Das Schicksal Mittelerdes (RPG) > Weit-Harad

Die Harduin-Ebene

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Fine:
Narissa, Elendar, Serelloth und Aerien aus der Burg des Silbernen Bogens


Einen Tag nach ihrem Aufbruch von der verborgenen Burg des Silbernen Bogens begann sich die Landschaft grundlegend zu verändern. Elendar, der sich gut in der Gegend auskannte, erklärte Aerien, Narissa und Serelloth, dass sie die fruchtbare Ebene des Harduin erreicht hatten, dem wassereichsten Fluss des großen Landes das in Gondor Harad genannt wurde. Der Strom war an einigen Stellen sogar breiter als der Anduin und war bis nach Qafsah, Sûladans Residenzstadt, von Hochseeschiffen befahrbar. Er mündete weit im Südwesten in den Golf von Kerma und machte Sûladans Reich zu einem der grünsten Gebiete südlich der Wälder Ithiliens. Je näher sie der Stadt Qafsah kamen, desto belebter wurde das Land. Elendar trug die Rüstung eines haradischen Kriegers im Dienste des Sultanats und auf seinem Rücken prangte gut sichtbar die rote Schlange Sûladans. Bisher hatte dies ausgereicht, um der Gruppe eine ungestörte Reise zu ermöglichen. Dennoch waren sie übervorsichtig und reisten meist nur bei Nacht - eine Tatsache, auf die sich Elendar und Narissa bereits in der ersten Minute seit ihrem Aufbruch geeinigt hatten. Sie waren in den frühen Morgenstunden des Tages nach Serelloths Ankunft aufgebrochen und hatten dank ihres leichten Gepäcks bereits viele Wegstunden zurückgelegt. Man konnte Serelloth vieles vorwerfen, doch das Mädchen war eine erfahrende Wanderin der Wildnis und beschwerte sich nicht ein einziges Mal über die harte Geschwindigkeit, die Elendar vorgab.

In einem kleinen Dorf auf halbem Weg zwischen Ain Salah und Qafsah machten sie eines Tages Rast. Vor Sonnenuntergang würden sie nicht weiterreisen, und bis dahin würden noch mehrere Stunden vergehen. Aerien lehnte nachdenklich an dem kleinen Brunnen in der Mitte des Dorfs und hielt die Wasserschläuche der Gruppe, während Narissa sie eilig befüllte. Von Elendar und Serelloth war nichts zu sehen. Wieder einmal hatten sich die beiden heimlich davongestohlen.
"Sie sind wirklich nicht sehr subtil, die beiden," kommentierte Narissa und ließ den Eimer mit einem lauten Klatschen zurück in den Brunnen fallen.
"Ist das etwa Eifersucht, die ich da höre?" fragte Aerien lächelnd und blickte ihre Freundin prüfend an, doch diese winkte ab.
"Unsinn," gab sie ungehalten zurück. "Ich habe keine Gefühle für Elendar."
"Also wärst du jetzt lieber in Bayyins zärtlichen Schreiberarmen," neckte Aerien und handelte sich einen festen Schlag gegen den Oberarm ein.
"Rede so weiter und ich zaubere dir mit Ciryatans Dolch auch so eine Gesichtsverschönerung ums Auge, wie sie mir dein Vetter verpasst hat," drohte Narissa.
"Danke, kein Bedarf," wehrte Aerien lachend ab.

Während sie die frisch gefüllten Wasserschläuche verstaute beobachte Aerien die nachdenkliche Narissa, die nahezu regungslos nach Nordwesten starrte. Nach Nordwesten, wo Qafsah lag. Ein ungewisses Schicksal erwartete sie. Narissa hatte ihr erzählt, dass sie zuletzt mit zehn Jahren in der Stadt gewesen war, doch die Tatsache, dass Sûladan in ganz Harad nach ihr suchen ließ verhieß nichts Gutes. Es grenzte beinahe an Torheit, sich so in die Höhle des Löwen zu wagen. Doch Aerien wusste, dass der Entschluss ihrer Freundin feststand: sie würde ihre Mutter retten, oder bei dem Versuch sterben. Und Aerien würde mit aller Kraft versuchen, Letzteres zu verhindern.

"Reiter nähern sich!" rief Elendar, der gerade zwischen zwei Häusern aufgetaucht war, dicht gefolgt von Serelloth, die ihre grüne Kapuze aufsetzte und den Langbogen aus seiner Halterung an ihrem Sattel löste und kampfbereit in der Hand hielt. Karab schnaubte und riss an der Leine, mit der Aerien ihn angebunden hatte, und auch Narissas Grauwind ließ ein leises Wiehern hören. Eayan hatte das Ross von seinen Nachforschungen im Norden mitgebracht, wollte jedoch nicht verraten, wo er es gefunden hatte und woher er wusste, dass es Narissa gehörte. Dennoch hatte sie sich über Grauwinds Rückkehr gefreut.
"Nicht, Serelloth," gab Elendar dem Mädchen zu verstehen dass er nicht vorhatte, zu kämpfen. "Wir bleiben außer Sicht. Vielleicht suchen sie ja gar nicht nach uns."
Eilig zerstreute sich die Gruppe und jeder führte sein Pferd am Zügel weg vom Brunnen, zwischen die ärmlichen Häuser des Dorfes. Zu ihrem Glück sollte Elendar Recht behalten. Eine große Gruppe von ungefähr einem Dutzend schwer bewaffneter haradischer Reiter rauschte durch das Dorf und wurde nicht einmal langsamer als sie in Richtung Qafsah weitergaloppierten.
"Wir müssen noch vorsichtiger sein," befand Elendar als sich die vier Reisenden wieder zusammenfanden. "Wir hatten Glück, dass ich die Reiter gesehen habe, als ich..." er brach verlegen ab.
"Als du den Geschmack von Serelloths Zunge geprüft hast," beendete Aerien den Satz für ihn.
Elendar blickte ertappt zu Boden, und Serelloth ließ ein verlegenes Kichern hören.
"Er hat aber Recht," sagte Narissa scheinbar ungerührt. "Ich schätze, dass der Krieg viele von Sûladans Ressourcen vebraucht, aber er wird immer genug Leute haben, um uns zu jagen. Wir dürfen nicht riskieren, seine Aufmerksamkeit auf uns zu ziehen bis wir es nach Qafsah geschafft haben."
Sie warteten noch einige Minuten ab, dann sattelten sie auf und setzten ihren Weg fort.

Am Tag darauf kamen sie gegen Mittag zum ersten Mal in Sichtweite des Harduins. Auf der Reise von Ain Séfra, auf den Spuren Narissas, war Aerien zu weit westlich geritten, um den Fluss zu überqueren, doch nun lag er wie ein breites, blaues Band inmitten der grünen Ebene vor ihr. "So viel Wasser," flüsterte sie und fühlte sich erneut an den Anduin erinnert, den sie mit Beregond bei der Flucht aus Minas Tirith mit der orkischen Fähre überquert hatte.
"Er ist die Lebensader Harads," erklärte Elendar. "Und Sûladan hat ihn fest unter seiner Kontrolle."
"Solange er Qafsah besetzt hält kontrolliert er auch das Wasser," schlussfolgerte Narissa. "Und wenn er das Wasser kontrolliert, kontrolliert er auch die Stämme, die davon abhängig sind."
"Ganz genau," sagte Elendar.

Sie ritten nun am Fluss entlang, wo einer der vergangenen Herrscher dieses Landes eine Straße angelegt hatte, die offenbar in westlicher Richtung von Qafsah nach Umbar führte. Obwohl sie erst nach Einbruch der Dunkelheit weiterreisten war die Straße belebter als Aerien erwartet hatte.
"Das liegt am Krieg," kommentierte Elendar. "Sûladan tauscht ständig Botschaften mit seinen vielen Getreuen aus, während er in seinem Palast sitzt und Pläne schmiedet."
Je näher sie an Qafsah heran kamen, desto häufiger sahen sie Soldaten mit dem Abzeichen der Schlange. Offenbar zog Sûladan eine beträchtliche Streitmacht zusammen. Sie hörten Gerüchte von einem Angriff auf Umbar, denn anscheinend hatte es in der Stadt einen Aufstand gegeben, bei dem der amtierende Fürst gestürzt und zur Flucht gezwungen worden war. Aerien fragte sich, ob vielleicht Ta-er as-Safar dafür verantwortlich gewesen war.
Am siebten Tag seit ihrem Aufbruch aus dem Versteck Eayans und seiner Verbündeten tauchten am Horizont schließlich die Turmspitzen einer großen haradischen Stadt auf, deren Sandsteinmauern gelb in der frühen Morgensonne glänzten. Die Stadt war von mehreren Oasen umgeben, die vom nahen Fluss gespeist wurden. Narissa, die ein kleines Stück vorausgeritten war, blieb stehen als die Stadt in Sicht kam.
"Es hat sich kaum verändert," sagte sie leise.
"Das ist nicht deine Heimat, Narissa," flüsterte Elendar eindringlich. "Deine Heimat ist die Insel."
Sie wandte ihm den Kopf zu. "Ich weiß," sagte sie mit fester Stimme.
"Finden wir deine Mutter und sehen dann zu, dass wir so schnell wie möglich wieder verschwunden," meinte Aerien. "Ich weiß ja nicht wie es euch geht, aber ich möchte nur so viel Zeit wie notwending in Sûladans Machtsitz verbringen."
"Geht uns allen so," antwortete Elendar.
Sie gaben ihren Pferden die Sporen und ritten im lockeren Tempo auf die Stadt zu.

Eandril:
Als sie noch etwa eine Meile von den Mauern der Sultansstadt entfernt waren, zog sich Narissa ihre Kapuze über den Kopf, um ihre auffälligen weißen Haare zu verbergen. "Ich hätte sie wirklich vorher färben sollen...", sagte sie leise vor sich hin, und lenkte Grauwind an den Straßenrand, wo sie ihr Pferd zügelte. Aerien brachte ihr Pferd neben ihr zum Stehen, und Serelloth und Elendar, die hinter ihnen geritten waren, hielten ebenfalls an. "Es wäre mir lieber, wenn ihr in der Stadt nicht meinen richtigen Namen benutzen würdet", sagte sie, und Aerien nickte. "Wenn er den falschen Personen zu Ohren kommt, wäre das schlecht", meinte sie, und meinte damit eindeutig Suladân selbst.
"Und wie sollen wir dich dann nennen?", fragte Serelloth dazwischen, und Narissa zögerte einen Moment. Sie hatte sich bereits während der Reise Gedanken darüber gemacht, doch kein Name war ihr richtig erschienen. Doch jetzt hatte sie das Bild eines schlanken, schwarz-weißen Vogels vor Augen. "Wie wäre es mit...Tuilin."
"Schwalbe. Schön", sagte Aerien. "Ich glaube, er passt zu dir.  Ich schätze, ich sollte vielleicht auch als Azruphel vorgestellt werden, falls jemand fragt..."
Narissa wollte gerade ihr Pferd wieder antreiben, als eine ihr vage bekannt vorkommende Stimme sie von der Seite ansprach: "Verzeiht, hättet ihr vielleicht einen Augenblick Zeit?" An eine Palme neben der Straße gelehnt stand ein einzelner, in helle Gewänder gehüllter Mann, dessen Gesicht ebenfalls unter einer Kapuze verborgen war. Unwillkürlich fragte Narissa sich, was er alles gehört - und gesehen - hatte. Woher konnte sie wissen, ob Suladân keine verborgenen Posten an den Eingängen zur Stadt aufgestellt hatte, um alles Kommen und Gehen zu beobachten? "Was wollt ihr?", fragte sie misstrauisch, und zog unauffällig ihre Kapuze zurecht. "Geld?"
Unter der Kapuze des Mannes leuchteten zwei helle blaue Augen auf - ungewöhnlich für einen Haradrim. "Nur ein Gespräch mit euch und euren... interessanten Gefährten."
Neben Narissa legte Aerien die Hand auf den Schwertgriff, doch Narissa rührte sich nicht. "Also schön. Sprecht", forderte sie ihn auf. "Nicht hier - hier gibt es zu viele Augen und Ohren, für die nichts davon bestimmt ist." Nun tastete auch Narissa nach dem Griff ihres Dolches, denn die ganze Angelegenheit roch stark nach einer Falle, als der Mann den Kopf neigte, und leise sagte: "Mae govannen, meldis."
Eine unglaubliche Erleichterung durchströmte Narissa, während Aerien sich auf ihrem Pferd vorbeugte und ungläubig fragte: "Hat er gerade..."
"Allerdings", bestätigte Narissa und saß ab. Sie nahm Grauwinds Zügel, und sagte zu dem Mann, dessen Gesicht noch immer im Schatten seiner Kapuze verborgen war: "Geh voran."

"Bist du sicher, dass du weißt was du tust, N... Tuilin?", fragte Aerien im Flüsterton. Sie führte ihr Pferd ebenfalls am Zügel neben sich, während sie dem geheimnisvollen Mann zwischen zwei Sanddünen hindurch weg von der Straße folgten. "Er könnte uns geradewegs in eine Falle locken."
"Das glaube ich nicht", erwiderte Narissa lächelnd. "Ich denke er, dass er dir einen deiner sehnsüchtigsten Träume erfüllen wird."
"Hm", machte Aerien, und strich ihrem Pferd im Gehen über den Hals. "Gib es zu, du hast Spaß daran mich im Ungewissen zu lassen."
"Allerdings", gab Narissa lachend zu. Seit sie die Burg des Silbernen Bogens verlassen hatten, hatten sie Zweifel geplagt, doch für den Moment waren sie verschwunden. Sie umrundeten einen letzten sandigen Hügel, und Narissa erkannte die Oase, die vor ihnen lag, sofort wieder. Der Anblick verschaffte ihr gemischte Gefühle - Freude, über das kommende, und Trauer bei dem Gedanken an den Tag, als sie zum ersten und letzten Mal hier gewesen war. Die letzten Worte, die ihre Mutter zu ihr gesagt hatte, hallten in ihrem Kopf wieder: Ich komme dich bald holen.
"Nein...", flüsterte sie beinahe unhörbar vor sich hin. "Ich hole dich."
Um den von Palmen und niedrigen Büschen umstandenen Teich gruppierten sich mehrere Zelte, es mussten ungefähr ein halbes Dutzend sein. Beinahe erwartete Narissa von zwei Männern mit Krummschwertern angehalten zu werden, doch stattdessen wandte sich ihr Führer zu ihnen um, und setzte die Kapuze ab. Sein Gesicht war ernst, und hatte sich seit ihrer letzten Begegnung kein bisschen verändert.
"Mae govannen, Níthrar", sagte Narissa leise, und warf sich dann in seine Arme, als wäre sie noch immer ein kleines Mädchen, dass gerade seine Eltern verloren hätte. Níthrar strich ihr sanft über den Rücken, und hinter ihnen zog Aerien scharf die Luft ein, als eines seiner Ohren, die etwas spitzer zuliefen als bei Menschen, sichtbar wurde. Nach einem kurzen Moment des Schweigens löste sich Níthrar aus ihrer Umarmung, strich sanft mit dem Daumen über ihre Narbe, und sagte dann: "Bevor ich anfange - willst du mich vielleicht vorstellen?"
"Aber gerne", sagte Narissa übermütig, und deutete eine Verbeugung an. Alle Sorgen, die ihren Geist in den vergangenen Tagen beherrscht hatten, waren verschwunden. "Dies sind Aerien, eine tapfere Kriegerin aus... dem Norden und eine gute Freundin - eine sehr gute - Serelloth, eine Waldläuferin aus Ithilien, und Elendar bin Yulan, von dem ich dir bereits erzählt hatte."
"Und der anscheinend nicht so tot ist wie gedacht", meinte Níthrar lächelnd, bevor Narissa fortfuhr: "Und dies ist Níthrar von den Heimatlosen... mein ältester Freund, könnte man sagen, der immer für mich da war."
"Wenn du ihn gelassen hast...", sagte Níthrar leise, was den anderen freilich entging. "Ihr seid... ein Elb?", fragte Aerien, und wirkte dabei ein wenig atemlos. "Einer der Eldar?"
"Ja und nein", erwiderte Níthrar. "Ich bin einer der Quendi, doch meine Vorfahren schlossen sich dem Zug nach Westen nicht an, sondern zogen es vor, in Mittelerde zu bleiben."
"Ich habe noch nie zuvor einen Elben gesehen", sagte Aerien langsam, und Níthrar lächelte schief. "Nun, das glaube ich. Menschen eurer Herkunft begegnen selten Angehörigen meines Volkes." Aerien machte ein Gesicht, als wäre sie von einem Hammerschlag getroffen worden, und Níthrar winkte schnell ab. "Genug davon. Zunächst würde ich gerne ein paar mehr oder weniger unfreundliche Worte mit Narissa wechseln." Er wandte sich Narissa zu. "Allein, oder dürfen sie dabei sein? Deine Entscheidung." Narissa errötete, und war froh, dass die Kapuze, die sie noch immer trug, es einigermaßen verbarg. Dennoch erwiderte sie: "Meinetwegen kannst du es gleich hier tun."
"Also schön." Níthrar verschränkte die Arme, und atmete tief durch. "Was, bei allen Sternen hast du dir dabei gedacht, mir davonzulaufen? Du und Bayyin, ihr wart in Sicherheit!"
"Davonlaufen?", warf Elendar ein. "Aber ich dachte... du hast doch erzählt, ihr wärt getrennt worden, als Suladâns Männer euch gefunden hatten."
Narissa trat von einem Fuß auf den anderen, und blickte beschämt zu Boden. "Nun... das entsprach vielleicht nicht ganz der Wahrheit. Er wollte uns nicht weiter nach Arandirs Reisebericht suchen lassen, also haben wir uns eines Tages, als er nicht im Lager war... davongeschlichen und sind nach Umbar gegangen."
"Nach Hadors Tod war ich derjenige, der für dich verantwortlich war. Wie soll ich dich beschützen, wenn du vor mir davonläufst?" Es war nicht zu übersehen, dass Níthrar wütend war, doch wie berechtigt sein Zorn auch sein mochte, Narissa würde nicht kampflos aufgeben.
"Die einzige, die für mich verantwortlich ist, bin ich selbst", erwiderte sie, und blickte ihm fest in die ungewöhnlich blauen Augen. "Ich kann auf mich selbst achtgeben."
"Das sehe ich", gab Níthrar kalt zurück, und Narissas Hand fuhr unwillkürlich hinauf zu ihrem Gesicht. "Ist das in Umbar geschehen?"
"In Ain Salah", antwortete Narissa unwillig. "Das war ein Mann namens Karnûzir."
"Ein Verwandter von euch?", fragte Níthrar an Aerien gewandt, die dem Austausch bislang stumm gelauscht hatte, und seine Stimme war noch immer kalt. "Ein Vetter", erwiderte Aerien. Ihr wahr sichtlich unwohl bei der Sache, als sie hinzufügte: "Aber ich habe nichts mit ihm zu tun und..."
"Aerien selbst hat mich auf ihr Pferd gehoben, und unter Einsatz ihres eigenen Lebens in Sicherheit gebracht. Wir können ihr vertrauen, und zwar bedingungslos", sprang Narissa ihrer Freundin bei.
Einen langen Augenblick betrachtete Níthrar sie schweigend, bis schließlich der Zorn in seinen Augen erlosch, und er seufzte. "Verzeiht mein Misstrauen, Aerien. Narissa, ich würde gerne erfahren, was geschehen ist, seit wir uns das letzte Mal sahen - und zwar alles. Und ganz besonders interessiert mich, was euch hierher führt, in die Höhle des Löwen. Oder vielleicht besser, in die der Schlange."

Eandril:
Wenig später saß die Gruppe auf niedrigen Hockern im Schatten der Palmen rund um eine erloschene Feuerstelle.
"Es sind weniger Leute hier als letztes Mal", sagte Narissa, und ließ den Blick durch das kleine Lager schweifen. "Wir sind in die ein oder andere Schwierigkeit geraten", antwortete Níthrar, und seufzte traurig. "Wir hatten Verluste."
"Hm", machte Narissa nur. Verluste waren in diesen Zeiten für alle Feinde Suladâns wohl unumgänglich, und trotzdem stimmte der Gedanke an die gefallenen Nomaden traurig. Sie waren im Gegensatz zu ihrem Anführer normale Menschen aus allen Winkeln Harads, die ihre Heimat aus dem ein oder anderen Grund verlassen und sich Níthrar angeschlossen hatten. Daher nannten sie sich die Heimatlosen, und obwohl Narissa nur wenig Zeit unter ihnen verbracht hatte, hatte sie sie gern.
"Dazu kommen wir später", meinte Níthrar später. "Zunächst erzähl mir alles, was seit unserer letzten Begegnung geschehen ist."
So begann Narissa zu erzählen, wie sie sich gemeinsam mit Bayyin nach Umbar durchgeschlagen hatte, von ihrer Begegnung Edrahil und der Reise nach Aín Sefra. Dieser Teil war allen Anwesenden neu, auch wenn sie Aerien zumindest Teile davon bereits erzählt hatte. Als sie zu Aín Sefra kam, ergänzten Aerien und Serelloth hin und wieder das ein oder andere Detail. Elendar lauschte der Geschichte stumm und aufmerksam, zeigte allerdings keine Überraschung als Narissa ein wenig beschämt erzählte, wie sie Aín Sefra überstürzt verlassen hatte, nachdem sie von Aeriens Herkunft erfahren hatte. Vermutlich hatte Serelloth sich nicht zurückhalten können, und ihm davon erzählt.
Als Narissa von ihrer Zeit in Abels Händen berichtete, wurde ihre Stimme leiser und stockend, bis sie Aeriens tröstende Hand auf ihrer Schulter spürte. Während sie sprach, loderte in Níthrars Augen ein Zorn, der größer war als alles, was sie bei ihm zuvor gesehen hatte, und als sie zu dem Punkt kam, als Aerien und sie die Burg des Silbernen Bogens erreicht hatten, hob er die Hand. "Ich habe noch nie zuvor von diesem Kopfgeldjäger gehört", sagte er. "Aber wenn ich ihm begegne, denn wird er leiden."
"Und er wird es genießen, fürchte ich", meinte Narissa bitter, bevor sie weitersprach. Sie beschrieb die Burg des Silbernen Bogens absichtlich möglichst vage, denn auch wenn sie Níthrar bedingungslos vertraute, hatte Eayan sie doch gebeten, die Position der Burg geheim zu halten. Als sie die Träume erwähnte, die sie nach Qafsah geführt hatten, spannte Níthrar sich sichtlich an.
"Narissa, Herlenna ist tot", stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. "So schwierig das auch ist, wir müssen es akzeptieren."
"Müssen wir das?", fragte Narissa, und beugte sich leicht vor, die Fäuste auf den Knien. "Ist es nicht viel leichter, einfach anzunehmen, dass sie tot ist? Denn ansonsten haben wir es jahrelang versäumt, wenigstens zu versuchen ihr zu helfen."
"Wenn... wenn es auch nur die kleinste Möglichkeit geben würde, dass sie... noch am Leben wäre...", sagte Níthrar langsam, und schien mit jedem Wort zu kämpfen, bevor er aufblickte und Narissa direkt und fest in die Augen sah. "Ich hätte alles getan, um ihr zu helfen."
"Es gibt diese Möglichkeit", erwiderte Narissa leise und eindringlich. "Níthrar, was ich gesehen habe ist die Wahrheit... das spüre ich."
"Vielleicht solltest du dich fragen, woher diese Träume kamen", warf Aerien ein. "Wer sie geschickt hat und... zu welchem Zweck."
"Zu welchem Zweck?", brauste Narissa auf, atmete tief durch und fuhr dann ruhiger fort: "Damit ich meiner Mutter helfe. Wozu sonst?"
Aerien erwiderte nichts, doch Narissa konnte den Zweifel in ihren Augen sehen. Denselben Zweifel, den sie selbst verspürte und tief begraben hatte. Sie räusperte sich, und wandte sich dann wieder Níthrar zu. "Also, nachdem ich alles erzählt habe, bist du an der Reihe."
"Nun, ich denke, das ist nur gerecht", antwortete er, und stocherte abwesend mit einem dünnen Ast in der Asche des Feuers herum. "Nachdem du und Bayyin uns davongelaufen wart, haben wir einige Zeit versucht, eure Spur aufzunehmen. Vergeblich, denn Hador hat dich offenbar wirklich gut ausgebildet." In seiner Stimme schwang etwas wie wehmütiger Stolz mit. "Als schließlich klar wurde, dass wir euch nicht in der Wildnis finden würden, beschlossen wir nach Umbar zu gehen. Wir sind allerdings nie dort angekommen", beantwortete er Narissas unausgesprochene Frage. "Wir hatten einige Zusammenstöße mit Hasaels Truppen, und da ich mich in der Gegend nicht sehr gut auskennen, beschlossen wir schließlich, nach Qafsah zu ziehen."
"Warum hierher?", fragte Narissa dazwischen. "Hier ist es kein bisschen weniger gefährlich als in Umbar."
"Das nicht", erwiderte Níthrar, und zuckte mit den Schultern. "Einerseits aus Gewohnheit, um den Sultan zu beobachten - auch wenn es niemanden mehr gibt, dem wir Bericht erstatten könnten - und andererseits aus irgendeinem merkwürdigen Gefühl... einer Vorahnung, dass es dich ebenfalls hierher ziehen könnte."
"Darin hast du dich nicht getäuscht", meinte Narissa mit einem aufmunternden Lächeln. "Ich bin froh, dass du hier bist."
"Und ich nicht, dass du hier bist", gab Níthrar zurück, doch er erwiderte das Lächeln. "Da ich vermute, dass du in die Stadt gehen wirst, egal was ich dazu zu sagen habe - lass mich helfen." Er blickte zum Himmel auf, an dem die Sonne hoch stand. "In der Mittagszeit ist wenig Betrieb am Tor, und man wird schnell gesehen. Wenn der Abend hereinbricht, werde ich euch zu meiner Kontaktperson in der Stadt bringen, und bis dahin..." Níthrar machte eine ausholende Geste, die das ganze kleine Lager umfasste. "Mein Heim ist das eure."

Fine:
Aerien saß mit dem Rücken zum Lager der Heimatlosen auf der Spitze einer Düne und starrte auf das blaue Band des Harduin hinaus, das sich in der Ferne vor ihr durch die Mischung aus gelben, grünen und braunen Flecken zog, aus denen die Ebene in der Qafsah lag bestand. So habe ich mir meine erste Begegnung mit einem der Eldar nicht vorgestellt, dachte sie und ertappte sich dabei, dass sie wirklich schlechte Laune hatte. Während ihrer Reise von der Burg des Silbernen Bogen bis nach Qafsah war ihr der Grund immer weniger sinnvoll erschienen, und als nun auch der Elb Níthrar, der sich als enger Vertrauter Narissas herausgestellt hatte, Narissa gegenüber seine Zweifel geäußert hatte, hatte Aerien sich in ihrer Meinung bestärkt gefühlt. Doch nun hatten Narissa und Níthrar sich in eines der Zelte zurückgezogen, offenbar um über private Dinge zu sprechen, und Elendar und Serelloth waren ebenfalls verschwunden. Aerien zog Lóminzagar aus dem Futter und begann, die Klinge mit dem kleinen Schleifstein zu schärfen, der am Griff befestigt war. Dabei wanderten ihre Gedanken zurück zu dem, was Eayan am Abend vor ihrem Aufbruch gesagt hatte. Qafsah bedeutet den Tod...

Ein ferner Schrei aus der Luft zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Ein Raubvogel zog am Himmel über der Ebene seine Kreise, offenbar auf der Suche nach Beute. Aerien beobachtete, wie der Vogel mit einem Mal zum Sturzflug ansetzte und mit seinen Krallen zielgenau ein Kaninchen erwischte. Mit einem weiteren, triumphierenden Schrei trug er seine Beute davon.
Wenn das irgend eine Bedeutung haben soll, dann wohl keine gute, dachte Aerien düster. Zwar kam sie sich nicht wirklich wie ein Kaninchen vor, dennoch konnte sie nicht verstehen, wie die Heimatlosen so nahe an der Stadt Sûladans lagern konnten ohne ständig in Furcht vor einem Angriff zu leben. Zwar hatte Níthrar aufmerksame Wachen aufstellen lassen, doch Aerien bezweifelte, dass diese das Lager rechtzeitig warnen könnten wenn ein Trupp Reiter in vollem Tempo angreifen würde.
Vielleicht hoffen sie darauf, dass Sûladan Wichtigeres zu tun hat, überlegte sie. Womöglich haben sie damit sogar recht. Immerhin macht Qúsay gegen ihn mobil. Doch so ganz mochten ihre Sorgen nicht schwinden. Narissa hätte ihre Haare wirklich färben können. Eayan hätte bestimmt ein Mittel auftreiben können, dachte Aerien. Das Tuch verdeckt viel zu wenig. Wenn wir entdeckt werden, ist es Narissas Schuld.

Mit einem beinahe geräuschlosen Aufprall ließ sich Narissa neben ihr in den warmen Sand fallen und schlug die Beine übereinander. Sie schien in bester Stimmung zu sein. "Níthrar hat gesagt, dass er uns noch vor Sonnenuntergang in die Stadt bringen kann. Ich kann es kaum erwarten," redete sie munter drauflos und schien Aeriens kritische Miene gar nicht zu bemerken. "Zuerst müssen wir in Sûladans Palast eindringen und die Verliese durchsuchen. In meinem Traum habe ich die Zelle gesehen, in der er meine Mutter gefangen hält. Je schneller wir dort sind, desto besser. Und wenn wir sie gefunden haben, dann ..."
"Hörst du eigentlich, was du da sagst?" unterbrach Aerien mit unterdrücktem Zorn in der Stimme. "Das ist vollkommener Wahnsinn, Narissa. In Sûladans Palast eindringen? Weil das in Ain Séfra so gut geklappt hat?" Narissa hatte ihr erzählt, dass sie den Einbruch in Marwans Residenz hatte aufgeben müssen als der Majles begonnen hatte.
"Wir schaffen das schon," gab Narissa zurück. "Du kannst ja hier warten, wenn es dir zu gefährlich ist. Ich werde meine Mutter nicht im Stich lassen."
"Narissa," begann Aerien eindringlich. "Eayan und dieser Níthrar haben es dir ja auch schon gesagt, aber ich wiederhole es gern: Du weißt nicht, woher dieser Traum kommt. Es gibt... in Mordor etwas, das sich die Dunklen Künste nennt. Viele von meinem Volk beherrschen sie. Ich - zum Leidwesen meines Vaters - nicht." Sie sprach nicht gern darüber und das hörte man ihrer Stimme auch an, doch Aerien zwang sich, der skeptischen Narissa weiter davon zu erzählen was sie wusste. "Diese Art von... Begabung stammt vom Dunklen Herrscher. Vielleicht hast du schon einmal von einem Mann namens Dolguzagar gehört, dem Düsterschwert. Er stieg dank der Dunklen Künste so weit im Ansehen des Großen Gebieters auf dass er irgendwann als Saurons Mund bekannt wurde und zum Statthalter von Barad-dûr ernannt wurde. Und eine seiner Begabungen erlaubte es ihm... falsche und irreführende Träume hervorzurufen."
Narissas Hand fuhr hinab in den Sand und ließ ihn gegen Aeriens Beine spritzen. "Wage es ja nicht," sagte sie leise und gefährlich. "Meine Träume sind wahr. Eayan hat es bestätigt."
"Nein, hat er nicht," widersprach Aerien. "Er war ebenfalls der Meinung, dass all dies ein Werk des Feindes ist. Erkennst du denn nicht, dass wir gar nicht hier sein sollten? Wir sollten zur Insel gehen, oder nach Umbar, oder..."
Doch Narissa ließ sie nicht ausreden. Sie sprang auf. "Ich habe sie gesehen!" schrie sie. "Und ich werde sie retten!"
Jetzt kam auch Aerien auf die Beine und packte Narissa am Arm. "Das ist Irrsinn, Narissa! Wir hätten niemals herkommen dürfen!"
"Lass - mich - los!" schrie Narissa und versetzte Aerien einen festen Stoß, der sie nach hinten taumeln ließ.
"Du sture Ziege!" rief Aerien wütend. "Siehst du denn nicht dass jeder, dem etwas an dir liegt, dich aufhalten will, weil wir Angst um dich haben?"
"Dann geh doch heim nach Mordor wenn du so viel Angst hast!" knurrte Narissa. "Ich habe dich sicher nicht gebeten mir hierher zu folgen."
Aerien taumelte rückwärts, schwer getroffen von Narissas harten Worten. "Ich bitte dich, Narissa," stieß sie hervor während sich ihre Kehle zuschnürte. "Bitte sei vernünftig und lass uns von hier verschwinden."
"Ich gehe nicht ohne meine Mutter," stellte Narissa klar. "Wenn du gehen willst, dann geh. Niemand hier hält dich ab. Aber versuch nie mehr, mich von der Rettung meiner Mutter abzubringen." Ohne ein weiteres Wort drehte sie sich um und ging mit großen Schritten in Richtung des Lagers davon. Aerien sank auf die Knie, ratlos, verletzt, und mehr als nur durcheinander.

Eine Hand legte sich auf ihren Rücken. Aerien wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war. Sie blickte auf und sah den Elben Níthrar vor sich, der in die Hocke gegangen war und sie mit einem prüfenden Blick betrachtete. Doch in seinen tiefblauen Augen schimmerte auch ein Funken von Mitleid.
"So ist sie schon immer gewesen," sagte er leise.
"Du... hast gehört was geschehen ist? Was wir... einander an den Kopf geworfen haben?"
"Oh, das haben alle in einem Umkreis von hundert Metern gehört," sagte Níthrar lächelnd. "Narissa kann sehr laut werden, wenn sie will."
"Es tut mir Leid, was geschehen ist," presste Aerien hervor.
"Sieh mal einer an. Eine Adûnâ(1) mit Gewissensbissen. Ich hoffe, Narissa behält recht damit, dass sie dir vertraut. Denn solltest du sie verraten... werde ich dich jagen. Und wenn ich dich finde, werde ich dich töten."
Aerien hielt seinem stählernen Blick stand. "Dazu wird es nicht kommen," sagte sie entschlossen. "Wir wollen beide dasselbe: Narissa von diesem Irrsinn abbringen."
"Das wird uns nicht gelingen," antwortete Níthrar traurig. "Wenn sie sich etwas so fest in den Kopf gesetzt hat wird sie nicht davon abweichen. Wir müssen uns den Folgen ihrer Entscheidung wohl oder übel stellen."
"Wenn wir sie vielleicht fesseln und von hier wegschaffen könnten..." Aerien merkte schon während sie den Satz sagte, dass diese Idee wohl kaum zu einem guten Ende führen würde. Selbst wenn es ihnen gelingen würde, Narissa sicher von Qafsah wegzuschaffen würde sie doch bei der ersten Gelegenheit wieder losziehen um ihre Mutter zu retten.
Níthrar schüttelte den Kopf und betrachtete Aerien einen anhaltenden Moment lang. "Du bist wirklich ein seltsames Mädchen," sagte der Elb.
"Und du bist nicht wie ich mir die Eldar vorgestellt habe," gab Aerien zurück.
"Mein Volk hatte nie viel mit jenen zu tun, die die Große Reise antraten," erwiderte Níthrar. Dann fixierten seine blauen Augen, in denen sie Sternenlicht zu sehen glaubte, Aeriens Pupillen und er schien direkt durch sie hindurch zu blicken und alle ihre Masken zu durchschauen. "Du ... hast wirklich und endgültig mit Mordor gebrochen," stellte er schließlich fest.
Es war keine Frage gewesen, doch Aerien antwortete trotzdem: "Ja, das habe ich. So gerne Narissa es offenbar gerade sehen würde... ich kehre nicht nach Mordor zurück."
"Zumindest nicht als Dienerin des Dunklen Herrschers," sagte Níthrar. "Es mag sein, dass Narissa einst den Pfad beschreitet, den ihr Vorfahr entdeckt hat. Wenn du wirklich ihre Freundin bist, wirst du sie dabei begleiten und beschützen."
"Das werde ich, falls es diesen Weg wirklich gibt," meinte Aerien. "Und wenn sie mich noch so oft beschimpft."
"Gib ihr Zeit," riet Níthrar. "Ihr Zorn verraucht schnell. Aber versuche nicht wieder, sie von ihrem Vorhaben abzubringen. Sie muss selbst sehen, dass sie falsch liegt."
"Ich hoffe, sie erkennt es früher als später," sagte Aerien.

Der Elb erhob sich und ließ Aerien allein auf der Spitze der Düne zurück. Sie seufzte tief und ließ gedankenverloren Sand durch ihre Finger rinnen. Ihre Sorgen waren nicht weniger geworden, doch immerhin konnte sie sich jetzt darauf einstellen, das Wagnis, das Narissa vorhatte, tatsächlich anzugehen. Sie würden also in Sûladans Machtsitz eindringen und nach einer Frau suchen, die wahrscheinlich gar nicht mehr am Leben war. Aerien atmete tief durch und begann, Pläne zu schmieden.


(1) adûnâisch "West-Mensch, Dúnadan"

Eandril:
Narissa saß mit dem Rücken an eine Palme gelehnt, und blickte nach Westen, wo die das grün der Oasen und der Flussebene in der Ferne immer weniger wurde und schließlich ganz in die große Wüste von Harad überging. Sie wünschte sich fort von Qafsah, weit, weit fort von hier.
Als die Sonne allmählich zu sinken begann und der Abend näher rückte, erhob sie sich schließlich schweren Herzens. Der Zorn, den sie auf Aerien verspürt hatte, war beinahe ganz verraucht, denn im Inneren wusste sie sehr genau, dass ihre Freundin sich nur das Beste für sie wünschte und ihr Dinge wie vorhin nicht aus einer Laune heraus sagen würde. Bevor sie in die Stadt aufbrachen, würde sie das klären müssen.
Narissa durchquerte mit langsamen Schritten das Lager, und stieg auf die Spitze der Düne hinauf, auf der Aerien noch immer saß. Sie setzte sich neben sie, und stupste Aerien sanft gegen die Schulter.
"He", sagte sie zaghaft. "Es tut mir Leid, was ich vorhin gesagt habe. Ich weiß ja, dass ihr euch nur Sorgen um mich macht, also... kannst du mir verzeihen?"
"Warum?", fragte Aerien, und blickte stur geradeaus. "Du hast mir sehr klar gemacht, dass du mich nicht dabei haben willst."
"Das war doch nicht so gemeint", erwiderte Narissa, und zog mit ihrem Zeigefinger schmale Linien durch den festen Sand. "Ich... Du bist meine Freundin. Meine einzige wirkliche. Natürlich möchte ich dich dabei haben."
"Wirklich", sagte Aerien, und ihre Stimme klang bitter. Als sie Narissa das Gesicht zuwandte, erschrak diese vor der Härte ihres Gesichtsausdrucks. "Und ich dachte, du sähest mich am liebsten wieder in Mordor." Das lief kein bisschen so, wie Narissa es sich vorgestellt hatte, und Aeriens Sturheit machte sie zornig.
"Ja, vielleicht tue..." Sie unterbrach sich als sie bemerkte, was sie da sagte, und blickte beschämt zu Boden. "Tut mir leid, ich wollte nicht. Beim Baum des Königs, ich bin wirklich schlecht im Entschuldigen."
"Allerdings", erwiderte Aerien, doch ihre Stimme klang nicht mehr so kalt wie zuvor, und als Narissa aufsah erkannte sie, dass die Härte aus dem Gesicht ihrer Freundin gewichen war. "Ich hoffe, dass du nicht mehr allzu oft Gelegenheit bekommst, es zu üben."
"Das hoffe ich auch", meinte Narissa, und lächelte zaghaft. "Ich werde das Wort Mordor nicht mehr in den Mund nehmen - jedenfalls nicht in dem Zusammenhang. Für mich kommst du nicht mehr aus Mordor, sondern aus dem Westen."
Einen Augenblick schwiegen beide, und sahen beide gedankenverloren in Richtung Qafsah. Dann stieß Aerien Narissa plötzlich mit der Schulter an und fragte: "Narissa?"
"Hm?"
"Es tut mir leid, dass ich dich eine Ziege genannt habe."
Narissa musste unwillkürlich grinsen. "Ich hatte es schon fast wieder vergessen", sagte sie. "Und außerdem... vielleicht hätte ich mir noch viel schlimmere Namen gegeben, an deiner Stelle."
"Hmm...", machte Aerien, und fragte dann: "Du wirst dich wirklich nicht davon abbringen lassen, oder?"
Narissa schüttelte den Kopf. "Nein. Ich werde alles tun, was notwendig ist um meiner Mutter zu helfen." Sie begrub die Zweifel erneut tief unter einem Berg der Entschlossenheit.
"Dann hatte ich zumindest mit dem stur recht", sagte Aerien, und ihr Mundwinkel zuckten. "Und ich werde nicht mehr versuchen, dich aufzuhalten... sondern stattdessen zusehen, dass du wenigstens überlebst."
Narissa öffnete den Mund, doch im selben Moment sprach hinter ihnen Serelloth aus, was sie selbst sagen wollte: "Dann kann ja nichts mehr schief gehen."
Aerien und Narissa fuhren herum, und Aerien funkelte das Mädchen böse an. "Hast du gelauscht?"
Serelloth zuckte mit den Schultern. "Nur das Ende. Níthrar schickt mich, wir wollen aufbrechen - und ihr wart so ins Gespräch vertieft, dass ich nicht anders konnte." Narissa kam auf die Füße und streckte Aerien die Hand entgegen, die diese ohne zu zögern ergriff. "Es wurde allerdings auch Zeit, dass ihr fertig werdet", redete Serelloth munter weiter.
"Also dann... auf nach Qafsah", sagte Narissa, als Aerien ebenfalls aufgestanden war, und diese erwiderte etwas weniger enthusiastisch: "Auf nach Qafsah."
Während sie die Düne hinabgingen, hörte Narissa Serelloth leise zu Aerien sagen: "Hast du sie wirklich eine Ziege genannt?"

Narissa, Aerien, Níthrar, Serelloth und Elendar nach Qafsah

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