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Die Mehu-Wüste

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Narissa und Aerien von der Burg des Silbernen Bogens


Sie waren bei Sonnenaufgang aufgebrochen und ritten nun durch die Mehu-Wüste, die sich im Gebiet südlich von Umbar erstreckte. Eayan hatte ihnen genug Vorräte mitgegeben und ihnen gesagt, dass der Silberne Bogen ihnen so bald es möglich war zur Insel folgen würde. Karab und Grauwind trabten durch die felsige, baumlose Landschaft und die Sonne, die hoch am Himmel stand, wärmte das Land so sehr auf, dass die Luft in der Ferne geradezu zu flimmern schien. Aerien war froh, dass Narissa wusste, wohin sie reiten mussten. Während des Rittes erzählte ihre Freundin ihr, dass dieses Gebiet vor vielen Jahren unter der Herrschaft des Reiches der Turmherren gestanden hatte.
"Einst dehnte sich das Reich von Tol Thelyn bis nach Ain Salah aus," erzählte Narissa eifrig. "Damals stand dort eine starke Grenzfestung, die Sarn Amrun geheißen hatte."
"Ich wusste nicht, dass deine Vorfahren über ein so großes Reich geherrscht haben," sagte Aerien. "Ich dachte, hätten eher im Verborgenen, und von der Insel aus agiert."
"Das war erst nach dem Tod von Beorn I. der Fall," fuhr Narissa fort. "Damals wurde die Insel erobert und die Thelynrim flohen nach Gondor. Doch sie kehrten zurück und bauten den Turm wieder auf."
"Und wenn die Gerüchte stimmen, geschieht nun dasselbe," antwortete Aerien aufmunternd. "Ich bin mir sicher, deine Verwandten haben die Insel bereits wieder unter ihrer Kontrolle und gegen erneute Angriffe gesichert." Sie wusste, dass Narissa in der Hinsicht so ihre Zweifel hatte, und auch Aerien war sich nicht sicher, was sie auf Tol Thelyn wirklich finden würden. Doch sie spürte, dass ermutigende und hoffnungsvolle Worte genau das waren, was Narissa gerade brauchte.

Nach einem Tagesritt in einer geraden Linie nach Westen schlugen sie ihr Nachtlager in einer kleinen, versteckten Senke zwischen zwei großen Felsen auf. Sie reisten vorsichtig und abseits der Straße, jedoch ohne große Umwege in Kauf zu nehmen. Sie hatten genug Vorräte, um nicht auf Dörfer oder Städte angewiesen zu sein, und wenn es nach Aerien ging, wäre es ihr am liebsten, auf der Reise zur Insel auf keine anderen Reisenden zu treffen. Dann würde sie Narissa nämlich ganz für sich alleine haben.
Aufgrund von Narissas Vorsichtigkeit entzündeten sie kein Feuer. Und obwohl Narissa sie gewarnt hatte, dass es in der Wüste nachts sehr, sehr kalt werden konnte, fror Aerien unter der leichten Decke, die sie aus der Burg des Silbernen Bogens mitgebracht hatte. Narissa stand neben ihr und betrachtete sie einen langen Moment. "Soll ich dich wärmen, du zitternder, frierender Eiszapfen?" neckte sie.
Aerien schob schmollend die Unterlippe vor. "Das hast du doch von Anfang an so geplant."
"Schon möglich," antwortete Narissa grinsend und ging neben Aerien in die Hocke. "Also, wie entscheidest du dich?"
Anstatt einer Antwort schlang Aerien die frierenden Arme um sie und zog sie in eine enge Umarmung. Und so schliefen sie schließlich ein, aneinander gekuschelt und einander wärmend.

Am nächsten Morgen stand Aerien früh auf. Die Pferde waren nicht angebunden worden und streiften in der Nähe das Schlaflagers auf der Suche nach vereinzelt wachsendem Gras oder kleineren Pflanzen umher, hatten sich jedoch nicht allzu weit entfernt. Nachdenklich folgte Aerien Grauwinds Spuren und kam wenige Schritte später neben dem Tier zum Stehen, das anscheinend auf sie gewartet hatte. Sie strich sanft über Grauwinds Flanke und ließ die Hand durch seine Mähne gleiten.
"Manchmal frage ich mich, was uns wohl noch alles erwarten wird," sagte sie leise. "Und manchmal wünsche ich mir, du könntest mir einen weisen Rat geben. Du hast bestimmt schon viel gesehen und erlebt."
"Soweit ich weiß, war er noch nie verliebt," erklang Narissas Stimme hinter ihr, und Aerien drehte sich um. "Haben du und Grauwind etwa Geheimnisse vor mir?"
"Vielleicht," antwortete Aerien lächelnd. Als Narissa näher kam ergriff Aerien ihre Hand. "Wir sind beide der Meinung, dass du eindeutig hübscher bist, als es erlaubt sein sollte."
"Dasselbe könnte ich von dir sagen," antwortete Narissa mit geröteten Wangen. Dann küsste sie ihre Freundin lange und innig.

Bei Sonnenuntergang entdeckten sie in der Ferne eine große Schar von Reitern, die zu ihrer Linken in nordwestliche Richtung ritten. Aerien und Narissa spornten ihre Pferde zum Galopp an, um außer Sichtweite zu kommen.
"Das müssen Ta-mehu-Krieger gewesen sein," stellte Narissa fest.
"Auf wessen Seite stehen sie?" fragte Aerien und sah sich vorsichtig um, doch bislang waren keine weiteren Reiter aufgetaucht.
"Ich glaube, einer ihrer Fürsten oder Anführer war in Ain Séfra und schwor Qúsay beim Majles die Treue," rief sich Narissa die Ereignisse von damals in Erinnerung. "Ich habe damals nicht sonderlich gut aufgepasst, muss ich gesehen. Ich habe hauptsächlich auf Qúsay selbst geachtet."
"So gut sah er nun auch wieder nicht aus," neckte Aerien, was dazu führte, dass Narissa gefährlich nach an sie heranritt und ihr mit der Faust drohte. Doch sie lächelte ganz entzückend dabei, wie Aerien fand. "Ich muss aber zugeben, dass ihm die Augenklappe ein kampfgestähltes und gefährlich wirkendes Äußeres verleiht," fügte sie hinzu und duckte sich unter dem Schlag hinweg, den Narissa den Worten folgen ließ.
"Wenn er dir so gut gefällt, warum bist du dann nicht gleich in Ain Séfra geblieben?" gab Narissa spitz zurück. "Qúsay hätte bestimmt einen Platz für dich unter seinen Nebenfrauen gefunden."
"Er hat mehr als eine Frau?" wiederholte Aerien ungläubig. "Das stelle ich mir... anstrengend vor."
"Das ist hier in Harad bei einigen Stämmen so üblich," sagte Narissa achselzuckend. Aerien stellte sich für einen Moment vor, wie es wohl wäre, mit zwei Narissas befreundet zu sein, doch sie verwarf den Gedanken beinahe sofort wieder.
"Du bist genug für mich," stellte sie verliebt klar.

Einen Tag später zeigte Narissa nach rechts, während sie weiter durch die Wüste ritten. "Wenn wir jetzt hier abbiegen und dann geradeaus weiter nach Norden reiten, kommen wir nach Umbar. Ich frage mich, ob Edrahil sich dort noch aufhält."
"Vielleicht könnten wir uns die Stadt ansehen, wenn uns die Insel eines Tages zu klein geworden ist," schlug Aerien im Plauderton vor. "Ich habe Verwandte in der Stadt, die vielleicht noch nichts von meiner Flucht aus Mordor wissen."
"Umbar ist kein gutes Pflaster," eriwderte Narissa. "Dort herrscht Hasael, Qúsays unangenehmer Onkel. Das ist ein ganz übler Zeitgenosse, kann ich dir sagen."
"Bist du ihm etwa schon begegnet?" fragte Aerien.
"Nein, nicht persönlich," antwortete Narissa. "Aber Krieger aus seinem Stamm waren beim Angriff auf die Insel dabei. Das reicht mir schon als Grund, ihn nicht ausstehen zu können."
"Kann ich verstehen," meinte Aerien. "Also streiche ich Umbar von der Liste unserer zukünftigen Reiseziele."
"Es gibt noch viele andere schöne Orte in Mittelerde, die wir bereisen könnten," sagte Narissa. "Wenn all das vorbei ist - der Krieg, die Bedrohung durch Sauron, all das - dann sehen wir sie uns alle einen nach dem anderen an. Stell dir nur vor: die verwunschenen Wälder der Elben und die tiefen Hallen der Zwerge, sie stehen uns offen. Wir müssen nur hingehen."
"Und die Reiche der Dúnedain des Westens," schwärmte Aerien. "Ich muss dir die Weiße Stadt zeigen, Narissa. Und nach Dol Amroth möchte ich auch gerne gehen und in das Nordreich von Arnor, und..."
"Eines nach dem Anderen," unterbrach Narissa lachend. "Wir sind jung. Wir haben noch so viel Zeit."
"Ja," stimmte Aerien zu. "Wir beide, gemeinsam auf großer Reise. Nur du und ich."
"Nur du und ich," wiederholte Narissa leise.

Die Wüste zog an ihnen vorbei und veränderte sich dabei nur so geringfügug, dass es Aerien so vorkam, als kämen sie überhaupt nicht vom Fleck. Doch je weiter sie nach Westen kamen, desto bekannter kam Narissa die Gegend offensichtlich vor, denn immer öfter endeckte sie Stellen, die sie bereits während ihrer Ausbildung auf der Insel besucht hatte. "Jetzt ist es nicht mehr weit - vielleicht noch einen Tagesritt, und wir stehen am Ufer des großen West-Meeres, Aerien," sagte Narissa aufgeregt als sie unter einem überstehenden Felsen Schutz vor der Mittagssonne suchten. "Und dann bringe ich dich auf die Insel."
Da fiel Aerien auf, dass sie noch gar nicht darüber gesprochen hatte, wie genau die Überfahrt auf die Insel erfolgen würde. Sie hatte in ihrem Leben noch kein einziges Schiff zu Gesicht bekommen und konnte sich kaum vorstellen, wie hölzerne, schwere Konstruktionen einfach so über die Weiten des Meeres fahren konnten, ohne unterzugehen. Doch sie vertraute Narissa, und darauf, dass ihre Freundin einen Plan hatte, sie sicher über die Wellen und bis nach Tol Thelyn zu bringen. Also schluckte sie ihre Zweifel hinunter und ließ die frohe Aufregung zu, die in ihrem Inneren mehr und mehr anwuchs. Und dann, am Abend des nächsten Tages, war es schließlich soweit. Vor ihnen tauchte ein breites, blaues Band am Horizont, das Aerien zuerst an den Harduin erinnerte. Doch dann führten sie ihre Pferde an die Spitze einer flachen Düne, die oberhalb eines breiten Strandes lag, und ihnen den Anblick des Meeres in seiner ganzen majestätischen Pracht bot.

Aerien blieb schweigend auf Karabs Rücken sitzen und nahm den Eindruck viele lange Minuten in sich auf. Schließlich stieg sie ab, ließ Narissa sowie die Pferde wortlos stehen, und ging auf das Ufer zu, einen Schritt nach dem anderen in den weichen Sand setzend. Noch immer hatte sie kein Wort gesprochen. Das Rauschen der Wellen wurde lauter, und ein frischer Wind blies ihr ins Gesicht. Schwarze Haarsträhnen wirbelten um ihre Ohren, doch Aerien achtete nicht darauf. Kurz vor dem Punkt, an dem die Wellen ihren Ansturm gegen das Festland aufgaben und zurück in die endlosen Weiten Belegaers flossen, sank Aerien auf die Knie, überwältigt von all dem, was sich ihr hier auf einmal bot.
Eine sanfte Hand legte sich auf ihren Rücken, und Narissa strich ihr zärtlich über die Schulter, durchs Haar, über die Wange.
"So viel Wasser," flüsterte Aerien. "Ich habe... davon gelesen, aber... es ist... "
"Umwerfend, nicht wahr?" sagte Narissa und hockte sich neben sie, den Arm um Aeriens Taille gelegt. "Und wir sind genau rechtzeitig angekommen."
Aerien hob den Blick und sah die Sonne im fernen Westen ihre roten und goldenen Strahlen über die spiegelnde Wasseroberfläche werfen, während sie tiefer und tiefer sank. Es war der schönste Anblick, den sie sich in diesem Moment vorstellen konnte.
So saßen sie am Strand und teilten diesen unglaublichen Augenblick miteinander, und Aerien wünschte sich nichts sehnlicher, als dass er niemals vergehen würde.

Eandril:
Sie schlugen ihr Nachtlager am Fuß einer Düne auf, mit Blick auf das Meer. Narissa machte es sich unter ihrer Decke gemütlich, und sagte zu Aerien, die sich noch immer kaum gerührt hatte und auf das nächtliche Meer hinausblickte: "Wenn du es die ganze Nacht anstarrst, wirst du morgen vom Pferd fallen."
Erst einen Moment später reagierte Aerien, als ob die Worte erst langsam zu ihr durchdrangen: "Ich weiß. Es ist nur so... so..." Narissa schwieg einen Augenblick, und sah stumm zu den Sternen über ihr empor. Der Mond stieg langsam am Himmel hinauf, und zeichnete eine silbrige Spur auf das sanft bewegte Wasser. Auch wenn Narissa das Meer liebte, so wie Aerien jetzt hatte sie es nie empfunden - als sie das erste Mal an die Küste gekommen war, war sie halbtot gewesen. Und ein als zehnjähriges Mädchen, dass gerade ihre Mutter, ihren Vater und ihre gesamte bekannte Welt verloren hatte, hatte sie sich für die erste Zeit auf der Insel für nichts interessiert. Als sie Schock und Trauer schließlich überwunden hatte, hatte sie sich bereits an die Gegenwart der See gewöhnt, und dennoch ging ihre Liebe dazu sehr tief. Das Geräusch der Wellen, die sanft gegen das Festland stießen beruhigte sie, und gab ihr immer das Gefühl, zu Hause zu sein.
"Du hast nicht zu viel versprochen", sagte Aerien irgendwann leise, und Narissa musste lächeln. "Und du hast noch längst nicht alles gesehen", erwiderte sie. "Das Meer ist... so vielfältig und geheimnisvoll wie alles an Land." Ihr kam ein Gedanke, und sie musste leise lachen. "Ich weiß, warum es dir so sehr gefällt."
Aerien riss den Blick vom Meer los, und blickte sie verwirrt an. "Na, dein Name", erklärte Narissa. "Aerien - Meerestochter. Also wenn man so will, ist das Meer deine Mutter - oder dein Vater? Hmmm..."
Aerien streckte sich neben ihr aus, und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. "Vielleicht war es Schicksal, dass ich irgendwann ans Meer komme - aber ich bin froh, dass es auf diese Weise ist, und nicht an der Spitze eines Heeres aus Mordor."

Früh am nächsten Morgen brachen sie auf, und Aerien gähnte herzhaft als Karab sich in Bewegung setzte. "Ich hatte dich ja gewarnt", sagte Narissa mit gespieltem Vorwurf. "Ja ja", erwiderte Aerien unwillig, und ihr Blick wurde erneut vom Meer angezogen. Am Morgen hatte ein frischer Wind Wolken aus dem Westen herangetrieben, und das heute deutlich unruhigere Wasser wirkte beinahe grau. "Es sieht heute ganz anders aus als gestern", meinte Aerien, und Narissa musste über ihre Verwunderung lachen. "Ich habe dir ja gesagt, dass es vielfältig ist", gab sie zurück, und stieß Grauwind sanft die Hacken in die Flanken.

Sie folgten der Küste einige Meilen nach Süden, wobei sie zwei Fischerdörfer umgehen mussten. Eigentlich waren sie nah genug an Tol Thelyn, dass die Bewohner ihren freundlich gesonnen wären, doch bevor Narissa nicht genau wusste, was auf der Insel vor sich ging, wollte sie kein Risiko eingehen. Schließlich, hinter dem zweiten Dorf, kam ein grüner Fleck ein Stück vor der Küste in Sicht als sie die Spitze einer Düne erreichten.  "Ist das...", fragte Aerien, und Narissa antwortete: "Ja." Der Anblick verursachte ihr einen Kloß im Hals, und sie schluckte mühsam. "Tol Thelyn, die Weiße Insel - mein Zuhause." Über ein Jahr war es her, dass sie in einer Nacht von Feuer und Tod von dort geflohen war, und sie hatte Angst vor dem, was sie finden könnte.
"Es sieht sehr friedlich aus", sagte Aerien nachdenklich. "Lass uns hoffen, dass dieser Eindruck nicht trügt", erwiderte Narissa, bevor sie ihren Weg fortsetzten.

Schließlich trennte sie von der Insel nur noch ein nicht ganz zwei Meilen breiter Streifen Wasser. Die Wolken aus dem Westen waren langsam vorbeigezogen, und die Sonne schien immer öfter durch, als sie sich einem kleinen Wäldchen am Ufer des Meeres näherten, durch das ein kleiner Bach floss in dessen Mündung früher immer einige bewachte Boote versteckt gewesen waren. Gerade als sie am Rand des Wäldchens anhielten und absaßen kam sie Sonne hinter einer der letzten Wolken hervor, und auf der Insel blitzte etwas weißes in ihrem Schein auf. "Sieh nur", sagte Narissa, und deutete in die Richtung. "Das ist der Turm, der dort in der Sonne aufleuchtet."
"Er ist weiß...", sagte Aerien langsam, und Narissa warf ihr einen belustigten Blick zu. "Natürlich ist er das. Ich habe dir doch erzählt, dass..." Aerien jedoch ließ sich nicht beirren, und unterbrach sie: "Du hast erzählt, dass er gebrannt hat. Und Rauch schwärzt Steine, weshalb er eigentlich..."
"... nicht weiß sein dürfte", beendete Narissa den Satz, und spürte ihr Herz schneller schlagen.
Im selben Augenblick erklang eine Stimme zwischen den Bäumen: "Werft eure Waffen weg und dreht euch mit dem Rücken zu mir. Sofort." Aeriens Hand fuhr augenblicklich zu Lóminzagars Griff, doch Narissa grinste, stemmte die Hände in die Hüften, und wandte sich der Stimme zu. "Verdammt, Langlas. Begrüßt man so die verlorene Tochter der Insel?"
Für einen Moment lang herrschte Stille, und Narissa nickte Aerien, die die Hand wieder vom Schwertgriff genommen hatte, aufmunternd zu. Dann traten zwei bewaffnete Männer zwischen den Bäumen hervor, die ihre Verwunderung deutlich zeigten.
"Narissa?", fragte der eine, der deutlich númenorische Züge trug. "Wir hatten gehört, dass du noch lebst, aber wir wussten nicht..."
"... dass ich einfach so hier auftauche", beendete Narissa grinsend den Satz für ihn. "Woher auch. Es ist jedenfalls gut, dich zu sehen." Sie nickte auch dem anderen Mann, der mit seinen dunklen Augen und brauner Haut haradischer Abstammung war, zu. "Und dich ebenfalls, Yinsen. Wenn ihr beide hier seid... heißt das, dass die Thoroval entkommen konnte?" Beide Männer hatten zur Besatzung des kleineren Schiffes der Turmherren gehört, dessen Kapitän Hallatan gerüchteweise einst einer der Bewerber um die Hand ihrer Mutter gewesen war.
Langlas nickte zustimmend, und antwortete: "Ja, einige von uns konnten entkommen - und mehr noch sind zurückgekehrt. Du wirst es sehen."
Narissa lächelte noch breiter, und hieb tatsächlich mit der Faust durch die Luft, worauf Grauwind erschreckt schnaubte. "Ich wusste es", stieß sie hervor, doch auf Aeriens Blick hin verbesserte sie sich: "Na gut, ich habe es gehofft, seit wir die Gerüchte gehört haben. Könnt ihr uns übersetzen?"
Langlas nickte erneut. "Yinsen wird eure Pferde versorgen, und ich bringe euch zur Insel hinüber." Während sie ihm zwischen den Bäumen hindurch zur Mündung des kleinen Baches folgten, flüsterte Aerien Narissa zu: "Du hast nur gehofft, weil ich dich am Zweifeln gehindert habe." "Das ist wohl wahr", erwiderte Narissa eben so leise, und versetzte ihr einen heimlichen Kuss auf die Wange, bevor sie die Boote erreichten.
Narissa kletterte hinter Langlas, der die Ruder einlegte, an Bord, und fragte: "Kein Segel?"
Langlas schüttelte den Kopf. "Nein, die meisten sind drüben. Im Augenblick herrscht nicht viel Kommen und Gehen, und wir wollen hier möglichst wenig Aufmerksamkeit erregen."
Aerien, die unsicher neben dem Boot stehen geblieben war, fragte: "Seid ihr sicher, dass diese... Schale uns tragen wir?" "Natürlich", erwiderte Narissa. "Wie wolltest du sonst hinüberkommen?" Erst jetzt wurde ihr klar, dass jemand der in Mordor aufgewachsen war, vermutlich auch nie das Schwimmen gelernt hatte. "Wenn du reinfällst springe ich hinterher und rette dich. Also keine Sorge - du könntest höchstens ein wenig seekrank werden", fügte sie mit einem Augenzwinkern hinzu, und Aerien kletterte noch immer ein wenig unsicher ins Boot. Doch an ihren Augen erkannte Narissa, dass Aerien keineswegs Angst vor diesem Abenteuer hatte.
"Also dann - Leinen los!"

Narissa und Aerien nach Tol Thelyn

Fine:
Aerien mit Karnuzîrs Gruppe von Tol Thelyn


Karnuzîr hatte Aerien die Spielregeln auf der vor ihnen liegenden Reise klar und deutlich erklärt. Sie durfte sich frei bewegen, jedoch nie außer Sichtweite geraten. Anweisungen ihres Vetters hatte sie ohne Widerrede zu befolgen. "Wenn du brav bist, werde ich die Gerüchte und die Fakten über deine Flucht aus Mordor als unwahr darstellen und du wirst als Heldin heimkehren. Es wird so aussehen, als hättest du tatsächlich die ganze Zeit über für mich gearbeitet und hättest mir geholfen, entscheidende Informationen zu erlangen."
Aerien hatte sich schnell darauf eingelassen. Sie wusste, dass es dabei um die beste Möglichkeit handelte, den Rest ihres Lebens halbwegs erträglich zu machen. Ihr war klar, dass sie Mordor nie mehr verlassen würde, wenn kein Wunder geschehen würde. Und danach sah es nicht aus. Karnuzîr schien auf alles vorbereitet zu sein. Sie hatten die Insel in einem der Boote verlassen, die die versteckten Wachposten der Turmherren verwendet hatten. Am Ufer hatte eine große Gruppe Reiter bereits auf sie gewartet. Und jetzt preschten sie im hohen Tempo durch die Mehu-Wüste, nach Nordosten, während die Sonne langsam am Horizont versank.

Aerien fühlte sich seltsam. Nun, da ihre Flucht aus Mordor vorbei und gescheitert war, fiel eine gewisse Anspannung von ihr ab, derer sie sich, seitdem sie Narissa kennengelernt hatte, kaum noch bewusst gewesen war. Nun würde sie sich keine Sorgen mehr um Verfolger machen müssen und brauchte nicht mehr wachsam zu sein. Und immerhin würde nun keine Schande auf Azruphel oder ihrer Familie liegen, wenn Karnuzîr sein Versprechen hielt. Das Positive an der Sache zu sehen, half Aerien dabei, den schier endlos tiefen Schmerz in ihrem Herzen zumindest ein wenig abzuschwächen. Ihre Seele schloss alle Gedanken an das, was hätte sein können, und nun für immer zerstört war, kategorisch aus. Es war töricht gewesen, zu hoffen. Zu denken, dass sie den Schatten Mordors wirklich einfach so entkommen konnte. Dass Sauron ihr Leben freigeben würde.
Eines der wenigen Dinge, das noch intakt war, war ihre Leidenschaft für die Erben Númenors. Und während sie ihr Pferd dicht hinter Karnuzîr herlaufen ließ, begann Azruphel, Pläne zu schmieden. Vielleicht würde man ihr zur Belohung für ihre "Verdienste" im Süden erlauben, nach Minas Tirith zu gehen. Sie könnte versuchen, sich zur obersten Aufseherin der Weißen Stadt ernennen zu lassen, mit der Begründung, dass die Talente des Fürsten der Ringgeister an der Front gebraucht wurden. Der Einfluss ihres Vaters würde dafür eventuell ausreichen. Hätte sie diese Position erst erreicht, könnte sie versuchen, das Leben der versklavten Gondorer im besetzten Teil des Reiches angenehmer zu machen. Vielleicht könnte sie sogar die Waldläufer dazu bringen, sich friedlich zu ergeben, wenn sie sahen, wie gut es den Dúnedain Gondors unter Azruphels Herrschaft ging.

Die Reitergruppe hielt an einer Wegkreuzung an, was Azruphels Gedankengänge unterbrach. Rae und Breyyad standen etwas abseits und sprachen leise miteinander, ehe sie zu Karnuzîr herüberkamen.
"Der Krieg läuft nicht gut," sagte Breyyad mürrisch. "Rae und ich werden vorausreiten und uns dem zweiten Heer des Sultans anschließen, das bei Qafsah zusammengezogen wurde nachdem die erste Armee auf Aín Séfra marschierte. Wir werden dort dringender gebraucht als hier."
"Der Weg durch Harondor und Ithilien ist versperrt," fügte Rae hinzu. "Wahrscheinlich wäre es besser, ihr nehmt den längeren Weg - über Khand. Er ist sicherer."
Karnuzîr schien das nicht zu gefallen, doch er sagte: "Es wird meine triumphale Rückkehr etwas verzögern, aber so sei es. Wir reiten also nach Osten weiter."
Rae und Breyyad gaben ihren Pferden die Sporen und preschten in nordöstlicher Richtung davon.
"Also gut, dann werden wir eben einen Umweg machen," sagte ihr Vetter zu Azruphel. "Ursprünglich hatte ich vorgehabt, direkt nach Norden zu reiten... aber sei's drum. Nichts kann mich jetzt noch von meinem Ziel abhalten."
Azruphel erwiderte nichts. Zwar würde sie sich damit abfinden müssen, Karnuzîr fortan jeden Tag ihres Lebens zu ertragen, aber das bedeutete nicht, dass sie sich ihm gegenüber freundlich verhalten musste. Sie vermutete, dass er das auch gar nicht erwartete.
Sie ritten nach Osten weiter, bis die Nacht hereinbrach. Im Schutze mehrerer großer Felsen ordnete Karnuzîr an, das Nachtlager aufzuschlagen. Die haradischen Reiter schlugen ein Zelt für ihn auf. Azruphel befürchtete schon, er würde Hand an sie legen, doch offenbar kannte er die Gesetze der Schwarzen Númenorer gut genug um zu wissen, dass er sich gedulden musste, bis Azruphels Vater ihm sein Einverständnis gab. Karnuzîr ließ Wachen aufstellen und legte sich schlafen. Azruphel tat schließlich dasselbe, so weit wie möglich von ihm entfernt. Sie war froh, zumindest für einige Stunden den Schrecken dieses furchtbaren Tages entfliehen zu können.

Am Tag darauf behielt die Gruppe ihre vergleichsweise hohe Geschwindigkeit bei. Karnuzîr plante offenbar, in Suladans Reich neue Pferde zu bekommen und scherte sich daher kaum darum, dass sie ihre Reittiere bis zur Erschöpfung antrieben. Von den Bewohnern des Küstenlandes, durch das sie ritten, bekamen sie nichts mit. Azruphel fragte sich, ob der Krieg in Harad bereits so weit in den Süden gedrungen war. Sie hoffte, dass die Weiße Insel bis auf Weiteres davon verschont bliebe und Thorongil auf den Rat Meister Edrahils hören würde. Wenn Suladans Segel erneut am Horizont erschienen, würden die Dúnedain die Flucht ergreifen müssen.
Die felsigen Landschaft der Wüste zog an Azruphel vorbei, ohne dass sich ihre Stimmung verbesserte. Zwar war sie auf ihrem Weg nach Süden oft und viel geritten, doch gegen Mittag begannen ihre Schenkel wieder zu schmerzen. Der Sattel auf dem sie saß war nicht sonderlich bequem. Sie ärgerte sich darüber, dass Karnuzîr den längeren Weg nach Mordor nahm. In Ithilien hätte unter Umständen die verschwindend geringe Möglichkeit bestanden, in einen Hinterhalt der Waldläufer zu geraten, deren Vertrauen Azruphel ja immerhin teilweise erlangt hat. Doch nun war auch diese Hoffnung zunichte. Suladans Reich grenzte an Khand, und Khand grenzte an Mordor. Karnuzîr würde den gesamten Weg durch verbündete Gebiete zurücklegen können. Wenigstens sehe ich meine Mutter wieder, dachte Azruphel und klammerte sich an die kleinen positiven Eindrücke, die sie ihrer unvermeidlichen Rückkehr nach Mordor abgewinnen konnte.

Nach drei Tagen des eiligen Rittes durch die Wüste erreichten sie am späten Abend die Straße, die von Qafsah nach Umbar führte. Wie an den vorherigen Tagen ließ Karnuzîr sein Zelt errichten und Wachen aufstellen. Die Haradrim-Krieger, die mit ihnen ritten, schätzte Azruphel auf mindestens drei Dutzend, wenn nicht noch mehr. Sie alle trugen die Rote Schlange auf ihren Schilden.
Diesmal legte sich Karnuzîr nicht sofort schlafen. Er kam zu Azruphel hinüber und setzte sich neben sie. "Ich halte meine Versprechen," sagte er. "Wenn du dich an die Regeln hältst, wird dir, deiner Familie, und sogar deinen Freunden nichts geschehen... zumindest nicht durch meine Hand."
"Wie großzügig von dir," gab sie kalt zurück.
"So undankbar. Das werde ich dir noch austreiben," sagte er und kam unangenehm nahe. Seine Hand strich ihr durchs Haar. "Du wirst sehen, es wird dir bei mir wirklich nicht schlecht ergehen, wenn du mir gibst, was ich von dir verlange."
"Und das wäre?" fragte sie kritisch und zwang sich, ruhig zu bleiben.
"Mir eine treue Frau zu sein und mir einen Erben zu schenken," stellte er klar. "Sobald die rechtliche Lage geklärt ist und deine Familie der Heirat zugestimmt hat - und das werden sie. Und dann..." Er brach ab und seine Hand wanderte weiter zu Azruphels Gesicht, strich ihr vorsichtig über die Wange. Und sie ertrug es. Sie ertrug es, weil sie wusste, dass es die einzige Möglichkeit war, die ihr geblieben war. Sie ertrug es, indem sie sich in ihre Gedanken zurückzog und wartete, bis Karnuzîr fertig war. Sie ertrug es, sogar dann, als seine Hand an ihrem Hals hinabglitt und ihre Brüste betastete. Sie ertrug es... denn es blieb ihr nichts anderes mehr übrig.

Der Morgen kam, und mit ihm die Hitze des Sommers. Schnell sattelte die Gruppe wieder auf, nachdem das Zelt abgebaut worden war. Im Nordwesten stiegen Rauchschwaden auf und deuteten auf den Krieg hin, der dort tobte. Karnuzîr zog nachdenklich die Augenbrauen zusammen und murmelte: "Breyyad wird wohl dringender gebraucht als es ihm bewusst war." Dann gab er den Befehl zum Aufbruch. Sie folgten der Straße, was ihre Geschwindkeit noch mehr erhöhte, und preschten nach Osten nach Suladans Reich hinein.


Aerien mit Karnuzîrs Gruppe zur Harduin-Ebene

Eandril:
Narissa und Thorongil von Tol Thelyn

Narissa und ihr Onkel folgten der Spur, die Karnuzîrs Leute hinterlassen hatten, schweigend. Es hatte sie einige Zeit gekostet, ihre Pferde zu finden, die von ihren Feinden auseinander getrieben worden waren, und so hatten sie nur wenige Meilen zurücklegen können, bevor die Sonne untergegangen und es zu dunkel um den Spuren zu folgen, geworden war. So hatte Karnuzîr schließlich einen ganzen Tag Vorsprung gewonnen, doch seine Verfolger schlugen ein so hohes Tempo an und machten so wenig Pausen, wie sie ihren Pferden zumuten konnten, ohne dass diese zusammenbrachen.
Während der Nacht schlief Narissa nur wenig und unruhig, denn sobald sie einschlief plagten sie Träume, in denen immer wieder Bilder von allem, was sie in den letzten Wochen erlebt hatte, auftauchten. Sie fragte sich immer wieder, was davon Wahrheit, was Lüge, und was Teil eines größeren Plans in Diensten Mordors gewesen war.

Früh am Vormittag des zweiten Tages erreichten sie eine Stelle, an der Thorongil sein Pferd plötzlich anhielt und aus dem Sattel sprang. "Hier hat sich die Gruppe aufgeteilt", sagte er, während er aufmerksam den Blick über den sandigen Untergrund schweifen ließ. "Zwei sind nach Nordosten weiter geritten, während der Rest direkt nach Osten abgebogen ist."
"Und wem sollten wir folgen?", fragte Narissa. Ihre Stimme war rau, und jedes Wort sträubte sich dagegen, ausgesprochen zu werden. Thorongil zog die Augenbrauen zusammen, und blickte zuerst nach Norden. "Nach allem was ich weiß, herrscht in nördlicher Richtung Krieg - und außerdem glaube ich nicht, dass Karnuzîr mit Aerien alleine bleiben würde."
"Sie heißt Azruphel", stieß Narissa mit zusammengebissenen Zähnen hervor. "Azruphel von Aglarêth - bis zu ihrem Tod, oder..." Sie sprach es nicht aus, um das Flackern der Hoffnung zu ersticken. Wenn es zum Unvermeidlichen kam, würde konnte sie sich kein Mitleid leisten."
Ihr Onkel ging nicht darauf ein, sondern betrachtete einen weiteren Moment stumm die sich gabelnde Spur. Dann sagte er: "Wir sollten der größeren Gruppe folgen. Wären wir mehr, würde ich einen nach Nordosten schicken um diese beiden zur Strecke zu bringen, doch..." Er brach ab, und für einen winzigen Augenblick regte sich Narissas Schuldbewusstsein. Sie hatte darauf bestanden, dass niemand sonst sie begleiten würde, und nun wäre es nützlich gewesen. Doch wie auf dem Weg nach Qafsah hatte sie ihre Entscheidung getroffen, und würde mit allen Folgen leben.

Sie folgten der Spur weiter in einem Tempo, dass sie nicht lange durchhalten würden. Thorongil hatte nur kurz seine Bedenken geäußert, doch Narissa hatte ihn überzeugt: Sie mussten die Geschwindigkeit nicht lange durchhalten, nur bis sie Karnuzîr eingeholt hatten. Doch die Diener Mordors schienen ebenfalls eine hohe Geschwindigkeit an den Tag zu legen, und erst am Mittag des dritten Tages stellten Narissa und Thorongil fest, dass sie langsam zu ihren Feinden aufholten. Sie erreichten die breite Straße, die von Umbar nach Qafsah führte, und an dem Punkt, wo die Spur auf die Straße traf gab es wie zwei Mal zuvor Spuren eines Lagers. Doch dieses Mal war die Asche des kleinen Lagerfeuers nicht kalt, sondern warm.
"Sie sind nicht weit voraus", sagte Thorongil nachdenklich. "Höchstens einen halben Tagesritt. Wir sollten vorsichtig sein."
"Wir haben keine Zeit für Vorsicht", gab Narissa zurück, bemüht jede Emotion aus ihrer Stimme herauszuhalten, obwohl ihr Herz schneller zu schlagen begann. Abwesend betastete sie den Griff von Ciryatans Dolch.
"Die Spuren deuten auf mindestens drei Dutzend Krieger hin", meinte Thorongil ohne Zorn in seiner Stimme. Er hatte Narissa während der letzten Tage oft widersprochen, sie zurückgehalten und gemäßigt, doch immer ohne Zorn oder Aufregung. Und ein Teil von ihr wusste, dass alleine ihr Onkel dafür verantwortlich war, dass sie noch nicht dem Wahnsinn verfallen war. "Ich denke, da ist Vorsicht angemessen - einen offenen Kampf sollten wir auf jeden Fall zunächst vermeiden", fuhr er fort, und Narissa fragte: "Was schlägst du dann vor?"
"Wir werden bis heute Abend schnell weiterreiten, und dann keine Rast einlegen, sondern uns ihnen vorsichtig nähern. Wenn sie uns bis jetzt nicht bemerkt haben - und das können sie nicht - werden sie ganz normal ihr Lager aufschlagen und wir können sie endgültig einholen."
"Und heimlich nach und nach aus dem Spiel nehmen - zuerst die Wachen, dann die Schlafenden", schloss Narissa, und Thorongil nickte, bevor er sich wieder auf sein Pferd schwang.
"Heimlichkeit ist unser größter Vorteil - so ist es schon immer für unser Haus gewesen."
Narissa lächelte schwach, während sie Grauwind antrieb. "Du hörst dich beinahe an wie Großvater, er hat auch so geredet."
Thorongil verzog das Gesicht, erwiderte das Lächeln dann aber. "So ungern ich mit meinem Vater verglichen werde, in diesem Fall hat er recht. Nun denn, testen wir die Wachsamkeit unserer Feinde."

Narissa und Thorongil zur Harduin-Ebene

Fine:
Narissa, Aerien und Thorongil mit Karnuzîr aus Sarn Amrun


Trotz des Gefangenen kamen sie gut voran und durchquerten die Wüste in westlicher Richtung, den Spuren der Menschengruppe folgend die sie außerhalb von Sarn Amrun entdeckt hatten. Aerien war sich inzwischen fast sicher, dass es sich dabei um den Silbernen Bogen handeln musste, denn je weiter sie nach Westen kamen, desto mehr wurde klar, dass die Gruppe groß war, und beinahe auf direktem Weg in Richtung von Tol Thelyn gezogen war.
"Ehe wir sie einholen wäre es gut, wenn ihr beiden mir ein wenig davon berichtet, wer sich da mit uns verbünden möchte. Vor kurzem kam eine Kriegerin namens Ta-er as-Safar auf die Insel. Edrahil kannte sie bereits aus Umbar, und seinem Rat folgend habe ich mir ihr Anliegen angehört. Aber das heißt nicht, dass ich ihr oder ihren Leute vertraue, selbst wenn Edrahil das tun sollte. Wisst ihr, der Herr der Spione Dol Amroths ist zwar einer unserer wichtigsten Verbündeten, aber auch er kann sich irren oder macht manchmal Fehler."
"Auch wenn er das wohl nie so offen zugeben würde," meinte Narissa grinsend.
Auch Aerien erlaubte sich ein kleines, verstohlenes Lächeln. Zwar hatte sie den Gondorer bislang kaum kennengelernt, aber ihr Eindruck von ihm schien sich eindeutig mit dem von Narissa zu decken. Edrahil war ein Mann der Tat und des Pläneschmiedens, der nur ungern Schwäche zeigte.
"Nun, ich bin jedenfalls gespannt, was er zu unserem gemeinsamen Freund sagen wird," sagte Thorongil, den die Sache ebenfalls zu amüsieren schien. "Ich bin mir zwar ziemlich sicher, dass ich alles Wichtige aus Karnuzîr rausgekriegt habe, aber Edrahil darf sich gerne nochmal dran versuchen."
"Das ist eine seiner Lieblingsbeschäftigungen," meinte Narissa.
"Gemein sein?" fragte Aerien und löste erneutes Gelächter aus.
"Genau!" rief Narissa gut gelaunt.

Am Abend entfachte Thorongil erneut ein Feuer, dessen Rauch er mit dem osphlim unsichtbar machte. Er erzählte den beiden Mädchen von einem seiner vielzähligen Abenteuer, das er auf seinen Fahrten erlebt hatte.
"Ich stand also dort, bis zu den Knien in einem riesigen Sumpf, und das Wasser begann, ganz seltsam zu blubbern. Und hörte gar nicht mehr auf, bis die Oberfläche so richtig zu schäumen begann! Alles in mir schrie danach, auf einen der Weidenbäume zu klettern, aber der Schatz von König Taharqa dem Zweiten war beinahe zum Greifen nah, dort auf dem kleinen Podest zwischen zwei weißen, stark bemoosten Säulen, nicht einmal ein Dutzend Schritte entfernt. Ich riss mich also zusammen und mühte mich durch den widerlich stinkenden Schlamm, bis mein Fuß endlich auf festen Boden stieß. Und das war der Moment, in dem etwas mein linkes Bein packte."
Er machte eine dramatische Pause und blickte seine Zuhörerinnen scharf an - Narissa, die voller Erwartung dasaß, während Aerien eine Hand vor den Mund geschlagen hatte und mit der anderen Narissas Oberarm umklammert hielt.
"Moment mal," unterbrach Narissa und schaute verwundert zu Aerien herüber. "Deine Heimat, wo allerlei Schreckgespenster leben, kostet dich nicht einmal eine Minute Schlaf, aber dieses angebliche Sumpfmonster gruselt dich so sehr, dass ich dich kaum noch wiedererkenne?"
"I-ich grusele mich doch gar nicht," wehrte Aerien wenig überzeugend ab. "Dein Onkel erzählt einfach nur auf eine sehr... packende Art und Weise, das ist alles. Ich würde mich doch vor einer... Sumpfkreatur nicht fürchten."
"Ach, würdest du nicht?" stichelte Narissa.
"Es war keine Sumpfkreatur, sondern eine Schlange. Die größte, die ich je gesehen habe," fuhr Thorongil mit hochgezogener Augenbraue fort. "Ihr Körper war dicker als mein Bein, und als sie mich gepackt hatte, zerrte sie mit einer Kraft an mir, die mich glatt von den Beinen riss. Mitten in den Schlamm. Das war eigentlich das unangenehmste daran, denn in den Sümpfen von Medewi hat sich eine wirklich widerliche Brühe angestaut, die so schlimm riecht wie nichts anderes auf dieser Welt. Es hat Wochen gedauert, bis ich den Geruch losgeworden bin. Melíril und ich haben wirklich alles versucht, nachdem ich sie in Umbar aufgesucht hatte. Ich sage euch, Mädchen, so oft wie damals habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gebadet - mehrfach am Tag, mal in Seifenwasser, mal in Meerwasser... am Ende versuchten wir es sogar mit Olivenöl. Das hat allerdings nur bewirkt, dass ich dann nach Sumpf und Oliven stank."
"Und der Schatz? Hast du den Schatz gekriegt? Und was wurde aus der Schlange?" fragte Narissa atemlos.
"Ach, du kennst mich doch. Natürlich habe ich den Schatz gekriegt. Allerdings stellte er sich als äußerst geschmackloser Pokal heraus, der nicht einmal aus Gold bestand, sondern aus Kupfer. Wahrscheinlich war sein symbolischer Wert höher als sein tatsächlicher. Vielleicht hat er im alten Kush irgendeine rituelle Bedeutung, oder so. Ich hab ihn an einen Händler in Tindouf verscherbelt. Und wisst ihr was? Für die Haut und den Kopf der Schlange hat er mir mehr gezahlt als für den blöden Pokal. Anscheinend kann man irgendwelche Heilmittel aus den Überresten der Schlange herstellen, und aus ihren Zähnen und dem Rest des Kopfes konnte man ihr Gift gewinnen. Ich habe jedenfalls beschlossen, nie mehr freiwillig auch nur einen Fuß in die Sümpfe von Medewi zu setzen."
"Das kann ich gut nachvollziehen," sagte Aerien. In Mordor gab es keine Sümpfe, also konnte sie sich nur vorstellen, wie solche Landstriche wirklich waren, aber nach allem was sie gehört hatte, schienen sie tatsächlich äußerst unangenehm zu sein.
"Nun sag' schon, wie du mit der Schlange fertig geworden bist," drängte Narissa.
"Ach, das war nichts besonderes," meinte Thorongil. "Ich rappelte mich auf, triefend vor Schlamm, und zog mein Schwert. Dann wich ich ihrem Biss mit einem schnellen Schritt zur Seite aus, drehte mich um, und rammte ihr die Klinge von hinten durch den Schädel. Und dann rutschte ich aus, und landete auf meinem Hinterteil, dass es nur so spritzte. Aber das Biest war tot, auch wenn es noch eine ganze Weile zuckte."
"Das bot bestimmt einen grandiosen Anblick," lobte Aerien.
"Nun, ich habe eben so meine Momente," gab Thorongil lächelnd zu.

In Sichtweite des Ozeans holten sie die Gruppe, deren Spuren sie gefolgt waren, tatsächlich ein. Und obwohl diese keinerlei Banner oder Feldzeichen mit sich führten, war es Aerien sehr schnell klar, dass es sich tatsächlich um den Silbernen Bogen handelte. Am Ende der Gruppe ritt eine Frau, die sich sofort zu ihnen umdrehte, als sie in Sichtweite kamen.
"Das muss Ta-er as-Safar sein," rief Aerien Narissa zu, und sie ritten näher an die Gruppe heran. Insgesamt waren es gute vier Dutzend Reiter, die in geordneten Zweierreihen hinterereinander her ritten. Narissas weißes Haar war weithin sichtbar, weshalb man sie schnell erkannte. Die Frau hielt an und wartete, bis Thorongils Gruppe sie erreicht hatten.
"Ihr kommt spät," sagte sie und nahm die Kapuze ab. Es war tatsächlich Ta-er. "Ihr seid doch viel früher als wir von Burj-al-Nar aufgebrochen. Habt ihr etwa unterwegs getrödelt? Und wen habt ihr da aufgegabelt?" Ihr Blick schweifte mit einem neugierigen Aufblitzen zu Karnuzîr hinüber, der gut gefesselt und geknebelt im Sattel hing und ins Leere starrte.
"Viele Fragen auf einmal," meinte Narissa schmunzelnd. "Ganz schön neugierig für eine Attentäterin."
Ta-er machte eine entschuldigende Geste, und Aerien sagte: "Wir waren schon auf Tol Thelyn, hatten aber... noch etwas Wichtiges zu erledigen. Und jetzt kehren wir dorthin zurück. Ta-er as-Safar, darf ich dir meinen geschätzten Vetter Karnuzîr Wüstenklinge vorstellen? Er kann leider gerade nicht so gut sprechen, also bitte entschuldige, dass er dir nicht antwortet. Aber ich bin mir sicher, er ist hocherfreut, dich zu sehen. Und Thorongil, den Herrn des Turms von Tol Thelyn, solltest du ja bereits kennen."
"Wir hatten bereits das Vergnügen, stimmt," sagte Thorongil begrüßend. "Es freut mich, dass der Silberne Bogen den Weg bis hierher gut überstanden hat. Dennoch würde ich gerne mit eurem Anführer sprechen, ehe ich zulasse, dass ihr die Überfahrt nach Tol Thelyn antretet."
"Natürlich. Der Schattenfalke ist bereits auf dem Weg zu Euch, Herr Thorongil," antwortete die Kriegerin.
Und tatsächlich näherte sich von der Spitze der Gruppe ein Reiter auf einem kräftigen hellbraunen Ross. Geschmeidig sprang er aus dem Sattel und deutete eine Verbeugung an. "Meinen Gruß, Turmherr. Mein Name ist Eayan al-Tayir, Anführer des Silbernen Bogens. Man nennt mich auch den Schattenfalken. Ihr habt sicherlich von mir gehört."
"Das habe ich," erwiderte Thorongil ungerührt. "Sowohl Gutes als auch Schlechtes. Ihr wollt Zuflucht auf der Weißen Insel suchen, wie ich hörte. Was sind Eure Beweggründe für diesen Schritt?"
"Unsere Feinde, die Assassinen Salemes, haben unsere versteckte Burg in den Bergen südlich von Ain Salah aufgespürt und angegriffen. Es war dort nicht mehr sicher für uns," gab Eayan offen zu.
"Ihr würdet mit Eurer Anwesenheit also einen weiteren Angriff auf Tol Thelyn provozieren," schlussfolgerte Thorongil ruhig. "Ihr versteht sicher, weshalb ich mich dabei sehr unwohl fühle. Mein Volk hat im letzten Jahr viel Leid erlebt und eine erneute Bedrohung ihrer Heimat kann und werde ich nicht zulassen."
"Durch unsere Gegenwart würden die Assassinen möglicherweise tatsächlich zu einem Angriff verleitet werden," antwortete Eayan ebenso gelassen. "Doch bedenkt in Eurer Entscheidung auch die Vorteile, die der Silberne Bogen Euch bieten würde. Wir wissen, wie man gegen die Assassinen kämpft und haben sie bei Burj-al-Nar erfolgreich abgewehrt. Viele ihrer besten Krieger sind gefallen, und die, die überlebt haben, sind in Schande geflohen und lecken nun ihre Wunden. Sie werden irgendwann zurückkehren, das stimmt, aber ich glaube, das dieser Zeitpunkt noch in weiter Ferne liegt. Saleme hat sich von Sûladan losgesagt, kann also nicht länger auf seine Unterstützung zählen. Meine Späher haben berichtet, dass der Statthalter von Qafsah, ein Mann namens Amenzu al-Irat, das Hauptquartier der Assassinen geplündert und beinahe vollständig zerstört hat. Natürlich haben diese Schlangen neben Qafsah noch andere Stützpunkte, aber zusammen mit ihrer Niederlage in der Vulkanburg haben sie kürzlich zwei schwere Rückschläge hinnehmen müssen."
"Nun, das klingt schon etwas besser," meinte Thorongil. "Doch sagt mir, Schattenfalke, was erwartet Ihr Euch von Eurer Zeit auf Tol Thelyn? Ich werde euch nicht einfach auf Kosten meines Volkes in meinem Land wohnen lassen."
"Das ist mir klar, Turmherr. Und wir werden Euch Eure Gastfreundschaft selbstverständlich vergelten. Wir werden unsere Kampftechniken und unser Wissen mit Euren Kriegern teilen und dafür sorgen, dass niemand unbemerkt auch nur in Sichtweise der Weißen Insel kommt. Wir werden Tol Thelyn jeglichen Schutz bieten, den wir können. Und wer weiß, vielleicht erwächst aus unserer Zusammenarbeit ja eines Tages ein dauerhaftes Bündnis?"
"Das wird sich noch zeigen," sagte Thorongil weiterhin unbeeindruckt und ließ seinen Blick über die anderen Mitglieder des Silbernen Bogens schweifen. "Also gut. Für's Erste gewähre ich dem Silbernen Bogen Zuflucht auf Tol Thelyn. Ich werde einen Boten entsenden, der ein Schiff aus dem Hafen herbringt - dann können wir all Eure Leute auf einen Schlag übersetzen."
"Ich danke Euch im Namen des Silbernen Bogens und all seiner Mitglieder," sagte Eayan und verbeugte sich erneut.

Während sie auf das Schiff warteten saßen Aerien und Narissa nebeneinander auf einem Felsen und genossen den Ausblick auf das Meer, auf dem sich die Nachmittagssonne spiegelte. Es ging ein leichter Wind, der für Wellen sorgte und eine angenehme Kühle auf ihre Gesichter legte.
Narissas Hand legte sich in Aeriens. "Ich bin froh, dass wir wieder hier sind," sagte sie leise.
"Das bin ich auch," antwortete Aerien ehrlich. "Als ich die Insel zuletzt sah, wurde sie von der Rückseite von Karnuzîrs Boot aus gesehen, immer kleiner, und ich war fest davon überzeugt, sie niemals wiederzusehen. Ich war mir sogar sicher, niemals mehr am Ufer des Meeres zu stehen. Karnuzîr wollte mich nach Durthang bringen, und dort einsperren, weißt du? Mit mir prahlen, und dank mir in der Gesellschaft der schwarzen Númenorer bis an die Spitze aufsteigen."
"Du weißt, dass ich das nicht zulassen konnte," stellte Narissa klar. "Das ist unsere Geschichte, nicht Karnuzîrs. Er spielt darin höchstens die Rolle des Narren, der versucht hat, das Unzertrennbare zu trennen. Nämlich das Band, das uns beide verbindet."
Aerien nickte und spürte, wie sich ihr Hals zuschnürte. "Ich bin so froh, dass du gekommen bist, Rissa. Ich weiß nicht, wie ich hätte weiterleben sollen... ohne dich."
"Hee, nun werd' mir hier mal nicht gefühlsduselig," sagte Narissa und stupste Aerien spielerisch an. "Ich wäre für dich überall hingegangen, selbst bis in den Dunklen Turm. Irgendwann wird das hier oben," sie tippte Aerien fest gegen die Stirn, "schon noch ankommen, da bin ich mir sicher." Dabei lag ein freches Grinsen auf ihrem Gesicht.
"Werd nicht unverschämt," gab Aerien lachend zurück und schnappte nach Narissas Hand, doch diese zog sie blitzschnell weg.
"Zu langsam!" rief Narissa und sprang auf.
"Na warte, dir zeig' ich's!" Aerien bekam Narissas Bein zu fassen und zog fest daran, sodass ihre Freundin der Länge nach ins weiche Dünengras fiel. Und schon war Aerien über ihr und drückte sie zu Boden. "Hab' ich dich," stieß sie triumphierend hervor."
"Ja," sagte Narissa mit einem schiefen Grinsen. "Und was passiert jetzt?"
Doch ehe Aerien sie küssen konnte, fingen ihre Ohren Schritte auf, die näher kamen. Hastig setzte Aerien sich auf und entdeckte Ta-er as-Safar, die zu ihnen herübergeschlendert kam. Die Attentäterin schien die Lage mit einem einzigen Blick zu erfassen, ersparte sich jedoch (abgesehen von einer hochgezogenen Augenbraue) jeglichen Kommentar. "Das Schiff ist da, falls ihr es nicht bemerkt habt. Wenn ihr hier also nicht übernachten wollt, solltet ihr mitkommen."
"Dann los," sagte Narissa und erhob sich. "Ich kann's kaum erwarten, wieder nach Hause zu kommen."


Narissa, Thorongil, Aerien, Ta-er as-Safar und Eayan mit Karnuzîr und dem Silbernen Bogen nach Tol Thelyn

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