Narissa und Aerien aus der Mehu-WüsteTindouf, die Stadt des Tamazihken-Stammes, nahe der Mündung des Harduin in den Golf von Kerma gelegen, war eine alte Stadt. Da sich die Tamazikhen dem Bündnis Qúsays angeschlossen hatten und ihr Stammesgebiet direkt an das Reich von Qafsah grenzte, waren hier hauptsächlich Krieger unterwegs, während viele vom einfachen Volk ins Inland geflohen waren. Der große Fluss, der sich direkt nördlich und westlich der Stadt in Richtung Meer ergoss, bildetete die Grenze zwischen den verfeindeten Fraktionen im haradischen Bruderkrieg, und wurde von Sûladans Getreuen kontrolliert. Als Aerien und Narissa ihre Pferde am Zügel durch das große Stadttor Tindoufs führten, warfen ihnen die Wachen argwöhnische Blicke zu, ließen sie jedoch passieren. Keine der beiden war jemals zuvor in der Stadt gewesen. Jedoch brauchten sie nicht lange, bis sie eine Unterkunft in einem einfachen Gasthof gefunden hatten. Das Gebäude war alt und im Zustand des fortgeschrittenen Verfalls, lag jedoch angenehm nahe am Südtor Tindoufs, was einen schnellen Aufbruch aus der Stadt ermöglichte, falls dies notwendig werden sollte. Narissa hatte das Ganze als "Vorsichtsmaßnahme" bezeichnet, und Aerien hatte keinerlei Einwände vorgebracht.
Sie hatte die Reise durch Weit-Harad genossen, doch je näher sie dem Reich Sûladans kamen, desto eiliger hatte Aerien es gehabt, in das als relativ sicher geltende Kerma zu gelangen. In Tindouf planten sie, König Músabs Spur aufnehmen, denn die Stadt lag beinahe auf direktem Weg zwischen Kerma und Ain Séfra. Falls er bereits in sein Königreich zurückgekehrt war, hatte er Tindouf mit großer Sicherheit passiert. Und in diesem Fall würden die Stadtbewohner darüber Bescheid wissen.
Aerien saß mit übereinander geschlagenen Beinen auf einem hölzernen Stuhl, der neben dem Bett und einem kleinen Schrank das gesamte Mobiliar ihres kleinen Zimmers ausmachte, für das die beiden Gesandten Tol Thelyns für eine Übernachtung bezahlt hatten. Narissa war fortgegangen, um sich in der Stadt umzuhören, doch Aerien hatte sich ihr nicht angeschlossen. Sie verstand selbst nicht recht warum: Ein Teil von ihr hatte mit beleidigtem Schweigen auf Narissas Verwendung ihres neuen Spitznamens reagiert, doch sie war sich ziemlich sicher, dass sie beide wussten, dass Aeriens Laune etwas übertrieben war. Zumindest
dachte sie das... oder vielleicht doch nicht? Jedenfalls hatte sie zu Narissa gesagt, dass sie auf einen ersten Erkundungsgang lieber verzichten würde, und war dabei geblieben als Narissa mit Unverständnis reagiert hatte.
"Willst du wirklich nicht mitkommen?" hatte Narissa gefragt. "Sondern stattdessen hier einfach nur herumsitzen?"
Aerien hatte darauf mit wachsender Verärgerung reagiert. "Kannst du meine Entscheidung nicht einfach respektieren? Ich habe dir gesagt, dass ich hier bleiben möchte. Was ist daran so schwer zu verstehen?"
"Das ist nicht... Ich dachte, du wärest eben gerne mit dabei wenn ich mich nach Informationen über König Músab umhöre!"
"
Du hörst dich um? Nicht...
"wir"?"
"Tol Thelyn ist
meine Heimat," hatte Narissa gekontert. "Und dieser Auftrag wurde
mir gegeben."
"Und ich bin also nicht mehr als deine Begleitung? Ist es das, Narissa?"
"Nein, Sternchen, so war das nicht gemeint..."
"Geh einfach. Betreibe deine Nachforschungen. Ich werde hier sein."
Und damit hatte sie Narissa die Tür vor der Nase zugeschlagen und sich in dem kleinen Raum verbarrikadiert.
Aerien verstand nicht, wieso sie so extrem reagiert hatte. Sie machte sich Vorwürfe, und hoffte, dass Narissa aufgrund ihres Ärgers nichts Dummes tun würde. Doch der Konflikt in ihrem Kopf ließ sich nicht so leicht beschwichtigen. Sie überlegte hin- und her, wie ernst Narissa es gemeint haben könnte, als sie davon gesprochen hatte, dass
sie die eigentliche Gesandte Tol Thelyns war - und nicht Aerien. Vielleicht sah sich Narissa tatsächlich als offizielle Repräsentantin des Hauses der Turmherren, und als diejenige, die die Verantwortung für die erfolgreiche Verhandlung und das Zustandekommen eines Bündnisses mit Kerma trug.
Ob sie sich wohl dadurch unter Druck gesetzt fühlt? dachte Aerien. Ihre eigene Rolle in der ganzen Sache war ihr ebenfalls nicht klar. Als Thorongil und Edrahil entschieden hatten, dass Aerien und Narissa nach Kerma gehen würden, hatte Aerien es als einen gemeinsamen Auftrag verstanden. Doch die Tatsache, dass sie nicht zum Haus der Turmherren und zu den Thelynrim gehörte, war nicht von der Hand zu weisen. Narissa hatte die Weiße Insel klar als ihre Heimat bezeichnet, doch Aerien wussste nicht, ob sie von sich dasselbe sagen konnte. Sie hatte dort in Narissas Zimmer gewohnt, und nicht in ihrem eigenen. Sie war fast immer gemeinsam mit Narissa unterwegs gewesen, und nur sehr selten alleine. Und ihr Status als... ja, was war eigentlich ihr Status? Sie hielt mitten in ihren Gedanken inne und stellte fest, dass sie darauf keine Antwort wusste. Alles, was sie mit Tol Thelyn verband, lief über Narissa. Sie war die einzige Verbindung... abgesehen von der entfernten Verwandschaft, die Aerien zu Minûlîth, der Herrin der Insel, hatte. Hatte sie überhaupt ein Recht darauf, Tol Thelyn als Heimat bezeichnen zu dürfen? Sie überlegte weiter und kam schließlich darauf, dass sie sich vielleicht auf eine Art und Weise mit einer Frau vergleichen konnte, die in das Haus der Turmherren einheiratete. Doch
Túor war nun der Erbe des Turms, nicht Narissa. Und Narissa war kein Mann. Wie also...
Ein lautes Klopfen an der Tür riss Aerien aus ihren Gedanken. "Geh weg," rief sie, denn sie wusste, dass Narissa vor der Tür stand.
"Schmollst du immernoch, Sternchen?" antwortete ihr die gut gelaunte Stimme ihrer Freundin.
"Ich tue nichts dergleichen," gab Aerien gereizt zurück.
"Dann mach' die Tür auf. Ich verspreche, brav zu sein."
"Nein!"
Von draußen erklang ein Seufzen, und dann hörte Aerien Schritte, die sich von der Tür entfernten. Erneut hatte sie sich selbst mit ihrer heftigen Reaktion überrascht, und verfluchte sich innerlich dafür.
Was ist nur los mit mir? fragte sie sich. Sie wollte Narissa dieselben Fragen stellen, die sie sich selbst gestellt hatte, aber gleichzeitig wollte sie Narissa bis auf weiteres nicht sehen. Sie verstand es nicht.
Eine Hand legte sich auf ihren Mund, und ein Arm umschlang Aeriens Oberkörper mit einem festen Griff. Ihr überraschter Schrei wurde davon erstickt.
"So," sagte Narissa. "Bevor du dich wunderst - das Fenster stand offen, und an der Rückwand des Hauses wächst ein dichtes Geflecht aus Efeu. Eine meiner leichtesten Übungen." Sie nahm die Hand von Aeriens Mund, hielt ihren Oberkörper aber weiterhin fest. "Und jetzt wirst du mir sagen, was eigentlich mit dir los ist."
"Lass mich los," forderte Aerien und versuchte, sich zu befreien, doch Narissas Griff erwies sich als zu stark.
"Erst wenn du redest," gab diese zurück.
"Ich weiß nicht was mit mir los ist!" rief Aerien. "Ich weiß nicht... ob ich Tol Thelyn als Heimat bezeichnen darf, und wie deine Familie zu mir steht, und welche Rolle ich dort einnehme, und wo mein Platz ist, und was meine Aufgabe auf dieser Reise ist, und ob du mich nur mitschleppst weil..."
"Existenzkrise?" unterbrach Narissa sie mit hochgezogenen Augenbrauen. "Du weißt doch, wie ich zu dir stehe. Wir gehören zusammen, und nichts kann daran etwas ändern. Und meine Familie hat das erkannt."
"Aber ich..."
"Du bist die wichtigste Person in meinem Leben..."
"Ich bin..."
"...Sternchen."
"Sei still."
"...nein."
Und dann fingen sie beide an zu lachen, ehe Aerien Narissa um den Hals fiel und sie lange Zeit drückte.
"Nachdem das ja nun geklärt ist," begann Narissa kurze Zeit später, "sollte ich vielleicht davon berichten, was ich während meinem Streifzug durch Tindouf erfahren habe. König Músab ist bereits hier; er ist kurz nach uns eingetroffen. Ich habe mit einem seiner Leute gesprochen. Wir treffen uns in einer halben Stunde mit ihm in der Residenz des hiesigen Fürsten, einem Stammesführer der Tamazihken."
"Aber... wir können doch nicht in unserer Reisekleidung vor einen König treten," fiel es Aerien ein. Beide waren sie von der eiligen Reise nach Osten gezeichnet, und man konnte sie nicht gerade als
sauber, geschweige denn audienztauglich bezeichnen.
"Nun, ich habe nichts anderes dabei," entgegnete Narissa achselzuckend.
"Wie gut, dass Melíril und ich dafür bereits vorgesorgt haben," erwiderte Aerien triumphierend.