinning, 'Rien. Ich erkläre es dir, in Ordnung?"
Aerien verschränkte misstrauisch die Arme. "Dann rede," gab sie kurzangebunden zurück.
Serelloth holte tief Luft und begann zu erzählen. "Beregond hat mir nicht verraten wollen, was passiert ist. Alles was ich wusste ist, dass du einfach verschwunden bist." Sie machte ein vorwurfsvolles Gesicht. "Ohne mir Bescheid zu sagen."
"Ich denke nicht, dass du - " setzte Aerien an, doch Serelloth unterbrach sie. "Ich hab' mir Sorgen gemacht, verdammt," sagte das Mädchen überraschend heftig. "Du... du bist doch die einzige Freundin, die ich habe," fügte sie etwas betreten hinzu.

Aerien konnte kaum glauben, was sie da hörte. Wie bitte? Wir kennen uns doch kaum. Bis auf wenige Tage in Ithilien und das ein- oder andere Gespräch in Ain Séfra hatte sie kaum Kontakt mit Serelloth gehabt - bei Weitenm nicht genug Zeit, um einander richtig kennenzulernen. Sie konnte nicht verstehen, wieso Serelloth den weiten und gefährlichen Weg nach Süden auf sich genommen hatte, nur weil sie Aerien vermisste.
"Aber..." stammelte sie, für einen Moment sprachlos. "Was ist mit deinem Auftrag? Was wird dein Vater dazu sagen?"
"Mein Vater ist weiiit weg," flötete Serelloth und drehte sich vergnügt um die eigene Achse. "Außerdem weißt du sehr gut, dass ich auf mich achtgeben kann."
Aerien zog eine Augenbraue hoch und deutete auf Eayan, der etwas abseits stand und sich leise mit Narissa unterhielt. "Und was war das dann?"
"Was meinst du?" fragte Serelloth verständnislos.
"Eayan hat dich gefangen genommen und hierher gebracht. Woher hättest du wissen sollen, dass er dir nichts antut?"
"Ich wusste es einfach, als ich in seine Augen blickte," gab Serelloth unbeirrt zurück, was Aerien ein entnervtes Ächzen entlockte. Es grenzte wahrlich an valarische Behütung, dass Serelloth den gefahrvollen Weg durch Harad ohne Schaden überstanden und die versteckte Burg tatsächlich gefunden hatte.
"Damit ich das richtig verstehe," begann Aerien langsam. "Du hast den armen Beregond alleine in Ain Séfra zurückgelassen, nur weil du der Ansicht bist, dass wir beste Freundinnen sind?"
"Wir sind keine besten Freundinnen," korrigierte Srelloth mit erhobenem Zeigefinger. "Wir sind Schwestern!" stellte sie klar und kicherte. "Wir beide sind vom Blut von Westernis und stehen für einander ein, egal was kommt. Stimmt's?"
"Ich weiß nicht," gab Aerien zurück. "Vielleicht sollte ich dich einfach den Attentätern überlassen, die hier wohnen."
"Nun sei' kein Ork," meinte Serelloth. "Du tust jetzt so verärgert, weil du selbst noch nie eine richtige Schwester hattest. Wenn man bedenkt, wo du herkommst, ist das sicherlich auch kein Wunder. Hast du Geschwister in Mordor, Aerien?"
"Ich habe zwei Brüder," antwortete Aerien vorsichtig. Sie sprach nicht gerne über ihre Familie.
"Und eine Schwester," korrigierte Serelloth und zeigte auf ihr eigenes Gesicht.

Wie es typisch für sie war, wurde Serelloth nur wenige Augenblicke bereits von etwas Anderem abgelenkt. "Die gute Narissa sieht aus, als hätte ihr dieser Eayan gerade eröffnet, dass sie schwanger ist. Und Sûladan ist der Vater!" Sie grinste, als hätte sie gerade den besten Witz der Welt gemacht.
"Still!" zischte Aerien und senkte ihre Stimme zu einem Flüstern herab. "Sprich kein Wort von Sûladan wenn du mit Narissa redest. Versprich mir das. Hast du verstanden?"
Serelloth nickte. "Heikles Thema?" fragte sie, doch Aerien gab ihr keine Antwort. Serelloth hatte für einen Tag bereits genug Aufregung verursacht.
"Komm," sagte sie und zog die Waldläuferin mit sich. Doch eine schlanke, hochgewachsene Gestalt stellte sich ihnen in den Weg.
"Nicht so schnell, ihr beiden," sagte sie. Es war Ta-er as-Safar. "Azruphel, bürgst du für die Gondorerin?"
"Das tue ich," bestätigte Aerien.
"Ihre Vergehen werden deine sein, bis sie sich als vertrauenswürdig erweist," verkündete die Herrin der Vulkanburg unheilvoll. "Ich werde mich Eayans Urteil beugen, doch wisst, dass ich nicht so leicht zu überzeugen bin wie er. Und dies ist meine Heimat, nicht seine."
"Ich verstehe, Herrin," sagte Aerien, die wusste, was sich gehörte. "Serelloth wird keinen Ärger machen."
"Schon gut," gab die Waldläuferin gekränkt zurück. "Ich benehme mich ja. Ich habe mich nur gefreut, meine Schwester wiederzufinden."
"Schwester?" fragte Ta-er verwundert, doch Aerien winkte entnervt ab. "Nun gut," sagte die Silberbogenkriegerin und gab den übrigen Mitgliedern ihres Ordens ein Zeichen, woraufhin diese sich eilig zerstreuten und sich wieder ihren Aufgaben widmeten. Sie blickte Serelloth noch einen langen Moment prüfend an, dann ging sie schnellen Schrittes in Richtung des Haupttores der Burg davon.

"Also, dieser Elendar ist defintiv ein Hingucker," sagte Serelloth in die Stille hinein. "Meinst du, ich kann ihn wiedersehen?"
Aerien seufzte tief und setzte sich in Bewegung ohne Serelloth eine Antwort zu geben. Liebeleien waren das Letzte, was sie jetzt brauchte. Sie hoffte, dass die Aufregung, die Serelloth stets zu verursachen schien, sich schon bald auf jemand anderen richten würde. Aerien hielt inne, als sie einen Einfall hatte. "Warum suchst du ihn nicht?" fragte sie Serelloth. "Ich glaube, er steht oft am obersten Aussichtspunkt der Burg Wache."
Serelloth nickte begeistert und eilte los. Aerien blieb zurück, voller einander widerstreitender Gedanken. Während sie sich langsam auf dem Weg zu ihrem Zimmer machte, sah sie Narissa und Eayan auf der anderen Seite des Hofes stehen, noch immer ins Gespräch vertieft. Sie fragte sich, welche Neuigkeiten da wohl gerade ausgetauscht wurden.
« Letzte Änderung: 14. Sep 2017, 09:39 von Fine »
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Eandril

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Re: Die Burg des Silbernen Bogens
« Antwort #8 am: 13. Jan 2017, 21:13 »
Für einen Augenblick schwieg Narissa, während sie über Eayans Worte nachdachte. Dann sagte sie: "Ich danke euch für... eure Worte, und eure Offenheit."
"Nun, es war nicht ganz uneigennützig", gab Eayan zu. "Elyana ist dabei, in dir eine Menge Hass auf sich aufzubauen. Und so zornig ich auch auf sie bin, ich sähe es ungern wenn du sie eines Tages töten würdest. Deshalb möchte ich, dass du versuchst zu verstehen wer sie ist, und warum sie handelt wie sie es tut."
"Aber... dazu muss ich mehr wissen. Mehr über die Schwestern", meinte Narissa, und biss sich auf die Unterlippe. Sie hatte kein Recht dazu, noch Informationen von Eayan zu fordern, doch zu ihrer Erleichterung, schien er genau das erwartet zu haben. "Du kannst jederzeit mit mir darüber sprechen, wenn ich in der Festung bin", erwiderte er. "Nur vielleicht nicht jetzt - immerhin gibt es bestimmt einiges, was du mit deiner Freundin Aerien zu besprechen hast."
Ein erster Sonnenstrahl streifte Narissas Gesicht, und sie lächelte. "Allerdings - ich wüsste zu gerne, was Serelloth hier treibt."

Narissa holte Aerien auf der Treppe zu den oberen Bereichen der Burg, wo ihr gemeinsames Zimmer lag, ein. "He, Aerien", keuchte sie. "Du willst dich doch etwa nicht schon wieder im Zimmer verkriechen?" Sie deutete zwischen zwei Mauern hindurch auf den Hof, wo ein mit Sand bestreuter Kampfplatz zu sehen war. Hin und wieder hatte sie dort Mitglieder des Silbernen Bogens bei ihren Übungen beobachtet, doch im Moment war der Platz verwaist. "Wie wäre es, wenn wir ein wenig unsere Muskeln lockern? Ein paar Schläge austauschen? Ein bisschen kämpfen?" Serelloths Ankunft hatte Narissa aus der Lethargie gerissen, in die sie während ihrer Genesung verfallen war, und plötzlich verspürte sie eine Energie und einen Bewegungsdrang, den sie lange nicht gefühlt hatte.
Aerien betrachtete sie einen Augenblick, dann zog sie die linke Augenbraue hoch. "Fühlst du dich denn schon wieder ausreichend erholt, um den Schlägen meiner Klinge zu widerstehen?" Dann blitzte etwas in ihren grauen Augen auf, und sie fügte grinsend hinzu: "Mit deinen beiden Messerchen bist du deutlich im Nachteil, meine Liebe."
Narissa spürte, wie sich ein herausforderndes Grinsen auf ihrem Gesicht ausbreitete. "Du wirst dich wundern, was meine Messerchen alles anstellen können. Finden wir es doch heraus!"

Nur wenig später hatten sich beide Freundinnen bewaffnet auf dem Sandplatz eingefunden. Aerien hielt ihr Bastardschwert locker in der Rechten und ließ es leicht in der Luft kreisen, während Narissa ihre Dolche noch nicht gezogen hatte. Inzwischen lag der Platz in der Sonne, und beide hatten sich reflexartig so gestellt, dass sie nicht geblendet wurden. Narissa zog langsam mit der rechten Hand den ersten Dolch, Ciryatans Dolch, warf ihn in die Luft und fing ihn blitzschnell am Griff wieder auf. "Bereit?", fragte sie, und Aerien nickte.
"Ich werde versuchen, dir nicht allzu sehr wehzutun", sagte sie, und legte auch die linke Hand auf den Schwertgriff. Narissa zog auch den anderen Dolch, und grinste. "Ich verspreche nichts." Dann machte sie einen Satz nach vorne, beide Waffen vorgestreckt. Aeriens größter Vorteil in diesem Kampf war ihre größere Reichweite, und diesen ließ sie sich nicht ohne weiteres nehmen. Sie wich einen Schritt vor Narissas Angriff zurück, fing mit dem Schwert den rechten Dolch ab und drehte sich noch gerade rechtzeitig zur Seite um dem Linken zu entgehen.
"Nicht schlecht", meinte Narissa. Aerien war schnell, wenn auch vielleicht etwas langsamer als sie selbst, und Narissa würde sich ein wenig mehr konzentrieren müssen.  Sie lockerte ihre Schultern, und griff erneut an.
Für einige Augenblicke tanzten sie beide in einem Wirbel aus Stahl. Narissas Dolche zuckten immer wieder blitzschnell vor, doch Aerien gelang es zunächst, jeden Schlag abzuwehren oder ihm auszuweichen, und drängte Narissa hin und wieder sogar selbst in die Defensive.
Sie ist gut, dachte Narissa bei sich, während sie einem einhändig geführten Hieb Aeriens auswich und dafür mit dem rechte Dolch versuchte, die Deckung ihrer Freundin zu durchbrechen. Ziemlich gut. Aeriens Bastardschwert erlaubte es ihr, sowohl ein- als auch beidhändig zu kämpfen, und Aerien gelang es, fließend von einem Kampfstil in den anderen überzugehen - was Narissa immer wieder zwang, sich ihr anzupassen. Doch schließlich schaffte sie es, einen beidhändig geführten Hieb mit beiden Dolchen zu parieren, sich von der Klinge abzustoßen, in einer Pirouette um Aerien herumzuwirbeln und ihr die Spitze ihres Dolches gegen den Nacken zu setzen. "Ich habe... gewonnen", keuchte sie, und spürte einen Schweißtropfen ihren Nacken hinunterrinnen. Durch ihre Adern pulsierte noch immer die Erregung des Kampfes - das hier war etwas vollständig anderes, als von Abel gezwungen zu werden, in einer Arena zur Belustigung der Aasgeier zu töten.

Aerien ließ das Schwert fallen, und wandte sich zu ihr um. "Bei allen Herren der Adûnâi, ich habe noch nie gegen jemand so schnelles gekämpft."
Narissa warf ihren Dolch erneut in die Luft, dass er in der Sonne blitzte, und fing ihn wieder auf. "Der Vorteil meiner, wie sagtest du noch... Messerchen?" Sie grinste, und stieß den Dolch in die Scheide, während Aerien ihre Klinge aufhob. "Aber du hättest mich ein paar mal fast gehabt - vielleicht kann ich dir ja ein bisschen Unterricht geben." Auf Aeriens verwunderte und einigermaßen empörte Miene hin, streckte sie ihr die Zunge heraus. "Nur ein Scherz. Ich habe keine Ahnung davon, mit einem solchen Schwert zu kämpfen."
"Es ist eigentlich ganz einfach", meinte Aerien, und ließ die Schwertspitze in der Luft kreisen.
"Themenwechsel", schlug Narissa, deren Atem sich allmählich beruhigt hatte, vor. "Erzähl mal, was bei allen verdammten sieben Sternen", sie zwinkerte Aerien zu, "treibt Serelloth denn nun hier?"
Aerien schloss für einen kurzen Moment die Augen und ließ einen tiefen Seufzer hören. "Sie hält mich für ihre beste Freundin," sagte sie dann mit Resignation in der Stimme. "Es grenzt an ein Wunder, dass sie uns tatsächlich gefunden hat. Wenn ihr Vater herausfindet, dass seine Tochter wegen mir noch tiefer ins Feindesland geraten ist, kann ich nie mehr auch nur einen Fuß auf gondorischen Boden setzen." Sie blickte Narissa etwas ratlos an. "Ehrlich gesagt weiß ich nicht, was ich mit Serelloth tun soll. Sicher, sie kann auf sich aufpassen, aber ich schätze, wir haben sie jetzt erstmal am Hals..."
"Hm", machte Narissa, selbst einigermaßen ratlos. Erst in diesem Moment wurde ihr wirklich bewusst, dass sie keine Ahnung hatte, was sie als nächstes tun oder wohin sie als nächstes gehen würde. Irgendetwas in ihr zog sie nach Qafsah, doch sie wusste selber nicht, warum. Immerhin bedeutete Qafsah für sie nur Gefahr und vermutlich den Tod. "Wir werden schon eine Lösung finden", meinte sie, und verdrängte die Frage damit für den Moment. Dann legte sie die Hand auf den Dolchgriff und blickte Aerien mit hochgezogenen Augenbrauen an. "Bereit für Runde zwei?"

Der zweite Kampf dauerte länger als der erste, denn beide hatten sich an den Stil ihrer Gegnerin gewöhnt, doch auch dieses Mal blieb Narissa siegreich, als sie unter einem Hagel von Schlägen hindurch tauchte und Aerien ihren Dolch an die Kehle setzte - den anderen hatte sie beim Parieren eines mächtigen zweihändigen Schlages verloren. Erneut ließ Aerien das Schwert fallen. "Bei den verdammten Türmen der Zähne!", stieß sie hervor, als Narissa die Klinge von ihrem Hals nahm, und in ihrer Stimme schwang diesmal etwas Frustration mit. "Wie machst du das?"
"Ganz einfach", sagte eine dritte Stimme, und die beiden bemerkten erst jetzt Ta-er, die am Rand des Kampfplatzes stand, und ihrem Kampf offenbar zugeschaut hatte. "Sie ist dafür ausgebildet worden, gegen Gegner wie dich anzutreten." Sie kam über den aufgewühlten Sand auf sie zu, und Narissa stellte fest, dass Eayans ehemalige Schülerin kaum einen Fußabdruck im Sand zu hinterlassen schien.
"Wohingegen du, Aerien, eindeutig eher dazu ausgebildet wurdest, in einer Schlacht inmitten eines Heeres zu kämpfen. Umso beeindruckender..." Ta-er bückte sich, und hob Aeriens Schwert auf. "... dass du ihr so große Probleme bereitet hast."
"Habe ich das?" Aerien wirkte verwundert, und als sie Narissas Blick suchte, lächelte diese und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. "Kann man so sagen, ja. Du hättest mich hin und wieder fast gehabt, obwohl ich natürlich noch nicht wieder ganz auf der Höhe bin. Dann hätte ich natürlich deutlicher gewonnen", schloß sie etwas provokant, und Ta-er blickte skeptisch drein.
"Wenn dem so ist, woher kommt dann diese Narbe?" Narissa fühlte, wie ihr Lächeln wie weggewischt verschwand. "Das war ein Wurfstern", hörte sie Aerien leise sagen. "Dagegen kann man sich nicht so einfach verteidigen." Zu hören, wie Aerien sie verteidigte, besserte Narissas Laune wieder etwas.
"Ich habe von Eayan gehört, was passiert ist", meinte Ta-er, und fügte beinahe entschuldigend hinzu: "Ich wollte dich auch nicht verletzen, Narissa. Aber es gehört nicht nur Kampfgeschick dazu, eine gute Kämpferin zu sein. Man braucht Aufmerksamkeit, Verstand, und muss genau über seine eigenen Fähigkeiten und ganz besonders ihre Grenzen Bescheid wissen."
"Ihr klingt wie mein Großvater", warf Narissa ein. "Wollt ihr uns vielleicht zeigen, wie gut ihr seid?" Ta-er schüttelte den Kopf. "Nicht heute. Ein andermal gerne, dann kann ich Aerien ein paar Tricks für den Kampf gegen Gegner mit zwei Waffen zeigen. Jetzt habe ich eine andere Frage an dich: Weißt du, wonach dein Freund Bayyin in Umbar gesucht hat?"
"Wir...", setzte Narissa an, unterbrach sich dann aber. "Woher wollt ihr wissen, dass er etwas gesucht hat?"
"Oh bitte", seufzte Ta-er. "Willst du mir vielleicht erklären, warum ein ehemaliger Bibliothekar, der mit dir nach Umbar gekommen ist, es für nötig gehalten hat, in die Bibliothek des Fürstenpalastes einzudringen?"
"Dann hat er es geschafft?" Narissa spürte, wie Erleichterung sie durchströmte, bis ihr auffiel was sie gerade gesagt hatte. "Ja ja, ich weiß wonach er gesucht hat..." Sie warf Aerien einen nervösen Seitenblick zu, denn sie wusste nicht, wie dieses Thema bei ihrer Freundin ankommen würde. "Er hat nach Informationen über einen geheimen Weg nach Mordor gesucht, denn nicht einmal Sauron selbst kennen sollte."
Aeriens Augen weiteten sich. "Einen Weg nach Mordor?" wiederholte sie ungläubig. "So etwas gibt es nicht. Alle Wege sind bekannt, und alle Wege sind bewacht. Niemand kommt hinein oder hinaus."
Ta-er stupste sie an. "Ach, und was steht dann hier vor mir? Ein Geist? Nun schau nicht so entsetzt, ich weiß Bescheid über deine Herkunft."
"Also gut, vielleicht habe ich es hinaus geschafft," gab Aerien zu. "Aber dass es einen Weg geben soll, den Sauron nicht kennt, kann ich beim besten Willen nicht glauben. Das Auge hat jeden Winkel seines Landes stets im Blick, und das schon seit tausenden von Jahren. Ich habe Karten in der Bibliothek gesehen - detaillierte Karten, von denen die Heerführer des Westens nur träumen können - und nirgends ist ein fünfter Weg nach Mordor eingezeichnet. Es gibt nur vier Eingänge in Saurons Reich: Cirith Gorgor, den Pass von Aglarêth, den Morgulpass und Cirith Ungol, sowie die Ostgrenze des Landes, wo sich die Steppen Rhûns und Khands treffen. Es tut mir Leid, Narissa... dein Freund jagt einem Hirngespinst nach."
Narissa schüttelte den Kopf. "Nein, das kann nicht sein. Ich habe Aufzeichnungen gesehen, die von diesem Pass berichteten, irgendwo im südlichen Gebirge von Mordor. Und außerdem, gerade dass niemand in Mordor davon weiß, ist ja das Interessante daran!" Trotz ihrer überzeugten Worte hatte Aerien einen Hauch des Zweifels in ihr ausgelöst. Was, wenn sie recht hatte? Immerhin beherrschte Sauron sein Land bereits so lange, dass es an ein Wunder grenzen würde ein Gebiet zu finden, dass er nicht kannte.
Ta-er machte ein nachdenkliches Gesicht, als sie einwarf: "Aerien hat recht damit, dass Sauron sein Land gut kennt. Aber dennoch - auch die kleinste, noch so unwahrscheinliche Spur, die uns Mordor gegenüber einen Vorteil verschafft, muss verfolgt werden. Ich werde mit Eayan darüber sprechen, dass wir Boten nach Umbar und zur Insel entsenden, um mehr darüber in Erfahrung zu bringen - und deinem Freund berichten, dass du dich hier in Sicherheit befindest. Wer weiß, vielleicht werdet ihr sogar selbst gehen..."
« Letzte Änderung: 14. Jan 2017, 19:01 von Eandril »

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Freundschaft... oder mehr?
« Antwort #9 am: 14. Jan 2017, 15:19 »
Ta-er ging langsam in Richtung der Burg davon und die beiden Mädchen blickte ihr nachdenklich hinterher. Einen Augenblick schwiegen sie und sahen zu, wie die Sonne am Himmel ihren Lauf nahm und der Boden des Kraters wieder von den Schatten verdunkelt wurde, als der Mittag vorüberging.
"Dieser Bayyin," sagte Aerien schließlich langsam in die Stille hinein. "Ist er... süß?"
Narissa warf ihr einen seltsamem Blick zu. "Ich schätze schon," sagte sie gleichgültig. "Darüber habe ich mir noch gar keine Gedanken gemacht. Seit meiner Flucht von der Insel hatte ich eigentlich kaum Zeit, über solche Dinge nachzudenken."
"Jetzt hast du sie," legte Aerien nach. "Also, sag schon. Wie kommt es, dass du so viele Freunde hast," sie betonte das Wort besonders deutlich, "aber trotzdem noch niemanden gefunden hast, mit dem du... mehr als nur Freundschaft teilst?""
Auf Narissas Wangen war eine leichte Röte zu erkennen, doch sie gab sich ungerührt. "Dasselbe könnte ich dich fragen," gab sie ausweichend zurück.
"Ich habe aber zuerst gefragt," konterte Aerien mit einem siegesicheren Lächeln. "Jetzt sag schon. Es bleibt auch unter uns. Du weißt ja, ich kann ein Geheimnis bewahren."
"Das weiß ich nur zu gut," sagte Narissa, dann nahm sie einen tiefen Atemzug. "Ich denke... Bayyin wäre durchaus an mir interessiert. Elendar vermutlich ebenfalls... aber..."
Aerien schaute sie neugierig an. "...Aber?"
"Ich weiß nicht," gab Narissa ratlos zurück. "Es hat sich bisher einfach nicht ergeben. Du weißt ja, wie es ist, auf der Flucht zu sein. Ständig über die Schulter blicken zu müssen."
"Ja," sagte Aerien und nickte mitfühlend. Sie ergriff Narissas Hand und drückte sie für einen kurzen Augenblick. "Ich weiß, wie es ist."

Aerien hielt Narissas Hand und beide blickten schweigend zur Burg des Silbernen Bogens hinauf, die sich wie eine Kletterranke an die Wand des Kraters klammerte.
"Vielleicht, wenn all das vorbei ist -" sagte Aerien, doch gleichzeitig sagte Narissa: "Wir beide finden bestimmt eines Tages jemanden."
Sie blickten einander an und lächelten. Aerien ließ Narissas Hand los und nickte. "Da bin ich mir sicher," bekräftigte sie.
Narissa hob die Hand an den Mund und gähnte herzlich. "Ich danke dir für das Training, Aerien. Aber jetzt sollte ich wohl die verlorene Energie wieder auffüllen gehen."
Aerien nickte verstehend. "Du bist immer noch nicht vollständig erholt," sagte sie. "Es ist gut, dass du dir nicht zu viel zumutest."
"Ich bin schon wieder fast die alte," befand Narissa. "Ich brauche nur ein wenig Schlaf. Wir sehen uns später, Aerien." Damit verabschiedete sich und verschwand im Inneren der Burg.

Aerien blieb mit ihren eigenen Gedanken zurück. Noch immer glaubte sie nicht daran, dass es wirklich einen verborgenen Weg nach Mordor hinein geben sollte, von dem der Dunkle Herrscher nichts wusste. Sie wusste nicht, worauf Narissas Freund Bayyin gestoßen war, doch bevor sie den versteckten Weg nicht mit eigenen Augen gesehen hatte würde Aerien dessen Existenz weiter bezweifeln. Sie hob ihr Schwert auf und schob es vorsichtig in das Futter, das sie sich über die Schulter gehängt hatte. Das arm- und bauchfreie Oberteil, das sie trug, erlaubte ihr, die Hitze die sich im Kessel angestaut hatte, problemlos zu ertragen. Sie genoss die Wärme. In Durthang war es meist eher kalt und zugig gewesen da die Feuer des Schicksalsberges fern waren.
Sie trottete langsam durch das Haupttor der Burg und begann, die Stufen zum obersten Aussichtspunkt hinauf zu gehen, um einen Blick auf das umliegende Land zu werfen. In den vergangenen Tagen war sie oft dort gestanden und hatte den Blick über Ain Salah, das im Norden gut sichtbar zu erkennen war, schweifen lassen. Das Gebirge zog sich in südlicher Richtung mit hoch aufragenden Gipfeln tiefer ins Land hinein, während im Westen und Osten große, bewaldete Ebenen lagen. Aerien fragte sich, wieviele Menschen dort wohl lebten, und ob es vielleicht Elben in den tiefen Wäldern geben könnte. Sie war in ihrem kurzem Leben noch keinem der Eldar begegnet und rechnete auch in nächster Zeit nicht damit.  Vielleicht, wenn ich eines Tages wieder nach Gondor komme, dachte sie während sie die oberen Ebenen der Burg durchquerte. Unter den Waldäufern Ithiliens ging das Gerücht um, dass Elben des Goldenen Waldes die Tore von Dol Amroth bewachen, erinnerte sie sich.

Sie trat auf den Wehrgang an der Spitze der Burg hinaus. Hier zog sich die Mauer ungefähr dreißig Schritte direkt am obersten Kraterrand entlang und bot den Wachtposten einen spektakulären Ausblick, ohne selbst sichtbar zu sein. Am Ende des Mauerstückes standen zwei Gestalten nah beieinander, und als Aerien vorsichtig näher kam, hörte sie die Stimmen der beiden, die sich unterhielten.
"In einem geheimen Versteck in Ithilien?" fragte die erste Stimme, die einem jungen Mann gehörte. "Das klingt wirklich abenteuerlich."
"Ich darf dir leider nicht verraten, wo es liegt," sagte die zweite Stimme, die unverkennbar zu Serelloth gehörte, die ihre grüne Kapuze aufgesetzt hatte. Neben ihr stand der junge Elendar, wie Aerien nun erkannte. Ihre Augen weiteten sich, als sie sah, dass er Serelloth an der Hand genommen hatte.
"Mein Vater würde rot vor Zorn werden, wenn er von all dem hier wüsste," sagte Serelloth mit einem Kichern.
"Ist dein Vater einer der Fürsten Gondors?" fragte Elendar wissbegierig, doch die Waldläuferin schüttelte den Kopf.
"Meine Vorfahren sind nicht adelig. Doch seit Heermeister Faramir in Rohan ist führt mein Vater den Widerstand in Ithilien an."
"Beeindruckend," befand Elendar. "Es ist gut zu hören, dass Gondor noch immer gegen Sauron kämpft."
"Wir werden nicht aufgeben," sagte Serelloth, doch dann schien ihr etwas einzufallen. "Hör mal, Elendar, du darfst Aerien kein Wort darüber erzählen, hast du verstanden?"
"Wovon soll er mir nicht erzählen?" fragte Aerien und die beiden fuhren überrascht und errötend herum. "Über euer kleines, heimliches Treffen?"
"A-Aerien!" stieß Serelloth mit hochrotem Kopf hervor. "Wie - schön dich zu sehen!"
Aerien versuchte, einen strengen Gesichtsausdruck beizubehalten, doch es gelang ihr nicht und sie musste grinsen. "Was wird wohl Damrod zu all dem sagen?"
"Bitte erzähle es nicht meinem Vater!" flehte Serelloth. Elendar, dem die Entdeckung ebenfalls recht unangenehm zu sein schien, trat verlegen von einem Bein aufs Andere.
"Vielleicht nicht," sagte Aerien gnädig. "Oh, aber ihr könnt davon ausgehen, dass ich es Narissa erzählen werde - jedes einzelne Wort!"
"Wieviel hast du denn gehört?" fragte Serelloth betreten.
"Genug, um zu wissen, was hier vor sich geht," antwortete Aerien triumphierend. "Aber wer bin ich, mich eurer jungen Liebe in den Weg zu stellen? Macht ruhig weiter mit... was auch immer das hier ist."
"Äh... danke," stammelte Serelloth und Elendar blickte peinlich berührt zu Boden ohne etwas zu sagen. Aerien ließ die beiden stehen und machte sich auf die Suche nach etwas zu Essen.
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Re: Die Burg des Silbernen Bogens
« Antwort #10 am: 14. Jan 2017, 20:14 »
Gerade als Narissa die Decke ihres Bettes zurückschlug und sich hineinlegen wollte, platzte Aerien ins Zimmer. "Du wirst nie erraten, wobei ich Elendar und Serelloth erwischt habe."
Narissa setzte sich auf ihre Matratze, schlug die Beine unter und zog interessiert eine Augenbraue in die Höhe. "Waren sie nackt?", fragte sie in möglichst unschuldigem Tonfall, Aerien stutzte und lief dann zartrosa an. "Bei den Nachtigallen Yavannas, natürlich nicht. Aber sie haben Händchen gehalten und..."
Narissa kicherte, und meinte: "Du übertriffst dich heute selbst. Bei den Nachtigallen Yavannas?" Auf Aeriens gekränkten Blick hin, hob sie abwehrend die Hände. "Schon gut, schon gut. Das geht auf jeden Fall schneller als ich dachte." Ein weiteres Mal verspürte sie den vertrauten Stich der Eifersucht, doch schwächer als zuvor und sie unterdrückte das Gefühl sofort wieder. Sie hatte kein Anrecht auf irgendjemandes Liebe, erst recht nicht, wenn sie dieses Gefühl nicht erwiderte. Ihr Gespräch mit Aerien von vorhin fiel ihr wieder ein, und sie fragte sich insgeheim, ob vielleicht etwas mit ihr selbst nicht stimmte. Sie strich gedankenverloren über das untere Ende ihrer Narbe. Vielleicht würde sich
"Ja, nicht wahr?" Aerien ließ sich auf der Kante ihres Bettes nieder, und ihre Mundwinkel zuckten. "Sie waren so herrlich schuldbewusst, als ich sie angesprochen habe."
"Ich kann es mir lebhaft vorstellen. Serelloth läuft so rot an, dass man ihre Sommersprossen gar nicht sehen kann, und Elendar fehlen vollständig die Worte."
"Ganz genau so war es... Warte. Hast du etwa gelauscht?", fragte Aerien misstrauisch, und Narissa schüttelte den Kopf. "Nein", antwortete sie wahrheitsgemäß. "Aber ich kenne Elendar, und offensichtlich habe ich Serelloth auch ganz gut getroffen."
"Und was machen wir jetzt mit den beiden?" Narissa streckte sich genüsslich in ihrem Bett aus, und erwiderte: "Was wir machen? Wie wäre es mit... gar nichts?"
"Du meinst, sie einfach machen lassen?", kam es von Aerien herüber, während Narissa die Augen schloss und tief durchatmete. "Entweder sind sie irgendwann darüber hinweg, oder es ist etwas ernsthaftes - und das wäre sowieso früher oder später geschehen." Außer bei mir. "Und dabei ist es doch auch egal, ob es nun Elendar ist oder ein Waldläufer aus Ithilien."

Erneut ging Narissa durch den langen, von Fackeln erhellten Gang, und erneut konnte sie nicht stehen bleiben bis sie die Tür an seinem Ende erreicht hatte. Auch dieses Mal kauerte die Frau mit dem Gesicht ihrer Mutter in dem von silbernen Licht erfülltem Raum. Doch dieses Mal erwachte Narissa nicht, sondern die Frau sprach. "Hilf mir, meine Kleine." Narissa erschauerte, als sie die Stimme ihrer Mutter erkannte, und der letzte Zweifel verschwand wie weggewischt. "Rette mich." Plötzlich war sie ein Mädchen von gerade zehn Jahren, dass von ihrer Mutter einen Brief und ein Medaillon erhielt, und sie niemals wieder sah. Der Boden erzitterte, und ihre Mutter schaute erschreckt auf. "Du musst kommen, sonst... wird er mich töten." Eine Träne rann Narissa über die Wange, als sie die grauen Haare und die eingefallenen Züge Herlennas sah, die mit Narben überzogenen Hände... Im gleichen Moment waren ihre eigenen Hände verschwunden, dann ihre Füße und zuletzt der ganze menschliche Körper. Stattdessen besaß sie nun zwei schlanke, schwarze Flügel, kurze schuppige Beine mit drei Krallen, und auf dem ganzen Körper ein Federkleid - schwarz auf dem Rücken, weiß am Bauch.
Eine Schwalbe, dachte sie, und im nächsten Augenblick flog sie, durch das Fenster hinaus und hoch über die Stadt, die sie sofort wiedererkannte. Die gelben Mauern, der hochaufragende Palast und die Häuser, die sie in ihrer Kindheit so gut gekannt hatte - sie blickte hinab auf Qafsah, das Herz von Suladâns Reich.
Sie flog, so rasch ihre Flügel sie trugen über die Stadt hinweg auf den Mond zu, der viel zu tief stand, doch direkt bevor sie ihn erreichte verwandelte sich das silberne Licht in rot, und aus dem Mond war ein einziges flammendes Auge geworden... und Narissa erwachte.
Durch das Fenster des Zimmers fiel silbern das Mondlicht herein, keine Spur von rot, und vom anderen Bett waren Aeriens ruhige Atemzüge zu hören. Narissa warf die Decke von sich, stand auf und eilte barfuß zum Fenster. Fast erwartete sie, draußen die Häuser von Qafsah zu erblicken, doch dort waren nur die Wände des erloschenen Vulkans zu sehen. Sie starrte in die Nacht hinaus, genoss die kühle Luft auf der verschwitzten Haut und beruhigte ihren Atem. Dieser Traum hatte etwas zu bedeuten, da war sie sich sicher. Sie musste gehen, und sie musste allein gehen. Denn Aerien war ihre Freundin, und Narissa würde sie nicht in den wahrscheinlichen Tod in Qafsah führen, denn diese Angelegenheit war ihre.

Wenig später hatte sie vollständig gerüstet und bewaffnet den unteren Hof erreicht und schickte sich gerade an, ihn zu den Ställen zu überqueren, als eine Stimme sie zurückhielt: "Kannst du mir verraten, wo du hinwillst?" Narissa fuhr herum, und sah sich Aerien gegenüber. Ihre Freundin schien sich eilig angekleidet zu haben, doch ihre Bastardschwert hing an ihrem Gürtel und ihre Miene war hart. "Ich... ich muss gehen." Narissa wich unwillkürlich einen Schritt zurück, und Aerien machte einen nach vorne.
"Gehen? Wohin? Was hast du vor?" "Ich... kann es dir nicht sagen", erwiderte Narissa und fühlte sich hilflos. Die Entscheidung war ihr schwer genug gefallen, doch jetzt, Angesicht zu Angesicht mit Aerien... "Ich kann es dir nicht sagen, denn du würdest mitkommen wollen. Es ist gefährlich, und vermutlich würden wir beide sterben. Und... ich will nicht, dass du meinetwegen erneut in Gefahr gerätst. Nicht schon wieder", sprudelte es aus Narissa hervor, und Aeriens Züge wurden weicher.
"Es gibt im Augenblick niemanden, für den ich mich lieber in Gefahr begeben würde. Aber erzähl mir zuerst, was los ist." Narissa trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. Jede Minute die sie zögerte war eine Minute länger, die ihre Mutter in Gefangenschaft verbrachte, und womöglich gefoltert wurde. "Ich habe wieder geträumt... meine Mutter gesehen. Sie ist noch immer am Leben, gefangen in Qafsah." Aerien machte einen Schritt auf sie zu, und legte ihr die Hand auf die Schulter. "Es war nur ein Traum", sagte sie leise, aber eindringlich. "Ich verstehe, dass er dir zu schaffen macht, aber... du kannst doch nicht wegen eines Traumes alles wegwerfen."
"Wegwerfen?", gab Narissa zurück, und schüttelte die Hand ab. "Was werfe ich denn weg? Wir können hier nichts tun, nirgendwohin gehen. In Qafsah kann ich wenigstens etwas bewirken, meiner Mutter helfen, und vielleicht..."
"Bei allen strahlenden Silmaril, hast du denn nicht zugehört?", zischte Aerien. "Sie wollten uns nach Umbar schicken... oder vielleicht sogar auf die Insel!"
"Die Insel..." Narissa begann, unruhig vor Aerien auf und abzugehen. "Was gibt es dort schon noch, außer Leichen und Ruinen? Warum sollten wir dorthin gehen?"
"Wann bist du das letzte Mal dort gewesen? Vielleicht weiß Eayan mehr als du. Ich glaube jedenfalls nicht, dass er ohne Grund Boten dorthin schicken würde." Narissa blieb abrupt stehen, und starrte Aerien an. "Ich habe gesehen, wie der Turm brannte", sagte sie, doch langsam durchdrangen Aeriens Worte den Schleier aus Verzweiflung und Resignation, der sich um ihren Verstand gelegt hatte. "Du meinst, es könnte jemand... überlebt haben?"
"Genau das meine ich", erwiderte Aerien in dem Flüsterton, in dem bislang ihr ganzes Gespräch abgelaufen war. "Du kannst deiner Mutter nicht mehr helfen. Aber wenn du hier bleibst, kannst du vielleicht andere Überlebende deiner Familie treffen. Lass sie los."
"Was weißt du denn davon?", gab Narissa zurück, plötzlich wieder zornig. "Deine Mutter ist ja nicht in Gefahr, und sitzt stattdessen sicher in Mordor, an Saurons Kaminfeuer!"
Sie wandte sich ab und starrte in den dunklen Tortunnel hinein, in Erwartung einer Erwiderung, die nicht kam. Nach einigen Augenblicken drückenden Schweigens sagte sie schließlich: "Es tut mir Leid, das war gemein." Sie wandte sich wieder Aerien zu, die sich kein Stück gerührt hatte, und ergriff zaghaft ihre Hand. "Kannst du mir verzeihen?"
"Ich... glaube ja", antwortete Aerien, und ihre Stimme klang heiser.
"Versteh doch", sagte Narissa bittend. "Ich habe sie das letzte Mal gesehen als ich gerade zehn Jahre alt war, und ich dachte... dachte, sie wäre tot. Und nun, wenn es auch nur die kleinste Möglichkeit gibt, dass sie noch am Leben ist... würde ich alles tun, um ihr zu helfen."
"Ich verstehe", sagte Aerien langsam. "Glaube ich zumindest. Und ich werde mit dir kommen."

"Nein, das wirst du nicht." Auf der Treppe waren drei weitere Gestalten erschienen: Eayan, Ta-er und Elendar, alle in ihrer normalen Tageskleidung. Offenbar hatte keiner der drei geschlafen.
"Ich hatte die zweite Nachtwache, habe euch gehört, und Meister Eayan benachrichtigt", erklärte Elendar beinahe entschuldigend. "Und daran hast du sehr gut getan", sagte Ta-er. "Ihr werdet die Burg nicht verlassen."
"Und wieso nicht?", fragte Narissa herausfordernd. "Wir sind keine Mitglieder eurer Gilde." "Aber unsere Gäste, und dieses Privileg kommt mit gewissen Einschränkungen - darunter, dass ihr die Burg nicht einfach so verlassen könnt", erwiderte Ta-er, und weder ihr Tonfall noch ihre Miene ließen Widerspruch zu. Dennoch hob Eayan, der bislang geschwiegen hatte, die Hand.
"Ich glaube nicht, dass wir Narissa ohne einen Kampf daran hindern könnten, zu tun, was sie sich vorgenommen hat", meinte er, und Narissa, die eine Hand auf ihren Dolchgriff gelegt hatte, nickte verbissen. "Damit habt ihr verdammt recht." Aerien schien weniger entschlossen, rührte sich allerdings ebenfalls nicht von der Stelle.
"Dann will ich es mit Worten versuchen. Du hast etwas im Traum gesehen, etwas, dass dich zutiefst verstört hat. Ist es nicht so?", fragte Eayan, und Narissa hatte das Gefühl, dass er geradewegs durch sie hindurch sah. Sie nickte zaghaft. "Ja. Darum muss ich gehen."
"Dieser Traum hat dir die Wahrheit gezeigt", fuhr Eayan fort. Narissa schnappte nach Lust, und neben ihr rührte Aerien sich unbehaglich. Auch Elendar und Ta-er wirkten überrascht, als Eayan fortfuhr: "Doch ich habe ebenfalls etwas gesehen. Ihr beide müsst hierbleiben, und wenn ihr geht, dann muss euer weg euch nach Westen führen - nach Tol Thelyn, nicht nach Qafsah."
"Aber warum? Was könnte so wichtig sein, dass..." "Alles hängt mit dem geheimen Weg nach Mordor zusammen", wurde sie von Eayan unterbrochen. "Den es vermutlich nicht gibt", murmelte Aerien leise, doch Eayan ging nicht darauf ein. "Welchem Zweck er dient und welche Rolle ihr dabei spielt, kann ich nicht klar erkennen. Nur, dass es wichtig ist - und dass Qafsah den Tod bedeutet."
"Dann sei dem so", sagte Narissa, und blickte Eayan entschlossen ins Gesicht. "Ich werde mich nicht von Vermutungen und mysteriösen Ahnung davon abhalten lassen, meiner Mutter zu helfen."
"Aber von Träumen lässt du dich dazu bringen?", warf Ta-er ein, und Narissa sah zu Boden. "Das ist etwas anderes", erwiderte sie schwach, denn sie wusste genau, dass dem nicht so war.
"Dies ist das Werk des Feindes, fürchte ich", meinte Eayan und seufzte. Zu Narissas Ärger nickte Aerien langsam, sagte allerdings nichts. "Nun, wenn du dich nicht davon abbringen lässt, lass mich dir wenigstens helfen. Vielleicht findet sich unter meinen Leuten jemand, der dich begleiten würde..."
Ta-er öffnete den Mund, doch Elendar kam ihr zuvor. "Ich werde mit ihnen gehen, Meister?" Eayan warf ihm einen sorgenvollen Blick zu, nickte dann aber. "Also gut. Brecht morgen früh auf, nicht mitten in der Nacht - der Pfad ist gefährlich. Und wisst, dass ich euch nach wie vor von diesem Unterfangen abrate."
"He!" Von der Treppe kam eine schmale Gestalt herangeeilt, und quetschte sich zwischen Eayan und Ta-er hindurch. "Ihr könnt sie doch nicht einfach so gehen lassen", protestierte Serelloth. "Jedenfalls... nicht ohne mich!"
Aerien ächzte. "Bei den Türmen von Valimar, Serelloth! Du wirst keinen Fuß durch dieses Tor setzen."
"Wieso nicht? Ich habe es alleine bis hierher geschafft, da sollte was auch immer ihr vorhabt, doch kein Problem sein", sagte sie unbeschwert. "Und außerdem werde ich nicht einfach so alleine hier bleiben, ohne..." Sie stockte, warf Elendar, der beim Anblick ihres sehr kurzen Nachtgewandes trotz seiner braunen Haut dunkel angelaufen war, einen kurzen Blick zu, und schloss dann etwas lahm: "... Aerien." Trotz der ernsten Situation musste Narissa unwillkürlich lächeln, doch Aerien schien kein bisschen nach Lachen zumute zu sein. "Bei allen verdammten brennenden Belryg des Altvorderen! Du wirst nicht mit uns kommen! Und schon gar nicht wegen irgendeiner... Schwärmerei!" Man musste es Serelloth zu gute halten, dass sie vor der wütenden Aerien keinen Fußbreit zurückwich, obwohl sie zunächst vor Schreck blass wurde und bei Aeriens letztem Satz rot anlief.
"Das k-kann dir doch völlig egal sein. Ich werde jedenfalls mitkommen." Mit jedem Wort schien das Mädchen ein Stückchen ihres Selbstvertrauens zurück zu gewinnen. "Ansonsten müsstest du mich schon fesseln und in einem Sack verschnürt heim schicken. Und ich weiß genau, dass du dazu keine Zeit hast", schloss sie triumphierend. "Ich nicht", gab Aerien zurück, und deutete auf Eayan und Ta-er. "Sie schon." Eayan schüttelte den Kopf. "Nein. Wenn ihr geht, müsst ihr sie mitnehmen. Vielleicht bringt euch das ja zur Vernunft."
Aerien warf Narissa einen bittenden Blick zu, doch diese schüttelte stumm den Kopf, und fühlte sich schrecklich dabei. Aber sie hatte ihre Entscheidung getroffen, und musste nun mit den Folgen leben.
"Also schön... aber dein Vater wird mich umbringen." Aerien klang resigniert. "Bei den goldenen Mauern der Sonne, ihr beide seid eine größere Plage als alle Horden Mordors zusammen."
"Großartig", meinte Serelloth, und warf Narissa ein aufmunterndes Lächeln zu, dass diese allerdings nicht erwiderte. "Äh... wo gehen wir nochmal hin?"

Narissa, Elendar, Serelloth und Aerien zur Harduin-Ebene...
« Letzte Änderung: 15. Jan 2017, 12:40 von Fine »

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Eandril

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Re: Die Burg des Silbernen Bogens
« Antwort #11 am: 25. Jan 2017, 19:42 »
Narissa und Aerien von der Harduin-Ebene

"Willkommen zurück in Burj al-Nar, Narissa und Aerien", begrüßte Eayan die Rückkehrer. Offenbar war ihr Nahen nicht unbemerkt geblieben, denn als sie aus dem Tunnel in den Krater hinausgeritten kamen, hatte er sie bereits am Fuß der Treppe erwartet. Narissa sprang mit einer fließenden Bewegung von Grauwinds Rücken, und schenkte ihm ein Lächeln. "Wir sind froh, dass wir wieder hier sein dürfen", erwiderte sie, während sie Aerien aus dem Sattel half. Vermutlich wäre es gar nicht nötig gewesen, denn Aeriens Bein war inzwischen so weit verheilt, dass sie alleine stehen konnte und, wenn auch etwas mühsam, vom Pferd steigen konnte. Dennoch, Narissa nutzte jede Gelegenheit in ihrer Nähe zu sein, gerne aus.
"Und ich wäre noch glücklicher, wenn Elendar bei euch wäre", sagte Eayan, während er Yana beobachtete, die ebenfalls vom Pferd stieg und sich staunend im Krater umsah. Die Erwähnung ihres gefallenen Freundes wischte das Lächeln von Narissas Gesicht, als ihr Serelloths Anschuldigungen erneut in den Ohren klangen. Während ihrer Reise hatte sie so wenig wie möglich daran gedacht und stattdessen das Gefühl genossen, zum ersten Mal in ihrem Leben wirklich verliebt zu sein. Doch jetzt konnte sie nicht davonlaufen, denn Eayans Blick durchbohrte sie wie der eines Falken.
"Elendar ist... tot", antwortete sie, und blickte zu Boden. Aerien ergriff ihre Hand und drückte sie, und Narissa sprach stockend weiter: "Er fiel im Kampf gegen Abel, als er mich vor ihm verteidigen wollte. Es... war meine Schuld, und es tut mir leid."
Eayan seufzte tief. "Es war ein Fehler euch nach Qafsah gehen zu lassen, aber... es wäre ein ebenso großer Fehler gewesen, euch aufzuhalten." Er schüttelte langsam den Kopf. "Es ist wie es ist. Hast du deine Mutter gefunden?"
Narissa sah erneut zu Boden. Auch wenn sie akzeptiert hatte, dass ihre Mutter tot war, und begriffen hatte, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte - es blieb schwer, daran zu denken. "Ja", erwiderte sie schließlich. "Aber sie war zu schwach zum Fliehen, und es genügte ihr, mich ein letztes Mal gesehen zu haben, bevor..." Sie holte einmal tief Atem, bevor sie den Satz beendete: "... bevor sie starb."
"Das tut mir leid", sagte Eayan, und seine Züge wurden weichter. "Ich weiß, es ist schwer ein Elternteil zu verlieren." Unwillkürlich fragte Narissa sich, ob er wohl aus Erfahrung sprach.
"Was ist mit der jungen Serelloth?", fragte Eayan schließlich, und Narissa zuckte bei der Erwähnung des Namens unwillkürlich zusammen. An ihrer Statt antwortete Aerien: "Serelloth... gibt Narissa die Schuld an Elendars Tod und ist deshalb gegangen. Ihr habt ja vermutlich gesehen, wie die beiden zu einander standen."
Eayan nickte langsam, und betrachtete sie aufmerksam. "Ja, es war mir aufgefallen. Vielleicht wäre es klüger von ihr gewesen zu bleiben um den Verlust zu verarbeiten, aber... ich bin nicht in der Position, zu urteilen." Etwas an seinem Blick ließ Narissa vermuten, dass Eayan auch sehr genau durchschaut hatte, welche Beziehung Aerien und sie pflegten - wie auch immer man diese nennen sollte. Ihr war es gleich, ihretwegen könnte es die ganze Welt wissen, doch Aerien war in jener Hinsicht deutlich zurückhaltender.
"Eine Frage bleibt noch", fuhr Eayan fort, und nickte in Yanas Richtung. Diese hatte bislang ein wenig abseits gewartet und staunende Blicke durch den Krater und über die Burg schweifen lassen, doch nun trat sie einen Schritt näher und knickste anmutig vor Eayan.
"Mein Name ist Yana, Herr", sagte sie. "Ich konnte nicht länger in Qafsah leben und... bitte euch um Hilfe." Eayans Augenbrauen zogen sich zusammen, doch bevor er etwas erwidern konnte, sagte Narissa: "Yana und ich kannten uns als Kinder. Sie hat uns geholfen, meine Mutter zu finden und in den Palast und das Gefängnis von Qafsah zu gelangen." Sie wollte Eayan damit nicht nur zu verstehen geben, dass Yana vertrauenswürdig war, sondern auch nützlich sein konnte. Denn so freundlich er und Ta-er zu ihr und Aerien gewesen sein mochten, sie glaubte nicht, dass der Silberne Bogen jemanden in seiner geheimen Burg wohnen ließ, nur weil man freundlich darum bat.
"Hm...", machte Eayan nachdenklich. "Also gut für eine Weile hierbleiben - für eine Weile länger, wenn ihr uns eine Aufgabe suchen lasst, die eure Fähigkeiten entspricht. Wir sind dünner gestreut als mir lieb wäre, und jede Hilfe ist mir willkommen." Bei den letzten Worten verharrte sein Blick einen Moment auf Aerien und Narissa, während Yana ein Lächeln zeigte, das nur wenig mit dem traurigen Lächeln, das Narissa aus Qafsah kannte, gemein hatte.
"Ich bin mir sicher, wir finden einen Weg."

Während Aeriens Wunden vom Heiler des Silbernen Bogens versorgt wurden und Yana von Ta-er durch die Burg geführt und dabei vermutlich gründlich befragt wurde, erzählte Narissa Eayan alles, was in Qafsah geschehen war - fast alles. "Was in diesem Gefängnis geschehen ist, ist besorgniserregend", meinte Eayan schließlich, als sie geendet hatte.
"Allerdings. Vermutlich hatten sie von Karnuzîr erfahren, dass Aerien sich von Mordor losgesagt hat, und uns deshalb eine Falle gestellt", bestätigte Narissa, doch Eayan schüttelte den Kopf. "Das meinte ich nicht. Ich sprach eher davon, dass Abel und Karnuzîr dort anwesend waren, und offenbar auf der selben Seite - nachdem sie in Ain Salah noch gegeneinander gekämpft hatten."
"Abel ist tot", meinte Narissa. "Und Karnuzîr vermutlich auch - Aerien hat ihn besiegt und aus einem Fenster gestoßen." Sie lächelte bei dem Gedanken, aus Genugtuung und Stolz.
"Das heißt nicht, dass er tot ist - Angehörige ihrer Sippe sind schwer zu töten", gab Eayan zurück. "Und auch wenn Abel mit Sicherheit tot ist - alleine die Tatsache, dass du oder Aerien ihnen so wichtig wart, dass sie deswegen ihren Streit beigelegt und sich sogar verbündet haben, ist beunruhigend."
Narissa stieß einen unwilligen Laut aus. "Ihr versteht es wirklich, einem die Laune zu verderben", sagte sie, und wechselte das Thema. "Was denkt ihr über die beiden, die Aerien in Qafsah belauscht hat?"
"Das ist eine interessante Angelegenheit...", erwiderte Eayan nachdenklich, und sah hinauf zum Kraterrand, hinter dem die Sonne allmählich verschwand. "Wenn der Feind ebenfalls Gerüchte über eine Rückkehr der Turmherren in ihre Heimat gehört hat, sind diese Gerüchte vermutlich wahr - und wer auch immer von den Turmherren dort übrig ist, ist in Gefahr." Er blickte Narissa in die Augen, als er sagte: "Und deshalb werde ich so schnell wie möglich Boten dorthin schicken - um die Wahrheit in Erfahrung zu bringen, und sie zu warnen."
"Ich kann jetzt nicht dorthin gehen", meinte Narissa, obwohl sich alles in ihr danach sehnte, es zu tun. "Aerien wird noch einige Tage Ruhe brauchen, bevor sie eine solche Reise unternehmen kann, und ohne sie... werde ich nirgendwohin gehen."
Eayan lächelte, und an seinen Augen erkannte Narissa, dass er spätestens jetzt begriffen hatte. "Nun, ich hatte fast damit gerechnet", sagte er. "Dann werde ich einen meiner eigenen Männer entsenden... Obwohl Mann in diesem Fall nicht das richtige Wort ist."

Wenig später betrat Narissa leise das Zimmer, dass sie und Aerien bereits bei ihrem ersten Aufenthalt in der Burg bewohnt hatten, doch Aerien schlief noch nicht. Sie saß auf ihrem Bett, und Bauch und Wade waren mit frischen, sauberen Verbänden umwickelt. "Wenigstens eins davon wird eine Narbe geben", meinte Narissa fröhlich. "Dann ist die unter deinem Fuß nicht mehr der einzige Makel - deine Eltern müssen sich schwarz ärgern."
"Hm", machte Aerien nur, und sah kein bisschen glücklich über diese Aussicht aus. Narissa kniete sich neben ihr auf das Bett, und sagte: "Nun mach nicht so ein Gesicht. Wenn man so lebt wie wir, gehören Narben dazu - das bleibt nicht aus."
Sie zog den Ärmel ihres linken Oberarms nach oben, und zeigte auf eine kurze blasse Linie, die ein Stück daran von links nach rechts verlief. "Das hier ist von meinem ersten echten Kampf. Ich war achtzehn, und wir haben ein Banditenlager ausgeräuchert, dass einem der Stämme in der Nähe der Insel Ärger machte. Einer von den Kerlen hat mich zu früh bemerkt, und mir mit seinem Schwert das da verpasst." "Hast du ihn getötet?", fragte Aerien, und fuhr mit einem Finger sanft die Narbe entlang.
Narissa schüttelte den Kopf, und genoss heimlich die Berührung. "Nein, das war Yulan - Elendars Vater. Er hat mich begleitet um sicherzugehen, dass mir nichts geschieht. Hinterher hatte er mir einiges zu sagen..." Mit einem Lächeln erinnerte sie sich an die Standpauke, die ihr Lehrer ihr nach der Rückkehr auf die Insel gehalten hatte. Dann zog sie ihr Hemd ein Stück nach oben, sodass die rechte Seite ihres Bauches frei wurde, und deutete auf eine kleine, unregelmäßige Narbe. "Die ist ziemlich neu." Obwohl die Narbe nur klein war, verzog Narissa bei ihrem Anblick das Gesicht. "Ein Andenken an Abel - möge er nicht in Frieden ruhen."
"Was hat er getan?", fragte Aerien, und berührte die Stelle leicht mit zwei Fingern. Bei der Berührung hatte Narissa das Gefühl, dass sich jedes kleine Härchen an ihrem Körper aufstellte. "Das war bei unserem ersten Kampf, bei Aín Sefra. Er hat mich getreten, und dabei muss die Haut aufgeplatzt sein."
"Hmm", machte Aerien erneut, und einen herrlichen Augenblick verharrten beide in ihrer Position. Dann zog Aerien ruckartig ihre Hand zurück und sagte: "Ich weiß, was du vorhast!"
"Gar nichts?", erwiderte Narissa so unschuldig wie sie konnte, und Aeriens Augenbrauen zogen sich drohend zusammen. "Lüg mich nicht an. Du hast vor, mich... mich..."
"... zu verführen?", vollendete Narissa den Satz, und legte den Kopf schief. "Schon möglich. Aber ich muss an meinen Künsten offenbar arbeiten." Aerien ließ sich nach hinten fallen, und verbarg das Gesicht in den Händen.
"Du bist unmöglich, weißt du?"
"Natürlich weiß ich das", gab Narissa ungerührt zurück, und Aerien ließ die Hände sinken. "Ich habe dir doch gesagt, dass ich nicht..."
"... so weit bin", beendete Narissa den Satz erneut für sie, und nickte, während sie aus ihrer knienden Position in eine sitzende wechselte, und die Beine über die Kante von Aeriens Bett baumeln ließ. "Das weiß ich, und ich habe dir versprochen, dich nicht zu drängen. Aber... wenn ich mit meinen Verführungskünsten erfolgreich bin, weiß ich auch, dass du soweit bist."
Aerien ächzte, und setzte sich wieder auf. "Beim nächsten Mal solltest du vielleicht Narben aus dem Spiel lassen."
"Ich werde es mir merken", erwiderte Narissa, zwinkerte ihr zu und fragte dann: "Aber wenigstens auf einen Kuss hoffe ich doch nicht vergeblich?"
"Nein... das nicht", erwiderte Aerien sanft, und küsste sie - solange, bis ihnen der Atem knapp wurde. Als sie sich voneinander lösten, meinte Narissa: "Hm... ich glaube nicht, dass ich heute schlecht träumen werde..."
« Letzte Änderung: 25. Jan 2017, 20:45 von Eandril »

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Ta-ers Bericht
« Antwort #12 am: 25. Jan 2017, 22:36 »
Es vergingen noch drei Tage, bis die Heiler des Silbernen Bogens Aeriens Wunden schließlich für geheilt erklärten. Währenddessen erzählte ihnen Ta-er as-Safar von den Ereignissen in Umbar bis zu Hasaels Sturz, denn nach der Flucht des Fürsten hatte sie ebenfalls die Stadt verlassen, seine Spur jedoch nicht weiter verfolgen können. Erstaunt lauschten Aerien und Narissa der Geschichte von Edrahil von Dol Amroth, der sich als derselbe Edrahil herausstellte, der Narissa einst nach Ain Séfra geschickt hatte.
"Ich bin übrigens sehr dankbar, dass dieser Edrahil dir den Auftrag gab, Qúsay zu überprüfen," flüsterte Aerien ihrer Freundin zu und stupste sie verliebt an.
"Das bin ich auch," erwiderte Narissa.
Ta-er hatte die Unterbrechung natürlich sofort bemerkt und runzelte die Stirn. "Wenn ihr nicht hören wollt, was ich euch erzähle, gibt es durchaus Dinge, mit denen ich meine Zeit besser verbringen könnte," kommentierte sie.
"Ist schon gut," sagte Aerien entschuldigend. "Wie hat es Edrahil nur geschafft, dass der mächtige Hasael von Umbar gestürzt werden konnte?"
"Mit List und den richtigen Verbündeten," fuhr Ta-er fort. "Er hatte Hilfe von einigen mutigen Adeligen aus Gondor und von einer einflussreichen Dame aus Umbar selbst, die Minûlîth hieß."
"Minûlîth?" wiederholte Aerien. "Von Haus Minluzîr?"
"Ja - kennst du sie etwa?" fragte Ta-er zurück.
"Meine Großmutter stammt aus Umbar, aus Haus Minluzîr," erklärte Aerien. "Und der Herr von Haus Minluzîr, Lord Azgarzîr, war einige Male in Durthang zu besuch. Erst dieses Frühjahr erhielt mein Vater den Bericht, dass Azgarzîr beim Angriff auf Dol Amroth gefallen sei, und seiner ältesten Tochter Minûlîth sein gesamtes Erbe hinterlassen hatte. Man hat sich sogar bereits nach einem passenden Gemahl für sie umgesehen."
"Offenbar hat ihr das nicht gefallen," kommentierte Narissa grinsend. "Also hat sie sich auf Edrahils Seite geschlagen, um ihren fiesen Verwandten in Mordor ein Schnippchen zu schlagen."
"Den Eindruck machte sie auf mich nicht," erwiderte Ta-er ungerührt. "Sie wirkte eher wie jemand, der zu seinen Überzeugungen steht. Ich kenne Meister Edrahil nicht sonderlich gut, aber ich bin mir sicher, er hat ihr sein Vertrauen nicht leichtfertig geschenkt."
"Wahrscheinlich hat sie gar nicht genau genug hingesehen," flüsterte Narissa und erntete einen missbilligenden Blick von Ta-er sowie ein Kichern von ihrer Freundin.
"Wie ging es dann weiter?" fragte Aerien und zwang sich wieder ernst zu werden, auch wenn Narissa es ihr nicht leicht machte.
"Nun, dass die Assassinen Salemes den Palast des Fürsten angriffen und dadurch die Rebellion in Umbar auslösten, habe ich ja bereits erzählt, " fuhr die Kriegerin fort. "Als ich mich nach Hasaels Sturz an seine Fersen heftete, dauerte es kam eine Meile bis ich feststellte, dass ich verfolgt wurde. Diese Schlangen hatten die Tore überwacht und nur darauf gewartet, dass ich mich ihnen zeigte, nach denen ich ihnen knapp beim Angriff auf den Palast entwischt bin."
"Und weil du sie abschütteln musstest, konntest du Hasael nicht weiter jagen?" vermutete Narissa.
"Gut erkannt," lobte Ta-er. "Wäre ich nur nicht so an meinem Auftrag gehindert worden! Umbar wäre frei geblieben. Denn wenn die Berichte stimmen, kehrte Hasael binnen zehn Tagen in die Stadt zurück - an der Spitze eines Sultanats-Heeres. Ich hoffe, Edrahil, Minûlîth und ihre Verbündeteten gelang die Flucht - Hasael wird ihnen gegenüber keine Gnade zeigen."
"Wie ich Edrahil kenne hat er für alles einen Plan geschmiedet," sagte Narissa zuversichtlich. "Bestimmt sitzt er irgendwo in Sicherheit und arbeitet schon an Hasaels nächstem Sturz."
"Nun, ich werde die Situation erst einschätzen können, wenn ich dort bin", sagte Ta-er. "Zu allererst werde ich jedoch nach Tol Thelyn gehen und herausfinden, ob die Gerüchte über das Auftauchen des Erben des Turms wahr sind."
"Und wenn sie wahr sind?" fragte Aerien.
"Dann werde ich ihm von dir erzählen, Narissa. Wenn du erlaubst," antwortete Ta-er, und Narissa stimmte nickend zu.

Einen Tag nach Ta-ers Aufbruch saßen Narissa und Aerien in der warmen Mittagssonne oben auf den Zinnen der Burg und blickten nach Norden, in Richtung Ain Salahs.
"Ich kann den Moment immer noch nicht ganz fassen," sagte Narissa schwärmend. "Da stehe ich in dieser furchtbaren Arena drei Mördern gegenüber, und dann... das nächste was ich sehe, bist du, Aerien, die wie ein Rachegeist aus den Lüften herabsteigt und mich rettet."
Aerien errötete. "Nun hör schon auf. Ich war da, weil es schade um dein freches Mundwerk gewesen wäre. Jemand musste Abel und Karnûzîr ja davon abhalten, es für immer zum Schweigen zu bringen, und ich hatte gerade Zeit."
"Soso," erwiderte Narissa. "Du bist dir also sicher, dass du nicht da warst, weil du bereits bis über beide Ohren verliebt warst?"
"N-nein", gab Aerien wenig überzeugend zurück. "Aber Elyana...." erschrocken hielt sie sich die Hand vor den Mund.
Schlagartig wurde Narissa todernst. "Elyana?" hakte sie nach. "Was hat sie mit all dem zu tun?"
Aerien blickte beschämt zu Boden. "Sie hat mich in der Nacht, nach dem du abgehauen bist, besucht." Sie schüttelte sich als sie sich daran erinnerte, wie Elyana sie mit ihrer Klinge bedroht hatte. "Sie ist wirklich eine unheimliche Frau. Jedenfalls sagte sie, du wärst in großer Gefahr, und ich müsste dich retten."
"Also kamst du nur wegen ihr," stellte Narissa enttäuscht fest.
"Nein, nein!" beeilte Aerien sich zu sagen. "Ich wusste doch nicht, was ich tun solte. Du hattest.. du hattest gesagt, du willst mich nie wieder sehen."
"Das war ein Fehler," gab Narissa zu. "Aber dennoch... "
Aerien seufzte tief. "Seitdem du und Grauwind die Straße entlang verschwunden sind wollte ich euch folgen. Aber deine Worte und meine Vorsicht hielten mich zurück. Elyana hat mir geholfen, beides zu überwinden."
"Hmpf," machte Narissa, doch Aerien sah, dass sie nicht mehr sauer war. "Immerhin eine gute Sache, für die sie verantwortlich ist."
"Wer ist sie wirklich?" fragte Aerien. "Sie wirkte sehr... geheimnisvoll. Sie sprach ständig in Rätseln."
"Ja, das passt zu ihr", brummte Narissa. "Sie ist besessen von mir. Sie war sogar bei meiner Geburt dabei. Ständig redet sie davon, dass ich etwas ganz Besonderes bin und ein großes Schicksal vor mir habe."
"Aber du bist etwas Besonderes," sagte Aerien sanft. "Für mich."
Narissa lächelte errötend. Dann küsste sie Aerien lange und anhaltend.

Sie blieben noch einige Zeit an derselben Stelle sitzen und sprachen über einige belanglose Dinge, bis Narissa schließlich ein schiefes Lächeln aufsetzte. Ihre Hand tastete über Aeriens Rücken und löste den Pferdeschwanz, den Aerien eigentlich immer trug.
"Was soll das denn?" fragte Aerien, mit hellroten Wangen und halb empörten Gesichtsausdruck.
"Ich wollte nur sehen, wie dein Haar frei vom Wind bewegt wird," sagte Narissa, doch sie nahm die Hand nicht weg. Langsam und behutsam begann sie, Aeriens Nacken zu streicheln. Es fühlte sich gleichzeitig aufregend und elektrisierend an. Doch dann rutschte Aerien hastig ein Stück weg.
"Du," sagte sie drohend. "Du tust es schon wieder!"
"Ich weiß nicht, wovon du sprichst," gab Narissa unschuldig zurück.
"Du machst mich wahnsinnig!" rief Aerien, doch dann mussten sie beide lachen.
"Darauf setze ich," antwortete Narissa.

Als die Sonne bereits tief am fernen Horizont stand, erspähte Aerien einen Reiter, der zielstrebig auf den Vulkan zu kam. Narissa entdeckte ihn ebenfalls. Der Reiter trug gewöhnliche haradische Kleidung und führte eine seltsame, umwickelte Stange mit sich.
"Ob das einer von Eayans Kundschafter ist?" fragte sie ihre Freundin.
"Komm," schlug Narissa vor. "Gehen wir zum Tunnel und finden es heraus."
Am Tunnel angekommen bot sich ihnen ein eigentümliches Bild. Eayan und fünf seiner Wächter hatten den Reiter umzingelt, der abgesssen war und seinen Stab neben sich aufgestellt hielt. Daran hing eine gut sichtbare weiße Flagge.
"Was willst du hier, Schlange?" fragte Eayan gebieterisch. "Das Zeichen des Unterhändlers wird dich nur bedingt schützen. Unser Geheimnis wird gewahrt werden, dafür sorge ich."
"Ich bringe eine Botschaft von Saleme," sagte der Assassine überlegen, der sich nicht einschüchtern ließ. "Lest sie, und dann tut mit mir, was ihr tun müsst. Es wird keinen Unterschied machen."
Eayan nahm eine kleine Schriftrolle von dem Mann entgegen und überflog die Zeilen hastig und mit einem bestürzten Ausdruck im Gesicht. "Lasst ihn gehen," sagte er dann mit leiser Stimme.
"Aber Herr," begann einer der Wächter. "Er kennt unser Versteck!"
"Das tut Saleme auch," gab Eayan grimmig zurück. "Lasst ihn gehen. Wie er selbst schon sagte - es macht keinen Unterschied mehr."
Der Bote sprang auf sein Pferd und preschte in der Richtung davon, aus der er gekommen war. Eayan warf einen langen Blick zu Narissa hinüber, dann reichte er ihr Salemes Botschaft. Sie entrollte das Pergament, und Aerien las über ihre Schulter mit:

Eayan, alter Freund,
Ich weiß, wo du dich versteckst und ich weiß, wie viele Krieger dir auf deinem fehlgeleitetem Weg folgen. Es wird Zeit, dass diese Torheit beendet wird. Ich biete dir eine letzte Gelegenheit - um der alten Zeiten willen. Wenn ich zu dir komme, ergib dich und schließ dich mir wieder an. Dann werde ich vielleicht die Leben deiner Freunde verschonen. Entscheide dich schnell. Ich bin bereits auf dem Weg zu dir. Ich komme bald.
- Saleme

"Wir haben viel zu tun, und wenig Zeit," sagte Eayan grimmig.
« Letzte Änderung: 27. Jan 2017, 00:09 von Fine »
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Eandril

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Re: Die Burg des Silbernen Bogens
« Antwort #13 am: 26. Jan 2017, 17:59 »
Narissa ließ das Pergament sinken. "Wie konnten sie diesen Ort finden?", fragte sie fassungslos. "Die Burg ist so gut versteckt, und..." Sie unterbrach sich, als ihr ein fürchterlicher Verdacht kam. "Meint ihr, sie haben uns verfolgt und sind so hierher gelangt?"
"Das ist eine der angenehmeren Möglichkeiten", erwiderte Eayan, nahm ihr das Pergament aus der Hand und zerriss es kurzerhand in kleine Fetzen.
"Ihr meint Verrat", stellte Aerien ruhig fest, und Eayan nickte. "Allerdings. Aber ich habe jetzt keine andere Wahl, als jedem in dieser Festung zu vertrauen, denn ansonsten kann ich Saleme gleich meinen Kopf überlassen. Aber bis die Schlacht geschlagen ist, verlässt diese Festung niemand mehr."
Narissa erwiderte seinen Blick standhaft, und legte ohne es selbst zu bemerken die Hand auf den Dolchgriff. "Was können wir tun?"

Wenig später ging sie in ihrem Zimmer unruhig auf und ab, während Aerien auf ihrem Bett saß, und mit ruhigen Bewegungen Lóminzagars Klinge schliff. "Ich hätte darauf bestehen sollen, dass wir trotzdem gehen...", sagte Narissa vor sich hin. "Ich hatte versprochen, dass wir ans Meer gehen, und nun..."
"Darüber machst du dir Gedanken?", fragte Aerien verwundert, ohne jedoch von ihrer Arbeit aufzusehen. "Nur, weil wir ein wenig länger hierbleiben, heißt das noch nicht, dass du dein Versprechen brichst."
Narissa blieb stehen, und betrachtete Aeriens konzentriertes Gesicht einen Augenblick. Sie war sich nicht sicher, was daran sie am meisten liebte: Die sanft geschwungene Stupsnase, das schmale, vielleicht etwas spitze Kinn, die Art, wie ihr immer einige schwarze Haarsträhnen über die linke Gesichtshälfte fielen, oder vielleicht doch eher die grauen, manchmal fast silbern schimmernden Augen.
"Du starrst", sagte Aerien, und Narissa antwortete ohne den Blick abzuwenden: "Natürlich - und du kannst mir nicht erzählen, dass es dir nicht gefällt."
Diesmal hielt Aerien in ihrer Tätigkeit inne, hob den Kopf und lächelte. "Nein, kann ich nicht behaupten. Von manchen Leuten lasse ich mich gerne anstarren..."
"Manchen Leuten?", wiederholte Narissa, und ließ sich neben sie auf das Bett fallen. "Soll das heißen, da gibt es noch mehr...?"
Aerien versetzte ihr einen leichten Schlag gegen den Oberarm. "Du weißt genau, dass es außer dir niemanden gibt."
"Hm", machte Narissa sanft, und beugte sich zu ihr hinüber um sie zu küssen. "Ich habe nicht daran gezweifelt."

Die Nacht war bereits hereingebrochen, als ein warnender Ruf vom Wehrgang am oberen Rand des Kraters durch die Burg hinunterhallte. Narissa blickte Aerien an, und beide nickten. "Anscheinend geht es los." Nur wenige Augenblicke später erreichten sie gerüstet und bewaffnet den Tunnel am Grund des Kraters, der nun von einem massiven Gitter verschlossen wurde. Auf dem kleinen Platz hatten sich auch Eayan und einige weitere Krieger des Silbernen Bogens eingefunden, die den Mädchen grüßend zunickten.
"Ich bin froh, dass ihr bereit seid an unserer Seite zu kämpfen", sagte Eayan, ohne den Blick vom dunklen Tunnel, in dem sich ein flackerndes Licht näherte, abzuwenden. "Erst recht, da Ta-er nicht hier ist."
Bevor eine der beiden etwas erwidern konnte, erklang aus dem Tunnel eine männliche Stimme, die an den Wänden wiederhallte: "Wie lautet eure Antwort?"
"Meine Antwort lautet... nein", gab Eayan kalt zurück, und gab einem seiner Männer ein Zeichen. Der Wächter zog an einem kleinen, in die Kraterwand eingelassenen Hebel, und aus dem Tunnel erklang ein metallisches Zischen und ein Geräusch, als wäre etwas aufgespießt worden.
"Ich glaube nicht, dass sie es auf diesem Weg versuchen werden", meinte Eayan ungerührt. "Sie werden vermutlich versuchen, den Krater außen zu erklettern und auf diesem Weg in die Burg zu gelangen."
"Dann wollen wir sie lieber daran hindern", sagte Narissa, und spürte, wie die Entschlossenheit jede Faser ihres Körpers anspannte. Auch wenn es nicht Suladâns Leute waren, die dort angriffen - all das erinnerte sie unangenehm an den Angriff auf die Insel, und sie würde nicht zulassen, dass nun auch der Silberne Bogen zerschlagen wurde.
Gemeinsam mit Eayan eilten Narissa und Aerien die lange Treppe bis zum oberen Wehrgang hinauf, das Tor nur schwach verteidigt zurücklassend. Kurz vor ihrem Ende bog die Treppe um eine Ecke und führte danach gerade zum Wehrgang hinauf, und an dieser Ecke blieb Eayan stehen und hielt Narissa und Aerien zurück. Von weiter oben waren Kampfgeräusche zu hören, Stahl schlug auf Stahl und gedämpfte Schmerzensschreie hallten durch die Nacht. "Anscheinend haben sie nicht damit gerechnet, dass wir tatsächlich aufgeben", sagte Eayan leise, und spähte um die Ecke, bevor er sich wieder Aerien und Narissa zu wandte. "Letzte Gelegenheit euch anders zu entscheiden. Noch könnt ihr zurück in den Hof gehen und auf das Ende warten - und euch ergeben, falls Saleme siegen sollte."
Narissa wechselte einen raschen Blick mit Aerien, deren Miene ihre eigene Entschlossenheit wiederspiegelte. Eayan hatte ihnen Zuflucht geboten und in Ain Salah vermutlich das Leben gerettet - die Entscheidung war schon lange gefallen.
"Wir werden mit euch kämpfen", erwiderte Aerien, und Narissa fügte hinzu: "Wie ich es gesagt habe."

Der Kampf auf dem Wehrgang war brutal. Als Eayan mit seiner Verstärkung oben eintraf, hatten die Assassinen bereits ein Stück der Mauer eingenommen und mehr kamen über den Rand des Kraters geklettert, sodass die Verteidiger ständig von zwei Seiten angegriffen wurden. Dennoch schien allein Eayans Ankunft den Mut der Verteidiger wieder zu heben, und sie hielten ihre Stellungen. Narissa duckte sich unter einem Dolchstoß weg und stieß ihrem Gegner ihre eigenen Waffe in den Bauch, während Aerien neben ihr einen Feind mit raschen Schwerthieben zurückdrängte. Für einen Moment war Narissa von ihrem Anblick abgelenkt, und konnte nur gerade so einen auf ihren Kopf gezielten Schwertschlag parieren. Sie wich ein Stück zurück stolperte über den Körper ihres vorherigen Gegners und im selben Moment zischte ein Pfeil haarscharf über ihren Kopf hinweg und prallte funkensprühend von den Steinen des Wehrgangs ab.
Neben ihr ging einer der Verteidiger zu Boden, und aus seinem Rücken ragte ein weißgefiederter Pfeil. Narissa begriff, dass sie von irgendwoher beschossen wurden, doch sie hatte keine Zeit darüber nachzudenken. Sie rollte sich vor dem zweiten Schwerthieb ihres Gegners weg, der allerdings nie ausgeführt wurde. Aerien hatte Narissas missliche Lage bemerkt, und dem abgelenkten Assassinen ihre Klinge seitlich in die Brust gerammt.
Narissa ergriff die Hand, die ihre Freundin ihr entgegenstreckte, kam wieder auf die Füße und keuchte: "Dafür schulde ich dir etwas."
"Reiner Eigennutz", gab Aerien grinsend zurück. "Du hast schließlich ein Versprechen zu erfüllen."
Narissa erwiderte das Lächeln flüchtig, und wandte sich dann um. Auf der anderen Seite des Kraters glaubte sie, mehrere undeutliche Gestalten zu erkennen. "Dort drüben stehen Bogenschützen", sagte sie, und zuckte zusammen als ein Pfeil direkt an ihrem Ohr vorbeiflog. "Und wir sind wunderbare Ziele für sie, in dieser Beleuchtung", meinte Aerien ernst, und deutete auf die Fackeln, die den Wehrgang erleuchteten. "Ich kann etwas gegen sie unternehmen", erwiderte Narissa. "So ein offener Kampf ist ohnehin nicht mein Stil." Sie hatte sich schon halb abgewandt, als Aerien sie am Arm packte, an sich zog und rasch küsste. "Stirb da draußen nicht", sagte sie, als sie Narissa losließ, und diese lächelte. "Keine Sorge - ich habe ja noch ein Versprechen zu erfüllen."
Damit lief sie rasch den inneren Rand des Wehrgangs entlang, wich dabei mehreren Feinden aus, und sprang als der Wehrgang endete, auf den schmalen Rand des Kraters.
Im Schutz der Dunkelheit huschte sie so schnell wie möglich über die unebenen Felsen, übersprang einige Lücken im Untergrund und näherte sich schließlich der Stelle, an der sie die Bogenschützen vermutete.
Und tatsächlich, von dort waren über den Kampfgeräuschen, die von der anderen Seite des Kraters heranwehten, das leise Sirren abgeschossener Pfeile zu hören. Leise und vorsichtig ließ sich Narissa ein Stückchen die steile, aber nicht ganz senkrechte Außenwand des Kraters hinab. Es war nicht leicht hier zu klettern, erst recht nicht im dunkeln, doch Jahre der Übung unter den wachsamen Augen ihres Großvaters zahlten sich aus.
Narissa schob sich langsam vorwärts, bis sie genau hinter dem ersten der Bogenschützen war. Mit einer Hand hielt sie sich an den Felsen fest, während sie mit der anderen Ciryatans Dolch zog und dem Assassinen mit einem einzigen Hieb die Sehnen in beiden Kniekehlen durchtrennte. Der Mann stieß einen Schmerzensschrei aus als die Beine unter ihm wegknickten und er vorwärts stürzte, in den Krater hinein. Sofort zog Narissa sich zurück, duckte sich tief in den Schatten der Felsen, während die anderen Bogenschützen, zwei waren es, erschreckte Rufe ausstießen und sich überrascht umsahen. Anscheinend glaubten sie, ihrerseits beschossen zu werden, denn sie hatten nicht gesehen was passiert war, und blickte auch nicht nach hinten. Langsam verstaute Narissa ihren Dolch wieder und zog stattdessen ein kleines Wurfmesser hervor.. Als beide verbliebenen Bogenschützen in die andere Richtung blickten, zog sie sich wieder auf den Kraterrand empor, zielte, warf und einen Herzschlag später bohrte sich das Messer in den Nacken des hinteren er beiden Männer. Der Bogenschütze kippte lautlos zur Seite weg, und stürzte den äußeren Rand des Kraters hinab, während Narissa losrannte, dem verbliebenen Mann von hinten erst in die Kniekehle trat und ihn dann mit einem weiteren Tritt in den Rücken vom Kraterrand hinabstieß.
Beide Assassinen waren während weniger Herzschläge gestorben, und Narissa konnte nicht anders als sich zu wünschen, dass Aerien sie gesehen hätte. Obwohl sie wusste, dass auf der anderen Seite noch gekämpft wurde und sie in der Dunkelheit vermutlich ohnehin nicht sichtbar war, hob sie grüßend die Hand - und im selben Augenblick legte sich ein raues Stück Seil um ihren Hals und schnürte ihr die Luft hab. Verzweifelt kämpfte Narissa gegen den eisernen Griff ihres unbekannten Gegners an, zugleich bemüht, nicht von der schmalen Felskante in den Tod zu stürzen. Während sie mit der linken Hand versuchte, den unbarmherzigen Druck auf ihrem Hals ein wenig zu lockern, gelang es ihr mit der Rechten, das zweite ihrer Wurfmesser in die Hand zu bekommen. Sie stieß blind nach hinten zu und traf auf etwas weiches. Der Mann, der sie würgte grunzte schmerzerfüllt, und für einen winzigen Augenblick lockerte sich das Seil um ihren Hals wieder. Narissa sog köstliche, frische Luft in ihre Lungen, bevor sich der Würgegriff wieder um ihren Hals schloss. Die Ränder ihres Sichtfeldes verschwammen allmählich, und sie wusste, dass ihr nicht mehr viel Zeit blieb. Erneut stieß sie mit dem Messer nach hinten, diesmal etwas höher. Wieder traf sie, doch gleichzeitig wurde ihr schwarz vor Augen, und ihr Bewusstsein schwand.

Oronêl - Edrahil - Hilgorn -Narissa - Milva

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Kampf um die Burg
« Antwort #14 am: 27. Jan 2017, 11:32 »
Aerien sah zu, wie Narissa am Ende des Wehrgangs heruntersprang und in der Dunkelheit verschwand. Gut, dachte sie. Jetzt kann sie ihre Fähigkeiten so richtig ausspielen. Dennoch machte sie sich Sorgen um ihre Freundin und ärgerte sich, dass ihnen nur so wenige Tage der Ruhe vergönnt gewesen waren ehe Kampf und Tod wieder eingeholt hatten. Ich dachte, die Assassinen hätten sich von Suladan losgesagt. Und der Silberne Bogen mischt sich nicht in den Krieg in Harad ein. Wieso also greift Saleme die Burg an? Sie hatte keine Antwort darauf, und die Kämpfe auf dem Wehrgang forderten nun ihre volle Aufmerksamkeit. Aerien stellte fest, dass sie mit dem offenen Gefecht besser zurecht kam als beim schiefgegangenen Gefängniseinbruch in Qafsah. Hier hatte sie etwas mehr Platz, um die Klinge zu schwingen, und die Auswahl an Gegnern war größer. Außerdem kämpfte sie als Teil einer Gruppe von Verbündeten und nicht allein gegen einzelne Gegner. Aeriens Schwert war rot vom Blut ihrer Feinde, doch je länger der Kampf dauerte, desto mehr spürte sie ihre Ausdauer nachlassen.

Schließlich gewannen die Krieger des Silbernen Bogens auf dem Wehrgang die Oberhand, da sie durch Eayans Gegenwart angespornt und inspiriert wurde, und die Assassinen nicht schnell genug die steile Außenwand des Kraters hinaufklettern konnten. Eayan postierte Bogenschützen an der Spitze, die die Nachzügler unter Beschuss nahmen. Für den Augenblick schien dieser Angriffspunkt gesichert zu sein. Aerien stützte sich auf ihr Schwert und atmete tief durch. Sie sah sich nach Narissa um, konnte sie jedoch nicht entdecken.
"Sie sind im Tunnel! Das Tor ist geöffnet worden!" warnte ein Krieger des Silbernen Bogens, der herbeigeeilt kam.
Eayan blickte grimmig nach unten, in Richtung des versteckten Eingangs zum Krater. "Einige dieser Schlangen müssen das Chaos des Angriffs genutzt haben, um an uns vorbeizuschleichen und das Tor von innen zu öffnen. Kommt! Wir müssen das Burgtor verteidigen."
Sie eilten die Treppen hinab, während sich die wenigen Heiler den Verletzten zuwandten - und zu Aeriens geringer Überraschung nebenbei die nicht tödlich verletzten feindlichen Assassinen niederstachen. Noch immer war keine Spur von Narissa zu sehen, doch Aerien konnte sich jetzt nicht ihr suchen. Jetzt galt es, Eayan zu unterstützen.
Am äußeren Tor der Burg angekommen ließ Eayan seine Krieger die kleine Mauer bemannen, die am Grund des Kraters in einem Bogen von links nach rechts verlief. In den Schatten am Ausgang des Tunnels, auf der anderen Seite des Kraters, sammelten sich bereits ihre Feinde. Aerien sah, dass die Assassinen in großer Zahl gekommen waren. Eayan hatte alle Bogenschützen oben auf dem Wehrgang gelassen, um ihnen Rückendeckung zu geben, weshalb sie nun nichts tun konnten als abzuwarten, bis der Angriff erfolgte.
"Wir halten das Tor," schwor der Schattenfalke seine Leute ein. "Egal was kommen mag; wir halten das Tor. Ihr alle wusstet, dass diese Stunde kommen könnte, und nun ist sie da. Wir halten das Tor gegen die Tyrannen, die dieses Land zugrunde richten wollen. Wir halten das Tor, weil wir trotz allem auf eine bessere Zukunft für Harad hoffen. Wir halten das Tor!"
Die Silberbögen nahmen den Ruf auf und machten sich kampfbereit. Auf den Mauern und hinter dem Tor reihten sie sich auf, die Waffen in den Händen haltend.
Stille antwortete ihnen. Die Assassinen schienen ebenfalls abzuwarten. Aerien stand neben Eayan im kleinen Hof direkt hinter dem Tor, und spürte ihre Anspannung stetig wachsen. Worauf warten sie denn noch? Sie sind doch in der Überzahl! dachte sie.

Ein warnender Ruf erklang vom Wall. "Sie stehen vor dem Tor!"
"Wartet!" rief Eayan befehlend zurück. "Wartet, bis sie angreifen!"
Erneut trat eine Pause ein. Und dann erklang ein leises Klopfen am Tor. Jemand stand ganz offensichtlich davor und klopfte mit der Hand an.
"Eayan," sagte eine Frauenstimme. "Ich weiß, dass du hier bist. Zeig dich, und wir reden. Nur du und ich."
"Saleme," flüsterte Eayan. "Sie ist hier."
Aerien sah, wie mehrere der Silberbögen ihre Waffen fester packten. Einige erbleichten sogar.
"Ich muss mich ihr stellen," stellte Eayan klar. "Wenn ich dadurch meine Leute retten kann, dann ist es meine Pflicht. Öffnet das Tor!"
Ohne Widerrede kamen Eayans Krieger seinem Befehl nach. Der Riegel, der die Torflügel verschlossen hielt, wurde entfernt und das Tor schwang auf. Eine einzelne, schlanke Gestalt betrat den Hof.
"Hallo, Eayan," sagte sie. Es war Saleme, deren Gesicht von Kapuze und Halstuch bis auf die Augen verhüllt war.
"Saleme," gab er zurück und trat ihr entgegen. "Was willst du?"
"Ich bin enttäuscht, dass du fragst. Du weißt, was ich will. Die Frage ist, ob du nach all den Jahren bereit bist, es mir zu geben."
Traurig schüttelte Eayan den Kopf. "Nicht, wenn du deine Vorhergehensweise nicht geändert hast seitdem wir uns das letzte Mal gesehen haben. Dein Angriff auf diesen Ort beweist, dass dem nicht so ist."
"Ich habe dir meine Ziele oft erklärt, Eayan. Sie haben sich nicht geändert, trotz deines Verrates."
"Dann weißt du, dass ich dein Angebot noch immer ablehnen muss. Ich kann nicht zulassen, dass du Land und Volk so schadest wie du es vorhast."
Saleme schien nicht wütend, aber dennoch enttäuscht zu sein. "Ich hatte gehofft, es wäre anders," gab sie zu. "Ich hatte gehofft, du kämst eines Tages zurück. Zurück zu mir."
Eayan schwieg einen Moment. "Was einst zwischen uns war... habe ich geopfert als du dich einem neuen Herrn unterworfen hast."
"Aber es ist noch immer tief in dir," stellte Saleme überraschend sanft fest. "Ich sehe es in deinen Augen."
"Meine Gefühle haben keine Bedeutung," gab Eayan zurück. "Dieses Gespräch ist vorbei. Rufe deine Leute zurück. Hier gibt es nichts für dich."
"Mein Meister ist weise," sagte Saleme. "Als er mir verriet, wo du dich verstecktest, sagte er mir, dass du ablehnen würdest. Er hatte Recht. Er hat immer Recht. Aber ich hoffe du verstehst wenigstens, warum ich es zumindest versuchen musste."
"Du hast dich zur Mörderin eines Fremdlings, eines Außenseiters in Harad gemacht," sagte Eayan anklagend. "Dein Meister stammt nicht von hier. Wende dich ab von ihm!"
Saleme wandte sich um und kehrte zum Tor zurück. "Dann entscheidest du dich also für den Schmerz - und Tod." sagte sie im Gehen. "So sei es."

Die Assassinen überwanden Mauer und Tor mit einer Leichtigkeit, die Aerien erschreckte. Doch sie hatte keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen, ob Salemes Unterhaltung mit Eayan den Angreifern die Zeit dafür erkauft hatte oder ob die Mauern einfach nicht dafür gemacht waren, um begabten Kletterern und Infiltratoren stand zu halten. Sie riss ihre Klinge hoch und wehrte einen Schwerthieb ab. Klirrend prallten die Schwerter aufeinander. Aerien drehte sich um die eigene Achse, wirbelte herum und versetzten dem Assassinen einen Tritt, der ihn in Eayans Klinge stürzen ließ. Der Schattenfalke nickte ihr aufmunternd zu, doch dann wurde seine Aufmerksamkeit von weiteren Angreifern abgelenkt. Das Gefecht im Innenhof wurde noch heftiger geführt als der Kampf oben auf dem Wehrgang, und Aerien vermutete, dass Saleme hier nun ihre besten Kämpfer einsetzte. Glücklicherweise hatte Eayan seine Leute insbesondere auf den Kampf gegen den Orden Salemes vorbereitet, weshalb viele der Silberbögen ungewöhnliche Waffen oder Kampftechniken verwendeten, die ihre Feinde überraschten und verwirrten. Aerien sah einen Krieger, der mit einem langen Stock kämpfte und durch die Reihen seiner Feinde wirbelte, während eine Frau in seiner Nähe sogar komplett ohne Waffen auskam und Gegner mit Fußtritten und Fausthieben außer Gefecht setzte. Die Kämpfer des Silbernen Bogens waren erneut in der Unterzahl, doch weil sie sich in der Burg auskannten, errangen sie nach und nach die Oberhand über die Angreifer. Aerien führte einen zielsicheren Schlag und Lóminzagar bohrte sich durch den Hals eines Feindes, der gerade einem weit ausholenden Hieb einer Stangenwaffe ausgewichen war, die Aerien an die Hellebarden der Gardisten von Durthang erinnerte. Sie sah einen weiteren Assassinen fallen, niedergestreckt von einer schweren, mit eisernen Stacheln besetzten Keule. Und da ertönte ein durchdringendes Signal, wie von einem fernen Horn, das endlich die Feinde zum Rückzug rief. Ohne zu zögern brachen die Assassinen ihren Angriff ab und Ruhe kehrte im Innenhof ein.

"Jeder, der unverletzt ist, soll sofort ausschwärmen," befahl Eayan, der aus einem Schnitt am Oberarm blutete, der Wunde jedoch keine Beachtung zu schenken schien. "Findet heraus, auf welchem Weg sie zum Wehrgang hinaufgeklettert sind. Findet heraus, ob das Tor im Tunnel sabotiert wurde. Findet heraus, wohin Saleme sich zurückzieht, aber folgt ihr nicht bis außer Sichtweite des Vulkans. Sie werden so bald nicht zurückkehren. Los!"
Die Silberbögen verteilten sich und gingen ihren Aufgaben nach, während andere sich um die Verletzten kümmerten. Aerien war zwar unverletzt geblieben, verspürte aber keine besondere Lust, sich an der Verfolgung zu beteiligen. Außerdem machte sie sich wachsende Sorgen um Narissa, von der sie seit ihrem Verschwinden nichts mehr gesehen oder gehört hatte. Sie folgte einer kleinen Gruppe Silberbögen zurück zum Wehrgang hinauf. Während Eayans Krieger den Kletterweg der Angreifer abschätzten und sich leise darüber unterhielten, wie man einen solchen Angriff beim nächsten Mal verhindern könnte, blickte Aerien sich um, doch in der Dunkelheit der Nacht war noch immer keine Spur von Narissa zu entdecken.
Wo bist du nur, dachte sie und blieb etwas verloren auf dem Wehrgang stehen, und ihre Erleichterung über das Ende des Angriffs der Assassinen verging, wurde ersetzt durch die furchtbare Befürchtung, dass Narissa unter den Toten sein könnte...
« Letzte Änderung: 28. Jan 2017, 00:33 von Fine »
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