Gerade als Narissa die Decke ihres Bettes zurückschlug und sich hineinlegen wollte, platzte Aerien ins Zimmer. "Du wirst nie erraten, wobei ich Elendar und Serelloth erwischt habe."
Narissa setzte sich auf ihre Matratze, schlug die Beine unter und zog interessiert eine Augenbraue in die Höhe. "Waren sie nackt?", fragte sie in möglichst unschuldigem Tonfall, Aerien stutzte und lief dann zartrosa an. "Bei den Nachtigallen Yavannas, natürlich nicht. Aber sie haben Händchen gehalten und..."
Narissa kicherte, und meinte: "Du übertriffst dich heute selbst.
Bei den Nachtigallen Yavannas?" Auf Aeriens gekränkten Blick hin, hob sie abwehrend die Hände. "Schon gut, schon gut. Das geht auf jeden Fall schneller als ich dachte." Ein weiteres Mal verspürte sie den vertrauten Stich der Eifersucht, doch schwächer als zuvor und sie unterdrückte das Gefühl sofort wieder. Sie hatte kein Anrecht auf irgendjemandes Liebe, erst recht nicht, wenn sie dieses Gefühl nicht erwiderte. Ihr Gespräch mit Aerien von vorhin fiel ihr wieder ein, und sie fragte sich insgeheim, ob vielleicht etwas mit ihr selbst nicht stimmte. Sie strich gedankenverloren über das untere Ende ihrer Narbe. Vielleicht würde sich
"Ja, nicht wahr?" Aerien ließ sich auf der Kante ihres Bettes nieder, und ihre Mundwinkel zuckten. "Sie waren so herrlich schuldbewusst, als ich sie angesprochen habe."
"Ich kann es mir lebhaft vorstellen. Serelloth läuft so rot an, dass man ihre Sommersprossen gar nicht sehen kann, und Elendar fehlen vollständig die Worte."
"Ganz genau so war es... Warte. Hast du etwa gelauscht?", fragte Aerien misstrauisch, und Narissa schüttelte den Kopf. "Nein", antwortete sie wahrheitsgemäß. "Aber ich kenne Elendar, und offensichtlich habe ich Serelloth auch ganz gut getroffen."
"Und was machen wir jetzt mit den beiden?" Narissa streckte sich genüsslich in ihrem Bett aus, und erwiderte: "Was wir machen? Wie wäre es mit... gar nichts?"
"Du meinst, sie einfach machen lassen?", kam es von Aerien herüber, während Narissa die Augen schloss und tief durchatmete. "Entweder sind sie irgendwann darüber hinweg, oder es ist etwas ernsthaftes - und das wäre sowieso früher oder später geschehen."
Außer bei mir. "Und dabei ist es doch auch egal, ob es nun Elendar ist oder ein Waldläufer aus Ithilien."
Erneut ging Narissa durch den langen, von Fackeln erhellten Gang, und erneut konnte sie nicht stehen bleiben bis sie die Tür an seinem Ende erreicht hatte. Auch dieses Mal kauerte die Frau mit dem Gesicht ihrer Mutter in dem von silbernen Licht erfülltem Raum. Doch dieses Mal erwachte Narissa nicht, sondern die Frau sprach. "Hilf mir, meine Kleine." Narissa erschauerte, als sie die Stimme ihrer Mutter erkannte, und der letzte Zweifel verschwand wie weggewischt. "Rette mich." Plötzlich war sie ein Mädchen von gerade zehn Jahren, dass von ihrer Mutter einen Brief und ein Medaillon erhielt, und sie niemals wieder sah. Der Boden erzitterte, und ihre Mutter schaute erschreckt auf. "Du musst kommen, sonst... wird
er mich töten." Eine Träne rann Narissa über die Wange, als sie die grauen Haare und die eingefallenen Züge Herlennas sah, die mit Narben überzogenen Hände... Im gleichen Moment waren ihre eigenen Hände verschwunden, dann ihre Füße und zuletzt der ganze menschliche Körper. Stattdessen besaß sie nun zwei schlanke, schwarze Flügel, kurze schuppige Beine mit drei Krallen, und auf dem ganzen Körper ein Federkleid - schwarz auf dem Rücken, weiß am Bauch.
Eine Schwalbe, dachte sie, und im nächsten Augenblick flog sie, durch das Fenster hinaus und hoch über die Stadt, die sie sofort wiedererkannte. Die gelben Mauern, der hochaufragende Palast und die Häuser, die sie in ihrer Kindheit so gut gekannt hatte - sie blickte hinab auf Qafsah, das Herz von Suladâns Reich.
Sie flog, so rasch ihre Flügel sie trugen über die Stadt hinweg auf den Mond zu, der viel zu tief stand, doch direkt bevor sie ihn erreichte verwandelte sich das silberne Licht in rot, und aus dem Mond war ein einziges flammendes Auge geworden... und Narissa erwachte.
Durch das Fenster des Zimmers fiel silbern das Mondlicht herein, keine Spur von rot, und vom anderen Bett waren Aeriens ruhige Atemzüge zu hören. Narissa warf die Decke von sich, stand auf und eilte barfuß zum Fenster. Fast erwartete sie, draußen die Häuser von Qafsah zu erblicken, doch dort waren nur die Wände des erloschenen Vulkans zu sehen. Sie starrte in die Nacht hinaus, genoss die kühle Luft auf der verschwitzten Haut und beruhigte ihren Atem. Dieser Traum hatte etwas zu bedeuten, da war sie sich sicher. Sie musste gehen, und sie musste allein gehen. Denn Aerien war ihre Freundin, und Narissa würde sie nicht in den wahrscheinlichen Tod in Qafsah führen, denn diese Angelegenheit war ihre.
Wenig später hatte sie vollständig gerüstet und bewaffnet den unteren Hof erreicht und schickte sich gerade an, ihn zu den Ställen zu überqueren, als eine Stimme sie zurückhielt: "Kannst du mir verraten, wo du hinwillst?" Narissa fuhr herum, und sah sich Aerien gegenüber. Ihre Freundin schien sich eilig angekleidet zu haben, doch ihre Bastardschwert hing an ihrem Gürtel und ihre Miene war hart. "Ich... ich muss gehen." Narissa wich unwillkürlich einen Schritt zurück, und Aerien machte einen nach vorne.
"Gehen? Wohin? Was hast du vor?" "Ich... kann es dir nicht sagen", erwiderte Narissa und fühlte sich hilflos. Die Entscheidung war ihr schwer genug gefallen, doch jetzt, Angesicht zu Angesicht mit Aerien... "Ich kann es dir nicht sagen, denn du würdest mitkommen wollen. Es ist gefährlich, und vermutlich würden wir beide sterben. Und... ich will nicht, dass du meinetwegen erneut in Gefahr gerätst. Nicht schon wieder", sprudelte es aus Narissa hervor, und Aeriens Züge wurden weicher.
"Es gibt im Augenblick niemanden, für den ich mich lieber in Gefahr begeben würde. Aber erzähl mir zuerst, was los ist." Narissa trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. Jede Minute die sie zögerte war eine Minute länger, die ihre Mutter in Gefangenschaft verbrachte, und womöglich gefoltert wurde. "Ich habe wieder geträumt... meine Mutter gesehen. Sie ist noch immer am Leben, gefangen in Qafsah." Aerien machte einen Schritt auf sie zu, und legte ihr die Hand auf die Schulter. "Es war nur ein Traum", sagte sie leise, aber eindringlich. "Ich verstehe, dass er dir zu schaffen macht, aber... du kannst doch nicht wegen eines Traumes alles wegwerfen."
"
Wegwerfen?", gab Narissa zurück, und schüttelte die Hand ab. "Was werfe ich denn weg? Wir können hier nichts tun, nirgendwohin gehen. In Qafsah kann ich wenigstens etwas bewirken, meiner Mutter helfen, und vielleicht..."
"Bei allen strahlenden Silmaril, hast du denn nicht zugehört?", zischte Aerien. "Sie wollten uns nach Umbar schicken... oder vielleicht sogar auf die Insel!"
"Die Insel..." Narissa begann, unruhig vor Aerien auf und abzugehen. "Was gibt es dort schon noch, außer Leichen und Ruinen? Warum sollten wir dorthin gehen?"
"Wann bist du das letzte Mal dort gewesen? Vielleicht weiß Eayan mehr als du. Ich glaube jedenfalls nicht, dass er ohne Grund Boten dorthin schicken würde." Narissa blieb abrupt stehen, und starrte Aerien an. "Ich habe gesehen, wie der Turm brannte", sagte sie, doch langsam durchdrangen Aeriens Worte den Schleier aus Verzweiflung und Resignation, der sich um ihren Verstand gelegt hatte. "Du meinst, es könnte jemand... überlebt haben?"
"Genau das meine ich", erwiderte Aerien in dem Flüsterton, in dem bislang ihr ganzes Gespräch abgelaufen war. "Du kannst deiner Mutter nicht mehr helfen. Aber wenn du hier bleibst, kannst du vielleicht andere Überlebende deiner Familie treffen. Lass sie los."
"Was weißt du denn davon?", gab Narissa zurück, plötzlich wieder zornig. "Deine Mutter ist ja nicht in Gefahr, und sitzt stattdessen sicher in Mordor, an Saurons Kaminfeuer!"
Sie wandte sich ab und starrte in den dunklen Tortunnel hinein, in Erwartung einer Erwiderung, die nicht kam. Nach einigen Augenblicken drückenden Schweigens sagte sie schließlich: "Es tut mir Leid, das war gemein." Sie wandte sich wieder Aerien zu, die sich kein Stück gerührt hatte, und ergriff zaghaft ihre Hand. "Kannst du mir verzeihen?"
"Ich... glaube ja", antwortete Aerien, und ihre Stimme klang heiser.
"Versteh doch", sagte Narissa bittend. "Ich habe sie das letzte Mal gesehen als ich gerade zehn Jahre alt war, und ich dachte... dachte, sie wäre tot. Und nun, wenn es auch nur die kleinste Möglichkeit gibt, dass sie noch am Leben ist... würde ich alles tun, um ihr zu helfen."
"Ich verstehe", sagte Aerien langsam. "Glaube ich zumindest. Und ich werde mit dir kommen."
"Nein, das wirst du nicht." Auf der Treppe waren drei weitere Gestalten erschienen: Eayan, Ta-er und Elendar, alle in ihrer normalen Tageskleidung. Offenbar hatte keiner der drei geschlafen.
"Ich hatte die zweite Nachtwache, habe euch gehört, und Meister Eayan benachrichtigt", erklärte Elendar beinahe entschuldigend. "Und daran hast du sehr gut getan", sagte Ta-er. "Ihr werdet die Burg nicht verlassen."
"Und wieso nicht?", fragte Narissa herausfordernd. "Wir sind keine Mitglieder eurer Gilde." "Aber unsere Gäste, und dieses Privileg kommt mit gewissen Einschränkungen - darunter, dass ihr die Burg nicht einfach so verlassen könnt", erwiderte Ta-er, und weder ihr Tonfall noch ihre Miene ließen Widerspruch zu. Dennoch hob Eayan, der bislang geschwiegen hatte, die Hand.
"Ich glaube nicht, dass wir Narissa ohne einen Kampf daran hindern könnten, zu tun, was sie sich vorgenommen hat", meinte er, und Narissa, die eine Hand auf ihren Dolchgriff gelegt hatte, nickte verbissen. "Damit habt ihr verdammt recht." Aerien schien weniger entschlossen, rührte sich allerdings ebenfalls nicht von der Stelle.
"Dann will ich es mit Worten versuchen. Du hast etwas im Traum gesehen, etwas, dass dich zutiefst verstört hat. Ist es nicht so?", fragte Eayan, und Narissa hatte das Gefühl, dass er geradewegs durch sie hindurch sah. Sie nickte zaghaft. "Ja. Darum muss ich gehen."
"Dieser Traum hat dir die Wahrheit gezeigt", fuhr Eayan fort. Narissa schnappte nach Lust, und neben ihr rührte Aerien sich unbehaglich. Auch Elendar und Ta-er wirkten überrascht, als Eayan fortfuhr: "Doch ich habe ebenfalls etwas gesehen. Ihr beide müsst hierbleiben, und wenn ihr geht, dann muss euer weg euch nach Westen führen - nach Tol Thelyn, nicht nach Qafsah."
"Aber warum? Was könnte so wichtig sein, dass..." "Alles hängt mit dem geheimen Weg nach Mordor zusammen", wurde sie von Eayan unterbrochen. "Den es vermutlich nicht gibt", murmelte Aerien leise, doch Eayan ging nicht darauf ein. "Welchem Zweck er dient und welche Rolle ihr dabei spielt, kann ich nicht klar erkennen. Nur, dass es wichtig ist - und dass Qafsah den Tod bedeutet."
"Dann sei dem so", sagte Narissa, und blickte Eayan entschlossen ins Gesicht. "Ich werde mich nicht von Vermutungen und mysteriösen Ahnung davon abhalten lassen, meiner Mutter zu helfen."
"Aber von Träumen lässt du dich dazu bringen?", warf Ta-er ein, und Narissa sah zu Boden. "Das ist etwas anderes", erwiderte sie schwach, denn sie wusste genau, dass dem nicht so war.
"Dies ist das Werk des Feindes, fürchte ich", meinte Eayan und seufzte. Zu Narissas Ärger nickte Aerien langsam, sagte allerdings nichts. "Nun, wenn du dich nicht davon abbringen lässt, lass mich dir wenigstens helfen. Vielleicht findet sich unter meinen Leuten jemand, der dich begleiten würde..."
Ta-er öffnete den Mund, doch Elendar kam ihr zuvor. "Ich werde mit ihnen gehen, Meister?" Eayan warf ihm einen sorgenvollen Blick zu, nickte dann aber. "Also gut. Brecht morgen früh auf, nicht mitten in der Nacht - der Pfad ist gefährlich. Und wisst, dass ich euch nach wie vor von diesem Unterfangen abrate."
"He!" Von der Treppe kam eine schmale Gestalt herangeeilt, und quetschte sich zwischen Eayan und Ta-er hindurch. "Ihr könnt sie doch nicht einfach so gehen lassen", protestierte Serelloth. "Jedenfalls... nicht ohne mich!"
Aerien ächzte. "Bei den Türmen von Valimar, Serelloth! Du wirst keinen Fuß durch dieses Tor setzen."
"Wieso nicht? Ich habe es alleine bis hierher geschafft, da sollte was auch immer ihr vorhabt, doch kein Problem sein", sagte sie unbeschwert. "Und außerdem werde ich nicht einfach so alleine hier bleiben, ohne..." Sie stockte, warf Elendar, der beim Anblick ihres sehr kurzen Nachtgewandes trotz seiner braunen Haut dunkel angelaufen war, einen kurzen Blick zu, und schloss dann etwas lahm: "... Aerien." Trotz der ernsten Situation musste Narissa unwillkürlich lächeln, doch Aerien schien kein bisschen nach Lachen zumute zu sein. "Bei allen verdammten brennenden Belryg des Altvorderen! Du wirst
nicht mit uns kommen! Und schon gar nicht wegen irgendeiner... Schwärmerei!" Man musste es Serelloth zu gute halten, dass sie vor der wütenden Aerien keinen Fußbreit zurückwich, obwohl sie zunächst vor Schreck blass wurde und bei Aeriens letztem Satz rot anlief.
"Das k-kann dir doch völlig egal sein. Ich werde jedenfalls mitkommen." Mit jedem Wort schien das Mädchen ein Stückchen ihres Selbstvertrauens zurück zu gewinnen. "Ansonsten müsstest du mich schon fesseln und in einem Sack verschnürt heim schicken. Und ich weiß genau, dass du dazu keine Zeit hast", schloss sie triumphierend. "Ich nicht", gab Aerien zurück, und deutete auf Eayan und Ta-er. "Sie schon." Eayan schüttelte den Kopf. "Nein. Wenn ihr geht, müsst ihr sie mitnehmen. Vielleicht bringt euch das ja zur Vernunft."
Aerien warf Narissa einen bittenden Blick zu, doch diese schüttelte stumm den Kopf, und fühlte sich schrecklich dabei. Aber sie hatte ihre Entscheidung getroffen, und musste nun mit den Folgen leben.
"Also schön... aber dein Vater wird mich umbringen." Aerien klang resigniert. "Bei den goldenen Mauern der Sonne, ihr beide seid eine größere Plage als alle Horden Mordors zusammen."
"Großartig", meinte Serelloth, und warf Narissa ein aufmunterndes Lächeln zu, dass diese allerdings nicht erwiderte. "Äh... wo gehen wir nochmal hin?"
Narissa, Elendar, Serelloth und Aerien zur Harduin-Ebene...