Milva von der StraßeHaushofmeister Czeslav war ein äußerst umfangreicher Mann mit stoppelkurz geschnittenen schwarzen Haaren, die an den Schläfen bereits grau wurden, einer Hakennase und zwei kleinen dunklen Augen, die tief in seinem massigen Schädel lagen. Mit leiser Stimme, die so gar nicht zu seinem äußeren Erscheinungsbild passen wollte, fragte er Milva, die vor seinem mit Papieren übersätem Schreibtisch stand: "Dein Name?" Er sah dabei nicht von dem Papier auf, auf das er mit einer ziemlich mitgenommenen Feder etwas schrieb.
"Milv... äh, Veijana", verbesserte Milva sich schnell. Obwohl sie nicht glaubte, dass ihr Name in Gortharia irgendjemandem bekannt war, hatte Ryltha darauf bestanden, dass sie ihren Decknamen nutzte - zur Sicherheit. Und bereits bei der ersten Gelegenheit hatte sie es vergessen. Czeslav hob langsam den Kopf, und obwohl es kaum möglich schien, verengten sich seine kleinen Augen noch weiter.
"Wie war das?", fragte er misstrauisch, während Milva fieberhaft nachdachte.
"Mein eigentlicher Name ist Veijana, Herr", antwortete sie schließlich. "Aber ich werde lieber Milva genannt - der Name liegt mir mehr."
Als sich die Falten auf der Stirn des Haushofmeisters glätteten, entspannte sie sich innerlich ein wenig.
"Also schön." Er kritzelte beide Namen auf ein Stück Papier. "Hast du bereits zuvor am Hof eines Adligen gearbeitet?"
"Ja, Herr. Ich gehörte zum Jagdgefolge des Herrn Hilmar Gyzor in Riavod", erwiderte Milva so respektvoll wie sie konnte. Es war natürlich gelogen, doch Ryltha hatte gemeint, eine solche Geschichte könnte nicht schaden - als Refenrenz oder so ähnlich.
"Und warum bist du nicht mehr dort?", fragte der Haushofmeister, während er langsam weiter schrieb.
"Herr Hilmar zog in den Krieg nach Westen, wo er fiel. Und da er keinen Erben hatte, wurde sein Haushalt aufgelöst und unter den anderen Adligen Riavods verteilt, und für mich gab es keinen Platz mehr." Dieser Teil der Geschichte entsprach tatsächlich der Wahrheit. Es hatte einen Adligen mit dem Namen Hilmar Gyzor in Riavod gegeben, der im Krieg gefallen war, ohne einen Erben zu haben - nur hatte Milva nie für ihn gearbeitet. Doch Ryltha und ihre Schwestern würden dafür sorgen, dass sich in Riavod ein Dokument finden ließ, dass ihre Geschichte bestätigte, falls sie Czeslav und seine Herrin nicht allein überzeugen konnte.
Czeslav nickte langsam, strich die Feder am Tintenfass ab und legte sie beiseite. Dann sah er Milva prüfend an, während er fragte: "Und hat es dir dort gefallen?"
Milva schüttelte langsam den Kopf, und befingerte nervös das untere Ende ihres Bogens. "Nein, Herr. Herr Hilmar hat oft... zu viel getrunken und dann... wurde er sehr zudringlich."
Auch dieser Teil der Geschichte war die Wahrheit, in Riavod hatte der Adlige einen ziemlich schlechten Ruf deswegen gehabt.
"Du bist ehrlich, das ist gut", erwiderte Czeslav, und wuchtete sich ein wenig mühsam aus seinem Stuhl. "So etwas wird hier nicht vorkommen, Herrin Velmira wacht streng über ihren Haushalt."
"Das ist mir bewusst", meinte Milva, und ergriff den ihr angebotenen massigen Arm, obwohl ihr erster Reflex war, zurück zu zucken. "Ich hatte von ihrem Ruf gehört, und mich deshalb dafür entschieden, hier mein Glück zu versuchen."
Dieser Teil war ebenfalls sehr wichtig, hatte Ryltha ihr eingeschärft: Sie musste einen Grund haben, warum sie ausgerechnet bei dieser Adligen eine Anstellung suchte.
Der Haushofmeister führte sie aus dem Zimmer und durch eine kleine Seitentür aus dem Hauptgebäude hinaus in einen auf drei Seiten von überdachten Gängen umgebenen Innenhof. Auf der vierten Seite, der Ostseite, grenzte der Hof an die äußere Mauer des Anwesens, und dort war eine einzelne Zielscheibe aufgehängt worden. Am gegenüberliegenden Ende des Hofes blieb der Haushofmeister stehen, und ließ Milva los.
"Zeig mir, was du kannst", forderte er sie auf, und trat einen Schritt zurück. Milva löste den Bogen aus seiner Halterung und strich sanft über das Material, dessen Art ihr noch immer unbekannt war. Es war einige Zeit her, dass sie zuletzt geschossen hatte - das war als sie Aivari und Inari begegnet war gewesen - doch jede nötige Bewegung hatte sich über die Jahre unwiderruflich in ihren Körper eingebrannt, und sie musste nicht mehr darüber nachdenken, was sie tat.
Mit einer fließenden, schnellen Bewegung zog sie einen Pfeil aus dem Köcher, legte ihn auf die Sehne und schoss. Einen Herzschlag später bohrte sich die Pfeilspitze mit einem dumpfen Aufschlag genau in die Mitte der Zielscheibe, und Czeslav hob anerkennend eine dünne Augenbraue.
Ohne Zögern schickte Milva einen zweiten Pfeil hinterher, der direkt neben dem ersten einschlug, so dicht, dass die Federn an den Schäften sie auseinander drückten. Aus dem Rundgang hinter ihr hörte sie ein langsames Klatschen, und als sie sich umwandte stand dort eine sehr dünne, edel gekleidete Frau mit kurzen grauen Haaren und sagte: "Sehr gut, Mädchen, wenn auch etwas angeberisch."
Czeslav versank in einer Verbeugung, und bedeutete Milva mit einer unauffälligen Geste, das gleiche zu tun.
"Herrin Velmira", sagte der Haushofmeister respektvoll, und Milva versuchte die Adlige unauffällig zu beobachten. Sie war mittelgroß und so dünn, dass man sie beinahe dürr nennen konnte, doch ihre schwarzen Augen strahlten trotz ihrer Statur und der grauen Haare eine große Kraft und aufmerksame Strenge aus. "Das ist Milva", fuhr Czeslav fort. "Sie ist eine mögliche Kandidatin für..."
"... die freie Stelle in meinem Jagdgefolge. Ja, das habe ich mir bereits gedacht", schnitt Herrin Velmira ihm ohne Weiteres das Wort ab. Dann trat sie in den Innenhof hinaus, und streckte Milva auffordernd die Hand entgegen. Nach einem kurzen Moment der Verwirrung reichte Milva ihr schließlich zögerlich ihren Bogen, den die Adlige kurz in der Hand wog.
"Hm. Mehr als nur eine Kandidatin, würde ich sagen." Sie gab Milva den Bogen zurück, die ihn erleichtert sofort wieder auf ihrem Rücken befestigte, und fügte hinzu: "Das ist ein ziemlich guter Bogen, Kind. Ich selbst habe versucht, das Bogenschießen zu erlernen, aber ich bin ein hoffnungsloser Fall, fürchte ich."
Milva warf Czeslav einen hilfesuchenden Blick zu, doch der Haushofmeister verzog keine Miene und kam ihr nicht zur Hilfe.
"Nun, das... äh... ich bin sicher ihr könntet...", begann sie deshalb zaghaft, doch Herrin Velmira schnitt ihr das Wort ab, indem sie mit einem langen dünnen Zeigefinger vor ihrer Nase wedelte, und Milva musste alle Willenskraft zusammennehmen, um nicht zurück zu zucken. "Sei still, Mädchen. Ich bin alt genug zu wissen, was ich kann und was nicht. Und zum Schießen habe ich dann dich und die anderen Jäger." Anscheinend war Milvas Einstellung für sie bereits beschlossene Sache.
"Hast du bereits eine angemessene Unterkunft in der Stadt?", fragte die Adlige jetzt. "Man hört dir an, dass du nicht hierher kommst - aus Dorwinion vielleicht?"
"Äh... ja, Herrin. Vom Carnen", antwortete Milva, und Herrin Velmira schüttelte den Kopf. "Tse tse tse, du musst lernen weniger
äh zu sagen und flüssiger zu reden, Kind. Also, hast du jetzt eine Unterkunft, oder nicht?"
"Also, ich habe... ein Zimmer in einem Gasthaus, im nördlichen Händlerviertel", erwiderte Milva wahrheitsgemäß, bemüht nicht "äh" zu sagen, und so flüssig wie möglich zu sprechen.
"Ein Gasthaus, pah." Velmira wandte sich an Czeslav, dem Schweißperlen auf der Stirn standen. Die Sonne brannte heiß auf den Innenhof hinunter, und auch Milva spürte, wie sie zu schwitzen begann - nur Herrin Velmira schien die Temperatur überhaupt nicht zu spüren. "Gib ihr Geld, Czeslav - genug, dass sie sich irgendwo in der Nähe ein kleines Zimmer mieten kann, bis wir einen Platz für sie gefunden haben." Und an Milva gerichtet fügte sie hinzu: "Betrachte es als Vorschuss auf deine erste Bezahlung - Geschenke werden nicht gemacht. Ich freue mich darauf, dich auf der Jagd erleben zu können."
Damit rauschte sie durch den Rundgang davon, und ließ Milva mit dem Haushofmeister im Innenhof stehen.
"Wie es aussieht, bist du eingestellt", meinte Czeslav mit einem Seufzer, und Milva zuckte nur mit den Schultern. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte, denn der Auftritt der alten Adligen hatte sie etwas überwältigt.
Der Haushofmeister führte sie zurück in sein Arbeitszimmer, wo er ihr einen verdächtig schweren Geldbeutel in die Hand drückte, und sagte: "Sobald du eine Unterkunft gefunden hast, kommst du wieder her und benachrichtigst mich über den Ort. Du wirst an jedem Morgen von der ersten Stunde vor Sonnenaufgang bis zur dritten Stunde nach Sonnenaufgang dort oder hier bereit stehen müssen, ob ein Diener dich zur Jagd ruft. Danach hast du insofern frei, dass du dich nicht mehr dort aufhalten musst und es keine negativen Folgen hat, wenn wir dich nicht erreichen können. Dennoch, wenn etwas anfällt und wir dich zu dieser Tageszeit erreichen, hast du Folge zu leisten. Verstanden?"
Milva nickte langsam, denn die Bedingungen erschienen ihr angenehm, und Czeslav wirkte zufrieden. Er schob ihr das Papier, auf dem er bei ihrem ersten Gespräch geschrieben hatte, und eine Feder zu, und sagte: "Unterschreib bitte hier."
Milva spürte, wie sie errötete. "Ich... ich weiß nicht wie", erwiderte sie verlegen. "Ich habe nie gelernt zu schreiben."
Der Haushofmeister verdrehte die Augen. "Dann setz meinetwegen irgendein Zeichen darunter, irgendetwas was bestätigt, dass du hier warst und von mir angestellt wurdest."
Zögerlich ergriff Milva die Feder, tauchte sie einmal ins Tintenfass, und zeichnete dann einen Vogel in die rechte untere Ecke des Dokumentes - eine Weihe. "Sehr gut", meinte Czeslav, und ließ sich mit einem Ächzen wieder in seinen Stuhl fallen, der bedenklich knarzte. "Willkommen am Hof der Herrin Velmira Bozhidar."
Milva in die Straßen Gortharias