Narissa, Aerien und Thorongil mit Karnuzîr aus Sarn AmrunTrotz des Gefangenen kamen sie gut voran und durchquerten die Wüste in westlicher Richtung, den Spuren der Menschengruppe folgend die sie außerhalb von Sarn Amrun entdeckt hatten. Aerien war sich inzwischen fast sicher, dass es sich dabei um den Silbernen Bogen handeln musste, denn je weiter sie nach Westen kamen, desto mehr wurde klar, dass die Gruppe groß war, und beinahe auf direktem Weg in Richtung von Tol Thelyn gezogen war.
"Ehe wir sie einholen wäre es gut, wenn ihr beiden mir ein wenig davon berichtet, wer sich da mit uns verbünden möchte. Vor kurzem kam eine Kriegerin namens Ta-er as-Safar auf die Insel. Edrahil kannte sie bereits aus Umbar, und seinem Rat folgend habe ich mir ihr Anliegen angehört. Aber das heißt nicht, dass ich ihr oder ihren Leute vertraue, selbst wenn Edrahil das tun sollte. Wisst ihr, der Herr der Spione Dol Amroths ist zwar einer unserer wichtigsten Verbündeten, aber auch er kann sich irren oder macht manchmal Fehler."
"Auch wenn er das wohl nie so offen zugeben würde," meinte Narissa grinsend.
Auch Aerien erlaubte sich ein kleines, verstohlenes Lächeln. Zwar hatte sie den Gondorer bislang kaum kennengelernt, aber ihr Eindruck von ihm schien sich eindeutig mit dem von Narissa zu decken. Edrahil war ein Mann der Tat und des Pläneschmiedens, der nur ungern Schwäche zeigte.
"Nun, ich bin jedenfalls gespannt, was er zu unserem gemeinsamen Freund sagen wird," sagte Thorongil, den die Sache ebenfalls zu amüsieren schien. "Ich bin mir zwar ziemlich sicher, dass ich alles Wichtige aus Karnuzîr rausgekriegt habe, aber Edrahil darf sich gerne nochmal dran versuchen."
"Das ist eine seiner Lieblingsbeschäftigungen," meinte Narissa.
"Gemein sein?" fragte Aerien und löste erneutes Gelächter aus.
"Genau!" rief Narissa gut gelaunt.
Am Abend entfachte Thorongil erneut ein Feuer, dessen Rauch er mit dem
osphlim unsichtbar machte. Er erzählte den beiden Mädchen von einem seiner vielzähligen Abenteuer, das er auf seinen Fahrten erlebt hatte.
"Ich stand also dort, bis zu den Knien in einem riesigen Sumpf, und das Wasser begann, ganz seltsam zu blubbern. Und hörte gar nicht mehr auf, bis die Oberfläche so richtig zu schäumen begann! Alles in mir schrie danach, auf einen der Weidenbäume zu klettern, aber der Schatz von König Taharqa dem Zweiten war beinahe zum Greifen nah, dort auf dem kleinen Podest zwischen zwei weißen, stark bemoosten Säulen, nicht einmal ein Dutzend Schritte entfernt. Ich riss mich also zusammen und mühte mich durch den widerlich stinkenden Schlamm, bis mein Fuß endlich auf festen Boden stieß. Und das war der Moment, in dem etwas mein linkes Bein packte."
Er machte eine dramatische Pause und blickte seine Zuhörerinnen scharf an - Narissa, die voller Erwartung dasaß, während Aerien eine Hand vor den Mund geschlagen hatte und mit der anderen Narissas Oberarm umklammert hielt.
"Moment mal," unterbrach Narissa und schaute verwundert zu Aerien herüber. "Deine Heimat, wo allerlei Schreckgespenster leben, kostet dich nicht einmal eine Minute Schlaf, aber dieses angebliche Sumpfmonster gruselt dich so sehr, dass ich dich kaum noch wiedererkenne?"
"I-ich grusele mich doch gar nicht," wehrte Aerien wenig überzeugend ab. "Dein Onkel erzählt einfach nur auf eine sehr...
packende Art und Weise, das ist alles. Ich würde mich doch vor einer...
Sumpfkreatur nicht fürchten."
"Ach, würdest du nicht?" stichelte Narissa.
"Es war keine Sumpfkreatur, sondern eine Schlange. Die größte, die ich je gesehen habe," fuhr Thorongil mit hochgezogener Augenbraue fort. "Ihr Körper war dicker als mein Bein, und als sie mich gepackt hatte, zerrte sie mit einer Kraft an mir, die mich glatt von den Beinen riss. Mitten in den Schlamm.
Das war eigentlich das unangenehmste daran, denn in den Sümpfen von Medewi hat sich eine wirklich widerliche Brühe angestaut, die so schlimm riecht wie nichts anderes auf dieser Welt. Es hat Wochen gedauert, bis ich den Geruch losgeworden bin. Melíril und ich haben wirklich alles versucht, nachdem ich sie in Umbar aufgesucht hatte. Ich sage euch, Mädchen, so oft wie damals habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gebadet - mehrfach am Tag, mal in Seifenwasser, mal in Meerwasser... am Ende versuchten wir es sogar mit Olivenöl. Das hat allerdings nur bewirkt, dass ich dann nach Sumpf
und Oliven stank."
"Und der Schatz? Hast du den Schatz gekriegt? Und was wurde aus der Schlange?" fragte Narissa atemlos.
"Ach, du kennst mich doch.
Natürlich habe ich den Schatz gekriegt. Allerdings stellte er sich als äußerst geschmackloser Pokal heraus, der nicht einmal aus Gold bestand, sondern aus Kupfer. Wahrscheinlich war sein symbolischer Wert höher als sein tatsächlicher. Vielleicht hat er im alten Kush irgendeine rituelle Bedeutung, oder so. Ich hab ihn an einen Händler in Tindouf verscherbelt. Und wisst ihr was? Für die Haut und den Kopf der Schlange hat er mir mehr gezahlt als für den blöden Pokal. Anscheinend kann man irgendwelche Heilmittel aus den Überresten der Schlange herstellen, und aus ihren Zähnen und dem Rest des Kopfes konnte man ihr Gift gewinnen. Ich habe jedenfalls beschlossen, nie mehr freiwillig auch nur einen Fuß in die Sümpfe von Medewi zu setzen."
"Das kann ich gut nachvollziehen," sagte Aerien. In Mordor gab es keine Sümpfe, also konnte sie sich nur vorstellen, wie solche Landstriche wirklich waren, aber nach allem was sie gehört hatte, schienen sie tatsächlich äußerst unangenehm zu sein.
"Nun sag' schon, wie du mit der Schlange fertig geworden bist," drängte Narissa.
"Ach, das war nichts besonderes," meinte Thorongil. "Ich rappelte mich auf, triefend vor Schlamm, und zog mein Schwert. Dann wich ich ihrem Biss mit einem schnellen Schritt zur Seite aus, drehte mich um, und rammte ihr die Klinge von hinten durch den Schädel. Und dann rutschte ich aus, und landete auf meinem Hinterteil, dass es nur so spritzte. Aber das Biest war tot, auch wenn es noch eine ganze Weile zuckte."
"Das bot bestimmt einen grandiosen Anblick," lobte Aerien.
"Nun, ich habe eben so meine Momente," gab Thorongil lächelnd zu.
In Sichtweite des Ozeans holten sie die Gruppe, deren Spuren sie gefolgt waren, tatsächlich ein. Und obwohl diese keinerlei Banner oder Feldzeichen mit sich führten, war es Aerien sehr schnell klar, dass es sich tatsächlich um den Silbernen Bogen handelte. Am Ende der Gruppe ritt eine Frau, die sich sofort zu ihnen umdrehte, als sie in Sichtweite kamen.
"Das muss Ta-er as-Safar sein," rief Aerien Narissa zu, und sie ritten näher an die Gruppe heran. Insgesamt waren es gute vier Dutzend Reiter, die in geordneten Zweierreihen hinterereinander her ritten. Narissas weißes Haar war weithin sichtbar, weshalb man sie schnell erkannte. Die Frau hielt an und wartete, bis Thorongils Gruppe sie erreicht hatten.
"Ihr kommt spät," sagte sie und nahm die Kapuze ab. Es war tatsächlich Ta-er. "Ihr seid doch viel früher als wir von Burj-al-Nar aufgebrochen. Habt ihr etwa unterwegs getrödelt? Und wen habt ihr da aufgegabelt?" Ihr Blick schweifte mit einem neugierigen Aufblitzen zu Karnuzîr hinüber, der gut gefesselt und geknebelt im Sattel hing und ins Leere starrte.
"Viele Fragen auf einmal," meinte Narissa schmunzelnd. "Ganz schön neugierig für eine Attentäterin."
Ta-er machte eine entschuldigende Geste, und Aerien sagte: "Wir waren schon auf Tol Thelyn, hatten aber... noch etwas Wichtiges zu erledigen. Und jetzt kehren wir dorthin zurück. Ta-er as-Safar, darf ich dir meinen geschätzten Vetter Karnuzîr Wüstenklinge vorstellen? Er kann leider gerade nicht so gut sprechen, also bitte entschuldige, dass er dir nicht antwortet. Aber ich bin mir sicher, er ist hocherfreut, dich zu sehen. Und Thorongil, den Herrn des Turms von Tol Thelyn, solltest du ja bereits kennen."
"Wir hatten bereits das Vergnügen, stimmt," sagte Thorongil begrüßend. "Es freut mich, dass der Silberne Bogen den Weg bis hierher gut überstanden hat. Dennoch würde ich gerne mit eurem Anführer sprechen, ehe ich zulasse, dass ihr die Überfahrt nach Tol Thelyn antretet."
"Natürlich. Der Schattenfalke ist bereits auf dem Weg zu Euch, Herr Thorongil," antwortete die Kriegerin.
Und tatsächlich näherte sich von der Spitze der Gruppe ein Reiter auf einem kräftigen hellbraunen Ross. Geschmeidig sprang er aus dem Sattel und deutete eine Verbeugung an. "Meinen Gruß, Turmherr. Mein Name ist Eayan al-Tayir, Anführer des Silbernen Bogens. Man nennt mich auch den Schattenfalken. Ihr habt sicherlich von mir gehört."
"Das habe ich," erwiderte Thorongil ungerührt. "Sowohl Gutes als auch Schlechtes. Ihr wollt Zuflucht auf der Weißen Insel suchen, wie ich hörte. Was sind Eure Beweggründe für diesen Schritt?"
"Unsere Feinde, die Assassinen Salemes, haben unsere versteckte Burg in den Bergen südlich von Ain Salah aufgespürt und angegriffen. Es war dort nicht mehr sicher für uns," gab Eayan offen zu.
"Ihr würdet mit Eurer Anwesenheit also einen weiteren Angriff auf Tol Thelyn provozieren," schlussfolgerte Thorongil ruhig. "Ihr versteht sicher, weshalb ich mich dabei sehr unwohl fühle. Mein Volk hat im letzten Jahr viel Leid erlebt und eine erneute Bedrohung ihrer Heimat kann und werde ich nicht zulassen."
"Durch unsere Gegenwart würden die Assassinen möglicherweise tatsächlich zu einem Angriff verleitet werden," antwortete Eayan ebenso gelassen. "Doch bedenkt in Eurer Entscheidung auch die Vorteile, die der Silberne Bogen Euch bieten würde. Wir wissen, wie man gegen die Assassinen kämpft und haben sie bei Burj-al-Nar erfolgreich abgewehrt. Viele ihrer besten Krieger sind gefallen, und die, die überlebt haben, sind in Schande geflohen und lecken nun ihre Wunden. Sie werden irgendwann zurückkehren, das stimmt, aber ich glaube, das dieser Zeitpunkt noch in weiter Ferne liegt. Saleme hat sich von Sûladan losgesagt, kann also nicht länger auf seine Unterstützung zählen. Meine Späher haben berichtet, dass der Statthalter von Qafsah, ein Mann namens Amenzu al-Irat, das Hauptquartier der Assassinen geplündert und beinahe vollständig zerstört hat. Natürlich haben diese Schlangen neben Qafsah noch andere Stützpunkte, aber zusammen mit ihrer Niederlage in der Vulkanburg haben sie kürzlich zwei schwere Rückschläge hinnehmen müssen."
"Nun, das klingt schon etwas besser," meinte Thorongil. "Doch sagt mir, Schattenfalke, was erwartet Ihr Euch von Eurer Zeit auf Tol Thelyn? Ich werde euch nicht einfach auf Kosten meines Volkes in meinem Land wohnen lassen."
"Das ist mir klar, Turmherr. Und wir werden Euch Eure Gastfreundschaft selbstverständlich vergelten. Wir werden unsere Kampftechniken und unser Wissen mit Euren Kriegern teilen und dafür sorgen, dass niemand unbemerkt auch nur in Sichtweise der Weißen Insel kommt. Wir werden Tol Thelyn jeglichen Schutz bieten, den wir können. Und wer weiß, vielleicht erwächst aus unserer Zusammenarbeit ja eines Tages ein dauerhaftes Bündnis?"
"Das wird sich noch zeigen," sagte Thorongil weiterhin unbeeindruckt und ließ seinen Blick über die anderen Mitglieder des Silbernen Bogens schweifen. "Also gut. Für's Erste gewähre ich dem Silbernen Bogen Zuflucht auf Tol Thelyn. Ich werde einen Boten entsenden, der ein Schiff aus dem Hafen herbringt - dann können wir all Eure Leute auf einen Schlag übersetzen."
"Ich danke Euch im Namen des Silbernen Bogens und all seiner Mitglieder," sagte Eayan und verbeugte sich erneut.
Während sie auf das Schiff warteten saßen Aerien und Narissa nebeneinander auf einem Felsen und genossen den Ausblick auf das Meer, auf dem sich die Nachmittagssonne spiegelte. Es ging ein leichter Wind, der für Wellen sorgte und eine angenehme Kühle auf ihre Gesichter legte.
Narissas Hand legte sich in Aeriens. "Ich bin froh, dass wir wieder hier sind," sagte sie leise.
"Das bin ich auch," antwortete Aerien ehrlich. "Als ich die Insel zuletzt sah, wurde sie von der Rückseite von Karnuzîrs Boot aus gesehen, immer kleiner, und ich war fest davon überzeugt, sie niemals wiederzusehen. Ich war mir sogar sicher, niemals mehr am Ufer des Meeres zu stehen. Karnuzîr wollte mich nach Durthang bringen, und dort einsperren, weißt du? Mit mir prahlen, und dank mir in der Gesellschaft der schwarzen Númenorer bis an die Spitze aufsteigen."
"Du weißt, dass ich das nicht zulassen konnte," stellte Narissa klar. "Das ist
unsere Geschichte, nicht Karnuzîrs. Er spielt darin höchstens die Rolle des Narren, der versucht hat, das Unzertrennbare zu trennen. Nämlich das Band, das uns beide verbindet."
Aerien nickte und spürte, wie sich ihr Hals zuschnürte. "Ich bin so froh, dass du gekommen bist, Rissa. Ich weiß nicht, wie ich hätte weiterleben sollen... ohne dich."
"Hee, nun werd' mir hier mal nicht gefühlsduselig," sagte Narissa und stupste Aerien spielerisch an. "Ich wäre für dich überall hingegangen, selbst bis in den Dunklen Turm. Irgendwann wird das hier oben," sie tippte Aerien fest gegen die Stirn, "schon noch ankommen, da bin ich mir sicher." Dabei lag ein freches Grinsen auf ihrem Gesicht.
"Werd nicht unverschämt," gab Aerien lachend zurück und schnappte nach Narissas Hand, doch diese zog sie blitzschnell weg.
"Zu langsam!" rief Narissa und sprang auf.
"Na warte, dir zeig' ich's!" Aerien bekam Narissas Bein zu fassen und zog fest daran, sodass ihre Freundin der Länge nach ins weiche Dünengras fiel. Und schon war Aerien über ihr und drückte sie zu Boden. "Hab' ich dich," stieß sie triumphierend hervor."
"Ja," sagte Narissa mit einem schiefen Grinsen. "Und was passiert jetzt?"
Doch ehe Aerien sie küssen konnte, fingen ihre Ohren Schritte auf, die näher kamen. Hastig setzte Aerien sich auf und entdeckte Ta-er as-Safar, die zu ihnen herübergeschlendert kam. Die Attentäterin schien die Lage mit einem einzigen Blick zu erfassen, ersparte sich jedoch (abgesehen von einer hochgezogenen Augenbraue) jeglichen Kommentar. "Das Schiff ist da, falls ihr es nicht bemerkt habt. Wenn ihr hier also nicht übernachten wollt, solltet ihr mitkommen."
"Dann los," sagte Narissa und erhob sich. "Ich kann's kaum erwarten, wieder nach Hause zu kommen."
Narissa, Thorongil, Aerien, Ta-er as-Safar und Eayan mit Karnuzîr und dem Silbernen Bogen nach Tol Thelyn