Das Schicksal Mittelerdes (RPG) > Gortharia

Bozhidar-Anwesen

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Eandril:
Milva von der Straße

Haushofmeister Czeslav war ein äußerst umfangreicher Mann mit stoppelkurz geschnittenen schwarzen Haaren, die an den Schläfen bereits grau wurden, einer Hakennase und zwei kleinen dunklen Augen, die tief in seinem massigen Schädel lagen. Mit leiser Stimme, die so gar nicht zu seinem äußeren Erscheinungsbild passen wollte, fragte er Milva, die vor seinem mit Papieren übersätem Schreibtisch stand: "Dein Name?" Er sah dabei nicht von dem Papier auf, auf das er mit einer ziemlich mitgenommenen Feder etwas schrieb.
"Milv... äh, Veijana", verbesserte Milva sich schnell. Obwohl sie nicht glaubte, dass ihr Name in Gortharia irgendjemandem bekannt war, hatte Ryltha darauf bestanden, dass sie ihren Decknamen nutzte - zur Sicherheit. Und bereits bei der ersten Gelegenheit hatte sie es vergessen. Czeslav hob langsam den Kopf, und obwohl es kaum möglich schien, verengten sich seine kleinen Augen noch weiter.
"Wie war das?", fragte er misstrauisch, während Milva fieberhaft nachdachte.
"Mein eigentlicher Name ist Veijana, Herr", antwortete sie schließlich. "Aber ich werde lieber Milva genannt - der Name liegt mir mehr."
Als sich die Falten auf der Stirn des Haushofmeisters glätteten, entspannte sie sich innerlich ein wenig.
"Also schön." Er kritzelte beide Namen auf ein Stück Papier. "Hast du bereits zuvor am Hof eines Adligen gearbeitet?"
"Ja, Herr. Ich gehörte zum Jagdgefolge des Herrn Hilmar Gyzor in Riavod", erwiderte Milva so respektvoll wie sie konnte. Es war natürlich gelogen, doch Ryltha hatte gemeint, eine solche Geschichte könnte nicht schaden - als Refenrenz oder so ähnlich.
"Und warum bist du nicht mehr dort?", fragte der Haushofmeister, während er langsam weiter schrieb.
"Herr Hilmar zog in den Krieg nach Westen, wo er fiel. Und da er keinen Erben hatte, wurde sein Haushalt aufgelöst und unter den anderen Adligen Riavods verteilt, und für mich gab es keinen Platz mehr." Dieser Teil der Geschichte entsprach tatsächlich der Wahrheit. Es hatte einen Adligen mit dem Namen Hilmar Gyzor in Riavod gegeben, der im Krieg gefallen war, ohne einen Erben zu haben - nur hatte Milva nie für ihn gearbeitet. Doch Ryltha und ihre Schwestern würden dafür sorgen, dass sich in Riavod ein Dokument finden ließ, dass ihre Geschichte bestätigte, falls sie Czeslav und seine Herrin nicht allein überzeugen konnte.
Czeslav nickte langsam, strich die Feder am Tintenfass ab und legte sie beiseite. Dann sah er Milva prüfend an, während er fragte: "Und hat es dir dort gefallen?"
Milva schüttelte langsam den Kopf, und befingerte nervös das untere Ende ihres Bogens. "Nein, Herr. Herr Hilmar hat oft... zu viel getrunken und dann... wurde er sehr zudringlich."
Auch dieser Teil der Geschichte war die Wahrheit, in Riavod hatte der Adlige einen ziemlich schlechten Ruf deswegen gehabt.
"Du bist ehrlich, das ist gut", erwiderte Czeslav, und wuchtete sich ein wenig mühsam aus seinem Stuhl. "So etwas wird hier nicht vorkommen, Herrin Velmira wacht streng über ihren Haushalt."
"Das ist mir bewusst", meinte Milva, und ergriff den ihr angebotenen massigen Arm, obwohl ihr erster Reflex war, zurück zu zucken. "Ich hatte von ihrem Ruf gehört, und mich deshalb dafür entschieden, hier mein Glück zu versuchen."
Dieser Teil war ebenfalls sehr wichtig, hatte Ryltha ihr eingeschärft: Sie musste einen Grund haben, warum sie ausgerechnet bei dieser Adligen eine Anstellung suchte.
Der Haushofmeister führte sie aus dem Zimmer und durch eine kleine Seitentür aus dem Hauptgebäude hinaus in einen auf drei Seiten von überdachten Gängen umgebenen Innenhof. Auf der vierten Seite, der Ostseite, grenzte der Hof an die äußere Mauer des Anwesens, und dort war eine einzelne Zielscheibe aufgehängt worden. Am gegenüberliegenden Ende des Hofes blieb der Haushofmeister stehen, und ließ Milva los.
"Zeig mir, was du kannst", forderte er sie auf, und trat einen Schritt zurück. Milva löste den Bogen aus seiner Halterung und strich sanft über das Material, dessen Art ihr noch immer unbekannt war. Es war einige Zeit her, dass sie zuletzt geschossen hatte - das war als sie Aivari und Inari begegnet war gewesen - doch jede nötige Bewegung hatte sich über die Jahre unwiderruflich in ihren Körper eingebrannt, und sie musste nicht mehr darüber nachdenken, was sie tat.
Mit einer fließenden, schnellen Bewegung zog sie einen Pfeil aus dem Köcher, legte ihn auf die Sehne und schoss. Einen Herzschlag später bohrte sich die Pfeilspitze mit einem dumpfen Aufschlag genau in die Mitte der Zielscheibe, und Czeslav hob anerkennend eine dünne Augenbraue.
Ohne Zögern schickte Milva einen zweiten Pfeil hinterher, der direkt neben dem ersten einschlug, so dicht, dass die Federn an den Schäften sie auseinander drückten. Aus dem Rundgang hinter ihr hörte sie ein langsames Klatschen, und als sie sich umwandte stand dort eine sehr dünne, edel gekleidete Frau mit kurzen grauen Haaren und sagte: "Sehr gut, Mädchen, wenn auch etwas angeberisch."
Czeslav versank in einer Verbeugung, und bedeutete Milva mit einer unauffälligen Geste, das gleiche zu tun.
"Herrin Velmira", sagte der Haushofmeister respektvoll, und Milva versuchte die Adlige unauffällig zu beobachten. Sie war mittelgroß und so dünn, dass man sie beinahe dürr nennen konnte, doch ihre schwarzen Augen strahlten trotz ihrer Statur und der grauen Haare eine große Kraft und aufmerksame Strenge aus. "Das ist Milva", fuhr Czeslav fort. "Sie ist eine mögliche Kandidatin für..."
"... die freie Stelle in meinem Jagdgefolge. Ja, das habe ich mir bereits gedacht", schnitt Herrin Velmira ihm ohne Weiteres das Wort ab. Dann trat sie in den Innenhof hinaus, und streckte Milva auffordernd die Hand entgegen. Nach einem kurzen Moment der Verwirrung reichte Milva ihr schließlich zögerlich ihren Bogen, den die Adlige kurz in der Hand wog.
"Hm. Mehr als nur eine Kandidatin, würde ich sagen." Sie gab Milva den Bogen zurück, die ihn erleichtert sofort wieder auf ihrem Rücken befestigte, und fügte hinzu: "Das ist ein ziemlich guter Bogen, Kind. Ich selbst habe versucht, das Bogenschießen zu erlernen, aber ich bin ein hoffnungsloser Fall, fürchte ich."
Milva warf Czeslav einen hilfesuchenden Blick zu, doch der Haushofmeister verzog keine Miene und kam ihr nicht zur Hilfe.
"Nun, das... äh... ich bin sicher ihr könntet...", begann sie deshalb zaghaft, doch Herrin Velmira schnitt ihr das Wort ab, indem sie mit einem langen dünnen Zeigefinger vor ihrer Nase wedelte, und Milva musste alle Willenskraft zusammennehmen, um nicht zurück zu zucken. "Sei still, Mädchen. Ich bin alt genug zu wissen, was ich kann und was nicht. Und zum Schießen habe ich dann dich und die anderen Jäger." Anscheinend war Milvas Einstellung für sie bereits beschlossene Sache.
"Hast du bereits eine angemessene Unterkunft in der Stadt?", fragte die Adlige jetzt. "Man hört dir an, dass du nicht hierher kommst - aus Dorwinion vielleicht?"
"Äh... ja, Herrin. Vom Carnen", antwortete Milva, und Herrin Velmira schüttelte den Kopf. "Tse tse tse, du musst lernen weniger äh zu sagen und flüssiger zu reden, Kind. Also, hast du jetzt eine Unterkunft, oder nicht?"
"Also, ich habe... ein Zimmer in einem Gasthaus, im nördlichen Händlerviertel", erwiderte Milva wahrheitsgemäß, bemüht nicht "äh" zu sagen, und so flüssig wie möglich zu sprechen.
"Ein Gasthaus, pah." Velmira wandte sich an Czeslav, dem Schweißperlen auf der Stirn standen. Die Sonne brannte heiß auf den Innenhof hinunter, und auch Milva spürte, wie sie zu schwitzen begann - nur Herrin Velmira schien die Temperatur überhaupt nicht zu spüren. "Gib ihr Geld, Czeslav - genug, dass sie sich irgendwo in der Nähe ein kleines Zimmer mieten kann, bis wir einen Platz für sie gefunden haben." Und an Milva gerichtet fügte sie hinzu: "Betrachte es als Vorschuss auf deine erste Bezahlung - Geschenke werden nicht gemacht. Ich freue mich darauf, dich auf der Jagd erleben zu können."
Damit rauschte sie durch den Rundgang davon, und ließ Milva mit dem Haushofmeister im Innenhof stehen.
"Wie es aussieht, bist du eingestellt", meinte Czeslav mit einem Seufzer, und Milva zuckte nur mit den Schultern. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte, denn der Auftritt der alten Adligen hatte sie etwas überwältigt.

Der Haushofmeister führte sie zurück in sein Arbeitszimmer, wo er ihr einen verdächtig schweren Geldbeutel in die Hand drückte, und sagte: "Sobald du eine Unterkunft gefunden hast, kommst du wieder her und benachrichtigst mich über den Ort. Du wirst an jedem Morgen von der ersten Stunde vor Sonnenaufgang bis zur dritten Stunde nach Sonnenaufgang dort oder hier bereit stehen müssen, ob ein Diener dich zur Jagd ruft. Danach hast du insofern frei, dass du dich nicht mehr dort aufhalten musst und es keine negativen Folgen hat, wenn wir dich nicht erreichen können. Dennoch, wenn etwas anfällt und wir dich zu dieser Tageszeit erreichen, hast du Folge zu leisten. Verstanden?"
Milva nickte langsam, denn die Bedingungen erschienen ihr angenehm, und Czeslav wirkte zufrieden. Er schob ihr das Papier, auf dem er bei ihrem ersten Gespräch geschrieben hatte, und eine Feder zu, und sagte: "Unterschreib bitte hier."
Milva spürte, wie sie errötete. "Ich... ich weiß nicht wie", erwiderte sie verlegen. "Ich habe nie gelernt zu schreiben."
Der Haushofmeister verdrehte die Augen. "Dann setz meinetwegen irgendein Zeichen darunter, irgendetwas was bestätigt, dass du hier warst und von mir angestellt wurdest."
Zögerlich ergriff Milva die Feder, tauchte sie einmal ins Tintenfass, und zeichnete dann einen Vogel in die rechte untere Ecke des Dokumentes - eine Weihe. "Sehr gut", meinte Czeslav, und ließ sich mit einem Ächzen wieder in seinen Stuhl fallen, der bedenklich knarzte. "Willkommen am Hof der Herrin Velmira Bozhidar."

Milva in die Straßen Gortharias

Eandril:
Milva von der Jagd

Milva saß im Hof des Anwesens ab und fragte Mislav, der hinter ihr als letzter durch das Tor geritten war: "Müssen wir die Beute noch häuten und zerlegen, oder ist das nicht unsere Aufgabe?" Es hätte ihr nichts ausgemacht, denn sie war daran gewöhnt selbst zu zerlegen und zuzubereiten, was sie erlegt hatte, doch sie glaubte zu wissen, dass adlige Herrschaften für jede einzelne Aufgabe mindestens einen Diener hatten. "Ja, das gehört noch zu unseren Pflichten", antwortete Mislav, und widerlegte damit Milvas Vermutung, während zwei Stallburschen ihre Pferde in den Stall brachten und Klemen das beladene Packpferd unter einem kleinen Torbogen hindurch in einen Seitenhof führte. Die übrigen Jäger folgten ihm langsam, bis er die erlegten Rehe in der Mitte des Seitenhofes vom Rücken des Pferdes zu Boden gleiten ließ. Der Hof war ebenso wie die übrigen des Anwesens gepflastert, doch Milva fiel auf, dass er überall leicht abschüssig zur Mitte hin war, wo am tiefsten Punkt ein kleines Gitter in den Boden eingelassen war.
Klemen hatte ihren fragenden Blick offenbar bemerkt, denn der Erste Jäger beantwortete ihre nicht gestellte Frage: "Macht es leichter, das Blut wegzuspülen. Dieses Anwesen ist eines von denen, die an die Kanalisation von Gortharia angeschlossen ist." Milva folgte dem Beispiel der anderen, nahm sich einen Schemel die an einer der Wände gestapelt waren und ließ sich darauf nieder, während Mislav sich neben sie setzte. Sie zog eines der Rehe zu sich heran, zog ihr Messer und fragte währenddessen: "Was ist eine Kanalisation?" Keiner der Orte, in denen sie bislang gewesen war, hatte so etwas gehabt - höchstens Holmgard, doch die Stadt hatte sie nur auf der Reise nach Gortharia passiert und kannte sich dort nicht aus.
Auf ihre Frage stieß Pero ein verächtliches Schnauben aus, was ihm einen kalten Blick von Mislav einbrachte. "Das ist ein Netz aus Tunneln, das unter der Stadt verläuft", erklärte Klemen bereitwillig. "Das Abwasser gelangt dort hinein und fließt dann hinunter ins Meer."
"Ins Meer?", fragte Milva verwundert. "Aber wird das dadurch nicht verschmutzt?" Mislav antwortete mit einem Achselzucken: "Das Meer ist groß... und außerdem, trinken kann das Salzwasser ohnehin niemand."
"Die Kanalisation ist also so etwas wie..." Milva unterbrach sich und biss sich auf die Zunge. Die unterirdischen Tunnel, die die Schattenläufer nutzten, waren sicherlich nicht allgemein bekannt, und es wäre besser, wenn sie nicht darüber redete.
"Wie was?", fragte Pero misstrauisch, und Milva versuchte möglichst lässig abzuwinken. "Das würde euch nichts sagen - etwas aus meiner Heimat." Die Antwort stellte deutlich sichtbar keinen der drei Männer zufrieden, also setzte Milva schnell ihr Messer an den Bauch des vor ihr liegenden Rehs und begann mit ihrer Arbeit um weiteren Gesprächen zu entgehen.

Später hatte ein Diener einige Eimer Wasser gebracht, die sie benutzten um sich das Blut von Händen und Unterarmen zu waschen, und das Blut auf dem Boden einigermaßen fortzuspülen. Während sie sich die Unterarme mit kaltem Wasser abrieb, betrachtete Milva den Berg von Fleisch, der übrig geblieben war, nachdem die Rückenstücke in die Küche gebracht worden waren.
"Was für eine Verschwendung...", sagte sie leise vor sich hin, und Mislav warf ihr einen warnenden Seitenblick zu. "Sag das lieber nicht zu laut", meinte er. "Und außerdem wird es nicht verschwendet - die Bediensteten des Hauses dürfen sich davon nehmen, was sie wollen. Auch wir."
Irgendetwas in seinem Blick veränderte sich, als er fortfuhr: "Ich habe da eine besonders schöne Keule im Auge... die würde ich gerne dir überlassen, und dann..."
Milva ließ ihn nicht ausreden, denn sie hatte diesen Blick schon früher bei anderen Männern gesehen. "Sag mal, Mislav", sagte sie, und schüttelte sich das Wasser von den Armen. "Bist du darauf aus, mit mir zu schlafen?"
Der Jäger machte einen Schritt zurück, als ob er von etwas abgeprallt wäre, und errötete. "Nein, ich...", brachte er stockend heraus. "Natürlich nicht, ich will nur..."
Milva nickte. "Gut. Ich wäre nämlich auch kein bisschen interessiert." Währenddessen betrachtete sie sein ganz und gar nicht hässliches Gesicht, und was sie gesagt hatte, stimmte: In ihr regte sich bei seinem Anblick überhaupt nichts.
Da ihre Hände inzwischen trocken genug waren, wandte sie sich zum Gehen, doch Mislav sagte mit schwacher Stimme: "Ich... hatte eigentlich gehofft, du würdest bei uns bleiben und mit uns essen."
Milva blieb kurz stehen, und seufzte ohne sich umzudrehen. "Tut mir leid. Aber ich würde im Moment lieber ein wenig meine Ruhe haben."
Als sie weiter auf das Tor des Anwesens zuging, versuchte Mislav nicht mehr sie aufzuhalten. Milva wusste selbst nicht wirklich, warum sie ging, denn eigentlich sehnte sie sich nach ein wenig Gesellschaft mit der sie sich über Dinge unterhalten konnte, mit denen sie sich auskannte. Normalerweise war sie gerne allein, doch die Stadt und alles weitere drohte sie zu überfordern, und sie brauchte jemanden um sich an ihm festzuhalten - und dennoch hielt sie etwas davon zurück, den Abend mit den anderen Jägern zu verbringen. Vielleicht Peros offensichtliche Abneigung... vielleicht aber auch Mislavs beinahe ebenso offensichtliche Zuneigung, die sie gerade, nach dem Erlebnis in der Taverne vor einigen Tagen, ganz und gar nicht gebrauchen konnte.
Milva trat durch das Tor des Anwesens hinaus auf die auch am frühen Abend noch belebte Straße, unschlüssig, welchen Weg sie einschlagen sollte.

Milva auf die Straßen von Gortharia

Eandril:
Milva aus den Straßen von Gortharia

Der Abend des Festes war warm für die Jahreszeit, doch die Hauptfeierlichkeiten würden im Inneren des Anwesens stattfinden, und so hoffte Milva, sich unbemerkt auf dem Innenhof herumdrücken zu können, bis die Aufmerksamkeit sämtlicher Wachen und Bediensteter nur auf die Feier gerichtet war.
Nach der frühmorgendlichen Jagd, bei der Milva und die anderen Jäger die Fleischvorräte des Anwesens noch um einiges frisches Wild ergänzt hatten, hatte sie sich in eine Ecke der Ställe, wo auch ihre braune Stute mit der Blesse auf der Stirn untergebracht war, verzogen. Dort hatte sie gewartet, während ihre Nervosität mehr und mehr wuchs, und immer so getan als wäre sie mit irgendetwas beschäftigt, wenn zufällig jemand vorbeikam. Glücklicherweise schenkte ihr niemand viel Beachtung, und so war es noch zu keinem Zwischenfall gekommen, als die Sonne sich immer mehr dem östlichen Horizont zuneigte.
"Vielleicht hab ich ja ausnahmsweise mal Glück, hm?", sagte sie zu ihrem Pferd, während sie mit der rechten Hand nervös an dessen Mähne herumspielte. Sie hatte zwar keine Ahnung, wo genau sich die Gemächer der Herrin Velmira befanden, aber immerhin hatte ihr Plan - wenn man ihn so nennen konnte - bis hierhin funktioniert. "Ich hoffe, dieser Silan hat wenigstens die Wahrheit gesagt, und ich laufe nicht in irgendeine Falle." Beim Gedanken an Velmiras Neffen verspürte sie zur eigenen Verwunderung ein merkwürdiges Ziehen in der Magengrube, und versuchte, schnell an etwas anderes zu denken. Cynerics Gesicht trat ihr vor Augen, und einen Augenblick lang sehnte sie sich nach der beruhigenden Gegenwart des Mannes aus dem Westen. Sie fragte sich, ob sie ihn am heutigen Abend wohl zu Gesicht bekommen würde, immerhin hatte er bei ihrer letzten Begegnung so etwas angedeutet. Der Gedanke ließ sie stutzen. Sie kannte sich mit Politik und den Gepflogenheiten der Adligen nicht sonderlich gut aus, aber warum sollte die Königsgarde auf dem Fest einer seiner Adligen Wache stehen, wenn der König nicht selbst vorhatte, zu kommen?
"Das würde mir gerade noch fehlen, Pferdchen", raunte sie dem noch immer namenlosen Tier zu, während das nervöse Zittern ihrer Hände, stärker wurde. Bevor sie weitergrübeln konnte, was alles schief gehen konnte, hörte sie hinter sich die Stimme des Haushofmeisters Czeslav: "Und ich hoffe, wir haben genug Platz für alle Pferde, es scheinen mehr Gäste mit Pferden zu kommen, als gedacht... Was tust du hier, Mädchen?" Beim letzten Satz hatte seine Stimme einen strengen Ton angenommen, und Milva fuhr zusammen, sodass ihr Pferd überrascht schnaubte.
Sie wandte sich um, und sah Czeslav in Begleitung eines der Stallburschen am Eingang ihrer Box stehen. "Also ich... äh..."
Czeslavs kleine Augen verengten sich. "Ich dachte, ihr Jäger wärt schon längst fort. Was treibst du noch hier, du hast auf der Feier nichts zu suchen."
Milvas Magen schien ungefähr auf die Höhe ihres Gürtels abzusacken. Sie hatte sich erwischen lassen und alles verdorben - jetzt würde Czeslav sie fortschicken, und vermutlich nie wieder zurück in das Anwesen lassen.
"Nun?", fragte Czeslav erneut, doch bevor er weiter sprechen konnte ertönte aus dem Hof eine ungeduldige weibliche Stimme: "Czeslav, wo steckst du? Muss ich alles alleine erledigen?" Nun war es am Haushofmeister, zusammenzuschrecken, und er antwortete: "Ich bin hier, Herrin. Ich... komme sofort."
Er warf Milva einen warnenden Blick zu, und eilte so schnell es sein Körperumfang zuließ, nach draußen. Milva wartete, eine Hand in die Mähne ihres Pferdes gekrallt, und spürte, wie ein Schweißtropfen ihre Schläfe herunterlief. Dann steckte der Stallbursche, der Czeslav nach draußen gefolgt war, den Kopf zur Tür herein und sagte: "Komm raus, die Herrin will mit dir sprechen."
Milva atmete tief durch, und verließ dann langsam und noch immer nervös ihre Deckung.
"Ah, Milva", begrüßte Herrin Velmira, die in ein kunstvolles hellgrünes Gewand gekleidet war, sie knapp. "Was hast du dort drin getrieben, Mädchen?"
"Ich... mein Pferd hatte sich einen Dorn in den Huf getreten", suchte sie schnell nach einer Ausrede, und Velmira schüttelte den Kopf. "Selbst wenn das wahr wäre, dazu haben wir Stallburschen. Du wolltest dir wahrscheinlich eher das Fest ansehen, und... nun, das kann man dir nicht verdenken."
Einen Augenblick lang, glaubte Milva sie hätte sich verhört, und wenn man Czeslavs verwirrten Gesichtsausdruck betrachtete, glaubte dieser dasselbe. "Aber Herrin, ihr meint doch wohl nicht, dass...", setzte der massige Haushofmeister an, wurde von seiner deutlich kleineren Herrin aber mit einer einzigen Geste zum Schweigen gebracht.
"Neugierde ist keine Sünde, Czeslav", erwiderte sie bestimmt. "Aber er hat durchaus recht, auf dem Fest an sich hast du nichts zu suchen, Mädchen. Du kannst also hier im Innenhof bleiben, und unauffällig durch die Fenster beobachten. Besser ein bekannter, harmloser Spion, als ein unbekannter, nicht wahr?" Ihre Miene verzog sich kein bisschen, und so war Milva sich nicht sicher, ob Velmira einen Scherz gemacht hatte oder nicht. Sie entschied sich, möglichst unverbindlich zu lächeln, und machte einen unbeholfenen Knicks. "Ich danke euch vielmals für eure Güte, Herrin. Ich würde tatsächlich gern von außen einen Blick auf das Fest werfen, denn..."
"Du solltest weniger reden", schnitt Velmira ihr das Wort ab. "Ich habe zu tun, die ersten Gäste treffen ein, und ich sollte sie begrüßen." Ohne ein weiteres Wort wandte sie sich ab und eilte auf die Seitentür zu, die in das Hauptgebäude des Anwesens hineinführte. Czeslav hatte es offenbar nicht ganz so eilig. "Du hältst dich nur hier im Innenhof auf, und belästigst keinen der Gäste, verstanden?", sagte er mit warnender Stimme, und hob einen dicken Zeigefinger. "Wenn ich dich drinnen erwische, werde ich persönlich dafür sorgen, dass du nie wieder einen Fuß in dieses Anwesen setzt."
Milva blieb nichts anderes übrig als unterwürfig zu nicken, und mit einem Schnauben wandte sich Czeslav ab, um seiner Herrin ins Hauptgebäude zu folgen. Als er fort war, atmete Milva lang und zitternd aus - sie hatte gar nicht bemerkt, dass sie den Atem angehalten hatte.
"Was interessiert dich eigentlich so an diesem Fest?", fragte der Stallbursche, dessen Anwesenheit sie vollkommen verdrängt hatte. "Das sind doch nur reiche und adlige Leute, die sich betrinken - und das können wir anderen viel besser." "Das geht dich überhaupt nichts an", erwiderte Milva unhöflicher als eigentlich beabsichtigt, doch sie erzielte auf jeden Fall die gewünschte Wirkung: Der junge Mann verzog beleidigt das Gesicht, und ging davon, um seinen eigenen Geschäften nachzugehen, ohne sie weiter zu belästigen. Milva vergrub für einen Augenblick das Gesicht in den Händen, und lehnte sich an das raue, von der Sonne noch immer warme, Holz der Stallwand. Sie würde noch wenigstens ein oder zwei Stunden warten müssen, bevor sie ihren Versuch startete, endlich ihrem Auftrag nachzukommen...

Fine:
Cyneric und Zarifa von den Straßen Gortharias


Auf dem Weg zurück zum Königspalast hatte Cyneric Zarifa erklärt, weshalb sie eine Rüstung brauchen würde. Es hatte einiges an Überzeugungskraft benötigt, doch letzten Endes hatte die junge Frau Cynerics Plan zugestimmt. Sie würden als Gardist und Soldatin getarnt auf Herrin Bozhidars Feier auftauchen, Milva suchen und im Anschluss wieder von dort verschwinden. Eigentlich war es ein ganz einfacher Plan.
Entgegen Cynerics Erwartungen hatte es in der Rüstkammer sogar Ausrüstung in Zarifas Größe gegeben. Er war immer wieder davon verwundert, dass in der Armee der Ostlinge auch Frauen dienten. Zarifa ächzte dennoch unter dem ungewohnten Gewicht der Schuppenrüstung, die zur Bewaffnung eines Ostling-Kundschafters gehörte. Glücklicherweise gehörte kein Helm dazu. Stattdessen trug Zarifa nun ein großes rotes Halstuch, das ihr Gesicht ab der Nase verdeckte. Ihre Unterarme steckten in langen Lederhandschuhen, die bis zum Ellbogen gingen und das Brandzeichen verbargen, das Zarifa als ehemalige Sklavin Fürst Radomirs preisgab. Die bronzefarbene Schuppenrüstung bedeckte Zarifas Oberkörper und Hüften. Darunter trug sie einen roten Wappenrock und einen einfachen braunen Umhang. Zu der Ausrüstung gehörten ebenfalls hohe, bequeme Stiefel und ein Kurzschwert.
Cyneric trug die schwere Rüstung der Palastgarde inklusive Schulterplatten und rotgoldenen Umhang und führte die große Hellebarde mit sich, die der Standardbewaffnung der Gardisten entsprach. So bekleidet kamen sie schließlich am frühen Abend am Anwesen der Familie Bozhidar an.

Sie hatten Glück. Der erste Wächter, auf den sie am Tor stießen, war ein alter Bekannter.
„Na sieh mal einer an. Wenn das nicht mein Lieblingsnordmann ist,“ wurde Cyneric kameradschaftlich begrüßt.
„Orvar, wie schön,“ erwiderte er ebenso freundschaftlich. „Ich wusste nicht, dass du ebenfalls hierher beordert wurdest.“
Orvar nickte und schien guter Laune zu sein. „Ich würde diese Gelegenheit doch niemals auslassen. Reiche Familien wie die Bozhidars sind oft selbst bei der Bewirtung der Wachen und Bediensteten nicht gerade geizig. Außerdem hat es schon seit vielen Jahren keinen Mordversuch auf Herrin Velmiras Familie gegeben. Ich sage dir, das wird ein ruhiger Abend voller Köstlichkeiten werden, mein Freund.“
„Das hört man gern“, erwiderte Cyneric.
„Wen hast du da denn mitgebracht? Ein neues Gesicht?“ Orvar musterte Zarifa, doch zum Glück lag in seinem Blick nichts, was auf falsche Begierde hindeuten ließ. Er schien einfach von Grund auf neugierig zu sein, um wen es sich bei Cynerics Begleitung zu handeln schien.
Zarifa machte einen Schritt rückwärts und spannte sich an. Sie schien keine Lust zu haben, Orvar näher kennenzulernen, ganz egal ob er Cynerics Freund war oder nicht.
„Beachte sie am besten gar nicht,“ sagte Cyneric mit betonter Gelassenheit in der Stimme. „Kommandantin Morrandir hat mir die Kleine unterstellt, damit sie heute Abend mal einen Eindruck davon bekommt, was es heißt, ein Gardist zu sein. Anweisungen von ganz oben, wenn ich mich nicht täusche.“
„Hmm,“ machte Orvar nachdenklich. „Nun gut, dann lassen wir sie besser in Frieden. Vermutlich ist sie die Tochter irgend eines Adeligen, der es sich in den Kopf gesetzt hat, ihr die Welt der Soldaten näher zu bringen.“

Sie ließen Orvar stehen und kamen durch das Tor in den Innenhof des Anwesens. Dort waren bereits die ersten Gäste eingetroffen und strömten langsam auf den Haupteingang des Anwesens zu. Cyneric erhaschte dabei einen Blick auf die Hausherrin, Velmira Bozhidar, die an der Eingangstüre stand und ihre Gäste begrüßte. Rasch zog er Zarifa beiseite. Es galt nun umso mehr, nicht aufzufallen. Zwar waren überall Bedienstete unterwegs, doch selbst als Wachen stachen sie dank ihrer Rüstung ein wenig aus der Menge hervor.
„Siehst du Milva irgendwo?“ fragte Cyneric Zarifa, die aussah, als wäre sie im Augenblick lieber ganz woanders. Sie tat ihm leid, doch er wusste, dass er sie im Moment nicht alleine in Gortharia herumwandern lassen konnte. Vermutlich würden die Stahlblüten Zarifa ansonsten finden und erneut für ihre Zwecke einspannen.
„Dort drüben. Ist sie das? Die, die so aussieht, als würde sie bei der ersten Gelegenheit in das große Haus einsteigen?“ Zarifa deutete unauffällig in Richtung der Stallungen, die linker Hand auf halbem Weg zwischen dem Anwesen und der Mauer gelegen waren, die das Grundstück umgab. „Sie sollte besser aufpassen. Jemand mit Erfahrung in Einbrüchen - so wie ich - erkennt sehr einfach, was sie vorhat.“
Cyneric folgte Zarifas Hinweis und entdeckte Milva, die mit dem Rücken gegen die Wand des Stalls gelehnt war und immer wieder rasche Blicke in Richtung der Fenster des Anwesens warf. Selbst er musste zugeben, dass das einigermaßen verdächtig wirkte.
„Komm mit,“ raunte er Zarifa zu und ging unauffällig zu Milva hinüber.
„Na, keine Einladung bekommen?“ scherzte er - für den Fall, dass sie belauscht wurden.
Milva hatte ihn kommen sehen und war nicht amüsiert. „Was willst du denn hier, Cyneric?“ fragte sie missgelaunt.
„Kann ich mich nicht danach erkundigen, wie es einer alten Freundin geht?“
„Kannst du schon. Aber nicht jetzt. Ich bin nicht in Stimmung für Plaudereien.“
„Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen? Warum das lange Gesicht?“
Milva stemmte die Hände in die Hüften. „Ich wüsste wirklich nicht, was dich das angeht, von deiner kleinen Freundin da ganz zu schweigen.“
„He!“ beschwerte sich Zarifa. „Lass mich aus dem Spiel, Großmaul. Ich will gar nicht hier sein.“
„Ganz ruhig, ihr beiden,“ versuchte Cyneric die Frauen zu beschwichtigen. „Ich will deine Zeit gar nicht lange in Anspruch nehmen, Milva, und ich brauche auch nicht die Gründe dafür zu wissen, weshalb du wie eine Einbrecherin auf der Türschwelle der Bozhidars hockst.“
Milva warf ihm einen alarmierten Blick zu, doch sie sagte nichts. Stattdessen verschränkte sie die Arme vor der Brust und starrte an Cyneric vorbei, in Richtung der ankommenden Gäste.
„Hör zu, Milva, es ist so... Ich weiß nicht recht, wie ich es dir sagen soll, und... eigentlich bin ich mir auch gar nicht so sicher, ob es dich überhaupt schert, und...“ Cyneric brach ab und kam sich wie ein Idiot vor. Er war hier, weil er sich von Milva verabschieden wollte. Die ganze Zeit über war das für ihn ein ganz klares Ziel gewesen und in seinem Kopf war der Abschied kurz und problemlos verlaufen. Aber jetzt, wo es tatsächlich soweit war, fiel es ihm unglaublich schwer, die richtigen Worte zu finden.
„Was ist los mit dir?“ fragte Milva ungehalten.
„Er will dir sagen, dass er geht,“ mischte sich Zarifa ungeduldig ein.
„Was soll das bedeuten, du gehst?“ wiederholte Milva fragend.
Cyneric holte tief Luft. „Ich habe endlich herausgefunden, wo meine Tochter ist, Milva. Du erinnerst dich daran, dass ich sie suche, oder? Jedenfalls... werde ich nach Thal gehen und sie in Sicherheit bringen. Ich... weiß nicht, ob ich zurückkehren werde.“
Milva warf einen raschen Blick zum Anwesen hinüber, doch ihre Aufmerksamkeit schien nun mehr und mehr Cyneric zu gelten. „Du willst also Lebewohl sagen?“ erwiderte sie überraschend zaghaft.
„Bis auf Weiteres, schätze ich...“
Zarifa gab ein entnervtes Geräusch von sich. Sie schien genug davon zu haben.
„Dann heißt es wohl Abschied nehmen, Cyneric,“ sagte Milva.
„Pass auf dich auf, Milva. Gerade in dieser Stadt,“ sagte Cyneric.
Er wollte sich schon abwenden, da schloss sie ihn in eine überraschende Umarmung.

Zarifa war erstaunlich still auf dem Rückweg zum Palast. Cyneric kam es vor, als würde sie angestrengt darüber nachdenken, was nun vor ihnen lag.
Er beschloss, sie ihn seine Pläne für die Reise nach Thal einzuweihen.
„Wir werden die erste Etappe per Schiff zurücklegen,“ sagte er. „Morgen früh legt ein Handelsschiff am Hafen von Gortharia ab, das uns bis zur Hauptstadt des Fürstentums Dorwinion an der Mündung des Celduin-Flusses bringen wird. Von dort reiten wir den Rest der Strecke auf dem Rücken unserer Pferde bis zu den Toren Thals.“
Zarifa nickte nur als Antwort. „Ich bin einfach froh, wenn wir diese Stadt verlassen haben,“ sagte sie leise. „Es erinnert mich zu sehr an Umbar.“
„Nur noch eine Nacht,“ beruhigte Cyneric sie. „Dann sind wir weg von hier.“


Cyneric und Zarifa zum Hafen

Eandril:
Die Zeit floss zäh wie Honig dahin, doch schließlich war die Sonne untergegangen, und die ersten Sterne leuchteten schwach am Nachthimmel. Aus dem Inneren des Anwesens drangen laut die fröhlichen Geräusche der Feiernden, und für Augenblick wunderte Milva sich, wie Leute so fröhlich feiern konnten, wenn ihr Land in einen Krieg verstrickt war, der sie eines Tages alle verschlingen würde. Dann erinnerte sie sich daran, dass dort drinnen Adlige feierten, und sie wunderte sich nicht weiter.
Vorsichtig steckte sie den Kopf aus der Stalltür, und suchte den Innenhof, der vom Licht im Inneren des Anwesens erhellt wurde, ab. Wie erhofft war der Hof vollständig verwaist, bis auf die Wachen am Eingangstor. Deren Aufgabe jedoch war zu verhindern, dass jemand das Gelände von außen betrat, und so standen sie mit dem Rücken zu Milva und würden sie nicht bemerken. Sie hatte ihren Bogen im Stall unter einem Haufen Stroh verborgen, denn bei ihrem Vorhaben würde er nur hinderlich sein - dennoch fühlte sie sich seltsam ohne das vertraute Gewicht auf dem Rücken. Sie legte die Hand auf den Griff ihres Messers, um sich zu beruhigen. Gänzlich wehrlos war sie immerhin nicht, auch wenn ihr das Messer nicht allzu viel nützen würde, wenn es zum Schlimmsten kam.
Leise trat Milva auf den Hof hinaus, und huschte hinüber zur Tür, wo sie sich einen Augenblick lang an die Wand des Hauses presste, um ihr rasch klopfendes Herz zu beruhigen. Hier war es leichter sich lautlos zu bewegen als im Wald, denn hier gab es keine Äste, Zweige oder trockene Blätter, die verräterische Geräusche verursachen konnten. Doch hier war die Gefahr viel größer als auf der Jagd - verriet sie sich dort, entkam ihr das Wild. Verriet sie sich hier, würde sie vermutlich sterben. Sie drückte sanft gegen die Tür, die zu ihrer Erleichterung lautlos und leicht aufschwang und einen dunklen Gang offenbarte. Am Ende des Flures schien Licht unter einer Tür hindurch, doch ein Stück zuvor bog ein weiterer Gang nach rechts ab. Da die Tür ihr gegenüber vermutlich zu den Räumen führte, in denen die Feierlichkeiten stattfanden, schlich Milva den Flur bis zur Abzweigung entlang und bog dort nach rechts ab.
Nachdem ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte sie, dass sie in einem langgezogenen Flur stand, der die ganze Länge des Anwesens entlang zu führen schien. Zur linken gingen immer wieder Türen ab, unterbrochen von Nischen mit Wandbehängen, Trophäen und anderem Zierwerk. Auf der rechten Seite schien schwaches Mondlicht durch schmale Fenster. Langsam tastete Milva sich voran, die ganze Zeit über aufmerksam auf jedes Geräusch achtend. "Privatgemächer", wisperte sie. "Wo um alles in der Welt sind die Privatgemächer?" Sie lauschte an der ersten Tür, hinter der mehr als eindeutige Geräusche zu vernehmen waren. "Hier offenbar nicht."
Hinter der zweiten Tür waren Stimmen zu vernehmen, und gerade als Milva an der dritten Tür lauschen wollte, hörte sie schwere Schritte und ein leises Pfeifen in der Richtung, aus der sie gekommen war.  Noch war niemand zu sehen, doch wer immer dort kam würde gleich im die Ecke biegen. Milva sah sich hektisch nach einem Versteck um, und zwängte sich dann kurzentschlossen in die nächste Wandnische hinter eine Säule, auf der eine kostbar verzierte und sehr zerbrechlich aussehende Platte stand. Hinter der Säule war kaum genug Platz für sie, und sie war sich sicher, dass wenigstens ein Arm und ein Bein dahinter hervorschauten, doch im Dunkeln war das leicht zu übersehen - hoffte Milva wenigstens.
Sie hielt den Atem an, als die Schritte immer näher kamen. Jetzt war auch ein metallisches Klirren zu hören, offenbar handelte es sich um einen Wachmann, der auf den Fluren patrouillierte. Als er an Milvas Versteck vorbei ging, presste sie sich noch ein wenig tiefer in den Schatten, doch er blickte gar nicht erst in ihre Richtung. Stattdessen ging er einfach an ihr vorüber, und seine Schritte entfernten sich den Gang entlang. Milva wartete ab, bis seine Geräusche leise genug waren, und steckte dann vorsichtig den Kopf aus ihrem Versteck. Dabei streifte sie die kostbare Platte, die auf der Säule gefährlich zu wackeln begann. Sofort griff Milva danach und hielt sie fest, was sich als äußerst glücklicher Zufall herausstellte.
Im gleichen Augenblick öffnete sich die Tür, an der sie eben noch hatte lauschen wollen, und eine Dienerin, die einen Stapel Tücher trug, trat heraus. Erneut hielt Milva den Atem an und wagte sich nicht zu rühren, die Hand noch immer an dem gefährdeten Kunstwerk. Die Dienerin blickte gar nicht erst in ihre Richtung, sondern eilte den Flur in die andere Richtung, aus der Milva ursprünglich gekommen war, davon, und betrat den Raum, aus dem Milva zuvor Stimmen gehört hatte. Sobald sie um die Ecke gebogen war, schob Milva sich aus ihrem Versteck und atmete tief durch. Dieses Mal war es gut gegangen, doch würde sie das nächste Mal erneut so viel Glück haben?

Während sie sich vorsichtig weiter vorarbeitete, dachte sie nach. Die Dienerin hatte vermutlich Laken auf den Zimmern hier verteilt. Vielleicht handelte es sich also um Räumlichkeiten, wo die Gäste, die nicht in dieser Nacht noch in ihre eigenes Heim zurückkehren würden, untergebracht waren. In diesem Fall befand Milva sich im falschen Teil des Gebäudes. Kurzentschlossen eilte sie den Flur bis ans Ende entlang, bevor die Dienerin den Raum wieder verließ und sie womöglich entdeckte.
Der Flur teilte sich hier: Zu ihrer linken führte der Gang weiter, und daneben führte eine Treppe ins obere Stockwerk, entgegengesetzt zu dem Flur, den sie eben gekommen war. Milva spähte die Treppe hinauf, konnte oben allerdings nichts erkennen und auch keine Geräusche vernehmen.
"Mächtige Leute sind immer gerne oben", wisperte sie. "Also los." Auf Zehenspitzen stieg sie die Treppe hinauf. Die Stufen waren aus Holz, und knarrten bei jedem Schritt leise, beinahe unhörbar. Milva hoffte inständig, dass das Knarren tatsächlich so leise war, wie sie dachte.
Am oberen Ende der Treppe gabelte sich der Flur erneut und führte geradeaus und nach rechts. Direkt vor Milva war niemand zu sehen, doch im rechten Flur erkannte sie im Dunkeln den Schemen eines Wachmanns, der anscheinend vor einer Tür Wache stand. Ich werde dafür sorgen, dass keine Wachen vor der Tür stehen, erinnerte sie sich an Silans Worte, und wählte den Weg geradeaus. Am Ende des Flures stand eine Tür einen Spaltbreit offen, und ein schwaches Licht fiel durch den Spalt. Zum wiederholten Mal an diesem Abend hielt Milva die Luft an, und drückte die Tür vorsichtig auf.
Sie trat in einen verlassenen Raum, von dem drei weitere Türen abgingen. Je eine zu ihrer linken und rechten, und eine ihr schräg gegenüber, die offenbar auf einen Balkon hinausführte. Der ganze Raum war mit Teppichen und Fellen ausgelegt, und an der Außenwand lag ein großer Kamin, in dem der Rest eines Feuers glühte. An der linken Wand des Zimmers stand ein kostbar geschnitzter, mit Papieren übersäter Tisch, auf dem eine einzelne Kerze brannte. Und neben der Kerze stand eine hölzerne Kassette mit goldenen Verzierungen. Milva fühlte ihr Herz schneller schlagen - offenbar war sie am richtigen Ort. Sie ging um den Tisch, hinter dem ein dick gepolsterter Stuhl stand, herum, und griff nach der Kassette... die sich nicht öffnen lies.
"Richtig, verschlossen", murmelte sie vor sich hin. "Nur wo ist jetzt der..."
"Schlüssel?", unterbrach sie eine männliche Stimme hinter ihr, und sie zuckte vor Schreck so heftig zusammen, dass sie beinahe die Kassette hätte fallen lassen.
Hinter ihr stand Silan in der offenen Tür, die anscheinend in Velmiras Schlafgemach führte, lässig an den Türrahmen gelehnt.
"Meine Tante ist ein wenig altmodisch", fuhr er fort, und hielt einen kleinen Schlüssel in die Luft. "Er war unter ihrem Kissen versteckt."
"Was... was tut ihr hier?", fragte Milva, nachdem sie sich einigermaßen von ihrem Schreck erholt hatte. "Ich dachte, ihr wärt auf dem Fest." Silan war angemessen festlich gekleidet, also war er sicherlich auch dort gewesen.
"Ich dachte, du könntest ein wenig Hilfe beim Suchen gebrauchen", erklärte Silan. "Meine Tante hat die Angewohnheit, selbst bei ihren eigenen Feiern recht früh zu Bett zu gehen, also habe ich mich davongestohlen und bereits mit dem Suchen begonnen."
Er stellte sich neben sie und hielt ihr den Schlüssel entgegen. "Also? Wollen wir nachsehen?"
Milva nahm den Schlüssel vorsichtig entgegen, und schob ihn in das hinter einer kleinen Klappe verborgene Schloss, das mit einem befriedigenden Klicken aufsprang. "Zwergische Handwerkskunst", bemerkte Silan. "Raffiniert, nicht wahr?" Milva nickte nur stumm, denn ihre Aufmerksamkeit wurde vom Inhalt der Kassette gefesselt - ein silberner Ring mit einem blauen Juwel, ein ebenfalls silbernes, graviertes Medaillon, und eine Rolle Pergament. Sie nahm das Pergament, entrollte es, und ächzte innerlich, als sie die verschlungene Schrift darauf sah. Durch Ronvids Unterricht kam sie mit deutlichen, klaren Buchstaben inzwischen einigermaßen zurecht, doch diese Schrift war für sie beinahe vollkommen unmöglich zu lesen. Mit einiger Mühe entzifferte sie zwei Worte - Hartvil Bozhidar. Sie hielt Silan, der gedankenverloren den silbernen Ring betrachtet hatte, das Pergament unter die Nase. "Ist es das?"
Silan warf einen abwesenden Blick darauf, und nickte. "Das ist das Testament meiner Tante. Und wie es aussieht, will sie tatsächlich Hartvil beinahe alles vermachen."
"Dann sollte ich es nehmen, und so schnell wie möglich damit verschwinden", sagte Milva, und wollte das Testament einstecken, doch Silan hielt sie am Handgelenk zurück. "Vielleicht sollten wir das nicht tun." Milva hatte das Gefühl, dass ihr Magen einige Schritte nach unten sackte. "Was? Warum nicht?"
"Dieser Ring gehörte einst meiner Tante", erwiderte Silan, und deutete auf den Ring mit dem blauen Edelstein. "Bis sie ihn ihrer Tochter Agda schenkte, meiner Cousine. Agda und ich, wir... waren als Kinder die besten Freunde, die es gab. Bei einem Ausritt mit mir ging ihr Pferd durch und... sie stürzte eine Klippe hinunter und starb." Silan verstummte, und drehte den Ring in den Fingern. "Ich konnte sie nicht retten, und machte mir grauenhafte Vorwürfe deswegen. Vorwürfe, die noch schlimmer wurden, als Waron, ihr Vater, nicht lange darauf vor Trauer starb. Doch Velmira... sie hat mir niemals Vorwürfe gemacht. Sie hat mir nie die Schuld am Tod ihrer Tochter und ihres Mannes gegeben."
"Silan...", sagte Milva leise, und biss sich auf die Lippe. Sie hatte keine Ahnung, wie sie mit der Situation umgehen sollte. Silan sprach weiter, als hätte er sie nicht gehört. "Ich habe ihr gegenüber eine Schuld, die ich nie vergelten kann. Und jetzt soll ich ihr ihren letzten Willen nehmen, und sie dann von der Hand der Leute sterben lassen, in deren Auftrag du handelst? Nein, wir sollten das nicht tun."
"Niemand hat von Mord gesprochen", warf Milva hastig ein. "Wir... wir wollen nur eine Gelegenheit schaffen, falls sie stirbt. Dass..." Sie suchte nach den richtigen Worten. "Dass jemand ihr Vermögen erbt, der etwas Gutes damit tun kann. Und nicht jemand, jemand der blind ist für den Schaden, den Gortharia erleidet, solange ein König regiert, der Mordors Befehlen folgt."
"Schwöre es", verlangte Silan, und das Kerzenlicht tanzte in seinen Augen. Seine Hand umklammerte Milvas Handgelenk fester. "Schwöre, dass ihr meiner Tante nichts antun werdet, wenn ich dir das Testament überlasse."
Milva zögerte. Konnte sie sicher sein, dass die Schattenläufer keinen Mordversuch an Velmira unternehmen würden? Davon war nie die Rede gewesen, doch jetzt wo Silan die Möglichkeit auf den Tisch gebracht hatte, erschien ihr die Wahrscheinlichkeit groß, dass die Schattenläufer nicht warten würden, bis Velmira eines natürlichen Todes starb. Silans Augen fixierten sie, und sie spürte, dass die Zeit ablief.
"Ich schwöre", begann sie zögerlich. "Ich schwöre, dass ich alles tun werde was in meiner Macht steht, um das zu verhindern. Mehr kann ich nicht versprechen." Silan blickte ihr einen Herzschlang lang schweigend in die Augen, nickte dann, und ließ ihr Handgelenk los. "Also schön. Das genügt mir fürs Erste."
Er legte den Ring zurück in die Schatulle und schloss den Deckel, sodass das Schloss klickend einrastete. Währenddessen verstaute Milva die das Testament sorgfältig in ihrer Tasche. Jeder Knick und jeder Riss darin konnten fatal sein, wenn der Diebstahl unbemerkt bleiben sollte.

Bevor einer der beiden etwas sagen konnte, erklangen draußen auf dem Flur Stimmen. "Nein, Hartvil. Ich werde darüber nicht weiter diskutieren." Das war Herrin Velmira, die Stimme energisch wie immer - und sie kam näher. Milva blickte Silan erschreckt an, und dieser legte einen Zeigefinger auf die Lippen. "Komm mit", flüsterte er. Milva folgte ihm in Velmiras Schlafgemach, wo er den Schlüssel wieder unter dem Kissen verstaute. "Sie könnte bemerken, dass er fehlt."
"Und wie kommen wir jetzt umbemerkt hier wieder heraus?", zischte Milva, während aus dem Vorraum das Geräusch einer sich öffnenden Tür und leichte Schritte zu hören waren. "Gar nicht", gab Silan ebenso leise zurück. "Aber wir können uns unauffällig verhalten."
"Wie...", setzte Milva an, kam allerdings nicht weiter, weil Silan sie unterbrach. "Bitte schlag mich nicht." Dann legte er die Arme um sie, drängte sie mit dem Rücken gegen das Bett, und küsste sie.
Milvas erster Impuls, war ihn zurückzustoßen, doch sie begriff rasch, was er bezweckte, also erwiderte sie den Kuss ein wenig zurückhaltend, und unternahm auch nichts dagegen, dass seine linke Hand ihre Taille langsam immer weiter hinauf wanderte. Eines musste sie Silan lassen, er schien sehr erfahren zu sein... Bevor Milvas Gedanken noch weiter abschweifen konnte, schwang die Tür auf, und Velmiras empörte Stimme unterbrach sie: "Silan!" Beide sprengten auseinander, und Milva gab sich alle Mühe, möglichst schuldbewusst auszusehen, während Silan den Blick seiner Tante ruhig erwiderte.
"Und Milva." Velmira seufzte. "Ich hätte dich für klüger gehalten, Mädchen. Und du..." Sie blickte ihren Neffen direkt an. "Ich habe dir oft genug gesagt, mir ist es gleich, wie viele Mädchen du in den Bett lockst... aber bleib damit bitte in deinem Bett. Nicht in meinem."
Silan ergriff Milvas Hand, und setzte ein unwiderstehliches Lächeln auf. "Bitte verzeih mir, Tante. Manchmal irrt man sich im Raum, wenn man... beschäftigt ist. Wir sind schon so gut wie weg."
"Das hoffe ich", murmelte Velmira, während Silan Milva an der Hand an ihr vorbei zog, und warf Milva dabei einen vorwurfsvollen Blick zu, als hätte sie sie im Verdacht, Silan verführt zu haben - und nicht andersherum. Silan führte Milva durch das Vorzimmer hindurch in den Flur, und von dort einige Türen weiter bis zu einem Raum, bei dem es sich um sein eigenes Zimmer handeln musste. Milva blickte rasch weg, als sie das große Bett in einer Ecke erblickte, und biss sich auf die Lippe. Andererseits... was konnte es schon schaden? Und wenn aus der Lüge Wahrheit wurde, wäre das nicht eigentlich gut? Ihr Herz klopfte rasch, und nicht nur, weil sie eben beinahe auf frischer Tat ertappt worden war.
Silan schien von ihrem Gewissenskonflikt nichts zu bemerken. Er ließ ihre Hand los, durchquerte den Raum, und ließ sich auf der Bettkante nieder. "Also", sagte er. "Das ist noch einmal gut gegangen. Achte darauf, dass du auf dem Weg nach draußen keiner Wache über den Weg läufst." Er klang beinahe ein wenig enttäuscht, und das gab den Ausschlag. Milva ging langsam auf ihn zu, und löste dabei ihren Gürtel. Silan zog eine Augenbraue in die Höhe. "Was soll das werden?"
Milva musste über seine nicht allzu glaubwürdige Schauspielerei lachen, und war überrascht über sich selbst. "Ich mache Wahrheit aus der Lüge." Sie blieb vor ihm stehen. "Es sei denn, du..."
"Oho", meinte Silan, und ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, als er nach ihren Händen griff. "Wie könnte ich nicht wollen? Aber eines musst du wissen..."
Er legte eine Kunstpause ein. "Was?", fragte Milva ein wenig ungeduldig. Immerhin war es lange her, dass sie... "Was muss ich wissen?" Silans Lächeln wurde eine Spur breiter. "Das Ausziehen kannst du getrost mir überlassen."

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