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Autor Thema: Die Mehu-Wüste  (Gelesen 17189 mal)

Fine

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Die Mehu-Wüste
« am: 28. Jan 2017, 22:31 »
Narissa und Aerien von der Burg des Silbernen Bogens


Sie waren bei Sonnenaufgang aufgebrochen und ritten nun durch die Mehu-Wüste, die sich im Gebiet südlich von Umbar erstreckte. Eayan hatte ihnen genug Vorräte mitgegeben und ihnen gesagt, dass der Silberne Bogen ihnen so bald es möglich war zur Insel folgen würde. Karab und Grauwind trabten durch die felsige, baumlose Landschaft und die Sonne, die hoch am Himmel stand, wärmte das Land so sehr auf, dass die Luft in der Ferne geradezu zu flimmern schien. Aerien war froh, dass Narissa wusste, wohin sie reiten mussten. Während des Rittes erzählte ihre Freundin ihr, dass dieses Gebiet vor vielen Jahren unter der Herrschaft des Reiches der Turmherren gestanden hatte.
"Einst dehnte sich das Reich von Tol Thelyn bis nach Ain Salah aus," erzählte Narissa eifrig. "Damals stand dort eine starke Grenzfestung, die Sarn Amrun geheißen hatte."
"Ich wusste nicht, dass deine Vorfahren über ein so großes Reich geherrscht haben," sagte Aerien. "Ich dachte, hätten eher im Verborgenen, und von der Insel aus agiert."
"Das war erst nach dem Tod von Beorn I. der Fall," fuhr Narissa fort. "Damals wurde die Insel erobert und die Thelynrim flohen nach Gondor. Doch sie kehrten zurück und bauten den Turm wieder auf."
"Und wenn die Gerüchte stimmen, geschieht nun dasselbe," antwortete Aerien aufmunternd. "Ich bin mir sicher, deine Verwandten haben die Insel bereits wieder unter ihrer Kontrolle und gegen erneute Angriffe gesichert." Sie wusste, dass Narissa in der Hinsicht so ihre Zweifel hatte, und auch Aerien war sich nicht sicher, was sie auf Tol Thelyn wirklich finden würden. Doch sie spürte, dass ermutigende und hoffnungsvolle Worte genau das waren, was Narissa gerade brauchte.

Nach einem Tagesritt in einer geraden Linie nach Westen schlugen sie ihr Nachtlager in einer kleinen, versteckten Senke zwischen zwei großen Felsen auf. Sie reisten vorsichtig und abseits der Straße, jedoch ohne große Umwege in Kauf zu nehmen. Sie hatten genug Vorräte, um nicht auf Dörfer oder Städte angewiesen zu sein, und wenn es nach Aerien ging, wäre es ihr am liebsten, auf der Reise zur Insel auf keine anderen Reisenden zu treffen. Dann würde sie Narissa nämlich ganz für sich alleine haben.
Aufgrund von Narissas Vorsichtigkeit entzündeten sie kein Feuer. Und obwohl Narissa sie gewarnt hatte, dass es in der Wüste nachts sehr, sehr kalt werden konnte, fror Aerien unter der leichten Decke, die sie aus der Burg des Silbernen Bogens mitgebracht hatte. Narissa stand neben ihr und betrachtete sie einen langen Moment. "Soll ich dich wärmen, du zitternder, frierender Eiszapfen?" neckte sie.
Aerien schob schmollend die Unterlippe vor. "Das hast du doch von Anfang an so geplant."
"Schon möglich," antwortete Narissa grinsend und ging neben Aerien in die Hocke. "Also, wie entscheidest du dich?"
Anstatt einer Antwort schlang Aerien die frierenden Arme um sie und zog sie in eine enge Umarmung. Und so schliefen sie schließlich ein, aneinander gekuschelt und einander wärmend.

Am nächsten Morgen stand Aerien früh auf. Die Pferde waren nicht angebunden worden und streiften in der Nähe das Schlaflagers auf der Suche nach vereinzelt wachsendem Gras oder kleineren Pflanzen umher, hatten sich jedoch nicht allzu weit entfernt. Nachdenklich folgte Aerien Grauwinds Spuren und kam wenige Schritte später neben dem Tier zum Stehen, das anscheinend auf sie gewartet hatte. Sie strich sanft über Grauwinds Flanke und ließ die Hand durch seine Mähne gleiten.
"Manchmal frage ich mich, was uns wohl noch alles erwarten wird," sagte sie leise. "Und manchmal wünsche ich mir, du könntest mir einen weisen Rat geben. Du hast bestimmt schon viel gesehen und erlebt."
"Soweit ich weiß, war er noch nie verliebt," erklang Narissas Stimme hinter ihr, und Aerien drehte sich um. "Haben du und Grauwind etwa Geheimnisse vor mir?"
"Vielleicht," antwortete Aerien lächelnd. Als Narissa näher kam ergriff Aerien ihre Hand. "Wir sind beide der Meinung, dass du eindeutig hübscher bist, als es erlaubt sein sollte."
"Dasselbe könnte ich von dir sagen," antwortete Narissa mit geröteten Wangen. Dann küsste sie ihre Freundin lange und innig.

Bei Sonnenuntergang entdeckten sie in der Ferne eine große Schar von Reitern, die zu ihrer Linken in nordwestliche Richtung ritten. Aerien und Narissa spornten ihre Pferde zum Galopp an, um außer Sichtweite zu kommen.
"Das müssen Ta-mehu-Krieger gewesen sein," stellte Narissa fest.
"Auf wessen Seite stehen sie?" fragte Aerien und sah sich vorsichtig um, doch bislang waren keine weiteren Reiter aufgetaucht.
"Ich glaube, einer ihrer Fürsten oder Anführer war in Ain Séfra und schwor Qúsay beim Majles die Treue," rief sich Narissa die Ereignisse von damals in Erinnerung. "Ich habe damals nicht sonderlich gut aufgepasst, muss ich gesehen. Ich habe hauptsächlich auf Qúsay selbst geachtet."
"So gut sah er nun auch wieder nicht aus," neckte Aerien, was dazu führte, dass Narissa gefährlich nach an sie heranritt und ihr mit der Faust drohte. Doch sie lächelte ganz entzückend dabei, wie Aerien fand. "Ich muss aber zugeben, dass ihm die Augenklappe ein kampfgestähltes und gefährlich wirkendes Äußeres verleiht," fügte sie hinzu und duckte sich unter dem Schlag hinweg, den Narissa den Worten folgen ließ.
"Wenn er dir so gut gefällt, warum bist du dann nicht gleich in Ain Séfra geblieben?" gab Narissa spitz zurück. "Qúsay hätte bestimmt einen Platz für dich unter seinen Nebenfrauen gefunden."
"Er hat mehr als eine Frau?" wiederholte Aerien ungläubig. "Das stelle ich mir... anstrengend vor."
"Das ist hier in Harad bei einigen Stämmen so üblich," sagte Narissa achselzuckend. Aerien stellte sich für einen Moment vor, wie es wohl wäre, mit zwei Narissas befreundet zu sein, doch sie verwarf den Gedanken beinahe sofort wieder.
"Du bist genug für mich," stellte sie verliebt klar.

Einen Tag später zeigte Narissa nach rechts, während sie weiter durch die Wüste ritten. "Wenn wir jetzt hier abbiegen und dann geradeaus weiter nach Norden reiten, kommen wir nach Umbar. Ich frage mich, ob Edrahil sich dort noch aufhält."
"Vielleicht könnten wir uns die Stadt ansehen, wenn uns die Insel eines Tages zu klein geworden ist," schlug Aerien im Plauderton vor. "Ich habe Verwandte in der Stadt, die vielleicht noch nichts von meiner Flucht aus Mordor wissen."
"Umbar ist kein gutes Pflaster," eriwderte Narissa. "Dort herrscht Hasael, Qúsays unangenehmer Onkel. Das ist ein ganz übler Zeitgenosse, kann ich dir sagen."
"Bist du ihm etwa schon begegnet?" fragte Aerien.
"Nein, nicht persönlich," antwortete Narissa. "Aber Krieger aus seinem Stamm waren beim Angriff auf die Insel dabei. Das reicht mir schon als Grund, ihn nicht ausstehen zu können."
"Kann ich verstehen," meinte Aerien. "Also streiche ich Umbar von der Liste unserer zukünftigen Reiseziele."
"Es gibt noch viele andere schöne Orte in Mittelerde, die wir bereisen könnten," sagte Narissa. "Wenn all das vorbei ist - der Krieg, die Bedrohung durch Sauron, all das - dann sehen wir sie uns alle einen nach dem anderen an. Stell dir nur vor: die verwunschenen Wälder der Elben und die tiefen Hallen der Zwerge, sie stehen uns offen. Wir müssen nur hingehen."
"Und die Reiche der Dúnedain des Westens," schwärmte Aerien. "Ich muss dir die Weiße Stadt zeigen, Narissa. Und nach Dol Amroth möchte ich auch gerne gehen und in das Nordreich von Arnor, und..."
"Eines nach dem Anderen," unterbrach Narissa lachend. "Wir sind jung. Wir haben noch so viel Zeit."
"Ja," stimmte Aerien zu. "Wir beide, gemeinsam auf großer Reise. Nur du und ich."
"Nur du und ich," wiederholte Narissa leise.

Die Wüste zog an ihnen vorbei und veränderte sich dabei nur so geringfügug, dass es Aerien so vorkam, als kämen sie überhaupt nicht vom Fleck. Doch je weiter sie nach Westen kamen, desto bekannter kam Narissa die Gegend offensichtlich vor, denn immer öfter endeckte sie Stellen, die sie bereits während ihrer Ausbildung auf der Insel besucht hatte. "Jetzt ist es nicht mehr weit - vielleicht noch einen Tagesritt, und wir stehen am Ufer des großen West-Meeres, Aerien," sagte Narissa aufgeregt als sie unter einem überstehenden Felsen Schutz vor der Mittagssonne suchten. "Und dann bringe ich dich auf die Insel."
Da fiel Aerien auf, dass sie noch gar nicht darüber gesprochen hatte, wie genau die Überfahrt auf die Insel erfolgen würde. Sie hatte in ihrem Leben noch kein einziges Schiff zu Gesicht bekommen und konnte sich kaum vorstellen, wie hölzerne, schwere Konstruktionen einfach so über die Weiten des Meeres fahren konnten, ohne unterzugehen. Doch sie vertraute Narissa, und darauf, dass ihre Freundin einen Plan hatte, sie sicher über die Wellen und bis nach Tol Thelyn zu bringen. Also schluckte sie ihre Zweifel hinunter und ließ die frohe Aufregung zu, die in ihrem Inneren mehr und mehr anwuchs. Und dann, am Abend des nächsten Tages, war es schließlich soweit. Vor ihnen tauchte ein breites, blaues Band am Horizont, das Aerien zuerst an den Harduin erinnerte. Doch dann führten sie ihre Pferde an die Spitze einer flachen Düne, die oberhalb eines breiten Strandes lag, und ihnen den Anblick des Meeres in seiner ganzen majestätischen Pracht bot.

Aerien blieb schweigend auf Karabs Rücken sitzen und nahm den Eindruck viele lange Minuten in sich auf. Schließlich stieg sie ab, ließ Narissa sowie die Pferde wortlos stehen, und ging auf das Ufer zu, einen Schritt nach dem anderen in den weichen Sand setzend. Noch immer hatte sie kein Wort gesprochen. Das Rauschen der Wellen wurde lauter, und ein frischer Wind blies ihr ins Gesicht. Schwarze Haarsträhnen wirbelten um ihre Ohren, doch Aerien achtete nicht darauf. Kurz vor dem Punkt, an dem die Wellen ihren Ansturm gegen das Festland aufgaben und zurück in die endlosen Weiten Belegaers flossen, sank Aerien auf die Knie, überwältigt von all dem, was sich ihr hier auf einmal bot.
Eine sanfte Hand legte sich auf ihren Rücken, und Narissa strich ihr zärtlich über die Schulter, durchs Haar, über die Wange.
"So viel Wasser," flüsterte Aerien. "Ich habe... davon gelesen, aber... es ist... "
"Umwerfend, nicht wahr?" sagte Narissa und hockte sich neben sie, den Arm um Aeriens Taille gelegt. "Und wir sind genau rechtzeitig angekommen."
Aerien hob den Blick und sah die Sonne im fernen Westen ihre roten und goldenen Strahlen über die spiegelnde Wasseroberfläche werfen, während sie tiefer und tiefer sank. Es war der schönste Anblick, den sie sich in diesem Moment vorstellen konnte.
So saßen sie am Strand und teilten diesen unglaublichen Augenblick miteinander, und Aerien wünschte sich nichts sehnlicher, als dass er niemals vergehen würde.
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Eandril

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Re: Die Mehu-Wüste
« Antwort #1 am: 28. Jan 2017, 23:53 »
Sie schlugen ihr Nachtlager am Fuß einer Düne auf, mit Blick auf das Meer. Narissa machte es sich unter ihrer Decke gemütlich, und sagte zu Aerien, die sich noch immer kaum gerührt hatte und auf das nächtliche Meer hinausblickte: "Wenn du es die ganze Nacht anstarrst, wirst du morgen vom Pferd fallen."
Erst einen Moment später reagierte Aerien, als ob die Worte erst langsam zu ihr durchdrangen: "Ich weiß. Es ist nur so... so..." Narissa schwieg einen Augenblick, und sah stumm zu den Sternen über ihr empor. Der Mond stieg langsam am Himmel hinauf, und zeichnete eine silbrige Spur auf das sanft bewegte Wasser. Auch wenn Narissa das Meer liebte, so wie Aerien jetzt hatte sie es nie empfunden - als sie das erste Mal an die Küste gekommen war, war sie halbtot gewesen. Und ein als zehnjähriges Mädchen, dass gerade ihre Mutter, ihren Vater und ihre gesamte bekannte Welt verloren hatte, hatte sie sich für die erste Zeit auf der Insel für nichts interessiert. Als sie Schock und Trauer schließlich überwunden hatte, hatte sie sich bereits an die Gegenwart der See gewöhnt, und dennoch ging ihre Liebe dazu sehr tief. Das Geräusch der Wellen, die sanft gegen das Festland stießen beruhigte sie, und gab ihr immer das Gefühl, zu Hause zu sein.
"Du hast nicht zu viel versprochen", sagte Aerien irgendwann leise, und Narissa musste lächeln. "Und du hast noch längst nicht alles gesehen", erwiderte sie. "Das Meer ist... so vielfältig und geheimnisvoll wie alles an Land." Ihr kam ein Gedanke, und sie musste leise lachen. "Ich weiß, warum es dir so sehr gefällt."
Aerien riss den Blick vom Meer los, und blickte sie verwirrt an. "Na, dein Name", erklärte Narissa. "Aerien - Meerestochter. Also wenn man so will, ist das Meer deine Mutter - oder dein Vater? Hmmm..."
Aerien streckte sich neben ihr aus, und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. "Vielleicht war es Schicksal, dass ich irgendwann ans Meer komme - aber ich bin froh, dass es auf diese Weise ist, und nicht an der Spitze eines Heeres aus Mordor."

Früh am nächsten Morgen brachen sie auf, und Aerien gähnte herzhaft als Karab sich in Bewegung setzte. "Ich hatte dich ja gewarnt", sagte Narissa mit gespieltem Vorwurf. "Ja ja", erwiderte Aerien unwillig, und ihr Blick wurde erneut vom Meer angezogen. Am Morgen hatte ein frischer Wind Wolken aus dem Westen herangetrieben, und das heute deutlich unruhigere Wasser wirkte beinahe grau. "Es sieht heute ganz anders aus als gestern", meinte Aerien, und Narissa musste über ihre Verwunderung lachen. "Ich habe dir ja gesagt, dass es vielfältig ist", gab sie zurück, und stieß Grauwind sanft die Hacken in die Flanken.

Sie folgten der Küste einige Meilen nach Süden, wobei sie zwei Fischerdörfer umgehen mussten. Eigentlich waren sie nah genug an Tol Thelyn, dass die Bewohner ihren freundlich gesonnen wären, doch bevor Narissa nicht genau wusste, was auf der Insel vor sich ging, wollte sie kein Risiko eingehen. Schließlich, hinter dem zweiten Dorf, kam ein grüner Fleck ein Stück vor der Küste in Sicht als sie die Spitze einer Düne erreichten.  "Ist das...", fragte Aerien, und Narissa antwortete: "Ja." Der Anblick verursachte ihr einen Kloß im Hals, und sie schluckte mühsam. "Tol Thelyn, die Weiße Insel - mein Zuhause." Über ein Jahr war es her, dass sie in einer Nacht von Feuer und Tod von dort geflohen war, und sie hatte Angst vor dem, was sie finden könnte.
"Es sieht sehr friedlich aus", sagte Aerien nachdenklich. "Lass uns hoffen, dass dieser Eindruck nicht trügt", erwiderte Narissa, bevor sie ihren Weg fortsetzten.

Schließlich trennte sie von der Insel nur noch ein nicht ganz zwei Meilen breiter Streifen Wasser. Die Wolken aus dem Westen waren langsam vorbeigezogen, und die Sonne schien immer öfter durch, als sie sich einem kleinen Wäldchen am Ufer des Meeres näherten, durch das ein kleiner Bach floss in dessen Mündung früher immer einige bewachte Boote versteckt gewesen waren. Gerade als sie am Rand des Wäldchens anhielten und absaßen kam sie Sonne hinter einer der letzten Wolken hervor, und auf der Insel blitzte etwas weißes in ihrem Schein auf. "Sieh nur", sagte Narissa, und deutete in die Richtung. "Das ist der Turm, der dort in der Sonne aufleuchtet."
"Er ist weiß...", sagte Aerien langsam, und Narissa warf ihr einen belustigten Blick zu. "Natürlich ist er das. Ich habe dir doch erzählt, dass..." Aerien jedoch ließ sich nicht beirren, und unterbrach sie: "Du hast erzählt, dass er gebrannt hat. Und Rauch schwärzt Steine, weshalb er eigentlich..."
"... nicht weiß sein dürfte", beendete Narissa den Satz, und spürte ihr Herz schneller schlagen.
Im selben Augenblick erklang eine Stimme zwischen den Bäumen: "Werft eure Waffen weg und dreht euch mit dem Rücken zu mir. Sofort." Aeriens Hand fuhr augenblicklich zu Lóminzagars Griff, doch Narissa grinste, stemmte die Hände in die Hüften, und wandte sich der Stimme zu. "Verdammt, Langlas. Begrüßt man so die verlorene Tochter der Insel?"
Für einen Moment lang herrschte Stille, und Narissa nickte Aerien, die die Hand wieder vom Schwertgriff genommen hatte, aufmunternd zu. Dann traten zwei bewaffnete Männer zwischen den Bäumen hervor, die ihre Verwunderung deutlich zeigten.
"Narissa?", fragte der eine, der deutlich númenorische Züge trug. "Wir hatten gehört, dass du noch lebst, aber wir wussten nicht..."
"... dass ich einfach so hier auftauche", beendete Narissa grinsend den Satz für ihn. "Woher auch. Es ist jedenfalls gut, dich zu sehen." Sie nickte auch dem anderen Mann, der mit seinen dunklen Augen und brauner Haut haradischer Abstammung war, zu. "Und dich ebenfalls, Yinsen. Wenn ihr beide hier seid... heißt das, dass die Thoroval entkommen konnte?" Beide Männer hatten zur Besatzung des kleineren Schiffes der Turmherren gehört, dessen Kapitän Hallatan gerüchteweise einst einer der Bewerber um die Hand ihrer Mutter gewesen war.
Langlas nickte zustimmend, und antwortete: "Ja, einige von uns konnten entkommen - und mehr noch sind zurückgekehrt. Du wirst es sehen."
Narissa lächelte noch breiter, und hieb tatsächlich mit der Faust durch die Luft, worauf Grauwind erschreckt schnaubte. "Ich wusste es", stieß sie hervor, doch auf Aeriens Blick hin verbesserte sie sich: "Na gut, ich habe es gehofft, seit wir die Gerüchte gehört haben. Könnt ihr uns übersetzen?"
Langlas nickte erneut. "Yinsen wird eure Pferde versorgen, und ich bringe euch zur Insel hinüber." Während sie ihm zwischen den Bäumen hindurch zur Mündung des kleinen Baches folgten, flüsterte Aerien Narissa zu: "Du hast nur gehofft, weil ich dich am Zweifeln gehindert habe." "Das ist wohl wahr", erwiderte Narissa eben so leise, und versetzte ihr einen heimlichen Kuss auf die Wange, bevor sie die Boote erreichten.
Narissa kletterte hinter Langlas, der die Ruder einlegte, an Bord, und fragte: "Kein Segel?"
Langlas schüttelte den Kopf. "Nein, die meisten sind drüben. Im Augenblick herrscht nicht viel Kommen und Gehen, und wir wollen hier möglichst wenig Aufmerksamkeit erregen."
Aerien, die unsicher neben dem Boot stehen geblieben war, fragte: "Seid ihr sicher, dass diese... Schale uns tragen wir?" "Natürlich", erwiderte Narissa. "Wie wolltest du sonst hinüberkommen?" Erst jetzt wurde ihr klar, dass jemand der in Mordor aufgewachsen war, vermutlich auch nie das Schwimmen gelernt hatte. "Wenn du reinfällst springe ich hinterher und rette dich. Also keine Sorge - du könntest höchstens ein wenig seekrank werden", fügte sie mit einem Augenzwinkern hinzu, und Aerien kletterte noch immer ein wenig unsicher ins Boot. Doch an ihren Augen erkannte Narissa, dass Aerien keineswegs Angst vor diesem Abenteuer hatte.
"Also dann - Leinen los!"

Narissa und Aerien nach Tol Thelyn


« Letzte Änderung: 29. Jan 2017, 14:44 von Fine »

Oronêl - Edrahil - Hilgorn -Narissa - Milva

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Der erste Schritt auf dem Heimweg
« Antwort #2 am: 15. Feb 2017, 15:19 »
Aerien mit Karnuzîrs Gruppe von Tol Thelyn


Karnuzîr hatte Aerien die Spielregeln auf der vor ihnen liegenden Reise klar und deutlich erklärt. Sie durfte sich frei bewegen, jedoch nie außer Sichtweite geraten. Anweisungen ihres Vetters hatte sie ohne Widerrede zu befolgen. "Wenn du brav bist, werde ich die Gerüchte und die Fakten über deine Flucht aus Mordor als unwahr darstellen und du wirst als Heldin heimkehren. Es wird so aussehen, als hättest du tatsächlich die ganze Zeit über für mich gearbeitet und hättest mir geholfen, entscheidende Informationen zu erlangen."
Aerien hatte sich schnell darauf eingelassen. Sie wusste, dass es dabei um die beste Möglichkeit handelte, den Rest ihres Lebens halbwegs erträglich zu machen. Ihr war klar, dass sie Mordor nie mehr verlassen würde, wenn kein Wunder geschehen würde. Und danach sah es nicht aus. Karnuzîr schien auf alles vorbereitet zu sein. Sie hatten die Insel in einem der Boote verlassen, die die versteckten Wachposten der Turmherren verwendet hatten. Am Ufer hatte eine große Gruppe Reiter bereits auf sie gewartet. Und jetzt preschten sie im hohen Tempo durch die Mehu-Wüste, nach Nordosten, während die Sonne langsam am Horizont versank.

Aerien fühlte sich seltsam. Nun, da ihre Flucht aus Mordor vorbei und gescheitert war, fiel eine gewisse Anspannung von ihr ab, derer sie sich, seitdem sie Narissa kennengelernt hatte, kaum noch bewusst gewesen war. Nun würde sie sich keine Sorgen mehr um Verfolger machen müssen und brauchte nicht mehr wachsam zu sein. Und immerhin würde nun keine Schande auf Azruphel oder ihrer Familie liegen, wenn Karnuzîr sein Versprechen hielt. Das Positive an der Sache zu sehen, half Aerien dabei, den schier endlos tiefen Schmerz in ihrem Herzen zumindest ein wenig abzuschwächen. Ihre Seele schloss alle Gedanken an das, was hätte sein können, und nun für immer zerstört war, kategorisch aus. Es war töricht gewesen, zu hoffen. Zu denken, dass sie den Schatten Mordors wirklich einfach so entkommen konnte. Dass Sauron ihr Leben freigeben würde.
Eines der wenigen Dinge, das noch intakt war, war ihre Leidenschaft für die Erben Númenors. Und während sie ihr Pferd dicht hinter Karnuzîr herlaufen ließ, begann Azruphel, Pläne zu schmieden. Vielleicht würde man ihr zur Belohung für ihre "Verdienste" im Süden erlauben, nach Minas Tirith zu gehen. Sie könnte versuchen, sich zur obersten Aufseherin der Weißen Stadt ernennen zu lassen, mit der Begründung, dass die Talente des Fürsten der Ringgeister an der Front gebraucht wurden. Der Einfluss ihres Vaters würde dafür eventuell ausreichen. Hätte sie diese Position erst erreicht, könnte sie versuchen, das Leben der versklavten Gondorer im besetzten Teil des Reiches angenehmer zu machen. Vielleicht könnte sie sogar die Waldläufer dazu bringen, sich friedlich zu ergeben, wenn sie sahen, wie gut es den Dúnedain Gondors unter Azruphels Herrschaft ging.

Die Reitergruppe hielt an einer Wegkreuzung an, was Azruphels Gedankengänge unterbrach. Rae und Breyyad standen etwas abseits und sprachen leise miteinander, ehe sie zu Karnuzîr herüberkamen.
"Der Krieg läuft nicht gut," sagte Breyyad mürrisch. "Rae und ich werden vorausreiten und uns dem zweiten Heer des Sultans anschließen, das bei Qafsah zusammengezogen wurde nachdem die erste Armee auf Aín Séfra marschierte. Wir werden dort dringender gebraucht als hier."
"Der Weg durch Harondor und Ithilien ist versperrt," fügte Rae hinzu. "Wahrscheinlich wäre es besser, ihr nehmt den längeren Weg - über Khand. Er ist sicherer."
Karnuzîr schien das nicht zu gefallen, doch er sagte: "Es wird meine triumphale Rückkehr etwas verzögern, aber so sei es. Wir reiten also nach Osten weiter."
Rae und Breyyad gaben ihren Pferden die Sporen und preschten in nordöstlicher Richtung davon.
"Also gut, dann werden wir eben einen Umweg machen," sagte ihr Vetter zu Azruphel. "Ursprünglich hatte ich vorgehabt, direkt nach Norden zu reiten... aber sei's drum. Nichts kann mich jetzt noch von meinem Ziel abhalten."
Azruphel erwiderte nichts. Zwar würde sie sich damit abfinden müssen, Karnuzîr fortan jeden Tag ihres Lebens zu ertragen, aber das bedeutete nicht, dass sie sich ihm gegenüber freundlich verhalten musste. Sie vermutete, dass er das auch gar nicht erwartete.
Sie ritten nach Osten weiter, bis die Nacht hereinbrach. Im Schutze mehrerer großer Felsen ordnete Karnuzîr an, das Nachtlager aufzuschlagen. Die haradischen Reiter schlugen ein Zelt für ihn auf. Azruphel befürchtete schon, er würde Hand an sie legen, doch offenbar kannte er die Gesetze der Schwarzen Númenorer gut genug um zu wissen, dass er sich gedulden musste, bis Azruphels Vater ihm sein Einverständnis gab. Karnuzîr ließ Wachen aufstellen und legte sich schlafen. Azruphel tat schließlich dasselbe, so weit wie möglich von ihm entfernt. Sie war froh, zumindest für einige Stunden den Schrecken dieses furchtbaren Tages entfliehen zu können.

Am Tag darauf behielt die Gruppe ihre vergleichsweise hohe Geschwindigkeit bei. Karnuzîr plante offenbar, in Suladans Reich neue Pferde zu bekommen und scherte sich daher kaum darum, dass sie ihre Reittiere bis zur Erschöpfung antrieben. Von den Bewohnern des Küstenlandes, durch das sie ritten, bekamen sie nichts mit. Azruphel fragte sich, ob der Krieg in Harad bereits so weit in den Süden gedrungen war. Sie hoffte, dass die Weiße Insel bis auf Weiteres davon verschont bliebe und Thorongil auf den Rat Meister Edrahils hören würde. Wenn Suladans Segel erneut am Horizont erschienen, würden die Dúnedain die Flucht ergreifen müssen.
Die felsigen Landschaft der Wüste zog an Azruphel vorbei, ohne dass sich ihre Stimmung verbesserte. Zwar war sie auf ihrem Weg nach Süden oft und viel geritten, doch gegen Mittag begannen ihre Schenkel wieder zu schmerzen. Der Sattel auf dem sie saß war nicht sonderlich bequem. Sie ärgerte sich darüber, dass Karnuzîr den längeren Weg nach Mordor nahm. In Ithilien hätte unter Umständen die verschwindend geringe Möglichkeit bestanden, in einen Hinterhalt der Waldläufer zu geraten, deren Vertrauen Azruphel ja immerhin teilweise erlangt hat. Doch nun war auch diese Hoffnung zunichte. Suladans Reich grenzte an Khand, und Khand grenzte an Mordor. Karnuzîr würde den gesamten Weg durch verbündete Gebiete zurücklegen können. Wenigstens sehe ich meine Mutter wieder, dachte Azruphel und klammerte sich an die kleinen positiven Eindrücke, die sie ihrer unvermeidlichen Rückkehr nach Mordor abgewinnen konnte.

Nach drei Tagen des eiligen Rittes durch die Wüste erreichten sie am späten Abend die Straße, die von Qafsah nach Umbar führte. Wie an den vorherigen Tagen ließ Karnuzîr sein Zelt errichten und Wachen aufstellen. Die Haradrim-Krieger, die mit ihnen ritten, schätzte Azruphel auf mindestens drei Dutzend, wenn nicht noch mehr. Sie alle trugen die Rote Schlange auf ihren Schilden.
Diesmal legte sich Karnuzîr nicht sofort schlafen. Er kam zu Azruphel hinüber und setzte sich neben sie. "Ich halte meine Versprechen," sagte er. "Wenn du dich an die Regeln hältst, wird dir, deiner Familie, und sogar deinen Freunden nichts geschehen... zumindest nicht durch meine Hand."
"Wie großzügig von dir," gab sie kalt zurück.
"So undankbar. Das werde ich dir noch austreiben," sagte er und kam unangenehm nahe. Seine Hand strich ihr durchs Haar. "Du wirst sehen, es wird dir bei mir wirklich nicht schlecht ergehen, wenn du mir gibst, was ich von dir verlange."
"Und das wäre?" fragte sie kritisch und zwang sich, ruhig zu bleiben.
"Mir eine treue Frau zu sein und mir einen Erben zu schenken," stellte er klar. "Sobald die rechtliche Lage geklärt ist und deine Familie der Heirat zugestimmt hat - und das werden sie. Und dann..." Er brach ab und seine Hand wanderte weiter zu Azruphels Gesicht, strich ihr vorsichtig über die Wange. Und sie ertrug es. Sie ertrug es, weil sie wusste, dass es die einzige Möglichkeit war, die ihr geblieben war. Sie ertrug es, indem sie sich in ihre Gedanken zurückzog und wartete, bis Karnuzîr fertig war. Sie ertrug es, sogar dann, als seine Hand an ihrem Hals hinabglitt und ihre Brüste betastete. Sie ertrug es... denn es blieb ihr nichts anderes mehr übrig.

Der Morgen kam, und mit ihm die Hitze des Sommers. Schnell sattelte die Gruppe wieder auf, nachdem das Zelt abgebaut worden war. Im Nordwesten stiegen Rauchschwaden auf und deuteten auf den Krieg hin, der dort tobte. Karnuzîr zog nachdenklich die Augenbrauen zusammen und murmelte: "Breyyad wird wohl dringender gebraucht als es ihm bewusst war." Dann gab er den Befehl zum Aufbruch. Sie folgten der Straße, was ihre Geschwindkeit noch mehr erhöhte, und preschten nach Osten nach Suladans Reich hinein.


Aerien mit Karnuzîrs Gruppe zur Harduin-Ebene
« Letzte Änderung: 4. Mai 2017, 14:17 von Fine »
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Re: Die Mehu-Wüste
« Antwort #3 am: 15. Feb 2017, 18:10 »
Narissa und Thorongil von Tol Thelyn

Narissa und ihr Onkel folgten der Spur, die Karnuzîrs Leute hinterlassen hatten, schweigend. Es hatte sie einige Zeit gekostet, ihre Pferde zu finden, die von ihren Feinden auseinander getrieben worden waren, und so hatten sie nur wenige Meilen zurücklegen können, bevor die Sonne untergegangen und es zu dunkel um den Spuren zu folgen, geworden war. So hatte Karnuzîr schließlich einen ganzen Tag Vorsprung gewonnen, doch seine Verfolger schlugen ein so hohes Tempo an und machten so wenig Pausen, wie sie ihren Pferden zumuten konnten, ohne dass diese zusammenbrachen.
Während der Nacht schlief Narissa nur wenig und unruhig, denn sobald sie einschlief plagten sie Träume, in denen immer wieder Bilder von allem, was sie in den letzten Wochen erlebt hatte, auftauchten. Sie fragte sich immer wieder, was davon Wahrheit, was Lüge, und was Teil eines größeren Plans in Diensten Mordors gewesen war.

Früh am Vormittag des zweiten Tages erreichten sie eine Stelle, an der Thorongil sein Pferd plötzlich anhielt und aus dem Sattel sprang. "Hier hat sich die Gruppe aufgeteilt", sagte er, während er aufmerksam den Blick über den sandigen Untergrund schweifen ließ. "Zwei sind nach Nordosten weiter geritten, während der Rest direkt nach Osten abgebogen ist."
"Und wem sollten wir folgen?", fragte Narissa. Ihre Stimme war rau, und jedes Wort sträubte sich dagegen, ausgesprochen zu werden. Thorongil zog die Augenbrauen zusammen, und blickte zuerst nach Norden. "Nach allem was ich weiß, herrscht in nördlicher Richtung Krieg - und außerdem glaube ich nicht, dass Karnuzîr mit Aerien alleine bleiben würde."
"Sie heißt Azruphel", stieß Narissa mit zusammengebissenen Zähnen hervor. "Azruphel von Aglarêth - bis zu ihrem Tod, oder..." Sie sprach es nicht aus, um das Flackern der Hoffnung zu ersticken. Wenn es zum Unvermeidlichen kam, würde konnte sie sich kein Mitleid leisten."
Ihr Onkel ging nicht darauf ein, sondern betrachtete einen weiteren Moment stumm die sich gabelnde Spur. Dann sagte er: "Wir sollten der größeren Gruppe folgen. Wären wir mehr, würde ich einen nach Nordosten schicken um diese beiden zur Strecke zu bringen, doch..." Er brach ab, und für einen winzigen Augenblick regte sich Narissas Schuldbewusstsein. Sie hatte darauf bestanden, dass niemand sonst sie begleiten würde, und nun wäre es nützlich gewesen. Doch wie auf dem Weg nach Qafsah hatte sie ihre Entscheidung getroffen, und würde mit allen Folgen leben.

Sie folgten der Spur weiter in einem Tempo, dass sie nicht lange durchhalten würden. Thorongil hatte nur kurz seine Bedenken geäußert, doch Narissa hatte ihn überzeugt: Sie mussten die Geschwindigkeit nicht lange durchhalten, nur bis sie Karnuzîr eingeholt hatten. Doch die Diener Mordors schienen ebenfalls eine hohe Geschwindigkeit an den Tag zu legen, und erst am Mittag des dritten Tages stellten Narissa und Thorongil fest, dass sie langsam zu ihren Feinden aufholten. Sie erreichten die breite Straße, die von Umbar nach Qafsah führte, und an dem Punkt, wo die Spur auf die Straße traf gab es wie zwei Mal zuvor Spuren eines Lagers. Doch dieses Mal war die Asche des kleinen Lagerfeuers nicht kalt, sondern warm.
"Sie sind nicht weit voraus", sagte Thorongil nachdenklich. "Höchstens einen halben Tagesritt. Wir sollten vorsichtig sein."
"Wir haben keine Zeit für Vorsicht", gab Narissa zurück, bemüht jede Emotion aus ihrer Stimme herauszuhalten, obwohl ihr Herz schneller zu schlagen begann. Abwesend betastete sie den Griff von Ciryatans Dolch.
"Die Spuren deuten auf mindestens drei Dutzend Krieger hin", meinte Thorongil ohne Zorn in seiner Stimme. Er hatte Narissa während der letzten Tage oft widersprochen, sie zurückgehalten und gemäßigt, doch immer ohne Zorn oder Aufregung. Und ein Teil von ihr wusste, dass alleine ihr Onkel dafür verantwortlich war, dass sie noch nicht dem Wahnsinn verfallen war. "Ich denke, da ist Vorsicht angemessen - einen offenen Kampf sollten wir auf jeden Fall zunächst vermeiden", fuhr er fort, und Narissa fragte: "Was schlägst du dann vor?"
"Wir werden bis heute Abend schnell weiterreiten, und dann keine Rast einlegen, sondern uns ihnen vorsichtig nähern. Wenn sie uns bis jetzt nicht bemerkt haben - und das können sie nicht - werden sie ganz normal ihr Lager aufschlagen und wir können sie endgültig einholen."
"Und heimlich nach und nach aus dem Spiel nehmen - zuerst die Wachen, dann die Schlafenden", schloss Narissa, und Thorongil nickte, bevor er sich wieder auf sein Pferd schwang.
"Heimlichkeit ist unser größter Vorteil - so ist es schon immer für unser Haus gewesen."
Narissa lächelte schwach, während sie Grauwind antrieb. "Du hörst dich beinahe an wie Großvater, er hat auch so geredet."
Thorongil verzog das Gesicht, erwiderte das Lächeln dann aber. "So ungern ich mit meinem Vater verglichen werde, in diesem Fall hat er recht. Nun denn, testen wir die Wachsamkeit unserer Feinde."

Narissa und Thorongil zur Harduin-Ebene
« Letzte Änderung: 20. Feb 2017, 15:55 von Fine »

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Turmherr und Schattenfalke
« Antwort #4 am: 11. Mär 2017, 20:57 »
Narissa, Aerien und Thorongil mit Karnuzîr aus Sarn Amrun


Trotz des Gefangenen kamen sie gut voran und durchquerten die Wüste in westlicher Richtung, den Spuren der Menschengruppe folgend die sie außerhalb von Sarn Amrun entdeckt hatten. Aerien war sich inzwischen fast sicher, dass es sich dabei um den Silbernen Bogen handeln musste, denn je weiter sie nach Westen kamen, desto mehr wurde klar, dass die Gruppe groß war, und beinahe auf direktem Weg in Richtung von Tol Thelyn gezogen war.
"Ehe wir sie einholen wäre es gut, wenn ihr beiden mir ein wenig davon berichtet, wer sich da mit uns verbünden möchte. Vor kurzem kam eine Kriegerin namens Ta-er as-Safar auf die Insel. Edrahil kannte sie bereits aus Umbar, und seinem Rat folgend habe ich mir ihr Anliegen angehört. Aber das heißt nicht, dass ich ihr oder ihren Leute vertraue, selbst wenn Edrahil das tun sollte. Wisst ihr, der Herr der Spione Dol Amroths ist zwar einer unserer wichtigsten Verbündeten, aber auch er kann sich irren oder macht manchmal Fehler."
"Auch wenn er das wohl nie so offen zugeben würde," meinte Narissa grinsend.
Auch Aerien erlaubte sich ein kleines, verstohlenes Lächeln. Zwar hatte sie den Gondorer bislang kaum kennengelernt, aber ihr Eindruck von ihm schien sich eindeutig mit dem von Narissa zu decken. Edrahil war ein Mann der Tat und des Pläneschmiedens, der nur ungern Schwäche zeigte.
"Nun, ich bin jedenfalls gespannt, was er zu unserem gemeinsamen Freund sagen wird," sagte Thorongil, den die Sache ebenfalls zu amüsieren schien. "Ich bin mir zwar ziemlich sicher, dass ich alles Wichtige aus Karnuzîr rausgekriegt habe, aber Edrahil darf sich gerne nochmal dran versuchen."
"Das ist eine seiner Lieblingsbeschäftigungen," meinte Narissa.
"Gemein sein?" fragte Aerien und löste erneutes Gelächter aus.
"Genau!" rief Narissa gut gelaunt.

Am Abend entfachte Thorongil erneut ein Feuer, dessen Rauch er mit dem osphlim unsichtbar machte. Er erzählte den beiden Mädchen von einem seiner vielzähligen Abenteuer, das er auf seinen Fahrten erlebt hatte.
"Ich stand also dort, bis zu den Knien in einem riesigen Sumpf, und das Wasser begann, ganz seltsam zu blubbern. Und hörte gar nicht mehr auf, bis die Oberfläche so richtig zu schäumen begann! Alles in mir schrie danach, auf einen der Weidenbäume zu klettern, aber der Schatz von König Taharqa dem Zweiten war beinahe zum Greifen nah, dort auf dem kleinen Podest zwischen zwei weißen, stark bemoosten Säulen, nicht einmal ein Dutzend Schritte entfernt. Ich riss mich also zusammen und mühte mich durch den widerlich stinkenden Schlamm, bis mein Fuß endlich auf festen Boden stieß. Und das war der Moment, in dem etwas mein linkes Bein packte."
Er machte eine dramatische Pause und blickte seine Zuhörerinnen scharf an - Narissa, die voller Erwartung dasaß, während Aerien eine Hand vor den Mund geschlagen hatte und mit der anderen Narissas Oberarm umklammert hielt.
"Moment mal," unterbrach Narissa und schaute verwundert zu Aerien herüber. "Deine Heimat, wo allerlei Schreckgespenster leben, kostet dich nicht einmal eine Minute Schlaf, aber dieses angebliche Sumpfmonster gruselt dich so sehr, dass ich dich kaum noch wiedererkenne?"
"I-ich grusele mich doch gar nicht," wehrte Aerien wenig überzeugend ab. "Dein Onkel erzählt einfach nur auf eine sehr... packende Art und Weise, das ist alles. Ich würde mich doch vor einer... Sumpfkreatur nicht fürchten."
"Ach, würdest du nicht?" stichelte Narissa.
"Es war keine Sumpfkreatur, sondern eine Schlange. Die größte, die ich je gesehen habe," fuhr Thorongil mit hochgezogener Augenbraue fort. "Ihr Körper war dicker als mein Bein, und als sie mich gepackt hatte, zerrte sie mit einer Kraft an mir, die mich glatt von den Beinen riss. Mitten in den Schlamm. Das war eigentlich das unangenehmste daran, denn in den Sümpfen von Medewi hat sich eine wirklich widerliche Brühe angestaut, die so schlimm riecht wie nichts anderes auf dieser Welt. Es hat Wochen gedauert, bis ich den Geruch losgeworden bin. Melíril und ich haben wirklich alles versucht, nachdem ich sie in Umbar aufgesucht hatte. Ich sage euch, Mädchen, so oft wie damals habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gebadet - mehrfach am Tag, mal in Seifenwasser, mal in Meerwasser... am Ende versuchten wir es sogar mit Olivenöl. Das hat allerdings nur bewirkt, dass ich dann nach Sumpf und Oliven stank."
"Und der Schatz? Hast du den Schatz gekriegt? Und was wurde aus der Schlange?" fragte Narissa atemlos.
"Ach, du kennst mich doch. Natürlich habe ich den Schatz gekriegt. Allerdings stellte er sich als äußerst geschmackloser Pokal heraus, der nicht einmal aus Gold bestand, sondern aus Kupfer. Wahrscheinlich war sein symbolischer Wert höher als sein tatsächlicher. Vielleicht hat er im alten Kush irgendeine rituelle Bedeutung, oder so. Ich hab ihn an einen Händler in Tindouf verscherbelt. Und wisst ihr was? Für die Haut und den Kopf der Schlange hat er mir mehr gezahlt als für den blöden Pokal. Anscheinend kann man irgendwelche Heilmittel aus den Überresten der Schlange herstellen, und aus ihren Zähnen und dem Rest des Kopfes konnte man ihr Gift gewinnen. Ich habe jedenfalls beschlossen, nie mehr freiwillig auch nur einen Fuß in die Sümpfe von Medewi zu setzen."
"Das kann ich gut nachvollziehen," sagte Aerien. In Mordor gab es keine Sümpfe, also konnte sie sich nur vorstellen, wie solche Landstriche wirklich waren, aber nach allem was sie gehört hatte, schienen sie tatsächlich äußerst unangenehm zu sein.
"Nun sag' schon, wie du mit der Schlange fertig geworden bist," drängte Narissa.
"Ach, das war nichts besonderes," meinte Thorongil. "Ich rappelte mich auf, triefend vor Schlamm, und zog mein Schwert. Dann wich ich ihrem Biss mit einem schnellen Schritt zur Seite aus, drehte mich um, und rammte ihr die Klinge von hinten durch den Schädel. Und dann rutschte ich aus, und landete auf meinem Hinterteil, dass es nur so spritzte. Aber das Biest war tot, auch wenn es noch eine ganze Weile zuckte."
"Das bot bestimmt einen grandiosen Anblick," lobte Aerien.
"Nun, ich habe eben so meine Momente," gab Thorongil lächelnd zu.

In Sichtweite des Ozeans holten sie die Gruppe, deren Spuren sie gefolgt waren, tatsächlich ein. Und obwohl diese keinerlei Banner oder Feldzeichen mit sich führten, war es Aerien sehr schnell klar, dass es sich tatsächlich um den Silbernen Bogen handelte. Am Ende der Gruppe ritt eine Frau, die sich sofort zu ihnen umdrehte, als sie in Sichtweite kamen.
"Das muss Ta-er as-Safar sein," rief Aerien Narissa zu, und sie ritten näher an die Gruppe heran. Insgesamt waren es gute vier Dutzend Reiter, die in geordneten Zweierreihen hinterereinander her ritten. Narissas weißes Haar war weithin sichtbar, weshalb man sie schnell erkannte. Die Frau hielt an und wartete, bis Thorongils Gruppe sie erreicht hatten.
"Ihr kommt spät," sagte sie und nahm die Kapuze ab. Es war tatsächlich Ta-er. "Ihr seid doch viel früher als wir von Burj-al-Nar aufgebrochen. Habt ihr etwa unterwegs getrödelt? Und wen habt ihr da aufgegabelt?" Ihr Blick schweifte mit einem neugierigen Aufblitzen zu Karnuzîr hinüber, der gut gefesselt und geknebelt im Sattel hing und ins Leere starrte.
"Viele Fragen auf einmal," meinte Narissa schmunzelnd. "Ganz schön neugierig für eine Attentäterin."
Ta-er machte eine entschuldigende Geste, und Aerien sagte: "Wir waren schon auf Tol Thelyn, hatten aber... noch etwas Wichtiges zu erledigen. Und jetzt kehren wir dorthin zurück. Ta-er as-Safar, darf ich dir meinen geschätzten Vetter Karnuzîr Wüstenklinge vorstellen? Er kann leider gerade nicht so gut sprechen, also bitte entschuldige, dass er dir nicht antwortet. Aber ich bin mir sicher, er ist hocherfreut, dich zu sehen. Und Thorongil, den Herrn des Turms von Tol Thelyn, solltest du ja bereits kennen."
"Wir hatten bereits das Vergnügen, stimmt," sagte Thorongil begrüßend. "Es freut mich, dass der Silberne Bogen den Weg bis hierher gut überstanden hat. Dennoch würde ich gerne mit eurem Anführer sprechen, ehe ich zulasse, dass ihr die Überfahrt nach Tol Thelyn antretet."
"Natürlich. Der Schattenfalke ist bereits auf dem Weg zu Euch, Herr Thorongil," antwortete die Kriegerin.
Und tatsächlich näherte sich von der Spitze der Gruppe ein Reiter auf einem kräftigen hellbraunen Ross. Geschmeidig sprang er aus dem Sattel und deutete eine Verbeugung an. "Meinen Gruß, Turmherr. Mein Name ist Eayan al-Tayir, Anführer des Silbernen Bogens. Man nennt mich auch den Schattenfalken. Ihr habt sicherlich von mir gehört."
"Das habe ich," erwiderte Thorongil ungerührt. "Sowohl Gutes als auch Schlechtes. Ihr wollt Zuflucht auf der Weißen Insel suchen, wie ich hörte. Was sind Eure Beweggründe für diesen Schritt?"
"Unsere Feinde, die Assassinen Salemes, haben unsere versteckte Burg in den Bergen südlich von Ain Salah aufgespürt und angegriffen. Es war dort nicht mehr sicher für uns," gab Eayan offen zu.
"Ihr würdet mit Eurer Anwesenheit also einen weiteren Angriff auf Tol Thelyn provozieren," schlussfolgerte Thorongil ruhig. "Ihr versteht sicher, weshalb ich mich dabei sehr unwohl fühle. Mein Volk hat im letzten Jahr viel Leid erlebt und eine erneute Bedrohung ihrer Heimat kann und werde ich nicht zulassen."
"Durch unsere Gegenwart würden die Assassinen möglicherweise tatsächlich zu einem Angriff verleitet werden," antwortete Eayan ebenso gelassen. "Doch bedenkt in Eurer Entscheidung auch die Vorteile, die der Silberne Bogen Euch bieten würde. Wir wissen, wie man gegen die Assassinen kämpft und haben sie bei Burj-al-Nar erfolgreich abgewehrt. Viele ihrer besten Krieger sind gefallen, und die, die überlebt haben, sind in Schande geflohen und lecken nun ihre Wunden. Sie werden irgendwann zurückkehren, das stimmt, aber ich glaube, das dieser Zeitpunkt noch in weiter Ferne liegt. Saleme hat sich von Sûladan losgesagt, kann also nicht länger auf seine Unterstützung zählen. Meine Späher haben berichtet, dass der Statthalter von Qafsah, ein Mann namens Amenzu al-Irat, das Hauptquartier der Assassinen geplündert und beinahe vollständig zerstört hat. Natürlich haben diese Schlangen neben Qafsah noch andere Stützpunkte, aber zusammen mit ihrer Niederlage in der Vulkanburg haben sie kürzlich zwei schwere Rückschläge hinnehmen müssen."
"Nun, das klingt schon etwas besser," meinte Thorongil. "Doch sagt mir, Schattenfalke, was erwartet Ihr Euch von Eurer Zeit auf Tol Thelyn? Ich werde euch nicht einfach auf Kosten meines Volkes in meinem Land wohnen lassen."
"Das ist mir klar, Turmherr. Und wir werden Euch Eure Gastfreundschaft selbstverständlich vergelten. Wir werden unsere Kampftechniken und unser Wissen mit Euren Kriegern teilen und dafür sorgen, dass niemand unbemerkt auch nur in Sichtweise der Weißen Insel kommt. Wir werden Tol Thelyn jeglichen Schutz bieten, den wir können. Und wer weiß, vielleicht erwächst aus unserer Zusammenarbeit ja eines Tages ein dauerhaftes Bündnis?"
"Das wird sich noch zeigen," sagte Thorongil weiterhin unbeeindruckt und ließ seinen Blick über die anderen Mitglieder des Silbernen Bogens schweifen. "Also gut. Für's Erste gewähre ich dem Silbernen Bogen Zuflucht auf Tol Thelyn. Ich werde einen Boten entsenden, der ein Schiff aus dem Hafen herbringt - dann können wir all Eure Leute auf einen Schlag übersetzen."
"Ich danke Euch im Namen des Silbernen Bogens und all seiner Mitglieder," sagte Eayan und verbeugte sich erneut.

Während sie auf das Schiff warteten saßen Aerien und Narissa nebeneinander auf einem Felsen und genossen den Ausblick auf das Meer, auf dem sich die Nachmittagssonne spiegelte. Es ging ein leichter Wind, der für Wellen sorgte und eine angenehme Kühle auf ihre Gesichter legte.
Narissas Hand legte sich in Aeriens. "Ich bin froh, dass wir wieder hier sind," sagte sie leise.
"Das bin ich auch," antwortete Aerien ehrlich. "Als ich die Insel zuletzt sah, wurde sie von der Rückseite von Karnuzîrs Boot aus gesehen, immer kleiner, und ich war fest davon überzeugt, sie niemals wiederzusehen. Ich war mir sogar sicher, niemals mehr am Ufer des Meeres zu stehen. Karnuzîr wollte mich nach Durthang bringen, und dort einsperren, weißt du? Mit mir prahlen, und dank mir in der Gesellschaft der schwarzen Númenorer bis an die Spitze aufsteigen."
"Du weißt, dass ich das nicht zulassen konnte," stellte Narissa klar. "Das ist unsere Geschichte, nicht Karnuzîrs. Er spielt darin höchstens die Rolle des Narren, der versucht hat, das Unzertrennbare zu trennen. Nämlich das Band, das uns beide verbindet."
Aerien nickte und spürte, wie sich ihr Hals zuschnürte. "Ich bin so froh, dass du gekommen bist, Rissa. Ich weiß nicht, wie ich hätte weiterleben sollen... ohne dich."
"Hee, nun werd' mir hier mal nicht gefühlsduselig," sagte Narissa und stupste Aerien spielerisch an. "Ich wäre für dich überall hingegangen, selbst bis in den Dunklen Turm. Irgendwann wird das hier oben," sie tippte Aerien fest gegen die Stirn, "schon noch ankommen, da bin ich mir sicher." Dabei lag ein freches Grinsen auf ihrem Gesicht.
"Werd nicht unverschämt," gab Aerien lachend zurück und schnappte nach Narissas Hand, doch diese zog sie blitzschnell weg.
"Zu langsam!" rief Narissa und sprang auf.
"Na warte, dir zeig' ich's!" Aerien bekam Narissas Bein zu fassen und zog fest daran, sodass ihre Freundin der Länge nach ins weiche Dünengras fiel. Und schon war Aerien über ihr und drückte sie zu Boden. "Hab' ich dich," stieß sie triumphierend hervor."
"Ja," sagte Narissa mit einem schiefen Grinsen. "Und was passiert jetzt?"
Doch ehe Aerien sie küssen konnte, fingen ihre Ohren Schritte auf, die näher kamen. Hastig setzte Aerien sich auf und entdeckte Ta-er as-Safar, die zu ihnen herübergeschlendert kam. Die Attentäterin schien die Lage mit einem einzigen Blick zu erfassen, ersparte sich jedoch (abgesehen von einer hochgezogenen Augenbraue) jeglichen Kommentar. "Das Schiff ist da, falls ihr es nicht bemerkt habt. Wenn ihr hier also nicht übernachten wollt, solltet ihr mitkommen."
"Dann los," sagte Narissa und erhob sich. "Ich kann's kaum erwarten, wieder nach Hause zu kommen."


Narissa, Thorongil, Aerien, Ta-er as-Safar und Eayan mit Karnuzîr und dem Silbernen Bogen nach Tol Thelyn


« Letzte Änderung: 13. Mär 2017, 09:27 von Fine »
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Eandril

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Re: Die Mehu-Wüste
« Antwort #5 am: 7. Mai 2017, 21:49 »
Narissa und Aerien von Tol Thelyn

Auf dem Festland angekommen verabschiedeten Aerien und Narissa sich von den dortigen Wächtern, und kletterten auf den Rücken ihrer Pferde.
Narissa tätschelte Grauwind den Hals, und sagte: "Endlich mal eine angenehme Reise. Ich bin sicher, es wird beinahe wie Ferien." Trotz des Aufbruchs war sie äußerst gut gelaunt - oder gerade deswegen? Sie fühlte sich auf Tol Thelyn wohl und geborgen, doch der Frieden war trügerisch. Es wurde Zeit, mal wieder etwas zu unternehmen, etwas zu erleben. Obwohl - sie gönnte sich ein verstohlenes anzügliches Grinsen - es mit Aerien natürlich nie wirklich langweilig geworden war.
Diese hatte sich gerade auf Karabs Rücken geschwungen, nachdem sie ihr Gepäck auf dem Rücken des Pferdes verstaut hatte, und meinte: "Ich weiß nicht. Du scheinst Ärger anzuziehen - es ist geradezu magisch."
"Ha", gab Narissa zurück. "Wer ist denn von Karnuzîr entführt worden, und musste gerettet werden?"
"Und wer hat sich von diesem Kopfgeldjäger aus Aín Sefra entführen lassen, und musste von mir gerettet werden, hm?"
"Und wer hätte sich in Qafsah beinahe von einem Nazgûl töten lassen?"
"Und wer hat uns überhaupt erst dahin gebracht?"
Narissa wandte ein klein wenig verlegen den Blick ab. "Hmpf, na schön. Vielleicht ziehe ich tatsächlich Ärger an. Aber du musst zugeben, dass die Reise nach Qafsah auch... angenehme Auswirkungen hatte."
Aerien warf ihr einen Blick zu, den man nicht anders als verliebt bezeichnen konnte, und erwiderte: "Sehr angenehme Auswirkungen."
Narissa unterdrückte ein Kichern, und wandte den Blick wieder nach vorne, auf die Wüste, die vor ihnen lag. "Also - Harad liegt vor uns. Lass uns diesem Land zeigen, wer wir sind."

Sie folgten - zum zweiten Mal in kurzem Abstand - dem Weg nach Osten in Richtung Sarn Amrûn. Die Reise verlief ohne größere Zwischenfälle, wenn man den Abend nicht mitzählte, an dem Aerien darauf bestanden hatte, wenigstens einmal das Kochen zu übernehmen, bis sie Ain Salah erreichten. Da die Stadt nach ihrem letzten Kenntnisstand auf Suladans Seite stand, schlugen Narissa und Aerien einen Bogen nach Süden um sie herum. Sie waren zwar beide nicht unbedingt auffällig, doch man wusste nie, wer einen in einer Stadt alles sah. Und außerdem erinnerte Ain Salah sie an Abel und Karnuzîr, und diese Art von Erinnerungen konnte weder Narissa noch Aerien gebrauchen.
Ain Salah lag ungefähr auf halber Strecke ihrer vorläufigen Reise. Sie hatten beschlossen, nicht direkt nach Kerma zu reisen, sondern zunächst in Tindouf am Unterlauf des Harduin Zwischenstation zu machen. Von dort konnte man per Schiff oder auf dem Landweg nach Kerma reisen, und dort konnten sie vermutlich in Erfahrung bringen, ob König Músab sich noch in Aín Sefra aufhielt, oder ob er in sein Königreich zurückgekehrt war. Hinter Ain Salah wurde das Land grüner und ging in grasbedeckte Savannen mit verstreuten Bäumen über, die dichter wurden je näher sie dem fruchtbaren Tal des Harduin kamen.
Die beinahe zwei Wochen bis sie die Mauern von Tindouf erreichten, zählte Narissa zu den besten zwei Wochen ihres Lebens. Sie war unterwegs, spürte die Freiheit während sie ritten, und sie war mit Aerien zusammen - mehr brauchte sie nicht, um glücklich zu sein. Als sie unter dem Stadttor von Tindouf hindurch ritten, war sie also bester Laune, obwohl Aerien gespielt beleidigt schwieg - Narissa hatte sie die letzten Meilen vor der Stadt ausschließlich mit Sternchen angeredet, was sie zumindest äußerlich zur Weißglut brachte. Doch an dem sanften Ausdruck in Aeriens Augen erkannte Narissa eindeutig, dass ihre Freundin den Spitznamen keineswegs so schrecklich fand wie sie behauptete.
"Nun", sagte sie, und lenkte Grauwind ein wenig zur Seite, um den Menschenstrom nicht allzu sehr zu behindern. "Wenn du wieder mit mir redest, Sternchen, sollten wir versuchen, etwas über unseren König in Erfahrung zu bringen."

Narissa und Aerien nach Tindouf
« Letzte Änderung: 9. Mai 2017, 16:08 von Fine »

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Eandril

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Re: Die Mehu-Wüste
« Antwort #6 am: 15. Nov 2018, 10:16 »
Músab, Aerien, Narissa und Aglâran aus El Kurra

Nur wenige Meilen östlich von El Kurra begann die große südliche Wüste Harads, die vom Königreich Ta-Mehu beherrscht wurde und die Narissa und Aerien inzwischen schon mehrere Male durchquert hatten, da sie sich genau zwischen Kerma, Aín Salah, der Bergfestung Burj al-Nar und Tol Thelyn erstreckte. Die Schlacht von El Kurra war noch vor dem Mittag vorüber gewesen, und so hatte die kleine Reisegruppe noch einige Stunden Weg hinter sich gebracht, bevor Músab kurz vor Sonnenuntergang Halt befohlen hatte. Während der ganzen Strecke hatten Aerien und Narissa sich ganz am Ende der Gruppe gehalten, möglichst weit vom Qore entfernt, und während sie ihre Lager für die Nacht aufschlugen, hielten sie es genauso.
Sie entzündeten ihr eigenes Feuer, einige Meter vom Lager der Kermer entfernt, und Narissa ließ sich demonstrativ mit dem Rücken zu Músab und seinen Leuten entfernt auf ihrer im Staub ausgebreiteten Decke nieder. Aeriens Miene war leicht zu entnehmen, dass sie dieses Verhalten ein wenig kindisch fand, doch sie schwieg und schüttelte lediglich den Kopf, bevor sich neben Narissa in den Sand kniete.
"Lass mich diese Wunde ansehen", sagte sie. "Auf eine Narbe mehr oder weniger kommt es nun zwar auch nicht mehr an, aber sie muss sich ja nicht entzünden." Das war ganz in Narissas Sinne, denn je länger der Ritt gedauert hatte, desto mehr Schmerzen hatte ihr die Wunde bereitet, bis sie äußerst froh gewesen war, Músab den Befehl zum Anhalten geben zu sehen - nicht, dass sie das jemals zugegeben hätte. Ohne zu zögern zog sie das Hemd von ihrer rechten Schulter beiseite, und Aerien löste behutsam den provisorischen, blutigen Verband, bevor sie die Stichwunde mit Kennerblick betrachtete. "Hm. Ein ganz glatter Stich, und wie es aussieht, ist nichts weiter wichtiges verletzt. Kannst du den Arm bewegen?" "Ganz normal", erwiderte Narissa, und bewegte zum Beweis den Arm auf und ab, wobei sie das Gesicht vor Schmerzen verzog. Aerien schenkte ihr ein mitfühlendes Lächeln, sagte aber: "Es hätte mich auch gewundert, wenn es nicht schmerzen würde. Du hast Glück, dass Gift nicht Balâkans Stil ist." Narissa biss die Zähne zusammen, als Aerien die Wunde behutsam mit einer hellen Salbe, die sie von Tol Thelyn mitgebracht hatten, einrieb. "Ich würde nicht unbedingt sagen, dass ich viel Glück mit den Männern aus deiner Familie habe", meinte sie, und Aerien sah mit einem Lächeln von ihrer Arbeit auf. "Das kann man wirklich nicht behaupten."
"Aber wenigstens..." Narissas linke Hand fand Aeriens Finger und drückte sie sanft. "Wenigstens habe ich mit den Frauen mehr Glück. Und du bist sicher, dass du keine Schwester hast...?" Aerien schnappte in gespielter Empörung nach Luft, versetzte Narissa einen spielerischen Schlag gegen die unverletzte Schulter. "Du bist unmöglich!" Narissa lachte, und spürte, wie die Schmerzen, und die Anspannung der Schlacht allmählich von ihr abfielen. Für einen Augenblick vergaß sie sogar ihren Zorn auf Músab und alle sonstigen kermischen Verräter.

Sand knirschte unter schweren Stiefeln, und Gatisen trat in den kleinen Lichtkreis des Feuers - und wandte sofort wieder den Blick ab, als dieser auf Narissa fiel. Narissa wechselte einen Blick mit Aerien, die auf die Lippe bis um ein Kichern zu unterdrücken, und verdrehte die Augen. "Gatisen, ich bin keineswegs nackt oder unzureichend bekleidet", sagte sie, und fügte hinzu: "Sicherlich hast du in deinem Leben bereits die ein oder andere unbedeckte Schulter gesehen."
"Es ist ein bisschen mehr als nur eine Schulter", gab Músabs Neffe zurück, und Narissa sah prüfend an sich herab, doch alles entscheidende war weiterhin bedeckt.
"Spiel nicht die zimperliche Jungfrau", sagte sie, während Aerien ihr mit geschickten Fingern einen Verband anlegte, der deutlich besser wirkte, als der bisherige. "Erzähl uns lieber, warum du gekommen bist." Gatisen ließ sich ihr gegenüber im Sand nieder, und kreuzte die Beine.
"Was muss geschehen, damit ihr meinem Onkel verzeiht?", fragte er geradeheraus, vermied es dabei aber, ihnen beiden in die Augen zu sehen. Narissa spürte, wie sich ihre Kiefermuskeln verkrampften, als sie an Músabs "Bündnis" mit Suladan dachte. "Ich hätte nicht gedacht, dass dem großen König von Kerma unsere Meinung so wichtig ist."
"Mir ist an der Meinung aller gelegen, die Anteil daran hatten, dass ich das noch bin", ertönte eine tiefe Stimme hinter ihnen, und Gatisen und Aerien sprangen auf die Füße. Narissa blieb sitzen, während Músab neben Gatisen in den Lichtkreis des Feuers trat. Mit einer raschen Geste bedeutete er Aerien und Gatisen, sich zu setzen, und tat es ihnen gleich.
"Also", begann er, während seine Augen Narissa fixierten. "Die Antwort auf Gatisens Frage interessiert mich wirklich." Narissa erwiderte den Blick so herausfordernd, wie sie konnte. "Führt eure Armeen nach Qafsah. Belagert die Stadt, nehmt Suladan gefangen, schlagt ihm den Kopf ab und werft ihn den Geiern zum Fraß vor. Vielleicht dann."
"Du weißt, dass ich das nicht tun kann", erwiderte Músab ruhig, und Narissa zuckte mit den Schultern. "Nun, dann seit ihr vielleicht einfach kein starker König." Neben ihr hätte sich Aerien beinahe vor Schreck verschluckt und in Gatisens Miene stand Unglauben geschrieben, doch in Músabs Gesicht rührte sich kein Muskel. Offenbar prallte die Beleidigung einfach an ihm ab, was Narissa noch wütender machte als zuvor. "Und vielleicht war es ein Fehler, dass ich euer kostbares Königssymbol nicht einfach in die Schlucht geworfen habe."
"Vielleicht", erwiderte Músab, und zu Narissas großer Zufriedenheit hatte seine Stimme sich deutlich abgekühlt. "Vielleicht wärst du ja eine besser Herrscherin als ich, also sag mir - was hättest du anders gemacht?"
"Kein Bündnis mit Suladan geschlossen", antwortete Narissa ohne zu überlegen, und Músab breitete die Arme aus. "Woraufhin Suladan und Kashta gemeinsam deine Armee vernichtet hätten. Ich hätte meinen Thron und womöglich auch mein Leben verloren, und meiner Mutter würde niemals Gerechtigkeit widerfahren", schloss er mit einem Hauch Bitterkeit in der Stimme. Seine Augen funkelten, als er weiter sprach: "Ich bin euch beiden zu großem Dank verpflichtet. Ihr habt wiederholt euer Leben in meinem Auftrag riskiert, ihr habt mir einen großen Dienst erwiesen und seid beim Kampf um meine Heimat verwundet worden." Bei seinen letzten Worten glitten Músabs Augen kurz zu dem frischen Verband an Narissas rechter Schulter. "Und nur deswegen ist mir daran gelegen, dass ihr versteht, was ich tun musste. Hätte ich dieses Abkommen nicht geschlossen, hätte Kashta nur Leid und Zerstörung über Kerma gebracht, und das konnte ich kein zweites Mal zulassen."
Narissa schüttelte den Kopf. Sie wollte sich ihren Zorn auf einen Mann, der sich mit jenem Monster verbündete, das ihr bislang beinahe alles, was sie liebte, genommen hatte, nicht von Argumenten nehmen lassen. "Und deswegen stellt ihr euch unter Suladans Führung - an die Seite Mordors."
"Nicht unter Suladans Führung", erwiderte Músab scharf. "Und sicher nicht an die Seite Mordors. Es ist wahr, dass mir in gewisser Weise die Hände gebunden sind, und ich nicht direkt gegen Suladan vorgehen kann. Doch ich habe Beziehungen, ich kann andere unterstützen, die gegen den Sultan kämpfen. Und wenn Suladan der Meinung ist, dass ich damit gegen unser Abkommen verstoße, und Kerma angreift... nun, dann werde ich darauf vorbereitet sein, und die Gelegenheit ergreifen."
Neben Narissa nickte Aerien stumm, und Músab fuhr fort: "Ich verstehe deine Situation, Narissa. Wäre Suladan mein Va..."
"Nennt ihn nicht so", unterbrach Narissa ihn heftig, und fuhr sich mit der rechten Hand über die Stirn. Die linke hielt, ohne, dass es ihr bewusst war, Aeriens Hand fest umklammert. "Bitte, ich... ich vermute, dass es euch auch nicht gefällt, als Kashtas Bruder bezeichnet zu werden."
Músab nickte langsam. "Du hast recht, es gefällt mir nicht sonderlich, von ihm als meinem Bruder zu denken. Leider kann sich niemand seine Verwandschaft aussuchen." Sein Blick glitt einen Herzschlag lang von Narissa zu Aerien und zurück, und er lächelte schwach. "Nun, seine leibliche zumindest nicht."
Narissa spürte, wie Aerien ihre Hand einmal kurz drückte, und atmete tief durch. "König Músab, ich...", begann sie ein wenig hölzern. "Ich verstehe, warum ihr tun musstet, was ihr getan habt. Und ich... möchte mich dafür entschuldigen, wenn ich euch darüber beleidigt habe. Das heißt allerdings noch lange nicht, dass ich nicht noch immer fürchterlich wütend auf euch wäre", fügte sie ein wenig trotzig hinzu, und im Feuerschein leuchteten Músabs Zähne weiß, als er breit lächelte.
"Das ist vermutlich menschlich, und damit kann ich leben. Ich wäre ein seltsamer König, wenn alle immer glücklich darüber wären, was ich tue. Die Hauptsache ist, dass man meine Entscheidungen verstehen kann."
"Und dir niemand deswegen gleich ein Messer in den Rücken stößt, Onkel", meinte Gatisen, und klopfte dem König auf den Rücken. "Aber dazu hast du ja mich." Músab legte seinem Neffen für einen Augenblick die Hand auf die Schulter, und kam dann gewandt auf die Füße. "Nun, da wir diese Angelegenheit geklärt haben, würde ich euch raten, ein wenig Schlaf zu finden. Wir haben noch einen weiten Weg vor uns."
"Wem sagt er das", murmelte Narissa vor sich hin, als Músab und Gatisen zu ihrem Lager zurückgegangen waren. "Ich wette, wir kennen uns in dieser Gegend um einiges besser aus als er."
Aerien warf ihr einen strafenden Blick zu. "Du bist der unhöflichste, sturste, nachtragendste... unmöglichste Mensch, dem ich je das Pech hatte, zu begegnen, 'Rissa." "Ich weiß", erwiderte Narissa ungerührt, streckte sich auf dem Rücken aus, und blickte in den Sternenhimmel. Aerien legte sich neben ihr auf die Seite, stützte den Kopf auf den Ellbogen und betrachtete ihr Gesicht. "Aber zugleich bist du auch der tapferste, spannendste, beste Mensch, dem ich je das Glück hatte, zu begegnen."
"Ich weiß", entgegnete Narissa wieder. "Du bist nichts davon." Sie blickte Aerien an, musste über ihre gekränkte Miene lachen, und gab ihr einen raschen Kuss. "Du bist ganz einfach nur der wunderbarste Mensch, den es auf dieser Welt gibt. Mehr nicht."
« Letzte Änderung: 16. Nov 2018, 10:11 von Fine »

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Blinder Passagier
« Antwort #7 am: 16. Nov 2018, 13:48 »
Aerien schlief in dieser Nacht außerordentlich gut. Sie wusste nicht, was der Grund dafür war - ob es daran lag, dass Kerma nun hinter ihr lag, oder dass sie zumindest für den Augenblick keiner drohenden Gefahr ausgesetzt war - doch es war ihr egal. Sie hatte sich schon recht bald nach Músabs Besuch an Narissas Feuerstelle in ihre dicke Reisedecke gehüllt und war eingeschlafen, was dafür gesorgt hatte, dass es den ersten Sonnenstrahlen am folgenden Morgen sehr leicht fiel, Aerien zu wecken. Sie gähnte, streckte sich, und kam auf die Beine. Sie fühlte sich erfrischt und abenteuerlustig. Ein rascher Blick nach vorne zeigte ihr, dass sie nicht die Einzige war, die so früh erwacht war. Die breitschultrige Gestalt Gatisens warf lange Schatten gen Osten, als sich der Neffe des Königs bei den Packpferden zu schaffen machte.
Noch während Aerien hinsah, erstarrte Gatisen mitten in der Bewegung, als er an der Wache vorbeikam, die die Packtiere bewacht hatte. Aerien kam neugierig ein paar Schritte näher, wobei ihr auffiel, dass Gatisens Gegenüber ungewöhnlich klein für einen der normalerweise hochgewachsenen königlichen Gardisten Kermas war. Gatisen hatte mittlerweile beide Arme vor der Brust verschränkt und sagte einige Worte in der kermischen Sprache, die nicht sonderlich erfreut klangen. Als er Aerien bemerkte, winkte er sie knapp zu sich herüber.
"Hast du irgendetwas damit zu tun? Die ehrliche Antwort, bitte," sagte der Prinz ohne Begrüßung.
Aerien riss verwundert die Augen auf. "Wovon sprichst du? Ich verstehe nicht..."
Gatisen, dessen Gesichtsausdruck zu einer Miene der Verdrossenheit gewechselt hatte, hob die Hand und schob sie kurzerhand unter die Stoffmaske, die den Großteil der Gesichter der königlichen Gardisten verdeckte. Es sah beinahe so aus, als würde er an dessen Ohr ziehen. Der überraschte Aufschrei einer vertrauten, hellen Stimme, zeigte Aerien, dass der Prinz tatsächlich auch genau das getan hatte.
"Bitte sag mir, dass du nichts davon gewusst hast," sagte Gatisen mit einem tiefen Seufzer. Er zog Helm, Kapuze und Stofftuch herunter und enthüllte das Gesicht einer beschämt lächelnden Kani.
Sogleich verstand Aerien Gatisens Verdruss. Auch sie verschränkte die Arme vor der Brust und sagte: "Wenn ich von dieser Torheit gewusst hätte, hätte ich sie verhindert."
"Aerien! Ich dachte, wir wären Freundinnen!" empörte Kani sich.
"Das dachte ich auch," gab Aerien ungerührt zurück. "Was tust du hier, Kani?" Sie fühlte sich unangenehm an Serelloth erinnert, die ebenfalls einen Hang dazu gehabt hatte, in Situationen aufzutauchen, in denen sie nichts zu suchen hatte.
"Ich wollte so gerne mit euch gehen, aber mein Vater und der König wollten es mir nicht erlauben," gestand das Mädchen schuldbewusst.
"Wie bist du an die Rüstung eines Gardisten gekommen?" wollte Gatisen mit einer Mischung aus Verärgerung und amüsiertem Interesse wissen.
"Das war ganz leicht," sagte Kani mit einer Spur von Stolz in der Stimme. "In El Kurra haben sie die Verletzten untergebracht. Darunter waren auch einige Gardisten. Ich habe beobachtet, wo sie ihre Rüstungen verstaut haben, und..."
"Kani," sagte Aerien mit Bedacht. "Wir befinden uns im Feindesgebiet. Diese Lande sind gefährlich und wir könnten jederzeit überfallen werden. Und du hast keinerlei Kampferfahrung. Was hast du dir denn nur dabei geacht?"
"Bitte verratet mich nicht an den Qore," bat Kani. "Sonst wird er mich nach Hause schicken."
"Ich denke nicht, dass er das tun wird," meinte Gatisen. "Es ist viel zu gefährlich, dich auf dich allein gestellt zurück nach Kerma zu schicken." Er seufzte. "Ich verstehe noch immer nicht, wieso du hier bist."
Aerien, der Kanis rote Wangen nicht entgangen waren, hatte inzwischen eine relativ gute Vorstellung davon bekommen, weshalb Kani sich ins Gefolge des Königs geschmuggelt hatte. Sie erinnerte sich daran, dass Gatisen Kani nach ihrer Entführung durch Mustqîm von der Stadt Para zurück in den Palast geleitet hatte, und dass der junge Prinz Kani getröstet hatte, als sie von Kashtas Angriff auf ihre Heimat erfahren hatte. Außerdem musste Aerien zugeben, dass Gatisens Äußere nicht unansprechend wirkte, auch wenn er trotz allem nicht gerade ihr Typ war. Doch sie beschloss, den nun so offensichtlichen Grund für Kanis Anwesenheit für's Erste für sich zu behalten.
Kanis Antwort auf Gatisens Frage bestand aus unverständlichem Gemurmel, was Aeriens Theorie nur noch bestärkte. "Ich glaube, dies ist eine Angelegenheit, die Prinz Gatisen alleine klären kann," sagte sie schmunzelnd und ließ die beiden stehen. Noch während sie sich entfernte, hörte sie, wie Gatisen begann, streng auf Kermisch auf Kani einzureden.

Aerien kehrte zu ihrer Lagerstätte zurück und weckte eine an diesem Tage besonders griesgrämige Narissa, die sich nur widerwillig für den baldigen Aufbruch fertig machte. Aerien lachte in sich hinein, doch inzwischen war Narissa wach genug, dass es ihr nicht entging.
"Hör auf, so gute Laune zu haben," beschwerte sie sich.
"Ich denke nicht daran, 'Rissa," entgegnete Aerien. "Wärst du, so wie ich, mit der Sonne aufgestanden, wärst du bestimmt genauso gut gelaunt."
"Das bezweifle ich. Wer so früh aufsteht wie du, und sich darüber auch noch freut, kann nicht ganz richtig im Kopf sein," gab Narissa gereizt zurück.
Aerien streckte ihrer Freundin die Zunge heraus. "Vielleicht bin ich dann eben nicht ganz richtig im Kopf. Und vielleicht ist das ja auch gut so. Es gibt mir die Kraft, deine Launen zu ertragen."
"Nennst du mich etwa launisch?"
"Meine Liebe, deine Laune kann so schnell umschlagen wie die Winde über den Gipfel des Ephel Dúath," lachte Aerien. "Dich launisch zu nennen wäre eine Untertreibung."
"Pah! Das muss ich mir von dir nicht anhören," sagte Narissa teils beleidigt, teils belustigt und schwang sich auf Grauwinds Rücken. "Da ist mir Grauwind als Stimme der Vernunft hundertmal lieber."
"Du weißt doch genau, dass du trotzdem nicht auf mich verzichten kannst," hielt Aerien mit einem überlegenen Lächeln dagegen, während auch sie in den Sattel stieg.
Narissa gab sich mit einem Seufzen, das ihr Grinsen kaschieren sollte, geschlagen. "Genieße deinen kleinen Sieg. Aber heute Abend, wenn dir schon kurz nach Sonnenuntergang die Augen zufallen und du die beste Zeit zum Sterne beobachten verpasst, werde ich es sein, die zuletzt lacht."
"Wir werden sehen," meinte Aerien und gab Karab zu verstehen, dass er sich in Bewegung setzen sollte, denn weiter vorne war Músabs Tross bereits losgezogen.

Gegen Mittag dieses Tages, als die Sonne ihren Zenit erreicht hatte, ließ Músab eine Rast einlegen. Nahe der Wüstenstraße, der sie folgten, war ein Wasserloch in den Boden gegraben worden, an dem die Pferde getränkt werden konnten. Während Narissa sich darum kümmerte, dass Grauwind und Karab ihren Durst löschten, war Aerien zum König gerufen worden, der sich im Schatten einiger Palmen aufhielt und nachdenklich über die vertrockenete Einöde der Mehu-Wüste nach Süden blickte.
"Ah, Aerien," begrüßte er sie, als sich die Adûnâ neben den Qore gestellt hatte.
"Ihr habt nach mir schicken lassen, Majestät," sagte sie angemessenerweise.
"Ja. Ich habe einige Fragen an dich, wenn du gestattest. Es geht um deine Familie."
Aerien schluckte, doch dann nickte sie rasch. "Selbstverständlich, Euer Gnaden."
"Dein Onkel, Aglazôr, hat mir bereits die groben Verwandschaftsverhältnis se von Haus Balákar erläutert, aus dem er und du stammen," sagte Músab bedächtig. "Doch ich würde gerne mehr darüber erfahren, um eine Theorie meinerseits bestätigen."
"Ich werde alle Eure Fragen beantworten, so gut es mir möglich ist, König Músab," sagte Aerien. "Doch zunächst würde ich gerne wissen, wo sich mein Onkel im Augenblick aufhält, wenn Ihr erlaubt."
Músab neigte den Kopf leicht nach vorne und deutete nach Nordwesten. "Ich entsandte Aglazôr kurz vor dem Beginn der Schlacht bei El Kurra nach Umbar, das meiner Kenntnis nach von den Truppen des Malikats unter Qúsay belagert wird. Ich glaube, ein Paar Augen und Ohren vor Ort zu haben, wird mir von großem Nutzen zu sein, nun, da..."
"Nun da Ihr mit Sûladan verbündet seid und somit ein Interesse am Sieg Umbars über Qúsay habt," ergänzte Aerien.
"Es ist nicht ganz so eindeutig wie du denkst," entgegnete Músab. "Belassen wir es dabei, dass Aglazôr die Lage rings um Umbar für mich im Auge behalten wird und mir Bericht über die dortigen Ereignisse erstatten wird."
"Er steht also weiterhin im Dienste Kermas," schloss Aerien.
"Ich bezahle ihm gutes Geld dafür, dass es auch so bleibt," antwortete Músab. "Doch genug von deinem Onkel." Er wandte sich ihr zu und blickte Aerien direkt an. "Ich kam nicht umhin, während der Schlacht mitanzuhören, welche Worte zwischen dir und dem Mörder meiner Mutter fielen. Er ist dein Bruder, nicht wahr?"
"Ihr habt das Adûnâische verstanden?" stieß Aerien überrascht hervor, denn es war die Sprache von Durthang gewesen, die Balakân auf dem Schlachtfeld verwendet hatte, um sie zu verhöhnen, und Aerien hatte in derselben Zunge geantwortet.
"Dazu komme ich später. Balakân ist dein einziger Bruder?"
"Nein, es gibt noch einen weiteren. Sein Name ist Varazîr. Er ist jünger als ich," antwortete Aerien tonlos.
Músab nickte und schien sich eine geistige Notiz zu machen. "Du verstehst sicher, dass ich deinen Bruder Balakân ohne Gnade dafür jagen und bestrafen werde, für das was er meiner Mutter angetan hat."
Aerien nickte und ihr fiel ein, was Gatisen bei ihrer Rückkehr in die Königsstadt von Kerma beiläufig erwähnt hatte, als sie das Flaggschiff des Köngis von Ferne beobachtet hatten. In ihrem Kopf verbanden sich die Informationen, die sie über Músabs Mutter besaß, langsam zu einem Bild zusammen.
"Eure Mutter, die Kandake, war von meinem Volk, nicht wahr?" wagte sie zu sagen, und Músabs Nicken bestätigte Aeriens Theorie. "Deshalb besitzt ihr ein Schiff, das einen adûnâischen Namen trägt, und deshalb versteht Ihr jene Sprache," fuhr Aerien fort.
"Ihr Name war Belazîl," sagte Músab. "Sie begegnete meinem Vater während eines Abenteuers an der Grenze zwischen Eryan und Khand. Damals war sie auf der Flucht vor ihren Verwandten aus Mordor. Ihre Geschichte scheint Ähnlichkeiten mit deinen eigenen Erlebnissen aufzuweisen, meinst du nicht?"
"Ich erinnere mich an eine Frau namens Belazîl," sagte Aerien. "Sie war ein Bastard, die uneheliche Tochter meines Urgroßvaters Aphanuzîr, die vor vielen Jahren spurlos verschwand."
"Nun, ich denke, wir können davon ausgehen, dass es sich dabei um eben jene Belazîl handelte, die später die Königinmutter von Kerma wurde," befand Músab. "Ich hatte also recht. Zwischen uns besteht eine entfernte Verwandschaft, Aerien."
Aerien wusste nicht recht, wie sie auf diese Neuigkeit reagieren sollte. Sie hatte sich innerlich noch nicht einmal davon erholt, dass ihr eigener Bruder versucht hatte, sie umzubringen. Daher war das Einzige, was sie sagte, ein einfaches "Oh."
Músab entlockte dies ein gutmütiges Lachen. Er klopfte Aerien auf die Schulter und sagte: "Keine Sorge, Aerien. Das, was Narissa und du für mich getan habt, erhebt dich über sämtliches Misstrauen, das ich deiner - unserer Familie entgegenbringe. Dass wir um einige Ecken verwandt sind, ändert nichts zwischen uns. Ich habe auch familiäre Verbindungen zur Stammlinie Sûladans, falls es dich interessiert, was mich auch zu einem Verwandten Narissas macht."
"Lasst sie das besser nicht wissen," sagte Aerien, als sie wieder klar denken konnte. "Sie ist nicht sonderlich gut auf Sûlâdan zu sprechen, wie Ihr gesehen habt."
"Das habe ich in der Tat allzu gut verstanden," sagte Músab. "Ich danke dir dafür, dass du meine Fragen beantwortet hast, Aerien. Doch nun denke ich, ist die Zeit zum erneuten Aufbruch gekommen. Ta-Mehu rückt näher, und ich bin in Eile. Kerma mag zwar vorerst sicher sein, doch der Bund mit Sûladan beruht auf Notwendigkeit, nicht zwangsläufig auf Vertrauen. Ich werde nicht den Fehler machen, der Schlange die Hand zu reichen, und mich beißen zu lassen."
"Sehr weise von Euch, Euer Gnaden," befand Aerien. Dann kehrte sie zu dem Wasserloch zurück, wo Narissa bereits ungeduldig auf sie wartete.

Gegen Abend erreichte die Reisegruppe einen Hügel, der sehr sanft anstieg und kaum mehr als zehn Meter über die Wüstenebene heraus ragte. Aerien zuckte innerlich zusammen, als sie den Ort erkannte, an dem einst Karnuzîr sein Lager aufgeschlagen hatte, als er Aerien in seiner Gewalt gehabt hatte. Doch auch eine gute Erinnerung verband Aerien mit diesem Ort: Hier war sie von Narissa sowohl aus der Gefangenschaft als auch aus dem Käfig der Gedanken befreit worden, den sie sich selbst gefertigt hatte, um der damals so schrecklichen Gegenwart zu entfliehen.
Erneut bestand Narissa darauf, ein eigenes Feuer zu entfachen. Und erneut begab es sich, dass die beiden jungen Frauen dort nur einen Teil des Abends über alleine waren. Diesmal waren es jedoch nicht Gatisen und Músab, die die Zweisamkeit störten, sondern, zu Aeriens Verwunderung, der Gardist Aglâran. Noch immer trug der für gewöhnlich schweigsame Wächter seine Rüstung und seinen Helm mit dem schwarzen, aus Pferdehaar bestehenden Schweif zur Zier darauf, und sein Gesicht lag im Schatten des schmalen, dunklen Visiers des Helmes. Er ließ sich Aerien gegenüber nieder und legte seinen Schild neben sich. Das Schwert hing an seinem Gürtel und er machte keine Anstalten, es zu ziehen.
Narissa warf Aerien einen Blick zu, der nur allzu deutlich Was will der denn hier sagte. Aufgrund der Art und Weise, wie sich Aglarâns Kopf dabei beinahe unmerklich bewegte, war es Aerien klar, dass dem Gardisten die Geste Narissas nicht entgangen war.
"Ich bin gekommen, um zu reden," drang seine tiefe Stimme aus dem Helm hervor. "Mit dir." Seine behandschuhte Hand deutete auf Aerien. "Gewährst du mir diese Bitte, Azruphel?"
"Das ist nicht mehr ihr Name," mischte sich Narissa ungehalten ein. "Sie heißt Aerien, verstanden?"
"Ich hörte diese Bezeichung schon zuvor," sagte Aglarân bedächtig. "Für mich macht es keinen Unterschied. Beides bedeutet dasselbe."
"Es... wäre mir trotzdem lieber, wenn du mich Aerien nennen würdest," sagte Aerien vorsichtig.
"Weshalb? Erkläre es mir," forderte der Gardist.
"Aragorn gab mir diesen Namen," stieß Aerien hervor. "Er erzählte mir einst die Geschichte der letzten Königin von Númenor. Ihr Name war Míriel. Doch dann wurde ihr ihr Name weggenommen und sie musste sich mit der adûnâischen Übersetzung Zimraphel zufrieden geben, ob sie es nun wollte, oder nicht. Du weißt, dass ich versuchen werde, die Spaltung unseres Volkes rückgängig zu machen, sofern dies möglich ist. Deshalb habe ich Míriels Schicksal umgekehrt, als Symbol dafür, woran ich glaube."
"Und was wäre das?"
"Dass nach all den Jahrtausenden der Kriege wieder Frieden möglich ist," sagte Aerien mit fester Stimme.
"Daran glaube ich nicht," erwiderte Aglarân kalt. "Dieser Ort, von dem wir stammen... er muss vom Antlitz der Erde getilgt werden und von Grund auf zerstört werden."
"Ich lasse nicht zu, dass du Aeriens Traum zunichte machts," stellte Narissa klar.
"Bitte, lasst uns nicht streiten," sagte Aerien und machte eine beschwichtigende Geste mit beiden Händen. "Das ist nicht das, worüber du sprechen wolltest, Aglarân. Liege ich richtig?"
Mehrere Sekunden des Schweigens verstrichen, ehe der Helm des Gardisten sich langsam zu einem Nicken senkte. "Ich kam, weil es einige Dinge gibt, die ich nicht verstehe," begann Aglâran kurz darauf. Der dunkle Sehschlitz seines Helmes fixierte Aeriens Augen. "Du bist deinem grausamen Zuhause entflohen und hast dich dieser Welt zugewandt. Du hast gelernt, wie man sich in ihr verhält und hast Bekanntschaften gemacht, die über das hinausgehen, was zwischen einem Herrn und einem Diener besteht. Du hast das gefunden, was man vermutlich Freunde nennt, und darüber hinaus, eine... Gefährtin, wie es mir scheint. Du hast gelernt, zu lieben." Er machte eine lange Pause, in der Aerien mehrere rasche Blicke mit Narissa wechselte, doch keine der beiden wusste, was sie sagen sollten. Und schließlich sprach Aglarân weiter. "Seit ich die Dienste deines Vaters am Erebor verließ, befand ich mich auf einer Suche. Auf der Suche danach, welchen Sinn mein Leben hat. Und obwohl ich weit gereist bin und so einige Bekanntschaften gemacht habe, habe ich das Gefühl, noch immer nicht wirklich verstanden zu haben, was es ist, das die Menschen Liebe nennen. Darum hatte ich gehofft, du könntest es mir erklären, Azruphel."
Das war so ziemlich das Letzte, was Aerien erwartet hatte. Ich soll ihm erklären, was Liebe ist? dachte sie verwirrt. Sie selbst hatte seit ihrer Flucht aus Mordor einige Probleme damit gehabt, ihre Gefühle zu verstehen und war sich ziemlich sicher, nicht gerade eine Expertin auf diesem Gebiet zu sein.
"Wieso fragst du gerade mich?" wollte sie vorsichtig wissen.
"Weil du weißt, wie es ist, in Mordor aufzuwachsen und zu leben," entgegnete Aglarân. "Du hast den Ort, von dem wir stammen, mit eigenen Augen gesehen. Ich nahm an, dass du gerade deshalb die richtigen Worte finden würdest."
"Geliebt zu werden bedeutet, einer Person restlos vertrauen zu können, egal unter welchen Umständen," mischte sich Narissa ein. "Es ist das Gefühl, das man verspürt, wenn man am liebsten jede einzelne Sekunde seines Lebens mit einer bestimmten Person verbringen würde, selbst wenn man dadurch in Schwierigkeiten geraten würde." Sie warf Aerien dabei einen eindeutigen Blick zu und lächelte breit.
Aglarân schien die Worte in sich aufzunehmen und sorgfältig zu analysieren, doch sein Blick blieb auf Aerien geheftet. Er wartete geduldig ab, bis sie schließlich bereit war, ihm eine eigene Antwort zu geben.
"Ich weiß noch nicht lange, was es bedeutet, jemanden zu lieben," sagte Aerien langsam. "Ich würde es als eine Art unerschütterliche Gewissheit betrachten, die ganz tief in mir fest verankert ist und die mir sagt, zu wem ich gehöre. Die Gefühle, die Narissa so schön beschrieben hat, die habe ich auch erlebt, und tue es noch. Aber für mich sind sie eher Symptome als dass sie die Ursache der Liebe in mir sind. Ich liebe Narissa, weil sie die fehlende Hälfte von mir ist, ohne die ich nicht leben könnte. Das bedeutet es für mich, sie zu lieben."
Aglarân blieb einen langen Augenblick schweigend sitzen. Dann erhob er sich und klopfte sich den Sand von der Hose und den Stiefeln. "Ich danke dir, Azru... Aerien." Mit wehendem Umhang drehte er sich um und verschwand in der Dunkelheit der Nacht.

Aerien und Narissa blieben noch mehrere Minuten an Ort und Stelle, ohne ein Wort zu sagen. Über ihnen tauchten einer nach dem anderen die Sterne auf, während ihr Lagerfeuer knisterte, knackte und langsam dahinschwand.
Schließlich war es Narissa, die das Schweigen brach. "Es kommt mir wie eine Ewigkeit vor, dass wir die Insel verlassen haben." Ihr Blick ging nach Westen und erinnerte Aerien daran, dass sie in einer knappen Woche, wenn alles gut lief, das Ufer des Westmeeres erreichen würden und kurz darauf die Strände Tol Thelyns wiedersehen würden.
"Ich habe es vermisst," stieß sie hervor. "Und ich habe deine Familie vermisst."
"Unsere Familie," stellte Narissa klar. Sie unterdrückte ein Gähnen und Aerien musste grinsen.
"Wird da etwa jemand schon müde?"
Narissa drohte ihr mit dem Finger. "Wehe du sprichst weiter. Dann kitzle ich dich so lange, bis du ohnmächtig wirst."
"Du kannst es gerne versuchen," wagte Aerien zu sagen, ehe sie rasch ihre Decke über sich zog, um Narissas Angriff zu entgehen.

Ihre Verteidigung stellte sich schnell als wirkungslos heraus.
RPG:

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Re: Die Mehu-Wüste
« Antwort #8 am: 11. Dez 2018, 21:29 »
Nur noch eine Tagesreise würden sie brauchen, um die Westküste Harads zu erreichen. Locker hielt Músab die Zügel seines Pferdes, während jenes langsam durch die Einöde der Mehu-Wüste trabte. Er war wie so oft tief in Gedanken versunken. Nun da sein Anspruch auf den Thron Kermas dank des Königssymbos für alle Zeit rechtens war und nur sein Sohn Tamal der legitime Erbe des Königreichs sein würde, war Kerma in Sicherheit. Doch für wie lange...? Der Preis für die Sicherheit war hoch, sehr hoch: Alte, jedoch vor allem treue Freunde hatten mit ihrem Leben dafür bezahlen müssen. Dutzende Kinder hatten ihre Eltern verloren, waren nun Kinder der Straße. Das Heer würde komplett reformiert werden müssen, neue Generäle, Hauptmänner und  Stadthalter eingesetzt werden, um die vielen freien Plätze zu besetzen.
Und obwohl das Königreich seinen König nun in der Hauptstadt brauchte, war Músabs Anliegen von höchster Dringlichkeit. Kerma stand nun, abgesehen von Suladan, ohne starke Verbündete da. Das Malikat hatte Kerma verraten und gezwungen mit Suladan zu paktieren und sowhl Kashta als auch Balakân waren Músabs Rache entkommen. Es gab wahrlich viel für ihn zu tun.
Er ging die Einzelheiten seines vor wenigen Stunden aufgesetzten Briefes durch, welche einer der Leibgardisten nun zurück nach Kerma bringen würde.

"Mit diesem Schreiben bestätigt der Qore, dass folgende Befehle seinem eigenem Willen entsprechen.
Famareeq Famareeqid, der momentane Stadthalter Napatas, soll mit sofortiger Wirkung den Titel des Scheichs erhalten. Ihm wird das Lehen El Kurra übergeben, welches seinen Stand wiederspiegeln soll.
Taloraqen, aus dem Haus der Aburniden, wird mit Wohlwollen zum neuen Stadtverwalter der Hafenstadt Napata gekürt. Somit steht ihm auch ein Platz im königlichen Rat zu.
Die Insel Assuit wird wieder in das Königreich von Kerma eingegliedert und wird unter direkte königliche Verwaltung gestellt. Das Haus Assuit stellt jedoch nach dem Ableben des Königs Abdul die Erben der Insel. Khasim bin Abdul und Alyána bint Músab wird weiterhin die Prinzenwürde eingeräumt.

Gez.
Qore Músab bin Kernabes

"Was erhoffst du dir auf Tol Thelyn? Wieso überhaupt diesen Umweg machen, wenn du doch eigentlich nach Ta-Mehu willst?" fragte ihn sein Neffe Gatisen, der Músab aus den Gedanken riss.
"Verständnis, Gatisen. Wir müssen den Thelynrim zeigen, dass wir uns trotz allem an unser Bündnis halten. Ich vertraue Narissa, doch sie mir nicht, zu recht." beantwortete er die Frage, schwieg dann jedoch wieder. Ein langer Moment verstrich, ehe Músab weitersprach. "Du solltest dich jedoch nicht damit befassen. Während dein Vater und ich nach unserem Besuch auf Tol Thelyn weiter nach Ta-Mehu reisen werden, wirst du nach Gondor gehen und mit dem Truchsess verhandeln."
Während Gatisen diese Neuigkeiten verdaute, musterte Músab nachdenklich seine gepanzerte Garde, die ihn wie stets umgab. Dabei fiel ihm ein besonders kleiner Gardist auf, der mehr schlecht als recht versuchte, sich im Sattel zu halten. Es dauerte nicht lange, bis Músab auf die Lösung dieses Rätsels gekommen war.
"Wieso ist das Mädchen dabei?" fragte er schließlich frei heraus.
Gatisen schluckte. " Das ist schwer zu erklären..." Er errötete.
Músab schmunzelte. Er hatte verstanden. "Nun gut. Ta-Mehu ist jedoch zu gefährlich. Sie wird dich nach Gondor begleiten," eröffnete er seinem verdutzten Neffen.
« Letzte Änderung: 21. Okt 2022, 13:45 von Melkor. »
Er hat noch gezuckt weil ich ihm meine Axt in seine Nervenstränge getrieben habe.

-Gimli Gloinssohn zu Legolas, Schlacht bei Helms Klamm-

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Re: Die Mehu-Wüste
« Antwort #9 am: 13. Dez 2018, 14:12 »
Nach dem Gespräch mit Gatisen nahm sich Músab die Zeit, um für ein paar wenige, wertvolle Augenblicke auf andere Gedanken zu kommen. Er hatte aus Kerma einige alte Schriftstücke mitgebracht, die aus der Frühzeit des Reiches von Kush stammten. Eines davon schien eine Art Tagebucheintrag zu sein. Interessiert blätterte Músab in dem alten Manuskript und seine Gedanken wanderten an einen fernen Ort, viele, viele Jahrhunderte vor seiner Zeit...

~~~

Jahr 2060, Zweites Zeitalter
Königreich Kush, Ostküste von Harad

Gestern Abend kehrte der einzige überlebende Kundschafter zurück. Er war schwer verletzt und konnte seine Botschaft kaum aussprechen. Doch nun haben wir Gewissheit. Der Schatten hat uns nach langer Jagd gefunden.

Heute werden wir uns ihm stellen müssen.

Die Schlucht, in der sich der Widerstand versteckt hat, besitzt nur zwei Ausgänge. Beide sind von unseren Feinden, den Dienern des Schattens von Kush, besetzt. Der falsche König hält das Reich noch immer in seinem stählernen Griff, selbst nachdem mehrere Jahrhunderte vergangen sind und er längst dahingeschieden sein sollte. Diejenigen, die ihm nahe genug gekommen sind, um einen Blick auf seine schwarzen Roben zu werfen, sprechen von einem namenlosen Schrecken, der sie dabei ergriffen hat. Der Mensch, der einst König von Kush war, ist zu einem Schatten des Schreckens geworden, der mit der ebenso finsteren Macht im Bunde steht, die ganz Harad schon seit viel zu langer Zeit im Griff hat: Mordor.
Wir sind die Letzten, die vom Widerstand noch übrig sind. Ein Versteck nach dem anderen ist augespürt worden und eine Bastion nach der anderen erstürmt worden. Unsere Hoffnungen auf einen Sieg sind schon lange dahin. Wir können nun nur noch darauf hoffen, unsere Leben so teuer wie möglich zu verkaufen. Für eine Flucht ist es zu spät.

Die Nacht ist ruhig gewesen. Ich war zur letzten Schicht der Nachtwache eingeteilt worden und hatte dem Aufgang der Sonne über der Meeresenge im Osten zugesehen, während ich mein Schwert schliff. Jetzt steht die Sonne schon hoch am Himmel, doch noch immer regt sich bei unseren Feinden nichts. Es wird wärmer, und meine Anspannung steigt. Ich hasse es, auf eine Schlacht zu warten, der man nicht entgehen kann.
Am anderen Ende des Lagers sehe ich meinen Vater ruhelos auf- und abgehen. Er ist ebenso angespannt wie ich, das weiß ich. Der Speer in seiner Hand wippt nervös auf und ab. Ich mache mir nicht viel aus Speeren. Die Waffen meiner Wahl sind Schwerter und Bögen. Hier in Harad ist das Schwert eine seltene Wahl, da für seine Herstellung mehr Metall benötigt wird, als für einen Speer oder eine Keule. Doch dieses Schwert ist etwas Besonders für mich. Es stammt von einem meiner Vorfahren.
Mein Vater entdeckt mich und kommt zu mir herüber. "Fareeha," sagt er, mit einem rauen Klang in seiner Stimme. "Was soll nur diese Warterei? Warum greifen sie uns nicht an?"
Ich hebe die Schultern. "Ich weiß es nicht, Vater," antworte ich ihm. Ich frage mich, ob er sich dafür Vorwürfe macht, dass ich hier bin - gemeinsam mit ihm in der Todesfalle. Ob er seine einzige Tochter nicht lieber weit weg von hier wüsste. Er hat mir den Weg, den ich gewählt habe, niemals auszureden versucht, im Gegenzug zu meiner Mutter. Sie war von Anfang an dagegen, dass ich Kriegerin wurde. Doch mein Vater war stolz auf meine Entscheidung gewesen.
"Diese Warterei bringt mich noch um," murmelt mein Vater. Dann trottet er langsam davon, vermutlich auf der Suche nach etwas Wasser.

Ich döse ein wenig, mit dem Rücken an das sich erwärmende Gestein der Felswand hinter mir gelehnt. Kaum eine Minute ist vergangen seit ich die Augen geschlossen habe, als mich ein Warnruf weckt.
"Sie kommen!"
Der Wachposten hat nicht einmal genug Zeit, um einen erneuten Schrei auszustoßen. Schon trifft ihn ein Pfeil in den Hals und er stürzt tot zu Boden. Gestalten tauchen an beiden Ausgängen der Schlucht auf. Es sind Krieger von Kush, auf deren runden Schilden das Rote Auge gemalt worden ist. Sie kommen, um den Willen ihres Meisters auszuführen: Die Vernichtung des Widerstandes. Sie kommen schnell näher, die Waffen gezogen und Mordlust in den Augen.
Mein Schwert fühlt sich schwer in meiner Hand an. Mir fällt auf, dass meine Hand sich um den Griff herum verkrampft hat. Da spüre ich eine sanfte Berührung an meiner Schulter. Es ist mein Vater.
"Ganz ruhig, Fareeha," raunt er mir zu. "Was auch passiert... denk immer daran, dass ich dich liebe, mein Kind." Er streicht mir ein letztes Mal über das lange, schwarze Haar, das mir über den Rücken fällt, dann setzt er seinen Kriegshelm auf und reckt seinen Speer in die Höhe. Mit einem lauten Schlachtruf stürzt er sich in das rings um uns herum ausbrechende Gefecht.
Ein feindlicher Krieger durchbricht die dünne Verteidigungslinie des Widerstandes und kommt auf mich zu. Mit einem überlegenen Grinsen holt er zum tödlichen Schlag aus. Erst jetzt reagiert mein Körper und die Erfahrung, die ich mir in den vergangenen Jahren durch hartes Training und durch die vielen Kämpfe gegen die Loyalisten angeeignet habe, übernimmt meine Bewegungen. Ich lasse den Schlag mit einer raschen Drehung ins Leere laufen. Mein Schwert blitzt in der hellen Sonne auf und durchbohrt den Oberkörper des Kushiten. Blut spritzt auf den Brustschutz aus Leder, den ich trage, als ich die Klinge aus der Leiche ziehe.

Die Schlacht verschwimmt zu einem Meer aus Geschrei, Chaos, Schmerz und Tod. Ich habe kaum Zeit, darüber nachzudenken. Meine Klinge pariert, sticht zu, trennt Gliedmaßen ab und beendet Menschenleben. Meine Rüstung bewahrt mich vor den meisten Treffern, dennoch blute ich schon bald aus mehreren Wunden. Rings um mich herum vergeht der Widerstand mit jedem Rebellenkrieger, der fällt. Wir werden von beiden Seiten bedrängt und können nicht hinaus. Diese Schlucht wird unser Grab werden.
Für einige Minuten wendet sich das Blatt. Meinem Vater gelingt es, eine Schneise in die Reihen unserer Feinde zu schlagen. Ein Durchbruch scheint möglich zu werden. Ich verdopple meine Anstrengungen und verbreitere die Lücke, die entstanden ist. Einen Fuß vor den anderen setzend arbeite ich mich mühsam vorwärts. Doch dann versperrt mir etwas den Weg. Eine hochgewachsene Gestalt, gehüllt in tiefschwarze Roben aus Schatten. Eine Kapuze bedeckt das Gesicht des falschen Königs. In seiner gepanzerten Hand hält er ein grausames Schwert. Seine Stimme ist nicht mehr als ein unheilvolles Flüstern, das dem Widerstand den Tod verspricht. Und er ist umgeben von einer Aura des Schreckens.
Niemand wagt es, sich ihm zu stellen. Wohin er auch kommt folgt ihm die Vernichtung seiner Gegner auf dem Fuß. Nahezu mühelos schlachtet er jeden ab, den er zu fassen bekommt. Gepackt von einem namenlosen Entsetzen weiche ich vor ihm zurück, bis ich nicht mehr weiter kann. Mein Rücken stößt an die Felswand hinter mir.
Drei seiner loyalsten Krieger flankieren den Schattenkönig, als er sich mir nähert. Doch da stellt sich jemand schützend vor mich. Es ist mein Vater, Speer und Schild unbeugsam gegen seinen Feind gerichtet.
"Geh, Fareeha!" ruft er mir zu. Und in diesem Moment fällt neben mir ein Seil herab. Ein Blick die Felswand hinauf zeigt mir mehrere Gestalten, die von dort oben herabschauen und mir hastig zuwinken. Doch ich kann nicht gehen. Ich kann ihn nicht zurücklassen.
"Geh!" drängt er mich erneut, während er sich gegen die Angriffe seiner Feinde wehrt. Noch ist es ihnen nicht gelungen, meinen Vater zu überwinden. Zwei der Kushiten sind seinem Speer bereits zum Opfer gefallen.
"Fareeha!" Die Verzweiflung und Entschlossenheit, mit der er meinen Namen ruft, bringen mich schließlich dazu, das Schwert an meinen Gürtel zu stecken und das Seil hinauf zu klettern. Pfeile prallen rings um mich herum an der Felswand ab, während ich mich mühsam Stück für Stück hinauf arbeite. Ich wage es nicht, nach unten zu blicken. Tränen füllen mein Sichtfeld, als die Kampfgeräusche in der Schlucht langsam verklingen. Der Widerstand ist vernichtet und mein Vater ist gefallen. Ich frage mich, ob es der falsche König selbst war, der ihm den Todesstoß versetzte, und ob es ihm bewusst war, dass er damit den Letzten seiner Nachfahren getötet hatte.

Nein. Nicht den Letzten. Ich lebe noch. Ich erreiche die Felskante am oberen Ende der Schlucht und stemme mich hoch. Das Seil unter mir erzittert und mir wird bewusst, dass meine Feinde dabei sind, mir hinauf zu folgen. Rasch schneide ich es mit meiner Klinge durch und höre die Todesschreie der Unglücklichen, die sich daran festgehalten hatten.
Ich weiß nicht, wer mich gerettet hat. Die Gestalten, die mir das Seil zugeworfen haben, sind verschwunden. In wenigen Metern Entfernung steht ein einsames Pferd und daneben sind die Spuren weiterer Reittiere zu sehen, die fort von der Schlucht führen. Der Wind ist bereits dabei, sie zu verwischen.
Ich fasse den Entschluss, nicht aufzugeben. Ich werde meinen Vater rächen. Im Westen soll es noch Menschen geben, die sich der Herrschaft Mordors und Kushs widersetzen. Vielleicht werde ich mich ihnen anschließen können, wenn sie den Krieg zum Dunklen Herrscher tragen.


~~~

Músab unterbrach seine Lektüre, als einer der Gardisten zu ihm kam, um über den Verlauf der morgigen Reiseroute zu sprechen. Er beschloss, bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit weiter in dem uralten Tagebuch zu lesen und fragte sich, wie die Geschichte damals wohl weitergegangen war...
« Letzte Änderung: 13. Dez 2018, 14:18 von Fine »
Er hat noch gezuckt weil ich ihm meine Axt in seine Nervenstränge getrieben habe.

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Audienz am Strand
« Antwort #10 am: 14. Jan 2019, 23:15 »
Noch immer war der Anblick des Meeres etwas Besonderes für Aerien. Es war an genau diesem Strand an der Westküste Harads gewesen, wo die Mehu-Wüste auf die endlose Weite Belegaers traf. Dort hatte Aerien den Ozean zum ersten Mal erblickt. Als sie nun auf einer der Dünen stand, die den Strand von der Wüste trennten, fühlte sie sich in der Zeit zurückversetzt zu jenem ganz besonderen Abend, als sie die rote Sonne dabei beobachtet hatte, wie sie in den Wellen versunken war.
Doch diesmal war es nicht Abend, sondern Vormittag. Músabs Reisegruppe war bereits vor Sonnenaufang aufgebrochen und hatte die Küste erreicht, ehe die Sonne ihren höchsten Stand eingenommen hatte. Die Kermer schienen das Meer nicht für etwas Besonderes zu halten - jedenfalls schenkte keiner von ihnen dem Wasser besondere Aufmerksamkeit. Stattdessen standen sie in kleinen Grüppchen am Rande der Dünen, während sich Músab mit seinem Bruder Alára und seinem Neffen Gatisen beratschlagte.
In der Ferne, im Südwesten, war die schlanke Silhouette der Weißen Insel zu sehen, halb verborgen hinter einer dichten Schicht aus Nebel. Die Spitze des Turmes, den Narissas Ahnherr Ciryatan einst erbaut hatte, ragte aus den Wolken hervor und gab Aerien ein wehmütiges Gefühl, das ihr den Atem raubte. Sie konnte nicht sprechen. Was ist das nur? fragte sie sich. Sie verstand nicht, was da vor sich ging...
Es war Narissa, die das Rätsel löste. "Endlich wieder zuhause," sagte die Weißhaarige und folgte Aeriens Blick in Richtung des Turmes. Und da verstand Aerien. Das Gefühl, das sie verspürte, war eines von Heimat. Sie kehrte heim an einen Ort, an den sie hingehörte. So denke ich also über Tol Thelyn? dachte sie, teils verwundert, teils tief bewegt.
"Ja," hauchte sie, sodass nur Narissa sie hören konnte. "Wir sind daheim."
"Moment mal... weinst du etwa?"
"Nein, ich... hab' nur etwas Sand ins Auge bekommen."
"Ich glaube dir kein Wort, Aerien."
"Sieh nur, da hinten. Sie haben unsere Ankunft bemerkt," sagte Aerien und zeigte nach Süden, den Strand entlang. Am Ende des Sandstrandes stand ein Wäldchen, aus dem der Gruppe nun drei bewaffnete Reiter entgegen kamen. Einen der Drei erkannte Aerien. Es war der Späher namens Langlas, der sie einst bei ihrem ersten Besuch auf Tol Thelyn in seinem Boot übergesetzt hatte. Als Langlas und seine Begleiter nahe genug heran gekommen waren, hoben sie erfreut die Arme und riefen ihnen freudige Begrüßungen zu.
"Narissa! Es ist Narissa, sie ist zurück!"
"Und Aerien ist ebenfalls hier," fügte Langlas mit einem freundlichen Nicken hinzu. Er sprang aus dem Sattel und wurde von Narissa fest umarmt. Auch Aerien ließ sich von ihrer guten Laune mitreißen und umarmte den inzwischen etwas verdutzten Langlas.
Die beiden anderen Späher - ein Mann und eine Frau - waren beritten geblieben. Beide deutete nun in Richtung der östlichen Dünen, wo die fernen Gestalten der Kermer aufgetaucht waren.
"Gehören die zu euch?" fragte Langlas, nun eindeutig vorsichtig geworden.
"Oh nein, das tun sie nicht," sagte Narissa, ehe Aerien die Lage erklären konnte.
"Wartet," sagte sie mit Nachdruck. "Es sind Menschen aus Kerma, angeführt von ihrem König, Músab."
"Sie haben euch bis hierher eskortiert?"
"Vielmehr haben wir sie bis hierher ertragen," warf Narissa ein.
"Wie meint ihr das?" wollte Langlas wissen.
"Es ist etwas kompliziert," sagte Aerien und geriet ein wenig in Verlegenheit. "Meister Edrahil entsandte uns, um ein Bündnis mit Kerma auszuhandeln. Dieses Ziel haben wir sozusagen erreicht, aber..."
"Sozusagen?"
"Ich sagte ja, es ist kompliziert..."
"Für mich ist es ganz eindeutig," stellte Narissa klar. "Die Kermer haben sich mit Sûladan verbündet, und auch wenn der König seine Beweggründe dafür erklärt hat, halte ich es noch immer für einen Fehler."
Langlas riss die Augen auf. "Sûladan!"
"Sie scheinen uns aufmerksam zu beobachten, unternehmen aber keinen Angriffsversuch," sagte die Späherin, die neben Langlas auf einem hellbraunen Pferd saß und die Kermer die ganze Zeit über im Auge behalten hatte.
"Wir müssen es meinem Onkel sagen," sagte Narissa. "Ist er auf der Insel?"
Langlas nickte. "Wir können sofort ablegen."
"Ich denke, es ist besser, wenn wir hier warten," sagte Aerien vorsichtig und warf besorgte Blicke in Richtung der Kermer. "Wir waren ihre Reisegefährten, bis wir hier eintrafen. Wenn wir jetzt gehen, könnte es Gefahr bedeuten." Sie suchte Narissas Blick, der zunächst hart und unnachgiebig war, doch dann etwas sanfter wurde.
"Also gut," seufzte Narissa. "Gebt Thorongil Bescheid und sagt ihm, wir werden hier auf ihn warten, um ihm alles zu erklären."
"Und bringt Edrahil mit," fügte Aerien hinzu, doch Langlas schüttelte den Kopf.
"Meister Edrahil befindet sich auf einer Fahrt in das Land Arzâyan," erwiderte der Dúnadan. "Noch ist er nicht zurückgekehrt."
"Arzâyan?" wunderte sich Narissa.
"Das ist Adûnâisch," erklärte Aerien. "Man könnte es als "Land des Königs" übersetzen. Thorongil sagte, es sei die Heimat von Taraezaphel, die..." Sie hielt inne und blickte zur Insel hinüber. "Ihr solltet gehen," drängte sie Langlas dann.
Der Angesprochene nickte und stieg erneut in den Sattel. Die drei Reiter wirbelten eine Staubwolke auf, als sie in Richtung des Wäldchens davonpreschten, in dem ihr Boot verborgen lag.

Aerien und Narissa vertrieben sich die Wartezeit im weichen, warmen Sand des Meeresufers, doch entspannen konnte Aerien sich nicht. Die Frage, was wohl werden würde, wenn sie in der Gemeinschaft König Músabs, der nun Sûladans Verbündeter war, nach Tol Thelyn kamen, das von Sûladan einst verwüstet worden war, hatte sie bislang vor sich her geschoben. Ehe sie jedoch Narissa auf die Situation ansprechen konnte, sah sie Kani von den Dünen herankommen.
"Der König verlangt zu wissen, was da vor sich geht," sagte das kermische Mädchen aufgeregt und voller Sorge. "Was waren das für Leute, Aerien? Was habt ihr zu ihnen gesagt?"
"Sie gehören zu den Thelynrim, den Bewohnern der Weißen Insel," erklärte Aerien, was ihr einen missbilligenden Blick von Narissa einbrachte. Sie ignorierte die Geste und fragte Kani, was Músab nun zu tun gedachte.
"Ich weiß es nicht," erwiderte Kani. "Eine Unruhe scheint den Qore befallen zu haben. Er geht auf und ab und sein Blick geht immer wieder zu euch beiden hinüber."
"Hat er dich geschickt, um uns auszuhorchen?" wollte Narissa wissen.
"Nein, so ist es nicht gewesen... ich bin nicht seinetwegen hier. Ich mache mir Sorgen, versteht ihr?" Kani legte die Hände im Schoß zusammen. Sie trug nun gewöhnliche haradische Reisekleidung und nicht länger die schwere und viel zu große Rüstung eines Gardisten des Königs. "Ich dachte, auf dieser Reise würde ich mit euch und mit Prinz Gatisen Abenteuer bestehen und geheimnisvolle Länder bereisen. Aber bis auf die Wüste gab es bislang kaum etwas zu sehen, und das einzige Abenteuer, das uns erwartet, ist die Frage, wie es jetzt mit uns weitergeht."
"Aerien und ich kehren heim," stellte Narissa klar. Wohin ihr Kermer gehen werdet, interessiert mich nicht, las Aerien den unausgesprochenen Rest des Satzes an der Miene ihrer Freundin ab.
Kani blickte zurück zu den anderen Kermern. "Prinz Gatisen sagt, dass er nach Gondor gehen wird, und ich soll ihn begleiten."
"Na das klingt doch nach einem Abenteuer," sagte Aerien aufmunternd.
"Findest du wirklich?"
Aerien nickte und lächelte zuversichtlich. "Eines Tages werden auch Narissa und ich nach Gondor gehen. Bestimmt sehen wir uns dann dort wieder."
"Das hoffe ich," antwortete Kani. Sie umarmte Aerien schüchtern, dann kehrte sie in die Dünen zurück.
Narissa begegnete Aeriens Blick, ohne etwas zu sagen. Dann zog sie die linke Augenbraue hoch und grinste flüchtig.

Eine Stunde war seit Langlas' Aufbruch vergangen, als sich aus dem Schatten der Insel die Form eines großen Schiffes schälte. Aerien erkannte es als eines der Schiffe, die im Hafen von Tol Thelyn gelegen hatten. "Das muss Thorongil sein," sagte Narissa zufrieden.
Sie sollte Recht behalten. Das Schiff kam so nahe wie möglich an den Strand heran und setzte drei Beiboote voller Krieger ab. Aerien sah sowohl bewaffnete Thelynrim als auch Krieger des Silbernen Bogens. Angeführt wurden sie von Narissas Onkel persönlich, der ein großes, neues Langschwert auf dem Rücken trug.
"Narissa!" rief er, als er seine Nichte entdeckte. Die Wiedersehensfreude war Thorongil deutlich anzuhören. Er breitete die Arme aus, als er den Strand erreicht hatte, und Narissa sprang ihm entgegen. "Du kehrst also endlich heim. Bist du unverletzt?"
"Ja, Onkel. Und Aerien ist es auch." Rasch setzte sie Thorongil in wenigen, knappen Sätzen über die Lage in Kenntnis.
Thorongil löste sich aus Narissas Umarmung und legte Aerien anerkennend seine große Hand auf die Schulter. "Gut gemacht, ihr beiden." Der Ausdruck in Thorongils Augen war warm, doch dann hob sich sein Blick zu den Dünen hinüber und die Wärme verblasste. Aerien folgte Thorongils Blick und sah die Kermer, angeführt von Músab heran kommen.
"Ihr müsst der Herr von Tol Thelyn sein," sagte Músab, als er nahe genug war, um ihn zu verstehen.
"Mein Name ist Thorongil vom Turm," erwiderte Thorongil reserviert. "Und Ihr seid Músab von Kerma."
Músab neigte den Kopf um eine Winzigkeit. "Der bin ich. Und ich ersuche eine Audienz mit Euch, Thorongil."
"Sie sei Euch gewährt, Majestät." Die Betonung des Wortes zeugte nicht gerade von Respekt, wie Aerien fand. "Unterhalten wir uns. Erklärt mir, weshalb Ihr ein Bündnis mit meinem Volk anstrebt."
"Nun, das war die Idee Eurer Nichte Narissa," entgegnete Músab. "War jenes Bündnis nicht der Grund, weshalb ihr sie und Aerien nach Kerma entsandt habt?"
Thorongil gestattete sich ein subtiles Nicken. "So ist es. Doch damals standen die Dinge noch... anders."
"Ihr spielt wohl auf meine Allianz mit Sûladan an," sagte Músab scharfsinnig.
"Durchaus. Ihr versteht gewiss, weshalb ich dieses Bündnis nicht gutheißen kann. Sûladan hat die Heimat meines Volkes zerstört."
"Ich hörte davon, und nehme Anteil," entgegnete der König von Kerma.
"Tut Ihr das? Ihr habt Euch dem Schlangenfürst freiwillig angeschlossen, Músab."
"Auch mein Volk stand am Rande der Vernichtung. Die Wahl fiel mir leicht."
"Ihr dürft Sûladan nicht trauen. Er steht mit dem Dunklen Herrscher von Mordor im Bunde," rief Thorongil. "Er wird Kerma keine Hilfe schicken, wenn es erneut bedroht wird."
"Ich bedarf keinerlei Ratschläge hinsächlich der Sicherheit meines Volkes," entgegnete Músab scharf, ehe er sich wieder zu sammeln schien und freundlicher fortfuhr. "Ich hatte gehofft, auf Tol Thelyn mit Euch zu sprechen."
Thorongils Gesichtsausdruck blieb abweisend. "Ich gab Euch die Gelegenheit, zu sagen, was Ihr zu sagen habt, König Músab. Doch als zuletzt jemand, der mit Sûladan in Verbindung stand, meine Insel betreten hat, kam großes Leid über meine Familie. Dies werde ich nicht erneut zulassen. Ihr werdet Tol Thelyn nicht betreten."
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Re: Die Mehu-Wüste
« Antwort #11 am: 22. Jan 2019, 15:32 »
Músab betastete mit unterdrücktem Zorn seinen Nasenrücken. Die Begegnung mit Narissas Onkel, dem Herrn der Weißen Insel, hatte er sich anders vorgestellt. Einerseits konnte er natürlich verstehen, dass jemand, dessen Heimat von Suladân zerstört worden war, den Verbündeten des Sultanats von Qafsah zunächst nur wenig Vertrauen entgegen bringen konnte, doch andererseits hatte er gehofft, Thorongil klar machen zu können, dass er von Kerma nichts zu befürchten hatte.
„Ihr versteht nicht,“ sagte er langsam und betont. „Diese Allianz, die ich mit Suladân eingegangen bin, ist nicht mehr als ein zweckmäßiges Bündnis. Ich handelte es aus, weil es die einzige Option war, mein Volk noch zu retten.“
„Er hat recht,“ sagte Aerien, die sich unerwartet einmischte. „Kerma stand am Rande der Vernichtung durch den Tyrann Kashta. Ich war dabei.“
Thorongils harter Blick blieb zwar bestehen, doch Músab glaubte, zumindest den Anflug von Verstehen in den meergrauen Augen des Herrn des Turms zu erkennen. „Und was also verlangt Ihr nun von den Thelynrim, König Músab?“ fragte er.
„Ich verlange nur, dass Ihr mir die Gelegenheit gebt, zu beweisen, dass - trotz meines Bündnisse mit Suladân - Eurer Insel keine Gefahr durch Kerma droht. Ich kam an die Westküste Harads, um neue Verbündete zu finden und reise deshalb nun in das Königreich Ta-Mehu. Von den Thelynrim hatte ich mir Hilfe dabei erhofft, die Spur meines geflohenen Bruders Kashta zu verfolgen. Es liegt auch in Eurem Interesse, wenn seine Machenschaften ein für allemal beendet werden, will ich meinen.“
Thorongil schien zu überlegen. „Ta-Mehu sagt Ihr? Dieses Reich der Nekropolen und Totenkulte ist voller Gefahren, Músab. Ich hoffe, Ihr wisst, was Ihr tut.“
„Ich tue nur das, was ich für mein Volk als am besten erachte,“ erwiderte Músab. „Werdet Ihr mir also bei der Jagd nach Kashta behilflich sein?“
„Nun, Ihr versteht sicherlich, dass ich dieses Thema nicht zu meiner Priorität machen kann,“ antwortete Thorongil, nun im neutralen Tonfall. „Die liegt - wie bei Euch - auf der Sicherheit meiner eigenen Leute. Jener, die ihr Vertrauen in mich gesetzt haben. Doch als Geste meines guten Willens - und als Dank dafür, dass Ihr dafür gesorgt habt, dass sowohl Narissa als auch Aerien sicher zur Insel zurückgekehrt sind, werde ich meine Späher dazu anhalten, nach diesem Kashta Ausschau zu halten und sich nach Gerüchten über ihn umzuhören. Sollten sie etwas erfahren, werden wir Euch in Kenntnis darüber setzen.“
Músab nickte. Ein Anfang, immerhin. Dass ihm der Zutritt zur Weißen Insel verwehrt worden war, gefiel ihm noch immer nicht und hinterließ einen bitteren Nachgeschmack in seinem Mund. Dennoch war er froh, dass das Gespräch nun eine bessere Wendung genommen hatte.

Er tauschte sich noch eine ganze Weile mit dem Herrn der Thelynrim über die aktuelle Lage in Harad aus. Wenngleich Thorongil meist nur wenig preisgab, das Músab nicht bereits wusste, sah der König Kermas den Rest der Unterhaltung gleichwohl als Investition an, um das Vertrauen zwischen ihnen zum Wachsen zu bringen. Von Thorongil erfuhr er, dass der Krieg zwischen Qúsay und Suladân bislang nur wenige Auswirkungen gehabt hatte. Das Königreich im Südwesten Harads hatte ihren Verbündeten, dem Malikat Qúsays, kaum Truppen zur Hilfe geschickt. Auf Tol Thelyn hatte man gehört, dass es in Ta-Mehu interne Konflikte zwischen dem Königshaus und den einflussreichen Priestern des Totenkultes gab, die verhindert hatten, dass die militärische Macht von Ta-Mehu im Krieg eingesetzt wurde.
Als sich das Gespräch dem Ende entgegen neigte, sagte Músab: „Eine letzte Frage hätte ich da noch, Thorongil.“
Der Herr der Insel musterte Músab abwartend.
„Ich beabsichtige, meinen Neffen Prinz Gatisen als Unterhändler nach Gondor zu entsenden und hatte gehofft, auf Tol Thelyn würde sich vielleicht ein Schiff finden, das zu jenen Gestaden unterwegs sei.“
„Nun, Ihr habt Glück,“ erwiderte Thorongil. „Erst gestern kehrte eines unserer Schiffe aus Gondor zurück, und es wird in wenigen Tagen erneut dorthin aufbrechen. Ich kann Euch nicht sagen, was Prinz Gatisen in Gondor erwarten wird, oder ob ihm viel Erfolg bei seinem Auftrag beschieden sein wird, aber... ich denke, es ließe sich ein Platz an Bord des Schiffes für ihn finden... sofern er es unbewaffnet betritt.“
Músab nickte zufrieden. „Ich danke Euch, Thorongil.“ Er gab Gatisen einen Wink, und der junge Prinz legte seine Waffen ab.
Während Thorongil sich leise mit seinen Beratern unterhielt, trat Aerien auf Músab zu. Sie neigte respektvoll das Haupt und sagte: „Dies ist nun unser Abschied, Euer Majestät. Möget Ihr bei Eurer Fahrt Erfolg haben.“
„Hab‘ Dank, Aerien,“ erwiderte Músab freundlich. „Auch Narissa und dir sei Erfolg beschieden. Ich nehme an, ihr werdet euch einige Zeit auf Tol Thelyn erholen?“
Aerien blickte etwas beschämt beiseite. „Nein, wir... werden schon bald wieder aufbrechen.“
„In ein neues Abenteuer,“ rief Narissa, die in einiger Entfernung stand.
„Dann wünsche ich euch all das Glück, das ihr zum Bestehen dieses Abenteuers braucht,“ sagte Músab. „Und vergiss nicht - ihr seid Prinzessinnen Kermas, und in meiner Heimat stets willkommen.“
Aerien schien dieser Titel noch immer etwas peinlich zu sein. Doch sie verbarg es gut, denn es bedurfte Músabs gesamter Erfahrung, die Fassade des Mädchens zu durchschauen. „Ich danke Euch, König Músab. Dann... lebt wohl.“
„Bis zu unserem Wiedersehen,“ antwortete Músab.

Die Thelynrim kehrten mit Aerien, Narissa, Gatisen und Kani auf ihr Schiff zurück, während Músabs Garde das Lager für die Nacht in den windgeschützten Dünen nahe des Strandes aufschlug. Am kommenden Tag würden sie sich nach Süden wenden, und entlang der Küste reiten, bis sie das geheimnisvolle Reich von Ta-Mehu erreichten. Dort, so hoffte Músab, würde er die Verbündeten finden, die er zum Schutze seines Volkes brauchte, um nicht länger auf das Bündnis mit Suladân angewiesen zu sein...


Narissa, Aerien, Thorongil, Kani und Gatisen nach Tol Thelyn
« Letzte Änderung: 26. Jan 2019, 21:09 von Fine »
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Re: Die Mehu-Wüste
« Antwort #12 am: 26. Jan 2019, 20:48 »
Die ganze Reise über hatte Músab geschwiegen, eine bedrückte Miene formte sich zunehmend in seinem Gesicht.  Gleichmäßig wippte der Qore im Sattel seines Rappens, Lómarab, auf und ab. Die Sonne hatte bereits weit ihren Zenit überschritten und bald würde die tückische, kalte Nacht der Mehu Wüste einbrechen. Auf seinen Befehl würde das Nachtlager jedoch erst im Bur-Delta aufgeschlagen werden - dem mächtigen Fluss und gleichzeitig Lebensversicherung der Bewohner von Ta-Mehu. Mit jeder voranschreitenden Stunde  kamen sie ihrem ersten Ziel näher. Der beißende Nachgeschmack der glimpflich gelösten Verhandlung mit dem Turmherren, stieß Músab immer noch sauer auf.  Die Thelynrim hatten ihm den Zutritt nach Tol Thelyn verwehrt, dennoch konnte er am Ende sich die Unterstützung bei der Suche seines abtrünnigen Bruders sichern.  Kurz vor der Dämmerung hatte die Gruppe das Delta des rauschenden Flusses erreicht, hier teilte sich der Bur in mehrere kleine Flüsse und Bäche welche schließlich in die Bucht von Belfalas mündeten.
Nachdem die Pferde an die einzeln stehenden Palmen gebunden wurden, hatte man ein kleines Feuer entzündet.  Rundherum hatte sich die Gruppe nun hingesetzt und plante die restliche Reiseroute.  Alára, welcher von seinem Onkel einst als Diplomat nach Ta-Mehu entsandt wurde, kannte sich in diesen Gefilden am besten aus und so schlug er vor die Nordstraße zu nehmen welche später schließlich nach Lah'a'aun führen würde, dem Sitz des Königs und Hauptstadt des Königreichs.  "Die Lage in Ta-Mehu scheint angespannt... Es wird schwer werden Ta-Mehu in diesem Zustand als Verbündeten zu gewinnen." klärte Músab auf. "Wir nehmen die Route welche Alára vorgeschlagen hatte." mit einem Stock zeichnete er eine feine gerade Linie, als würde er eine Karte malen. " Mit genügend Glück werden wir auf dem Weg einige Bewohner des Landes oder Ansiedelungen finden, damit wir uns ein klareres Bild von der aktuellen Situation machen können." Alára nickte.
Wenig später war die Sonne nun vollständig verschwunden, nur die kleine Flamme sorgte für ein klein wenig Licht. Dicke Wolken hatten sich über den Mond gehangen, welche ihn wie eine dicke, schwere Wand hinter sich versteckten. Nur gelegentlich kam ein kleiner schwacher Schein des Vollen Mondes zum Vorschein. Die ersten Gardisten hatten die Nachtwache begonnen und Músab nutze die Chance um einen weiteren Blick in das Tagebuch von Faareha zu werfen...

~~~

Jahr 2061, Zweites Zeitalter
Yôzadar, Enklave der Arûwanâi, Kontinent Hyarnandor, Mittelerde

Ich habe Kush verlassen. Das Land meiner Heimat liegt hinter mir und es kommt mir so vor, als hätte ich eine ganz neue Welt betreten, obwohl noch immer derselbe Staub unter den müden Hufen meines Pferdes aufgewirbelt wird, wie er sich auch in Kush finden lässt. Mein Weg hat mich fort von der Schlucht geführt, in der mein Vater fiel und ich folgte den Spuren meiner geheimnisvollen Retter über viele Wegstunden durch die felsige Wüste im Grenzgebiet des unter dem Schatten liegenden Kush.

Ich bin froh, dass ich die Enklave von Yôzadar betreten durfte, ohne meine Waffen abzugeben. Die Menschen, die hier leben, stehen unter der Herrschaft des Schiffskönigs der See-Menschen. Jene, die über das Meer kamen und große Städte an seinen Ufern gründeten. Jene, die viel Segen zu den Menschen Mittelerdes brachten, wenn die alten Geschichten wahr sind. Heutzutage bin ich mir nicht sicher, ob die Schiffsherren wirklich nur auf das Wohl der Welt aus sind. Ich habe gehört, dass in einigen Häfen nun Tribute und andere Zahlungen von den umliegenden Menschenreichen eingefordert werden. Es soll Krieg im Süden gegeben haben, als sich Widerstand gegen diese Vorgehensweise regte.

Hier, inmitten der steinernen Wüste weit jenseits von Kush, spürt man noch nichts davon. Ich war überrascht, einen Vorposten der See-Menschen so weit entfernt vom Meer zu finden, doch offenbar sind die kleineren ihrer Schiffe so beschaffen, dass sie auch die meisten Flüsse befahren können. Die Enklave von Yôzadar liegt am Oberlauf eines der großen Ströme, die nach Westen zum großen Hafen namens Umbar fließen, dem wichtigsten Stützpunkt der Schiffsherren. Die Enklave wird von einer starken Mauer geschützt und verfügt über mehrere, wundersame Kriegsmaschinen, die stählerne Geschosse gegen jegliche Angreifer schleudern können. Die Wächter, die auf den Mauern patrouillieren, tragen Bögen aus purem Stahl, deren Durchschlagskraft und Reichweite ihresgleichen sucht. Die Menschen, die hier leben, sind allesamt von großer Statur und geben mir das Gefühl, klein und unbedeutend zu sein.
Umso überraschter bin ich deshalb noch immer davon, dass der Meister der Enklave, ein Mann namens Silmahtar, mir so bereitwillig sein Ohr lieh, als ich ihm von dem Schatten, der über Kush gefallen ist erzählte.

Nachdenklich starre ich auf die Felswüste im Osten hinaus, während ich mich mit den Händen auf den weißen, steinernen Zinnen des Wehrgangs oberhalb des Haupttores der Enklave abstütze. Silmahtar tritt neben mich, und sein meerblauer Umhang bauscht sich hinter ihm auf, gepackt von einer plötzlichen Brise. Sein Haar ist beinahe so lang wie meines, doch es ist deutlich heller. Als er mich ansieht, fallen mir erneut seine jadegrünen Augen auf, die mich zur Faszination bringen.
„Fareeha,“ sagte er, und seine Stimme ist ein Wohlklang für mich. „Ich habe nach dir gesucht.“
„Und nun habt Ihr mich gefunden, Meister,“ antworte ich, wie es sich geziemt.
Silmahtar lächelt. „Ich sagte es dir doch gestern bereits. Nicht so förmlich, wenn ich bitten darf.“ Er reicht mir seine Hand, und ich nehme sie; lasse mich von ihm entlang des Wehrganges führen. Er ragt über mir auf und ich muss den Kopf in den Nacken legen, um zu seinen Augen aufzublicken. Mit einem Mal weiß ich nicht, was ich sagen soll.
Es scheint ihn nicht weiter zu stören. „Ich habe heute Nachricht von einem der Kapitäne der Erkundungsflotte erhalten,“ sagt er im Plauderton. „Sie sind von einer Expedition in die östlichen Ozeane zurückgekehrt und sind dabei auch an der Küste des Reiches von Kush entlang gekommen.“
Ich horche auf. „Was haben sie gesehen?“ frage ich atemlos.
„Sie wurden angegriffen,“ erwidert Silmahtar ernst. „Jener Schatten, der sich Kushs bemächtigt hat, hat sich offenbar weiter ausgebreitet. Noch wagt er sich nicht auf das Meer, doch unsere Flotte konnte die Küste Kushs nicht länger betreten oder gefahrlos erforschen.“ Mit einem Mal lächelt er und lässt meine Hand los. „Doch für uns sind dies gute Nachrichten, Fareeha.“
„Weshalb?“
„Dass die Expeditionsflotte angegriffen wurde, ist nicht von der Hand zu weisen. Dies kann unser Hochkönig nicht hinnehmen, denn ein Angriff auf die Flotte Númenors ist ein Angriff gegen seine Autorität über die Meere dieser Welt. Tar-Atanamir ist ein stolzer Herrscher und wird seine Ehre verteidigen wollen.“
Ich horche auf. Die See-Menschen werden in den Krieg gegen den Schatten von Kush ziehen? „Was, wenn dies genau in der Absicht des Schattens liegt? Wenn er die Krieger deines Volkes an Land locken will, um sie gefangen zu nehmen und sich ihrer fortschrittlichen Waffen und Schiffe zu bemächtigen, Silmahtar?“ frage ich besorgt.
„Niemand hat es in diesem Zeitalter bislang gewagt, die Macht von Westernis ungestraft herauszufordern,“ sagt Silmahtar entschlossen. Erneut nimmt er meine Hand und umschließt sie mit beiden Händen. „Ich verspreche dir, die Gerechtigkeit wird siegen und der Schatten wird von deiner Heimat genommen werden.“
In seinen Augen leuchtet gerechter Zorn auf, und in meinem Herzen beginne ich vorsichtig, seinen Worten Glauben zu schenken...


« Letzte Änderung: 26. Jan 2019, 21:10 von Fine »
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Curanthor

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Re: Die Mehu-Wüste
« Antwort #13 am: 30. Apr 2019, 16:32 »
Kurz vor Músabs Abreise

Aglarân blickte noch den beiden jungen Frauen stumm hinterher, als sie zu einem weiteren Abenteuer aufbrachen. Niemand schenkte ihm Beachtung, doch er war es gewohnt. Aerien blickte sich noch nicht einmal um. Aufmerksam blickte er ihr nach, bis er die Segel am Horizont nicht mehr zu erkennen waren. Ihre Worte klangen noch immer in seinen Ohren, die sie für ihn übrig hatte, obwohl er so hart gegen ihren Traum von einem vereinten Volk gesprochen hatte. Tief in seinem inneren hoffte, noch einmal mit ihr sprechen zu können. Nachdenklich scharrte er mit seinem rechten Stiefel im Sand. Seine selbstauferlegte ursprüngliche Aufgabe, Mordor zu schwächen, indem er für dessen Widersacher im Süden kämpfte, hatte sie mit dem Ende der Schlacht um El Kurra erledigt. Niemals würde er wieder auf der Seite Mordors, oder dessen Verbündeten kämpfen. Selbst wenn König Músab noch so beteuerte, dass es zum Schutz seines Volkes sei und er so Mordors Macht von innen heraus schwächen könnte. Aglarân kannte sich im Süden nicht aus und konnte nicht sagen, wie Kerma sich schlagen würde, doch für ihn kam es nicht in Frage, auch nur darüber nachzudenken in diesem Land, das unter Mordors Hand lag, zu verweilen.

Als die Nacht hereinbrach, suchte Aglarân einen flachen Stein und einen Kalkstein. Darauf ritzte er in knappen Worten, dass er niemals wieder mit Mordor in Verbindung stehen würde und noch einigen unerledigten Dingen nachgehen muss. Eine Entschuldigung, dass er sich einfach davon machte, kam ihm erst gar nicht in den Sinn. Er hoffte, König Músab erinnerte sich daran, was er in dem Thronsaal gesagt hatte: „Jedoch biete ich Euch meine Hilfe als Verbündeter an.“ Damit war ihre Allianz an Músab selbst gebunden und nicht Kerma. Solange er jedoch im Bunde mit Mordor stand, konnte er dort jedoch nicht bleiben. Er hoffte, dass der König weise genug war, die Botschaft und seine Beweggründe zu verstehen, denn einen zweiten, einflussreichen Feind in der Welt brauchte er nicht.

Aglarân erhob sich und wandte sich nach Norden. Am Rand des Lagers sprach ihn eine Wache an, wohin er gehen würde. Er zögerte. Früher hätte er den Mann einfach niedergeschlagen und wäre seiner Wege gegangen, doch die Zeit in König Músabs Gefolge hatte seine Sicht auf die Dinge geändert. Er hatte gesehen, dass fast jeder dieser Männer eine Familie hatte, die zu Hause auf sie warteten. Er hatte gesehen, als sie nach der Schlacht um Assuit auf die Schiffe zurückgekehrt waren, was der Krieg mit den Angehörigen macht, die mit leeren Augen vor sich hin starrten und gelegentlich von Weinkrämpfen geschüttelt wurden. Er hatte gesehen, wie die Überlebenden der Gefechte, die keinen gefestigten Geist besaßen mit hohlem Blick vor sich hin starrten und wie betäubt über das Deck gewankt waren. Keiner dieser Menschen würde sich je von den Schrecken erholen, die sie erlebt hatten. Und doch war das alles ein Sandkorn in einer Sanduhr im Vergleich zu dem, was er in Durthang erlebt hatte. Aglarân merkte, wie die Wache unsicher seinen Speer umklammerte, sodass die Knöchel weiß wurden und hob beruhigend eine Hand. „Ich bin im Begriff dieses Land zu verlassen, der König weiß warum und ich denke nicht, dass Ihr mich auf halten könnt oder wollt.“ Die Wache blickte ihn einen Moment an und schluckte unmerklich, nickte aber dann und gab den Weg frei. Aglarân war nicht über die Reaktion verwundert. Bei dem Kampf gegen Balâkan bei EL Kurra hatte er den Krieger im Augenwinkel registriert. Er hatte mehrfach Anstalten gemacht in den Kampf einzugreifen, genau wie vier andere kermische Kämpfer, doch Aglarân hatte sie davon abgehalten. Balâkan ist ein ausgezeichneter Kämpfer, mit nur wenigen Schwachstellen, die er zu gut decken verstand. Ein Krieger, der weiß wo seine Schwächen liegen und wie diese auszugleichen sind, ist einem einfachen Soldaten weit überlegen.
Aglarân nickte knapp zum Abschied und wandte sich ziellos nach Norden.

Curanthor

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Die Oase
« Antwort #14 am: 9. Mai 2019, 06:07 »
Es waren bereits einige Tage vergangen, seitdem Aglarân Músabs Gefolge verlassen hatte, sein Proviant war mehr als zur Hälfte aufgebraucht, doch näherte er sich dem Rand der Wüste. Zumindest ging er davon aus, denn der Horizont flimmerte nicht mehr so extrem vor Hitze und der durchgehende Sand war kleinen Steinchen gewichen, die ein immerwährendes Knirschen von sich gaben, wenn er über sie lief. Ein wenig erinnerte ihn an das Geräusch von feuchten Schnee, der so ähnliche geknirscht hatte, als er im Grauen Gebirge unterwegs war. Fast vermisste er die Kälte, die ihn kaum gestört hatte, denn die Hitze hier machte sich vor allem durch das viele Schwitzen und den enormen Wasserverbrauch bemerkbar. Zum Glück hatte er drei Wasserschläuche von Músabs Dienern vor der Schlacht um El Kurra bekommen. Zwei davon waren bereits leer. Mit besorgenten Blick auf den letzten Trinkschlauch senkte er wieder seinen Arm, den er zum trinken angehoben hatte. Oasen oder Wasserstellen waren schwer zu finden, oder durch sehr viel Glück. Aglarân glaubte nicht an sein Glück, das hatte er noch nie getan. An Zufälle jedoch schon. Meistens waren sie jedoch nicht zu seinem Gunsten gewesen. Zum Beispiel seine Herkunft, die in Durthang ein großes Tabu gewesen war. Die Eisenglieder seiner Panzerhandschuhe knirschten. Mühsam öffnete er seine Hand, die er unbewusst zu Faust geballt hatte. Für einen kurzen Moment blitzte ein Bild aus seiner Vergangenheit vor seinem inneren Auge auf. Das Gesicht seines Ziehvaters. Die sonst so von Hass und Abscheu erfüllten grauen Augen starrten leblos an die Decke. Ein überraschter Gesichtsausdruck war für alle Ewigkeiten in verhassten Züge gebannt. Sein Schritt stoppte. Aglarân ballte beide Hände zur Fauste und genoss das Gefühl von damals, als er endlich seinem verhassten Ziehvater sein zu kleines und stumpfes Schwert in den Bauch rammen konnte. Wie er es mit aller Macht zur Seite gerissen hattem um die Wunde zur vergrößern. Es war ein erfüllendes Gefühl gewesen. Eine der seltensten Emotionen in seinem bisherhigen Leben. Ein wenig Enttäuschung machte sich ihm breit. Jetzt, da er ein erwachsener Mann war, begriff er erst durch was für eine Tortur er gegangen war. Selbst die normale Ausbildung der besten Krieger Durthangs war nicht so brutal gewesen. Er wusste das, immerhin hatte er mehrfach Wache gestanden, als vielversprechender Nachwuchs ausgebildet wurde. Aglarân hätte seinem Ziehvater so viel mehr antun können und müssen.
"Du hattest einen viel zu schnellen Tod, Sakalzîr", murmelte er leise. Es war das erste Mal nach über zwanzig Jahren, dass er diesen Namen in den Mund nahm. Noch immer hinterließ er einen bitteren Geschmack auf der Zunge. Seine Panzerhandschuhe knirschten. "Ich werde mich den Schatten meiner Vergangenheit stellen und das an das Licht bringen, was von mir ferngehalten wurde."
Sein Blick fixierte den Horizon, dort wo Mordor liegen musste. Etwas Weißes erhaschte seine Aufmerksamkeit. Er hob die Hand um seinen Blick gegen die brennenden Sonnenstrahlen abzuschirmen. Hinter drei flachen Hügel, ganz knapp am Horizont erkannte er einen weißen Würfel. Seine langjährige Erfahrung sagte ihm, dass dies ein Zelt sein musste. Dort, wo Menschen in der Wüste sich die Mühe machten ein Zelt zu errichten, musste es etwas Besonderes geben, sonst würde man sich die Kräfte sparen. Nachdenklich schätzte er die Entfernung ein und kam zu dem Schluss, dass es etwa einen halben Tag dauern würde, die Stelle zu erreichen. Die Wüste war trügerisch, was Entfernungen anging und seine Kraftreserven waren auch bald erschöpft. Ging er das Risiko ein, ausgelaugt womöglich in einen Kampf zu geraten, oder darauf zu hoffen so eine Wasserstelle zu finden und dabei zu verdursten, wenn er keine finden sollte?
Entschlossen setzte Aglarân sich in Bewegung. Er war zu weit gekommen, um jetzt in einer staubigen Einöde elend zu verrecken. Wenn er sterben würde, dann... Er grinste in sich hinein und murmelte: "... dann aufrecht stehend, mit einem Schwert in der Hand."

Seine Einschätzung stimmte. Die Dämmerung setzte ein, als er sich dem Zelt näherte. Doch der Zufall war ihm gnädig. Vor ihm lag eine große Oase. Ein paar Palmen drängten sich um den sechs mal acht Schritt großen Tümpel, bis auf das Zelt war keine Spur von Menschen oder anderen Lebewesen zu erkennen. Aglarân ließ misstrauisch sein Schwert aus der Scheide gleiten. Vielleicht war es eine Falle. Sein Blick glitt vom Zelt zu den Palmen und wieder zurück. Beides Orte, an denen man sich auf die Lauer legen konnte. Vorsichtig machte er einen Schritt nach vorn. Seine Intuition schrie ihm zu, dass es ein gefährlicher Ort war. Und sie log nicht. Ein bekanntes Sirren ließ ihn herumfahren. Stahl klirrte auf Stahl. Knurrend erhöhte Aglarân den Druck auf das gegnerische Schwert, das er auf Halshöhe abgefangen hatte. Vor ihm stand ein Krieger, der in eine komplett weiße Lederrüstung trug und in in einen weißen Kapuzenmantel gehüllt war. Selbst das Heft seines Schwertes und das Tuch vor dem Gesicht waren weiß. Die Erscheinung ließ ihn kurz stutzig werden, was der Fremde ausnutzte und seine schlanke Klinge ruckartig zurückzog. Aglarân gelang es nur dank seiner jahrelangen Erfahrung und brutalen Ausbilung gerade noch rechtzeitig den Druck von seinem Schwert zu nehmen, um nicht nach vorn zu taumeln.
"Warum so angespannt?", erklang eine hohe Stimme lässig und der in weiß gehüllte Krieger senkte seine Waffe - in dem Fall eine Kriegerin, denn die Stimme war eindeutig weiblich als sie weitersprach:" Ich wollte nur mal sehen, ob Eure Reflexe genauso gut sind, wie behaupted wird."
Aglarân hob misstrauisch seine Klinge an die Kehle der Fremden. Im Schatten der Kapuze konnte er ein Augenpaar aufblitzen sehen. Etwas schepperte gegen seinen Brustpanzer.
"Ihr seit in keiner Verfassung einen Kampf zu gewinnen, oder überhaupt einen gegen mich zu wagen, wenn ihr diesen billigen Trick nicht habt kommen sehen", sagte die Stimme nun mit deutlich enttäuschtem Unterton.
Er antwortete nicht, sondern blickte zu Boden. In dem Staub der Geröllwüste lag ein fein gebogener, sehr wertvoll aussehender Dolch, der augenscheinlich von der Fremden stammte. Wenn sie wollte, hätte sie ihn damit ernsthaft verwunden können, anstatt ihn nutzlos gegen seinen Brustpanzer zu werfen. Langsam senkte er sein Schwert, ließ jedoch nicht seine Achtsamkeit sinken.
"Ich habe von Euresgleichen gehört. Gerüchte und Geflüster. Verbotenes Getuschel", sagte er leise und legte den Kopf schief, "Wenn Ihr zu jenen Leuten gehört... den Geistern." Aglarân weigerte sich den richtigen Namen auszusprechen. In Mordor war es ein Todesurteil. Selbst ihn zu kennen war Hochverrat. Gleichzeitig stellte er fest, dass er nicht sofort alle Gewohnheiten aus seiner verhassten Heimat ablegen konnte.
Die Fremde schien indessen überrascht. "Ach? Es gibt tatsächlich Gerüchte über uns und mich? Das ist unwöhnlich. Normalerweise treten wir nie in Erscheinung. Das hier ist eine Ausnahme." Sie begann leise mit sich selbst zu reden, was er nicht verstand, ehe sie seufzte und lauter sagte: "Das ist es in der Tat. Eine einmalige Sache. Du gehst wieder in den Osten. Das ist die Botschaft, die ich überbringen soll."
Verwirrt blinzelte Aglarân und fragte stumpf, was er da soll.
"Den Spuren des Mondes folgen. Das waren die Worten. Gehe nach Osten und Folge der Spur des Mondes. Das ist schon mehr als deutlich."
"Warum soll ich einer Botschaft trauen von einer angeblichen Botin eines geisterhaften Geheimbundes, der schon seit Jahrhunderten in Mittelerde sein Unwesen treibt und dessen Existenz gar nicht bewiesen ist."
"Anhand Eurer Reaktion vorhin, scheint der Beweis erbracht zu sein", antwortete die Fremde prompt und wandte sich winkend ab, "Folge den Spuren, bis seinen Wurzeln."
Aglarân ging ihr hinterher und wollte sie packen, doch die Fremde war erstaunlich flink und wich ihm geschickt aus.
"Antworten gibt es dort, wo es Euch gesagt wurde. Das Zelt ist ein Geschenk der Ninquen, darin findet ihr Vorräte für die Reise."
Mit den Worten eilte die Fremde hinaus in die Einöde.
"Wartet!", rief er ihr hinterher, "Seid Ihr wirklich einer von ihnen?!"
"Nehmt Euch in Acht vor den Mórquen!", kam es zur Antwort, ehe ihre Gesalt in der brütenden Hitze verschwamm. Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Die Aufzeichnungen, die er sich heimlich durchgelesen hatte, waren nur sehr sparsam mit den Beschreibungen gewesen, doch die Mórquen konnten sich von der Furcht, die sie verbreiteten mit dem Hexenkönig messen. In der langen Zeitspanne, in der sie inaktiv waren, hatte man ihren Namen vergessen, doch waren sie offensichtlich noch irgendwo da draußen. Nachdenklich blickte Aglarân der Fremden hinterher. Wenn sich ihre Widersacher regten, so war es nur eine Frage der Zeit, bis Sauron ebenfalls sich die Mórquen zu Nutze machte. Dabei kam ihm ein Auszug aus einer der Aufzeichnungen in den Sinn:
Wenn es eine furchteinflößendere Macht als der namenlose Schrecken gab, dann waren es die Mórquen. Niemand weiß, wie sie aussahen, wer sie waren oder ob es überhaupt lebende Wesen waren. Wenn es eine Ausgeburt der Leere und des schwärzesten Abgrunds gab, so waren sie es. Nichts schien sich in ihren Weg stellen zu können. Lanzen splitterten, Schilde barsten und Schwerter verfehlten sie. Wenn sie irgendwo auftauchten, gab es keine Zeugen, die davon berichten konnten. Niemals hat ein lebendes Auge sie zu Gesicht bekommen und konnte davon berichten.

Aglarân straffte sich und verschob das Grübeln. Nur langsam verzog sich die Gänsehaut, die seinen Körper überzogen hatte. Er brauchte eine Mahlzeit und Ruhe, beides fand er in dem Zelt, wie es die Fremde gesagt hatte. Dennoch war es kein erholsamer Schlaf, da er irgendwie Wache halten musste und ständig über die Begegnung nachdachte.