Das Schicksal Mittelerdes (RPG) > Gortharia

Bozhidar-Anwesen

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Eandril:
Milva hatte sich noch vor Sonnenaufgang heimlich und ungesehen aus dem Anwesen davongestohlen - gleichermaßen euphorisch über die Papierrolle in ihrer Tasche und ein wenig beschämt über das, was sonst noch an diesem Abend vorgefallen war. Als sie Ryltha endlich aufgetrieben hatte, hatte die Schattenläuferin sich äußerst zufrieden mit Milvas Fortschritt gezeigt und ihr das Testament mit einem seltenen Lächeln abgenommen. "Ein weiterer wichtiger Schritt ist getan", hatte sie gesagt, doch dann hatte sie Milva einen misstrauischen Blick zugeworfen. Milva hatte ihr nicht alle pikanten Details des letzten Abends berichtet, doch Ryltha schien zumindest zu spüren, dass ihr etwas verschwiegen wurde.
Früh am nächsten Abend fand Milva die wieder sorgsam verschlossene und versiegelte Schriftrolle unter ihrem Fenster, zusammen mit einem weiteren Papierfetzen. Mühsam entzifferte sie die Schrift darauf. Bring das Testament so schnell wie möglich an seinen Ort zurück. Je länger es fort ist, desto größer die Wahrscheinlichkeit der Entdeckung - R
Also hatte Milva sich sofort auf den Weg zurück zum Bozhidar-Anwesen gemacht und versucht, sich auf dem Weg eine Ausrede für ihre Anwesenheit dort zu machen. Doch als sie das das Tor des Anwesens erreichte, stellte sie fest, dass sie keine Ausreden brauchen würde - das Tor stand leicht offen, und kein Wächter war zu sehen. Trotzdem gab sie ihre Vorsicht nicht auf. Sie hatte mehr als einen Jäger gekannt, der beim Anblick des Wildes zu selbstsicher und unvorsichtig geworden war, und am Ende leer ausgegangen war. Ohne das Tor zu bewegen schlüpfte sie durch die schmale Öffnung hindurch, und huschte über den dunklen Vorplatz in Richtung des Haupthauses. Dessen Fenster waren fast alle dunkel, lediglich hinter zweien war ein schwaches, schwankendes Licht zu erkennen. Auch hier stand die Tür offen, und es war keine Spur von einem Wächter zu sehen.
"Was um alles in der Welt geht hier vor sich?", wisperte Milva leise vor sich hin, und strich sich eine verirrte blonde Strähne aus dem Gesicht. Sie konnte sich kaum vorstellen, dass eine solche Schlampigkeit von Herrin Velmira geduldet wurde, also musste irgendetwas vorgefallen sein. Langsam schlich sie näher an die Tür heran, aufmerksam lauschend. Im Haus war es beinahe vollkommen still, doch die glaubte leise Stimmen und etwas wie Schluchzen zu vernehmen. Milva spürte ein nervöses Ziehen in der Magengrube. Was immer hier geschehen war, konnte nichts gutes bedeuten.
Im Hauptflur war es dunkel, und auch hier war keine Menschenseele zu sehen. Dafür konnte Milva am Ende des Ganges ein schwaches Licht aus dem Gang zu rechten Seite erahnen. Ohne ihre Vorsicht aufzugeben, durchquerte sie den Flur. Eine der ersten Türen stand ein wenig offen, und aus dem Raum dahinter drang ein unterdrücktes Schluchzen. Milva spähte hindurch, und erkannte Czeslav, den fetten Haushofmeister, der direkt hinter der Tür an der Wand zusammengesackt war, die Hand vor das Gesicht geschlagen hatte, und von Schluchzern geschüttelt wurde. Milva schüttelte verständnislos den Kopf. Was in aller Welt war hier geschehen? Das unangenehme Ziehen in ihrer Magengrube verstärkte sich, als sie ihren Weg den Flur entlang fortsetzte.
Sie spähte um die Ecke am Ende des Flurs, und der Anblick traf sie wie ein Keulenschlag in den Magen. Am Fuß der Treppe, die Milva noch am gestrigen Abend hinauf geschlichen war, lag eine kleine, dünne Gestalt mit kurzen, grauen Haaren, die ein weißes Nachthemd trug - Herrin Velmira. Ihr einer Arm stand in einem unnatürlichen Winkel ab, aus dem Mundwinkel lief ein dünner Blutfaden, und sie rührte sich nicht. Milva blinzelte mehrmals rasch hintereinander. Sie war noch dabei zu begreifen, was sie vor sich hatte, als sie von der Treppe her angesprochen wurde.
"Milva." Es war Silans Stimme, doch sie klang dunkel vor Erschöpfung und Trauer. Er saß auf einer Treppenstufe, und wischte sich mit einer Hand über die Augen. Vorsichtig stieg Milva an Velmira vorbei, setzte einen Fuß auf die unterste Treppenstufe, und hielt dann inne. "Was ist geschehen?", fragte sie, ohne Silan dabei aus den Augen zu lassen.
Dieser atmete tief durch, und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. "Meine Tante und ihr Schwager, Hartvil..." Er sprach den Namen mit solcher Verachtung und Wut aus, dass Milva unwillkürlich zusammenzuckte. "Sie hatten einen Streit. Ich weiß nicht genau, worum es ging - vielleicht wollte er als ihr Erbe mehr Befugnisse bei der Verwaltung unserer Ländereien, oder er wollte ganz sicher gehen, dass er der Erbe ist und nicht ich. Als ich dazukam, wurde er handgreiflich, und... er stieß meine Tante die Treppe hinunter und floh. Ich habe die Wächter angewiesen, ihm zu folgen, aber... Selbst wenn sie ihn einfangen, wird sie das nicht zurückbringen, oder?" Seine Stimme klang bitter und verzweifelt, und in einem plötzlichen Anflug von Mitleid setzte Milva sich neben ihm auf die Treppenstufe, und nahm seine Hände in ihre. Sie war sich ihrer Gefühle für Silan nicht sicher - nicht einmal, ob sie überhaupt welche hatte. Sie glaubte nicht, dass sie ihn wirklich liebte, doch er war ein guter Mann, der jeden Trost verdient hatte, den sie ihm spenden konnte. "Es wird sie nicht zurückbringen", begann sie unbeholfen. "Aber es wird sich besser anfühlen, und... mit der Zeit wird der Schmerz irgendwann beinahe ganz aufhören. Glaub mir, ich kenne mich damit aus."
Ein seltsames Feuer schien in Silans Augen aufzuflammen. "Glaub mir, ich auch. Aber... ich hätte es verhindern können, genau wie bei Agda. Und doch sind sie tot, und es ist, als wäre es meine Schuld."
Für einige Augenblicke herrschte Schweigen, währenddessen Silan stumm und regungslos auf die Leiche seiner Tante hinabstarrte. Schließlich zog Milva Velmiras Testament aus ihrer Tasche, und sagte leise: "Ich... habe ihr Testament bei mir. Ich bin gekommen, um es zurückzubringen." Silan sah sie nicht an. "Für dich und deine Freunde ist das sicher eine angenehme Entwicklung." Seine Stimme klang so bitter, dass Milva zurückzuckte. "Immerhin hat Hartvil euch die Arbeit abgenommen. Und wie kann ich sicher sein, dass ihr nichts damit zu tun hattet?"
"Ich habe es dir versprochen", erwiderte Milva, gleichzeitig gekränkt über seinen Vorwurf und unsicher, ob die Schattenläufer wirklich nichts mit den Geschehnissen dieses Abends zu tun hatten. Schließlich hatten sie mehr als einmal bewiesen, dass sie Milva keineswegs über alle ihre Pläne einweihten, und oft genug ein doppeltes Spiel trieben. "Ich weiß nicht, ob außer Hartvil noch etwas damit zu tun hatte, aber ich war es nicht. Ich bin keine Mörderin." Das Bild des schlafenden Händlers, der durch ihren Pfeil gestorben war, trat ihr ungebeten vor Augen. Die Soldaten, die in den Hinterhalten der Elben gestorben waren - in die sie, Milva, sie gelockt hatte.
"Aber wir müssen das Testament zurückbringen, denn sonst..." Die Worte verließen sie. Was konnte sie sagen, das Silan überzeugen würde und gleichzeitig nicht kalt klang?
"Denn sonst wird die Stadtwache mich verdächtigen, und nicht Hartvil", beendete zu ihrer Überraschung Silan selbst den Satz für sie. Er schien sich einigermaßen gefangen zu haben und wieder klar zu denken. "Immerhin steht in dem Testament mein Name, und wenn es erst später oder am falschen Ort auftaucht... Und die Stadtwache ist königstreu, also werden sie jede Möglichkeit nutzen um zu verhindern, dass ich mein Erbe antrete." Er streckte die Hand aus, und Milva lege die Schriftrolle hinein.
"Jetzt geh", sagte er. "Geh, bevor die Stadtwache kommt und beschließt, dich in dieser Sache zu befragen. Sie könnten beschließen, dich als Komplizin anzuklagen, und nach ein paar Stunden in einem ihrer Keller, wirst du alles sagen, was sie hören wollen." Milva nickte. Sie konnte sich in etwa vorstellen, was in diesen Kellern der Stadtwache vor sich ging, und sie war sich keineswegs sicher, wie lange sie dem widerstehen könnte. Sie öffnete den Mund um noch etwas zu sagen, doch sie fand keine Worte. Silan lächelte, ein schrecklich trauriges Lächeln. "Ist schon gut. Danke, Milva." Ohne ein weiteres Wort verließ sie das Anwesen ebenso unbehelligt, wie sie gekommen war und ohne von neugierigen Augen gesehen zu werden. Dennoch entspannte sie sich erst, als sie Ronvids Haus erreicht und die Tür ihres Zimmers hinter sich geschlossen und verriegelt hatte.

Milva in den Untergrund von Gortharia

Fine:
Cyneric, Alatar und die Schattenläufer vom Konzil der Zauberer


Den Weg durch die Straßen Gortharias bis zum Anwesen der Familie Bozhidar hatte die schwer bewaffnete Kolonne in unheilvollem Schweigen zurückgelegt. In ihrer Mitte schritten der Zauberer und die Herrin der Schatten. So kamen sie schließlich ans Tor des großen Anwesens und Alatar trat vor, um mit den dort wartenden Wächtern zu sprechen.
"Euer geschätzter Herr erwartet uns," sagte er ohne weitere Erklärung.
Cyneric hatte erwartet, dass man die Eskorte bitten würde, die Waffen abzulegen, doch zu seinem Erstaunen ließen die Wachposten der Bozhidars die gesamte Kompanie ohne Kontrollen eintreten - sie verzichteten auf jegliche Durchsuchung. Cyneric wechselte einen verwunderten Blick mit Ryltha, die neben ihm ging. Ihre Augen strahlten große Anspannung aus.
Durch den Vorgarten des Anwesens kamen sie an den Stallungen und den Nebengebäuden vorbei. Das Haupthaus ragte direkt vor ihnen in die Höhe und das große Eingangsportal stand offen. Zwei Wächter mit langen Spießen flankierten den Durchang und winkten die Eskorte des Zauberers rasch hindurch. Sie gelangten in eine große, geschmackvoll eingerichtete Empfangshalle, an deren hinterem Ende eine breite Treppe zu den oberen Stockwerken hinauf führte. Wo diese Treppe auf die Rückwand des Hauses traf, teilte sie sich auf und führte in die gegensätzliche Richtung in zwei schlankeren Armen weiter nach oben.
Als die letzten Soldaten in den blauen Umhängen Alatars die Eingangshalle betreten hatten, ertönte eine Glocke und am oberen Ende der Treppe erschien ein Mann. Sein langes, schwarzes Haar fiel ihm bis auf die kräftigen Schultern herab und ein fein säuberlich gestutzter Bart rahmte sein ausgeprägtes Kinn ein. Er trug edle Kleidung und breitete die Arme aus, als er langsam die Stufen herab stieg.
"Meister Alatar!" rief der Gastgeber mit volltönender Stimme. "Seid willkommen in meinem bescheidenen Heim. Ich bin froh, Euch endlich hier begrüßen zu können."
Alatar schritt durch die Reihen seiner Eskorte auf die Treppe zu, den Stab fest in der Hand. "Ich grüße dich, Silan," entgegnete er schlicht.
Silan Bozhidar, der Erbe der erst kürzlich verstorbenen Herrin Velmira, blieb auf der zweituntersten Stufe stehen, als sich der Zauberer zu ihm gesellte. "Ich hoffe, man hat Euch bei Eurer Ankunft keinerlei Schwierigkeiten bereitet?"
"Nein, im Gegenteil," sagte Alatar. "Alles verläuft... exakt meinen Erwartungen entsprechend." Er winkte Cyneric knapp zu. "Ich habe ein Geschenk für dich, Silan."
Cyneric trat vor. Er wagte nicht, die Stufen zu betreten. Stattdessen ließ er sich auf ein Knie nieder und reichte das Schwert auf beiden Händen an Silan weiter. Dieser nahm die Waffe interessiert entgegen, ohne große Notiz von ihrem Überbringer zu nehmen. Bewundernd zog er die Klinge aus der Schwertscheide. "Ein unschätzbares Geschenk," sagte er, eindeutig erfreut.
"Ein königliches," meinte Alatar bedeutungsvoll.
Silan weidete sich noch einen langen Augenblick an der Klinge, ehe er sich wieder seinen Besuchern zuwandte. "Alatar, mein guter Freund, ich kam nicht umhin, zu bemerken, dass Ihr nicht alleine gekommen seid." Sein Blick fixierte Merîl, die schweigend inmitten der Eskorte gewartet hatte.
"Wie ich bereits erwähnte... es verläuft alles entsprechend unserer Erwartungen, sagte Alatar.
"Wie wahr, Ewiger Berater, wie wahr..." Silan lächelte gefährlich.
"Was hat das zu bedeuten?" verlangte Merîl zu wissen. Ihre Stimme klang befehlsgewohnt und streng.
"Es bedeutet, dass die Zeit der Schattenläufer vorbei ist," antwortete Silan. "Das habt ihr nicht kommen sehen, nicht wahr? Euer wundersamer Brunnen ist blind - dank der Anstrengungen meines guten Freundes Alatar..."
Cyneric, der sich inzwischen wieder einige Schritte von der Treppe entfernt hatte, warf einen raschen Blick zu Ryltha und Morrandir hinüber, die sich links und rechts neben Merîl eingereiht hatten. Und gerade als Cyneric sah, wie Ryltha unruhig nach ihrer Waffe tastete, geschahen mehrere Dinge gleichzeitig.
"Es ist Zeit!" rief Silan triumphierend. Sofort rückten alle Bewaffneten im Raum - nicht nur Alatars Eskorte, sondern auch die Bozhidar-Wachen - aus der Mitte des Raumes fort und zogen ihre Waffen, um sie auf die Schattenläufer zu richten, die nun in der Mitte der Halle umzingelt waren. Nur drei Soldaten der ehemaligen Eskorte blieben an Merîls Seite, abgesehen von Morrandir und Ryltha. Deren geschärfte Sinne mussten sie vorgewarnt haben, denn Ryltha bewegte sich bereits: Ihr Schwert flog davon, zielsicher auf Silan zu, während sie zwei lange Dolche hervorriss und zum Angriff überging. Morrandir hingegen schleuderte ihren Umhang von sich, der zwei Wächtern die Sicht nahm und sie zurücktaumeln ließ. Dann sprang die Schattenläuferin nach vorne, um mit Schwert und Schild anzugreifen.
Ein heilloses Chaos brach aus. Cyneric sah, wie Rylthas Wurfwaffe Silans Gesicht nur um Haaresbreite verfehlte - offenbar steckte Alatar dahinter, der die Hände nach vorne ausgestreckt hatte und Worte in einer fremden Sprache murmelte. Silan prallte reflexartig zurück und ließ vor Schreck das geschenkte Schwert fallend. Klirrend sprang die Waffe die Treppenstufen hinab, um im Kampfgetümmel zu verschwinden.
Cyneric wurde klar, dass dies eine Falle war - eine Falle für die Schattenläufer. Und Alatar hatte sie hintergangen, um gemeinsame Sache mit Silan zu machen. Der Blaue Zauberer hatte dafür gesorgt, dass der Brunnen Anntírad blind blieb, damit die Schatten die Falle nicht kommen sahen. Während Cyneric notgedrungen sein Schwert zog um sich zu verteidigen, fiel ihm ein, dass Salias Verschwinden vermutlich ebenfalls Teil der Machenschaften Silans und Alatars war. Aber warum das alles? dachte er angestrengt. Wozu die Schattenläufer aus dem Weg räumen?
Er stieß einen der Angreifer mit einem Schulterstoß zu Boden und sah sich hastig um. Da tauchte Ryltha aus dem Kampfgetümmel auf. Sie hieb einen Soldaten neben sich nieder und zerrte Cyneric mit sich, an den Rand des Raumes. Es gelang ihr noch, eine sich dort befindliche Tür einzutreten, als sie ein Speerstoß in die Schulter traf. Ryltha schrie auf und ging zu Boden.
Instinktiv reagierte Cyneric und hieb auf den Schaft des Speeres ein, den der feindliche Soldat mit blutiger Spitze aus Rylthas Körper gerissen hatte. Das Holz splitterte und der Bozhidar-Wächter taumelte, was Cyneric die Gelegenheit gab, ihm seine Klinge durch den ungeschützten Hals zu rammen.
Cyneric kniete sich neben Ryltha, deren Atem in schweren Stößen ging. Sie war erschreckend bleich. "Geh," presste sie hervor. "Solange diese Türe noch offen ist! Du musst... Salia finden." Sie hustete, und ein Schwall Blut lief aus ihrem Mund.
Hinter ihnen erklang ein grauenhafter Schrei inmitten des Chaos, das den ganzen Raum erfüllte. Ryltha krallte ihre Hand in Cynerics Unterarm. Wortlos streckte sie ihm die zweite Hand entgegen, die etwas umklammert hielt: Es war das Schwert, das Alatar als Geschenk an Silan übergeben hatte. Vorsichtig nahm Cyneric die wertvolle Waffe entgegen. Weshalb Ryltha wollte, dass er die Klinge mit sich nahm, wusste er nicht recht.
"Geh!" hauchte Ryltha und versetzte ihm einen schwachen Stoß. Dann sank sie in sich zusammen, als Cyneric einen Schritt rückwärts machte und schließlich die Tür passierte, um sie hastig hinter sich zu verschließen.

Er atmete tief durch. Cyneric fand sich in einem schmalen Gang wieder, der offenbar für Dienstboten angelegt worden war. Hinter einer Biegung entdeckte er eine staubige Treppe, die nach unten führte. Es war dunkel, sodass er sich mühsam vorantasten musste. Die Kampfgeräusche drangen anfangs nur dumpf zu ihm durch und hörten nach einiger Zeit ganz auf. Schließlich kam Cyneric an das Ende der Treppe und gelangte in einen Keller, der aus einer kleinen Halle mit nackten Säulen bestand. Eine einzelne Laterne an der Raumdecke spendete etwas Licht und Cyneric entdeckte am hinteren Ende des Raumes eine hölzerne Wand, die die gesamte Breite der Halle abdeckte. Darin befand sich eine einzelne Tür, die fest verschlossen und mit einer eisernen Kette verriegelt war. Cyneric hoffte, das Schloss aufbrechen zu können, doch es gab auch nach mehreren beherzten Tritten nicht nach.
Da fiel sein Blick auf das Schwert, das Ryltha ihm gegeben hatte. Er zog es. Die breite, gebogene Klinge schmimmerte feuerrot im schwachen Licht der Laterne. Cyneric beschloss, es zu versuchen. Er holte mit beiden Händen aus und ließ das Schwert auf die eiserne Kette niedergehen, die mit einem Klirren in mehrere Stücke zerbarst. Das hat besser funktioniert als erwartet, dachte Cyneric, als er vorsichtig die Türe aufschob.
Im Inneren roch es unangenehm. Es war stockfinster. Cyneric nahm kurzerhand die Laterne aus der kleinen Halle aus ihrer Halterung und leuchtete vorsichtig in den eben noch verschlossenen Raum hinein. Das erste, was er sah, war eine Leiche, was den Gestank erklärte. Cyneric legte eine Hand auf Nase und Mund und umrundetete den Körper, um in den hinteren Teil des Raumes zu leuchten. Als er die Laterne hob, entdeckte er drei Gestalten, die an der jenseitigen Wand kauerten. Als er sie erkannte, fiel ihm ein Stein vom Herzen.
Dort, in den Verliesen unterhalb des Bozhidar-Anwesens, hatten Silans Schergen nicht nur Salia, sondern auch Milva und eine dritte, dunkelhaarige Frau eingesperrt.
„Milva!“ rief Cyneric, und sah, wie sie langsam den Kopf hob...

Eandril:
Milva blinzelte in das ungewohnte Licht der Laterne. Sie glaubte, die Stimme, die ihren Namen gerufen hatte, zu kennen, konnte sie aber nicht richtig zuordnen. Die Gestalt kam vorsichtig näher, und während Milvas Augen sich allmählich an die Helligkeit gewöhnten, enthüllte das Licht der Laterne ein ihr bekanntes Gesicht.
"Cyneric?", fragte sie leise, und fuhr sich dann mit zitternden Fingern durch die schmutzigen, verfilzten Haare. Sie war sich nicht sicher, ob Cyneric tatsächlich vor ihr stand, oder ob sie allmählich verrückt wurde. "Bist du... das wirklich?"
Er ging vor ihr in die Hocke und legte Schwert und Laterne ab. Das Metall klirrte leise auf dem nackten Steinboden.
"Ich bin wirklich hier", sagte er, und seine große, kräftige Hand umschloss ihre. Sie war warm und echt. "Keine Einbildung."
Milva atmete zittrig tief ein und aus. "Was tust du hier?"
Cyneric schüttelte den Kopf. "Keine Zeit für Erklärungen. Wir müssen dringend hier verschwinden, bevor Wachen kommen. Könnt ihr gehen?"
Milva zwang sich zu einem zuversichtlichen Lächeln. "Das werden wir wohl müssen." Sie stieß vorsichtig Salia zu ihrer Linken an, und diese öffnete die Augen, blinzelnd im Licht der Lampe. "Wir müssen gehen."
In Salias Augen stand Verwirrung, doch sie nickte stumm und kam langsam und mühsam auf die Beine. Milva nahm dankbar Cynerics angebotene Hand und ließ sich von ihm auf die Füße ziehen, bevor sie auf Fioras zusammengesunkene Gestalt deutete.
"Fiora wird nicht allein gehen können. Sie..." Sie brach ab, und schüttelte stumm den Kopf. Fiora war die Gefangenschaft am schlechtesten von ihnen allen bekommen. Sie hatte schon bald nachdem sie hier eingesperrt worden waren begonnen, leise mit sich selbst zu sprechen und reagierte auf niemanden mehr. In letzter Zeit hatten sogar ihre Selbstgespräche aufgehört, und sie hatte meistens nur noch leise vor sich hingesummt.
Cyneric stellte keine Fragen, sondern zog Fiora sanft aber bestimmt vom Boden hoch, und legte sich ihren Arm über die Schulter. Sie bewegte allerdings kaum die Füße, sodass Cyneric sie mehr trug als stützte.
Als sie an der Leiche in der Nähe der Tür vorüber kamen, fragte Cyneric: "Wer war das?"
Milva schüttelte den Kopf, und bereute sogleich es getan zu haben, als sie ein abrupter Schwindel überfiel. "Wir wissen es nicht. Sie haben ihn vor ein paar Tagen hier herein geworfen, und vorgestern ist er gestorben. Er hat nie ein Wort gesagt."
Sie wusste nicht, wie lange Zeit vergangen war, seit sie selbst im Dunkel des Kerkers aufgewacht war. Am Anfang hatten sie noch versucht, die Tage zu zählen, doch in der immerwährenden Dunkelheit hatten sie sich schließlich verhaspelt, und als Salia und sie zu vollkommen unterschiedlichen Ergebnissen gekommen waren, hatten sie es aufgegeben. Zu diesem Zeitpunkt hatte Salia auch jegliche Hoffnung aufgegeben, ihren Kerker jemals wieder lebendig zu verlassen, doch irgendetwas hatte einen Funken Hoffnung in Milva aufrecht erhalten. Vielleicht hatte sie die Gefangenschaft auch deshalb besser als Salia, die schweigsam und verzweifelt geworden war, und Fiora, die anscheinend dem Wahnsinn verfallen war, überstanden.
Sie traten aus der Tür ihres Kerkers hinaus in eine kleine Halle, deren Decke von nackten Steinsäulen getragen wurde. Milva erinnerte sich nicht an diesen Raum, denn sie war genau wie Salia bewusstlos in den Kerker gebracht worden. Wie es Fiora ergangen war, hatten sie nicht aus dieser herausbekommen können.
"Ihr wisst nicht zufällig von einem zweiten Ausgang?", fragte Cyneric, und nickte in Richtung der dunklen, staubigen Treppe. "Ich glaube nicht, dass wir diesen Weg nehmen können, unser Eindringen hier war immerhin nicht besonders leise."
Milva lehnte sich an eine Säule, bereits angestrengt von den wenigen Schritten, die sie zurückgelegt hatte. "So genau kenne ich mich im Königspalast nicht aus. Salia?"
Salia schüttelte nur müde und resigniert den Kopf, während Cyneric verwundert von einer zur anderen blickte. "Der Königspalast? Wir sind im Keller des Anwesens von Haus Bozhidar."
Milva legte eine Hand an die Stirn, und versuchte ihre verschwommenen Gedanken zu ordnen. "Aber wie... wieso... ich verstehe nicht."
"Natürlich nicht", antwortete eine neue, tiefe Stimme. Die Treppe hinunter kam ein ganz in blau gewandeter Mann mit einem langen, weiß-grauen Bart. Er stützte sich beim Gehen auf einen Stab, an dessen Spitze ein blauer Edelstein funkelte, obwohl er keine Stütze nötig zu haben schien. Bei seinem Anblick ließ Cyneric Fiora sanft zu Boden gleiten, wo sie leise vor sich hinsummend sitzen blieb, und richtete die Spitze seines rötlich schimmernden Schwertes auf den Neuankömmling. Dieser lächelte begütigend, und legte die letzten paar Stufen nach unten zurück, offenbar von der Drohung nicht im mindesten eingeschüchtert.
"Es besteht kein Grund für solche Feindseligkeit, Cahir - oder vielleicht doch Cyneric aus Rohan? Der Streit ist zwischen mir und den Schatten, nicht zwischen mir und euch."
"Ihr seid... Alatar. Der ewige Berater", stellte Salia, die sich an eine Säule klammerte wie eine Ertrinkende, fest. Ihre Stimme klang rau, denn sie hatte sie in letzter Zeit kaum benutzt.
"Allerdings", erwiderte der Zauberer, ohne die Augen von Cyneric zu wenden. "Nun kommt, legt das Schwert beiseite, bevor ich euch wehtun muss." Seine Stimme klang gütig und weise, und gleichzeitig befehlend, und obwohl er nicht Milva angesprochen hatte, fühlte sie einen großen Drang, all seinen Wünschen folge zu leisten. Cyneric jedoch senkte zwar das Schwert, doch die Anspannung verließ seinen Körper nicht, und er wirkte nicht weniger kampfbereit als zuvor mit erhobener Klinge.
"Was wollt ihr?", fragte er, und seine Stimme klang gleichzeitig müde und feindselig. "Wenn ihr uns töten wollt, dann macht schon."
"Mein lieber Cyneric, wenn ich euch töten wollte, hätte ich das längst getan - ihr wärt nicht einmal aus der Halle oben entkommen, wenn ich es nicht zugelassen hätte."
Milva nahm die Hand von der Stirn, obwohl sich ihre Verwirrung noch kein bisschen gelegt hatte. "Ich verstehe immer noch nicht. Wenn wir im Haus Bozhidar sind, heißt das... Silan hat etwas damit zu tun?"
Alatar lächelte ihr zu - freundlich, wie ein stolzer und gütiger Vater.
"Das hat er allerdings, meine Liebe, und mehr als ihr vielleicht ahnt. Es war nie meine Absicht, euch das hier anzutun." Er breitete die Arme aus, auf die gesamte Umgebung deutend. "Allerdings konnte ich auch nicht zulassen, dass die Schatten euch weiter auf den falschen Pfad führen, denn ihr werdet mir noch von Nutzem sein in dem Sturm, der uns bevorsteht."
"Ich lasse mich nicht gerne benutzen", murmelte Milva, und Alatar schüttelte betrübt den Kopf.
"Ihr alle mögt euch das einreden, doch am Ende seid ihr alle benutzt worden - von Merîl einem der gerissensten und gefährlichsten Wesen, das in Rhûn lauert. Eine Ablenkung, auf dem Weg zur Vollendung des Schicksals von Mittelerde, in dem jeder von euch eine Rolle zu spielen hat. Kommt mit mir, und ich werde euch an einen sicheren Ort bringen - an dem ihr alles erfahren sollt, was ihr erfahren müsst."
Cyneric biss die Zähne zusammen, doch bevor er etwas sagen konnte, legte Milva ihm sanft eine Hand auf die Schulter.
"Welche Wahl haben wir denn? Den Tod?" Sie schüttelte leicht den Kopf. "Das wäre mir noch vor einer Stunde als der beste Ausweg erschienen, bevor du diese Tür aufgestoßen hast. Jetzt möchte ich vor allem leben."
Cyneric warf Salia einen Blick zu, und als diese beinahe unmerklich nickte, wandte er sich wieder Alatar zu, und sagte: "Also schön. Wir kommen mit euch."
"Ich hatte gehofft, ihr würdet Vernunft annehmen", erwiderte der Zauberer sichtlich zufrieden. "Lasst uns gehen, bevor irgendjemand oben etwas unvernünftiges tut."

Alatar, Cyneric, Milva, Salia und Fiora zum Konzil der Zauberer

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