Narissa tauchte aus dem dunklen Wasser auf und schüttelte sich die nassen Haare aus dem Gesicht. "Ich habe den Eingang gefunden", sagte sie zu Edrahil, der nur wenig entfernt auf seinen Stock gestützt am Ufer stand. Aus Richtung der Stadt der Wind erste Kampfgeräusche heran - der Angriff hatte begonnen.
Edrahil nickte knapp. "Dann wird es Zeit." Narissa schwamm ein paar Züge in seine Richtung und stieg dann die flache Uferböschung hinauf. Sie trug nur Hemd und Hose, keine Schuhe, die sie womöglich beim Tauchen behindern würden. Edrahil reichte ihr das Bündel, in das sie ihre Dolche eingewickelt hatte, und sie befestigte es am Bund ihrer Hose. Sie atmete tief durch, sog noch einmal die sich abkühlende Abendluft ein.
"Nicht mein letzter Atemzug, hoffe ich...", murmelte sie vor sich hin, nervöser als ihr lieb war. Sie hatte sich bereits wieder dem Wasser zugewandt, als sie Edrahils Hand auf ihrer nassen Schulter spürte. "Wenn dieser Ifan die Wahrheit gesagt hat und selbst bereits durch diesen Tunnel gekommen ist, wirst du es auch schaffen."
"Ja... wenn", erwiderte Narissa leise. "Aber was, wenn er doch gelogen hat? Was, wenn..." Edrahils Hand schloss sich enger um ihre Schulter. "Für Zweifel ist es zu spät", sagte er mit untypisch sanfter Stimme. "Du wirst es schaffen, denn du
willst es schaffen."
Er hatte Recht. Sie wollte es schaffen, Qafsah von der Herrschaft Sûladans zu befreien, sie wollte Rache für ihre Eltern, ihren Großvater, ihre Heimat - und sie wollte am Ende zu Aerien zurückkehren. Also würde sie wohl überleben müssen. Offenbar hatte Edrahil ihre zurückgekehrte Entschlossenheit gespürt, denn er drückte noch einmal ihre Schulter und ließ sie dann los. "Also los. Wir sehen uns spätestens bei Sonnenaufgang."
Ohne zu antworten, denn sie traute ihrer Stimme nicht ganz, ging Narissa zurück ins Wasser, und schwamm langsam ans nordöstliche Ende des Sees. Mit einem letzten Blick zu Himmel, an dem sich dunkle Wolken vor die ersten Sterne geschoben hatten, holte sie tief Atem und tauchte unter.
Der Tunneleingang befand sich ungefähr einen Meter unter der Wasseroberfläche. Dichte Wasserpflanzen verdeckten die Öffnung, weshalb es Narissa einige Zeit gekostet hatte, sie zu finden. Als sie hindurch tauchte, strichen die Blätter weich über ihr Gesicht - beinahe fühlte es sich an wie eine Liebkosung. Und dann war sie im Tunnel. Schon kurz hinter dem Eingang war es zu dunkel um auch nur die Hand vor den Augen zu sehen, doch verirren würde sie sich wohl nicht. Glücklicherweise waren die Wände so weit auseinander, dass sie ihre Arme bewegen nach vorne und hinten bewegen konnte, um sich voran zu ziehen. Ein Zug, zwei Züge, drei Züge... Noch hatte sie ausreichend Luft in ihren Lungen um sich konzentriert und zügig vorzuarbeiten. Doch der Tunnel endete nicht. Allmählich Narissas Brust zu schmerzen, und noch immer befand sie sich in tiefster Dunkelheit, nur Wasser um sich herum und dann meterdickes Erdreich über ihrem Kopf. Sie arbeitete sich weiter vor, und allmählich wurde jeder Zug mühsamer und mühsamer. War sie überhaupt schon unter den Mauern hindurch? Wie lange war sie schon in diesem Tunnel? Ihr Zeitgefühl schien sich aufzulösen, jeder Moment dehnte sich zur Unendlichkeit aus... Sie wünschte nichts mehr, als zu atmen, frische Luft in den Lungen zu spüren...
Vor ihren Augen begann ein Licht zu flackern und Narissa wusste, dass es das Ende sein würde.
Sechs Jahre zuvor..."Noch einmal", rief ihr Großvater ihr vom Strand zu, während Narissa sich erschöpft über den Wellen hielt. Ihre Augen brannten vom Salzwasser, und sie hatte mehr davon verschluckt als ihr lieb war. Sie schüttelte den Kopf, und schwamm langsam zurück an den Strand, wo sie schließlich einfach im weißen Sand liegen blieb, die Beine noch halb im Wasser.
Hador packte sie an den Armen und zog sie unsanft auf die Füße. "Noch einmal, habe ich gesagt." Narissa hustete, und spuckte ein wenig Salzwasser in den Sand.
"Ich kann nicht", erwiderte sie. "Ich werde das nie schaffen." Ihr Großvater schüttelte den Kopf. "Nicht mit dieser Einstellung. Als
ich siebzehn Jahre alt war, bin ich die Strecke dreimal hin und her getaucht, ohne einmal aufzutauchen."
Narissa schnaubte verächtlich. "Unsinn. Kein Mensch schafft das."
Die harten Gesichtszüge ihres Großvaters wurden ein wenig weicher, als er sagte: "Vielleicht habe ich etwas übertrieben. Aber..."
"Wozu muss ich überhaupt so gut schwimmen und tauchen lernen?", fiel Narissa ihm ins Wort. "So viel Wasser gibt es in Harad doch gar nicht. Ich würde lieber wieder klettern trainieren - oder fechten."
Hador seufzte. Er ließ sich hin den sonnengewärmten Sand nieder, und Narissa tat es ihm dankbar gleich. "Richtig, viel Wasser gibt es in Harad nicht. Aber... es gibt Gegenden an den Küsten, in denen du zum Einsatz kommen könntest. Umbar zum Beispiel. Und auch im Inland gibt es Flüsse, Seen... eine Gelegenheit, zu der diese Fähigkeiten wichtiger sind als Laufen, Klettern, Springen und so weiter, kommt schneller als du denken magst."
Narissa zog mit dem rechten Zeh Kreise in den Sand, und biss sich auf die Unterlippe. "Aber ich werde niemals so weit tauchen können ohne zu ertrinken. Das ist unmöglich." Sie blickte hinaus aufs Wasser, wo Anfang und Ende Strecke durch zwei mit Seilen auf dem Meeresgrund befestigten Holzfässern markiert waren.
"Nicht unmöglich", erwiderte ihr Großvater. "Aber an der Grenze des Möglichen, soweit hast du Recht. Nicht ohne Grund ist das der letzte Test."
"Und wie hast du es dann geschafft? Und Elendar?" Insgeheim ärgerte sie sich, dass der ein paar Jahre ältere Elendar, Sohn ihres Lehrers Yulan, diese Probe zwei Jahre zuvor mit Leichtigkeit bestanden hatte.
Hador lächelte. "Endlich stellst du die richtige Frage. Das wichtigste ist, ruhig zu bleiben. Entspannt. Auch wenn sich deine Lungen anfühlen, als würden sie bersten. Auch wenn jede Faser deines Körpers nach Sauerstoff schreit - die Grenze liegt weiter entfernt, als dein Körper dir glauben machen will."
Narissa entspannte sich, verdrängte die aufkeimende Panik, und machte noch einen Zug. Noch einen... der Tunnel, der bislang leicht abwärts geführt hatte, machte eine sanfte Biegung nach oben. Ein dritter, kräftiger Zug, und Narissa durchbrach die Wasseroberfläche. Sofort atmete sie tief ein, füllte ihre Lungen mit abgestandener Luft, die ihr dennoch köstlicher erschien als jede Speise oder jedes Getränk, dass sie je gekostet hatte.
Als die Schmerzen in ihrer Brust und der Druck auf den Schläfen ein wenig nachgelassen hatten, versuchte Narissa sich ein wenig Orientierung zu verschaffen. Sie trieb in einem ausgedehnten Wasserbecken, von dem aus in mehrere Richtungen weitere Wasserleitungen abgingen. Über das Becken führte in der Mitte, fast genau über ihrem Kopf, eine Brücke, auf der eine einzelne Laterne stand - das musste das Licht sein, dass sie bereits im Tunnel gesehen hatte. Neben der Laterne saß ein graubärtiger Mann in der Rüstung von Qafsahs Wache, den Kopf auf der Brust, und... schnarchte leise.
Vorsichtig, um nicht zu viel Lärm zu machen, zog Narissa sich am Rand des Wasserbeckens hoch, und blieb dann ein wenig unentschlossen stehen. Sie musste sich irgendwo unter Qafsah befinden - dies hier war offenbar der Wasserspeicher der Stadt. Die Decke war niedrig, und alles war aus dem gelben Stein, aus dem ein Großteil Qafsahs bestand, gepflastert. Für einen Augenblick überlegte sie, den schlafenden Wächter mit einem gezielten Dolchstoß ins Jenseits zu befördern... oder ihn einfach zu ignorieren und sich davonzuschleichen. Doch soweit sie im schwachen Licht der Laterne sehen konnte, gab es mehrere Wege aus der Halle hinaus. Und sie hatte keine Zeit den richtigen zu suchen. Also schlich sie sich leise an den Wachmann heran, und flüsterte ihm von hinten ins Ohr: "Zeit zum Aufstehen."
Der Mann erwachte ruckartig und wäre beinahe vor Schreck von der Brückenkante ins Wasser gestürzt, wenn Narissa ihn nicht festgehalten und ihm eine Dolchklinge an die Kehle gesetzt hätte.
"Wer... was... wie?", stieß der Wächter stammelnd hervor, hielt aber still und versuchte nicht, sich aus Narissas Griff zu befreien. "Unwichtig", gab sie zurück. "Viel wichtiger ist die Frage - welcher weg führt von hier aus zum Palast?"
"Z-z-zum Palast? W-w-wieso..." Narissa unterbrach ihn, indem sie ihre Klinge ein wenig fester gegen seine Kehle drückte.
Der Wächte schluckte heftig. Auf seiner Stirn sammelten sich Schweißtropfen. "Die größte Leitung, am anderen Ende des Beckens. A-a-aber da ist ein Gitter."
Narissa stieß einen Fluchaus, den sie einst von einem Händler aus Rhûn gelernt hatte, und dessen Bedeutung ihr allenfalls vage bekannt war. "Ein Gitter? Seit wann."
"Seit... seit etwa zwanzig Jahren. K-kurz nachdem der Sultan das Erbe seines Vaters angetreten hatte."
Narissa dachte nach. Das passte mit dem zusammen, was Ifan ihr berichtet hatte - offenbar hatte Sûladan nicht dasselbe Schicksal wie sein Vater und seine Brüder erleiden wollen, und diese Hintertür zum Palast versperr. Blieb nur die Frage, warum er nicht auch den Eingang von der Oase aus versperrt hatte... aber vielleicht hatte er keine Aufmerksamkeit auf diesen Tunnel lenken wollen.
"Na schön", sagte sie schließlich. "Wo geht es hier raus?"
Der Wächter deutete vorsichtig in eine dunkle Ecke am anderen Ende der Halle. "Dort ist eine Tür und dann eine Treppe nach draußen. Aber die Tür ist verschlossen auf Befehl des Sultans."
"Ich nehme an, du hast einen Schlüssel?" Der Mann begann zu nicken, hörte aber sehr schnell wieder auf als die Dolchklinge über seine Haut schabte. "Ja, ja. An meinem Gürtel."
Mit ihrer freien Hand tastete Narissa nach dem Schlüssel, und löste ihn mit einer geschickten Bewegung vom Gürtel ab. "Ich will dich nicht töten", sagte sie schließlich leise. "Aber ich kann mir auch nicht leisten, dass du jemanden warnst. Also..."
"I-ich werde niemandem etwas sagen! Ich schwöre es. Ich schwöre!"
"Darauf kann ich mich nicht verlassen", erwiderte sie, nahm aber die Klinge von seinem Hals - um ihm anschließend mit dem metallenen Knauf einen Hieb gegen die Schläfe zu versetzen. Sie löste den Gürtel des Bewusstlosen und fesselte ihm damit die Hände auf dem Rücken aneinander.
"Schlaf nur weiter...", murmelte sie dabei vor sich hin. "Ich hoffe ich denke daran, dich hinterher hier rausholen zu lassen..."
Sie nahm die Laterne, und folgte in ihrem schwachen, flackernden Licht dem Beckenrand, bis sie am gegenüberliegenden Ende angekommen war. Von hier aus führte ein schmaler Kanal weiter, dessen Eingang jedoch durch massive Gitterstäbe versperrt wurde. Der Mann hatte die Wahrheit gesagt - hier würde es kein Durchkommen geben. Narissa kämpfte einen Anflug Verzweiflung nieder. Noch war ihre Mission nicht gescheitert. Sie wandte sich vom Gitter ab, und stieg stattdessen die Treppe hinauf in die Stadt.
Narissa nach Qafsah