Das Schicksal Mittelerdes (RPG) > Palisor

Das Tal von Dalvarinan

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Thorondor the Eagle:
Mit einer gewissen Faszination blätterte Caelîf nochmals durch seine Notizen über das Leben von Coriel und auch Jarbeorn, ihren treuen Gefährten und über Vaicenya. Er hatte bemerkt, dass sich die Elbe dieselben Fragen stellte, wie er sie gestellt hätte. Also welche Antwort könnte er schon erwarten? Was er aber erst jetzt so richtig begriffen hatte war, dass sie von den westlichsten Gefilden Mittelerde’s kam. Keiner von den Elben die in diesem Wald waren, kamen je weiter als bis zum Taur-en-Elenath.

Diese merkwürdige Aura die von Coriel ausgeht, sie ist eigentlich eine Fremde, eine Elbe die hier nicht geboren war. Wie ist das Leben dort bei den Elben die einst den Herren des Westens gefolgt waren? Leben sie so wie wir? Ich hoffe, sie erzählt ...
Ein plötzlicher und unerwarteter Windstoß vom westlichen Ufer zog Caelîf’s Aufmerksamkeit auf sich. Er drehte sich hastig um und sah auf das Wasser hinaus. Die Spiegelung der Sterne war unter der unruhigen Oberfläche zur Gänze verschwunden. Er suchte nach dem Grund, sah in der Ferne aber nur die Silhouette von etwas sehr Großen. Der Schimmer des Sternenlichts brach sich auf merkwürdige Art auf dessen Oberfläche.

„Das kann doch unmöglich sein“, sagte er leise zu sich selber. Wie vom Blitz getroffen lief er zu seinem Zelt. Er kramte in seinem Reisegepäck, riss es förmlich aus der Tasche und griff nach dem Dolch den Tarásane ihnen geschenkt hatte. Weitere Windböen trafen sein Zelt und wirbelten Laub und Sand durch die Zeltöffnung.
Draußen angekommen war das Ungeheuer von seiner Stelle verschwunden. Aufgeregte Blicke nach rechts, in die Luft und dann auf das andere Seeufer ließen ihn den Drachen wieder ausmachen und zwar genau da wo er vor wenigen Augenblicken noch mit Coriel gesessen hatte. Ohne wirklich darüber nachzudenken hastete er das Seeufer entlang, vorbei an den Soldaten die mit gezogenen Schwertern schlicht dastanden und starrten.
„Caelîf“, hörte er Alcôr ihm noch hinterherrufen.
 Als er annähernd die Stelle erreicht hatte, spieh das Ungeheuer meterhohe Flammen in die Luft. Der Schreck ließ den Elben erstarren und warf ihn zurück. Unsanft landete er auf seinem Rücken. Ein weiterer Windhauch zog über ihn hinweg und wirbelte ihm den Sand des Ufers ins Gesicht, sodass er die Augen fest zusammenkneifen musste.

Erst als das Brennen in seinen Augen aufgehört hatte, sah er, dass der Drache verschwunden war und dass sich um Coriel bereits andere Elben eingefunden hatten.
„Caelîf mein Junge, ist dir etwas passiert?“, fragte ihn Rástor, der neben ihm kniete.
„Nein“, antwortete er kurz „Es war nur Sand in meinen Augen.“
„Das war er also, der Ilcalocë, die feurige Bestie der Orocarni.“
Und zum ersten Mal sah Caelîf Angst in den Augen seines Herren. Gemeinsam gingen sie zu Coriel Vaicenya und Jarbeorn waren bereits bei ihr.
„Was ist passiert?“, fragte Rástor Coriel.
„Ich glaube diese Fragen haben Zeit“, wehrte Vaicenya den Veriaran ab.
„Es ist in Ordnung, Vaicenya. Ich denke diese Botschaft ist wichtig für alle Elben Palisors. Der Ilcalocë erwartet, dass sich die Elben Palisors ihm unterwerfen“, sie brachte diese Worte nicht leichtfertig über die Lippen „Viele Chancen wird er uns nicht lassen.“
„Weiß er von dem Treffen?“
„Vermutlich nicht.“
„Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren, es ist dringender als wir alle gedacht haben. Ich muss zur Fürstin“, sagte Rástor und verschwand sofort im Dunkel der Nacht.
„Und du? Geht es dir gut?“, fragte Caelîf.
Coriel nickte: „Ja, er hat mich nur überrascht“, gab sie sich tapfer „Ich spürte seine Wut in mir und sein unbändiges Verlangen nach Macht. Er duldet keine Widersacher und er nährt sich aus unserer Angst.“
„Die Bestie ist wohl nicht zum Scherzen aufgelegt“, sagte Jarbeorn kleinlaut.
„Was dachtest du eigentlich was du gegen den Drachen ausrichten könntest?“, fragte Vaicenya wieder mit ihrem spöttischen Tonfall.
„Was sollte ich denn sonst tun? Das war alles was Möglich war.“
„Was war?“, fragte Coriel dazwischen.
„Dein junger Freund dachte, er kann den Drachen im Alleingang mit einem kleinen Messer zur Strecke bringen. Er lief damit wie ein Wildgewordener das Ufer entlang.“
Coriel lächelte ihm schwach zu als sie die Geschichte hörte. Jarbeorn hatte ihr mit seinen klobigen Händen eine Decke über die Schultern gelegt.

Die Aufregung im Lager der Elben war groß. Sie sprachen großteils durcheinander über das was sie gesehen hatten. Rástor suchte sofort das Zelt von Nénsilmë auf um mit ihr zu sprechen. Caelîf aber setzte sich vor sein Zelt, er wusste, dass Coriel von ihren Freunden bestmöglich versorgt werden würde, trotzdem sorgte er sich sehr um sie.
„Du warst ganz schön mutig alleine auf den Drachen loszugehen“, sagte Alcôr bereits als er sich ihm näherte.
„Was sollte ich denn tun? Zusehen wie er Coriel tötet?“
„Er hätte euch wohl beide erledigt.“
„Um diese Bestie besiegen zu können, braucht es wohl mehr als die paar Elben aus Nurthaenar, Nendalin und Gan Lurin.“
„Umso wichtiger ist unser Auftrag, Caelîf. Es wundert mich, dass ich dich daran erinnern muss.“
„Das ist er in der tat, meine Herren“, wurden sie von Rástor unterbrochen „Gönnt euch noch die ein oder andere Stunde Ruhe, bei Anbruch der Dämmerung werden wir aufbrechen!“
„Jawohl, mein Herr Rástor“, antwortete Alcôr im Befehlston. Ehe er sich zurückzog, warf er Caelîf einen aufmunternden Blick zu.
Rástor wandte sich ebenfalls ab um zu gehen, im letzten Moment drehte er sich noch um: „Was du gemacht hast war mutig, aber auch töricht. Ich möchte nicht darauf schimpfen, denn manchmal ist es nur ein Messerstich eines Tollpatsches der den Gegner zu Boden wirft. Tue mir nur einen Gefallen, passe gut auf dich auf.“

Der junge Elb war von dieser Aufregung sehr erschöpft. Er legte seinen Brustpanzer ab und machte es sich auf seinem Bett bequem. Er schloss seine Augen und versuchte ruhig zu werden. Es dauerte zum Glück nicht lange bis seine Augen zufielen und er in einen schlafähnlichen Zustand fiel.
In jener Nacht lag ein Schatten auf den Wassern des Erwachens. Es war viele tausende Jahre her, dass ein Drache oder sonst eine Gestalt des dunkelsten aller Herrscher an diesen gesegneten Ufern war.
Caelîf verfolgte ein Traum. Er saß auf dem Schwemmholz, auf dem er bereits in den Abendstunden mit Rástor saß und blickte gedankenverloren über den See. Die Magie dieses Ortes hatte ihn in den Bann gezogen. Der westliche Himmel war verdunkelt und es war kalt. Aus den Wäldern hörte man ein Rascheln und ohne weitere Vorwarnung trat aus dem Dickich des westlichen Ufers ein übergroßer Wolf heraus. Sein Fell war zerfleddert, vermutlich von Rudelkämpfen. Er trat an den Rand des Wassers und begann intensiv am Boden zu schnuppern. Als er zu Caelîf herübersah, begann er zu knurren und fletschte seine Zähne. Plötzlich bemerkte der Elb etwas im Augenwinkel, er drehte seinen Kopf und sah einen weiteren Wolf direkt neben ihm. Noch eher er aufstehen und weglaufen konnte, sprang das Tier mit einem Satz auf ihn zu und attackierte ihn.

Sein Herz raste, sein Körper pulsierte als er aufgerichtet in seinem Bett erwachte. Schnell hob und senkte sich sein Brustkorb, mit jedem Absinken stieß er die Luft keuchend aus seinen Lungen.
„Caelîf?“, rief Alcôr in sein Zelt. Als er ihn sah, setzte er eine besorgte Miene auf „Ist alles in Ordnung?“
„Ja, nur ein Albtraum.“
„Und ich dachte schon, du hast eine junge Elbe aus dem Gefolge der Fürstin bei dir“, scherzte er „Wir brechen auf, mach dich fertig.“

In Windseile zog sich Caelîf an und brach seine Zelte ab. Rástor verkündete ihnen, dass sie ab hier nicht mehr mit Pferden weiterreiten konnten. Der Wald war zu dicht um auf den Rössern sitzen zu können, also ließen sie diese zurück. Einige der Elben blieben aber bei ihnen. Der weitere Pfad führte sie durch das dichte Unterholz Richtung Nordosten.

Fine:
Während sich die Reisegruppe ihren Weg durch den dichten Wald im Land der Hwenti suchte, war Melvendë tief in Gedanken versunken. Geradezu automatisch setzte sie einen Fuß vor den anderen, im Gänsemarsch hinter Jarbeorn auf dem schmalen Waldpfad hergehend.
Der Drache beobachtet uns, war sie sich sicher. Er hat gesagt, dass er mich aufspüren kann, egal wo ich bin. Sollte ich wirklich zum Treffen der Stammesführer gehen, das Herion einberufen will? Wird das nicht einen Angriff des Sternendrachen geradezu provozieren?
Sie warf einen Blick zu Vaicenya, die weiter vorne gerade um einen großen Baumstamm herum bog. Die Dunkelelbin hatte dem Drachen allerlei Flüche und Verwünschungen hinterher gerufen, als das Ungetüm längst nur noch ein dunkler Punkt am Nachthimmel gewesen war. Würde sie die Kraft aufbringen können, den Drachen zu erschlagen? Und wenn es Vaicenya nicht tun würde, dann vielleicht einer der anderen talentierten Kämpfer, denen Melvendë in Palisor bereits begegnet war. Was war mit Lathiawen von den Hwenti? Oder einer der mächtigen Kinn-lai, von denen man schon so einige Gerüchte gehört hatte?
Zweifel nagten an Melvendë. Wenn ich zu diesem Treffen in der heiligen Stätte gehe, besteht die Möglichkeit, dass der Drache uns dort angreift. Doch... wenn wir damit rechnen, könnten wir ihm nicht eine Falle stellen? Vielleicht kann ich mich darin üben, seine nahende Gegenwart rechtzeitig wahrzunehmen, überlegte sie. Was, wenn sie eine Art Frühwarnsinn für die Präsenz des Sternendrachen entwickeln könnte, und somit sein Mal, mit dem er die Tatya-Elbin belegt hatte, gegen ihn verwenden würde?
"He, Stikke, du machst ein Gesicht, als wäre dir eine ganze Horde Rindviecher über die Leber gelaufen," brummte Jarbeorn und riss Melvendë damit aus ihren Gedanken.
"Mag sein," gab sie zurück. "Zumindest fühlt es sich in etwa so an."
"Worum geht's?" wollte der Beorninger wissen. "Wieder der Drache, hm?"
"Du hast es erfasst," murmelte Melvendë. "Ich wünschte, ich wüsste, welcher Art das Mal ist, mit dem er mich belegt hat."
"Ein Drachenmal," überlegte Jarbeorn. "Lass mich mal überlegen. Mir fällt da nur eine einzige Geschichte meines Volkes ein, in dem ein Drache erwähnt wird. Scatha, der Lindwurm. Einer der Pferdeherren - Vorfahren der tapferen Rohirrim - erschlug die Bestie, doch der Schatz, den er damit erbeutete, brachte ihm nichts als Ärger und letztlich den Tod. Man sagt, dass der Schatz mit dem Drachenzauber belegt worden sei, weil der Lindwurm so lange darauf gelegen war."
"Das würde also bedeuten, ein Drachenmal wird bei einer Berührung übertragen," mutmaßte Melvendë. "Wo hat er mich berührt..."
Sie dachte zurück an ihre erste Begegnung mit dem Sternendrachen, auf dem Gipfel der Frostspitze. Und ihr fiel ein, wie der Drache sie mit seinem gewaltigen geschuppten Schweif beiseite geschoben hatte, und dabei am gesamten Oberkörper berührt hatte. "Es muss irgendwo am Oberkörper sein," murmelte sie.
"Nun, ich denke, es ist zu kalt, um jetzt nachzusehen," meinte Jarbeorn.
Melvendë warf ihm einen finsteren Blick zu. "Ich werde dich ganz gewiss nicht nachsehen lassen."
Jarbeorn holte tief Luft. "Du verletzt mich, Stikke. Vertraust du mir etwa nicht?"
"Red keinen Unsinn, du übergroßer Bettvorleger. Aber es gibt Dinge, für die eine Frau nun einmal eine andere Frau braucht."
"Ah, so ist das also. Du willst Caelîf und mich also kategorisch ausschließen." Jarbeorns kaum unterdrücktes Grinsen zeigte ihr, wie ernst er diese Anschuldigungen meinte.
"Mein lieber Jarbeorn," begann sie. "Manchmal frage ich mir wirklich, ob es deine Mutter wirklich so versäumt hat, bei deiner Erziehung auch etwas Manieren einfließen zu lassen."
"Lass meine Mutter aus dem Spiel, Stikke!" grollte der Beorninger, ehe er lachen musste.
"Vielleicht sollte ich einmal ein ernstes Wörtchen mit der guten Dame reden," machte Melvendë ungerührt weiter. "Und ihr von den Schandtaten ihres Sohnes berichten. Glaube mir, sie sind zahlreich. Sehr zahlreich."
"Sie würde dir gefallen," meinte Jarbeorn. "Sie würde zuhören, nicken, und dich dann auf herzlichste Art und Weise zwingen, so viel Honigkuchen zu essen, bis dein Bauch zu platzen droht."
Jetzt lachte auch Melvendë. "Das würde mir wirklich gefallen," gab sie lächelnd zu.

Einige Meilen von Gan Lurin, dem Dorf der Hwenti entfernt begegneten sie um die Nachmittagszeig den ersten Elben, die im Wald auf der Beerensuche unterwegs waren. Die Hwenti bestaunten den ungewöhnlichen Zug von Reisenden, der da durch ihren Wald gepoltert kam, boten jedoch bald an, die Gruppe zu ihrem Dorf zu führen. Während sie dem Waldpfad nach Osten folgten, hing Melvendë erneut ihren Gedanken nach, denn Jarbeorn ging nun am vorderen Ende der Reisegruppe und unterhielt sich kameradschaftlich mit einigen der Hwenti, die ihn wiedererkannt hatten.
Ich frage mich, ob ich Gan Lurin überhaupt betreten sollte, dachte sie. Wird es den Drachen nicht anlocken? All die Unschuldigen, die dort leben, schweben meinetwegen in Gefahr... Sie seufzte. Ich sollte mit Herion darüber sprechen, entschied sie. Ich hoffe, er wird zu finden sein, wenn wir das Dorf erreicht haben.
"Bitte entschuldige die Störung," sagte eine Stimme neben ihr und Melvendë blickte auf. Der Pfad hatte sich weit genug verbreitert, dass zwei Personen nebeneinander gehen konnten, und mit anfänglichem Erstaunen entdeckte sie Caelîf, den seine lebhaften Schritte nun neben Melvendë geführt hatten. "Du scheinst tief in Gedanken zu sein. Eigentlich hätte ich allerdings eine Frage..."
Melvendë fiel auf, dass der junge Nurthaenarer sie voller Interesse betrachtete. "Hat diese Frage mit dem Drachen zu tun?" wollte sie wissen.
Caelîf gab ein verschämtes Lachen von sich. "Du triffst den Nagel auf den Kopf," gab er zu. "Wie... wie war das, als er dir gegenüberstand? Hat er zu dir gesprochen?"
"Zuerst hörte ich seine Stimme in meinen Gedanken," erklärte Melvendë leise. "Als er später nahe genug war, sprach er mich direkt an - so wie er es bereits auf der Frostspitze getan hat. Seine Stimme... war wie ein Donnergrollen."
"Das muss furchtbar gewesen sein," sagte Caelîf, der etwas bedrückt wirkte, aber den Kopf nicht hängen ließ.
"Es war... einschüchternd auf eine Art und Weise," sagte Melvendë nachdenklich. "Aber gleichzeitig verspürte ich diesen starken, inneren Ruf... dem Drachen zu widerstehen. Mich ihm entgegenzustellen. Das hat mich bei Verstand gehalten, glaube ich. Doch da ist auch das Mal des Drachen... Caelîf, er kann mich überall aufspüren, verstehst du? Ich... bin eine Gefahr für euch alle."
Caelîf nickte langsam. "Ich verstehe, denke ich," sagte er. "Du weißt nicht, wie du damit umgehen sollst,, nicht wahr? Vielleicht sollten wir mit Meister Rástor darüber sprechen. Er weiß immer einen Rat."
"Das ist eine gute Idee," befand Melvendë. "Das sollten wir t..."
Laute Stimmen rissen ihre Aufmerksamkeit auf sich. Vorne, am Anfang des Reisezuges war etwas im Gange. Neugierig und ein wenig besorgt hastete Melvendë vorwärts, auf die Stimmen zu, dicht gefolgt von Caelîf. Sie bogen um eine Wegbiegung und standen mit einem Mal am Rande des Waldes. Ganz in der Nähe erhoben sich die Palisaden von Gan Lurin. Und genau wie es bei Melvendës ersten Besuch im Dorf der Hwenti gewesen war, stand auch diesmal dessen Beschützerin auf dem Wehrgang oberhalb des hölzernen Tores, ein blankes Schwert in der Hand.
"Sieh mal einer an, wen die Waldpfade da vor unser Dorf geführt haben," spotette Lathiawen. Ihr Blick richtete sich auf eine der Personen, die wenige Schritte vor dem Tor zum Halten gekommen waren. Da waren Jarbeorn und Vaicenya, die etwas abwartend nach oben schauten, doch rasch entdeckte Melvendë, auf wen es Lathiawen tatsächlich abgesehen hatte...
"Die Höflichkeit der Hwenti lässt also auch nach all den Jahren immer noch zu wünschen übrig," erwiderte Nénsilmë, die Fürstin der Cuind mit kühler Stimme.
"Welch wundersame Zeiten dies sind, wenn die Mooresherrin tatsächlich einmal ihren geliebten Sumpf verlässt. Also, Nénsilmë - was bringt dich hierher, und was noch viel wichtiger ist - wieso sollte ich dich einlassen?"
Ehe die Herrin der Cuind etwas erwidern konnte, tauchte zu Melvendës Erleichterung Herion neben Lathiawen auf. "Friede, Lathia," sprach er. "Ich habe unsere Gäste dort eingeladen. Lass' die Tore öffnen und bitte sie hinein. Es gibt viel zu bereden."
Es dauerte keine Minute, bis sich die Tore langsam und knarrend öffneten. Einer nach dem anderen marschierten die Reisenden ins Innere des Dorfes zwischen den Hütten der Hwenti hindurch bis zu dem großen zentralen Platz, wo sich Herions Wohnsitz befand.
Ich hoffe, die Uneinigkeit unter den Avari-Stämmen ist nicht von Dauer, dachte Melvendë, als sie hinter Caelîf auf das große, wie ein Baumstamm geformte Gebäude zuging, indem der Herr von Gan Lurin seine Gäste nun empfangen würde...

Fine:
„Willkommen," sagte Herion, der auf seinem Sitz im Inneren der runden Halle Platz genommen hatte, in der er einst auch Córiel, Jarbeorn und Vaicenya bei ihrem ersten Besuch in Gan Lurin empfangen hatte. "Ich bin froh, dass meine treuen Boten wohlbehalten zurückgekehrt sind, und freue mich über euren Erfolg, meine Freunde." Er nickte Melvendë freundlich zu, ehe er Fürstin Nénsilmë ansah. "Und ich bin froh, dich nach so langer Zeit wieder hier in Gan Lurin willkommen zu heißen, werte Nénsilmë."
Diese erwiderte den Blick, doch ihre Miene blieb hart. "Es waren nicht deine Worte, die mich überzeugten, mein Volk zurückzulassen," antwortete sie und warf einen Seitenblick auf Rástor, der neben ihr stand.
"Dann habe ich dein Eintreffen also ihm zu verdanken?" schlussfolgerte Herion, ehe er die rechte Hand auf seine Brust legte, um sich vorzustellen. "Ich bin Herion von den Hwenti, Wortführer von Gan Lurin."
"Mein Name ist Rástor, Vériarian von Nurthaenar," antwortete Rástor mit wohltönender Stimme. "Ich danke Euch für Eure Gastfreundschaft, Meister Herion. Euer Aufruf an die Stämme Palisors liegt auch mir auf dem Herzen, denn eine gute Freundin hieß mich, einen ganz ähnlichen Weg zu beschreiten. Unser Volk, die Gilthandi, lebten lange Zeit im Verborgenen, doch nun ist der Moment gekommen, in dem wir uns mit unseren einstigen Verwandten vereinen müssen, um die Bedrohung durch den Sternendrachen gemeinsam zu überstehen." Er verneigte sich und breitete die Arme in Richtung seiner beiden Begleiter aus. "Dies sind Alcôr und Caelîf, zwei meiner Begleiter. Da ich selbst bald nach Nurthaenar zurückkehren werde, werden diese beiden die Gilthandi vertreten und mit meiner Stimme sprechen, bis sich die Anführer der Stämme an der heiligen Stätte versammeln werden. Ich bitte Euch daher, Herion: Nehmt Alcôr und Caelîf in die Reihen Eurer Gesandten auf."
Herion wirkte erstaunt, aber auch erfreut. "Gerne gebe ich Eurem Gesuch statt, Vériarian Rástor. Alcôr und Caelîf sollen mit jenen gehen, die ich zu den Kinn-lai zu entsenden gedenke."
Nénsilmë verschänkte die Arme vor der Brust. "Mach dir keine Mühe, Herion. Bei den Kinn-lai werden deine Worte auf taube Ohren stoßen. Ihre Hitzköpfigkeit und Sturheit ist uns nur zu gut bekannt."
Bei diesen Worten geriet die Menge von Zuschauern, die sich im hinteren Teil der Halle gesammelt hatten, in wachsende Unruhe, bis sich eine dunkelblonde Elbin grob nach vorne drängte. Sie trug eine Rüstung, auf deren Brustpanzer ein stilisierter Stern mit einem roten Rubin im Zentrum prangte. Unter dem Arm hielt sie einen Helm, den sie offenbar vor Kurzem noch getragen hatte. "Hochmütige Worte von der Anführerin der treulosen Cuind," fauchte sie. "Ich habe nichts anderes von jenem Stamm erwartet, der es einst als Erster wagte, die Pflicht des Schutzes von Ayáninvë zu vernachlässigen!"
Dieser Ausbruch löste einen Aufruhr aus. Elben schrien wild durcheinander und standen kurz davor, aufeinander loszugehen. "Wer ist dieses respektlose, vorlaute Kind?" hörte Melvendë die Herrin der Cuind rufen, und auch die Antwort konnte sie mit einiger Mühe durch das Chaos hören: "Ich bin Telumenáryeldë, Tochter des großen Telumenáro! Und ich sage dir, stellvertretend für alle Kinn-lai: Wir brauchen weder dich noch deinen Stamm von Verrätern!"
Schließlich gelang es Herion mit großer Mühe, den Saal wieder zur Ruhe zu bringen. Nénsilmë und Telumenáryeldë, bei der es sich tatsächlich noch um eine relativ junge Elbin handelte, starrten einander wütend an, bis Rástor sich geschickt mit seinen Leuten zwischen die Streithähne manövrierte und ihnen so für den Augenblick die Sicht aufeinander nahm.
"Bitte beruhigt euch," bat Herion. "Wir können uns Streit und Uneinigkeit nicht leisten, wo der Schatten des Drachen so drohend über uns hängt. Nur gemeinsam können wir diese Gefahr für ganz Palisor abwenden."
"Das sehe ich ebenso," stellte Telumenáryeldë heftig klar. "Aber ich weiß, dass ihr scheitern werdet, wenn ihr die dort zu unseren Axan schickt."
"Sind damit die Ratsmitglieder der Kinn-lai gemeint, die den Fürsten deines Volkes wählen?" fragte Rástor mit Interesse nach.
"So ist es," sagte Telumenáryeldë. "Sie werden nicht mit Worten zu überzeugen sein, sondern mit Taten. Sie respektieren Stärke."
"Unzivilisierte Barbaren," hörte Melvendë die Fürstin der Cuind murmeln. Doch Nénsilmë ergriff nicht das Wort, sondern schien abzuwarten, was Herion tun würde. Dieser lehnte sich langsam in seinem Stuhl zurück. "Nun, junge Telumenáryeldë, du kennst deine Leute hier am besten. Würdest du dich bereit erklären, meine Gesandten nach Amon Yúla zu begleiten? Eine ortskundige Führerin wäre ihnen gewiss von großer Hilfe."
Die junge Kinn-lai reckte stolz das Haupt. "Das werde ich," versprach sie. "Sie dürfen ruhig mit mir kommen, wenn ich heimkehre. Solange die richtigen Leute dafür ausgewählt werden." Der Seitenhieb gegen Nénsilmë war nur allzu offensichtlich.
"So sei es," antwortete Herion, ohne auf den Spott einzugehen. "Vaicenya, Nénsilmë und ich werden hier in Gan Lurin bleiben, um Vorbereitungen für die Zusammenkunft der Stammesführer im Heiligtum von Ayáninvë zu treffen, während Lathiawen mit einigen anderen zu den Zwergen aufbrechen sollte, um ihnen von den Ereignissen zu berichten. Auch sie sind wichtige Verbündete, die wir in unserem Kampf gegen den Drachen nicht außer Acht lassen sollten. Alcôr, Caelîf und... Melvendë: euch drei würde ich bitten, mit unserer jungen Freundin hier zu ihrem Stamm gehen und die Kinn-lai überzeugen, sich dem Treffen anzuschließen. Ihr hattet bei den Cuind Erfolg und ich vertraue darauf, dass ihr mit Telumenáryeldës Unterstützung auch die Ohren der Kinn-lai erreichen könnt. Vatharon hingegen wird erneut zu den Kindi im fernen Süden reisen. Ich schlage vor, dass wir alle den kommenden Abend und die Nacht nutzen, um morgen ausgeruht aufbrechen zu können. Mögen all jene Fahrten von Erfolg gekrönt sein."

Der Saal des Ältesten von Gan Lurin leerte sich langsam. Jarbeorn sprach noch einige Zeit leise mit Herion, während Melvendë geduldig darauf wartete, dass der Beorninger das Gespräch beendete. Als er schließlich zur ihr herübergeschlendert kam, sah sie ihm im Gesicht an, dass er eine wichtige Entscheidung getroffen hatte.
"Meister Herion hat mich gebeten, mit Lathiawen zu den Zwergen zu gehen," sagte Jarbeorn.
"Und weshalb erzählst du mir das, als bräuchtest du meine Erlaubnis dazu?" neckte sie ihn.
"So ist es nicht gemeint, Stikke," erwiderte Jarbeorn schmunzelnd. "Es ist nur so... wir sind nun so lange gemeinsam unterwegs gewesen, seitdem ich dich aus diesem seltsamen Teich im Goldenen Wald gezerrt habe. Und nun führen unsere Wege in gegenüberliegende Richtungen."
"Ist das etwa Trennungsangst, die ich da heraushöre?" trieb sie ihren Spott auf die Spitze.
Jarbeorn lachte. "Auf gewisse Art und Weise hast du womöglich sogar recht," meinte er. "Vermutlich habe ich mich einfach zu sehr daran gewöhnt, dich an meiner Seite zu haben."
"Es ist ja kein Abschied für immer," meinte Melvendë beschwichtigend. "Wenn du bei den Zwergen gewesen bist, machst du dich auf den Weg nach Ayáninvë. Lathiawen kennt sicherlich den Weg dorthin. Dann treffen wir uns dort, wenn ich bei den Kinn-lai gewesen bin."
"Aber wehe du vermöbelst diesen Drachen ohne mich," warnte der Beorninger.
"Ich werde, so gut ich kann, damit auf dich warten, du riesiger, sentimentaler Bettvorleger," versprach sie grinsend.

Als die Sonne untergegangen war, beschloss Melvendë, einen kleinen Spaziergang durch das Dorf zu machen. Jarbeorn hatte beschlossen, nach Lathiawen zu suchen, während Vaicenya in Herions Halle geblieben war, um mit dem Ältesten über ihre bevorstehenden Planungen zu sprechen. Es waren zu dieser Tageszeit nur noch wenige Hwenti unterwegs. So kam es, dass Melvendë nach einiger Zeit, tief in Gedanken, plötzlich an einer kleinen Wiese am hinteren Rand des Dorfes stand, die von einer flachen Hecke sowie der Dorfpalisade begrenzt wurde. Als Melvendë interessiert näher kam, fielen ihr eine Vielzahl von flachen Steinen auf, in die eindeutig elbische Schriftzeichen eingraviert worden waren. Sie stellte fest, dass es sich dabei um Namen handelte, und verstand: Sie stand auf einer Art Friedhof, wo diejenigen der Hwenti, die zu Mandos' Hallen gegangen waren, ihre Körper zur Ruhe gelegt hatten.
Eine sanfte Brise strich durch Melvendës Haar, das sie ausnahmsweise offen trug. Beinahe war es ihr, als würde sie die sanften Stimmen derer, die fortgegangen waren, im Wind hören. Sie musste an die vielen Freunde denken, die sie einst in ihrem Leben vor der Ankunft der ersten Schatten gehabt hatte, und die sie bis auf Vaicenya und Tarásanë allesamt verloren hatte. Schwermütig hob sie den Blick zu den Sternen hinauf, die inzwischen herausgekommen waren und begann nach einiger Zeit des Schweigens, mit leiser Stimme ein Lied zu singen.

Von den Bergen herab durch die Wildnis der Wälder
fließt das klare Wasser im Waldfluss zum See,
Wo einst unter dem Licht der altehrwürd'gen Sternen
Unser Leben begann, als das Feuer ward jung

Sanfter Regen benetzt mein Haar
Eine Stimme erklingt, so hell und klar
Im Verborgenen einst ward ihr Lied erdacht
Als die Welt noch jung war und wir erst erwacht...
Ihre Stimme verhallte. Melvendës Hände waren ineinander verklammert, als sie sich langsam umdrehte. Dort, am Eingang des Friedhofes, stand jemand.
"Das war ein schönes Lied," sagte Caelîf etwas schüchtern.
Melvendë sollte eigentlich überrascht von seinem plötzlichen Auftauchen sein, doch sie war es nicht - den Grund dafür kannte sie nicht. "Tarásanë hat es einst zum ersten Mal gesungen," erzählte sie.
"Du meinst... die Herrin der Quelle?"
"Ja," antwortete sie. "Sie war... nein, sie ist mir eine teure Freundin."
Caelîf schwieg einen langen Augenblick. Dann schien er sich ein Herz zu fassen und sagte: "Ich bin froh, dass wir gemeinsam zu den Kinn-lai gehen werden. Denkst... denkst du, wir werden Erfolg haben?"
Melvendë musste lächeln. Irgendwie war es dem Jungen gelungen, ihren Schwermut mit seiner unschuldigen Frage zu vertreiben. "Wir werden das schon hinbekommen, Caelîf," sagte sie zuversichtlich. Ganz egal, wie schwer es werden mag."
Caelîf nickte. "Komm," sagte Melvendë. "Gehen wir zurück zu den Anderen. Ich habe noch die eine oder andere Frage an deinen Meister, ehe er nach Nurthaenar zurückkehrt."

Thorondor the Eagle:
„Für wen hast du denn dieses Lied gesungen?“, fragte Caelîf als sie am Weg zurück waren.
„Über so viele Jahre habe ich viele meiner Freunde verloren, ich dachte nicht an jemanden bestimmten“, antwortete sie. Es wirkte aufrichtig.
„Hat die Herrin der Quelle dieses Lied auch für dich gesungen – an deinem Grab?“
Melvendë blieb abrupt stehen und schaute ihn an: „Vor dir muss ich mich hüten“, sagte sie leicht erregt „Ja das hat sie, aber darüber möchte ich nicht sprechen.“
„Es tut mir leid“, entschuldigte er sich augenblicklich. Ein weiteres Wort traute er sich nicht mehr zu sagen. Mit einer Handbewegung deutete er ihr den Weg und sie ging weiter.

Als sie sich dem Gebäude im Zentrum des Dorfes näherten, bemerkten sie eine Unruhe. Es schienen weitere Elben angekommen zu sein und anhand ihrer braunen, recht einfachen Kleidung glaubt Caelîf, dass es sich um die Kindi aus Awld-Aronémer handelte. Von der Neugier gepackt eilte er in die Ratshalle und tatsächlich Yindial war ebenfalls angekommen.
„Mein Herr Rástor, was ist passiert“, fragte er aufgeregt.
„Nun, ein paar Momente nachdem du den Raum verlassen hast teilte man uns mit, dass die Kindi aus dem Westen vor den Toren stehen. Yindial begehrt an der Reise zu ihrem Vater nach Süden teilzunehmen. Du kannst dir vorstellen, was das für Diskussionen ausgelöst hat. Nénsilmë hat keine Gelegenheit ausgelassen um die Kinn-lai zu attackieren. Dass sie sich auf die Seite der Kindi stellt ist wohl auch zu ihrem eigenen Nutzen.“
„Und kann sie mitreisen?“
„Ja, Meister Herion hat ein Machtwort gesprochen. Immerhin ist Vatharon sein Gesandter.“
„Also ist alles zum Besten verlaufen!“, stellte der junge Elb fest.
„Das wird sich wohl erst zeigen“, antwortete er.
„Wo warst du denn?“, fragte nun Rástor.
„Ich habe mir Gan Lurin angeschaut und bin auf Co… Melvendë gestoßen, aber ich fürchte ich habe sie verärgert“, gestand Caelîf „Es ist sicher nicht leicht, wenn sich zwei Personen in einem Körper befinden.“
„Das sicher nicht, aber es ist auch nicht so schwer wie du es dir vorstellst. Im Grunde genommen sind wir alle nicht nur eine Person. Du bist der Sohn deiner Eltern, der Bruder deiner Geschwister, der Onkel deiner Neffen, Freund deiner Freunde und Mitglied einer Gemeinschaft… Das alleine sind fünf Personen in einem Körper. Im Kern sind sie alle sehr ähnlich, aber im Außen reagieren sie jeweils anders auf ihr Gegenüber. Der Unterschied ist, wir wachsen mit all unseren Ichs auf, Melvendë wurde es in wenigen Augenblicken offenbart. Sie braucht wohl ein wenig Zeit dies zu akzeptieren.“
„Das klingt irgendwie schlüssig.“
„Sei rücksichtsvoll, wenn du mit ihr sprichst“, bat er den jungen Elben.
„Meint ihr nicht, dass dieser Gemeinschaft noch ein sturer, unsensibler und leicht aggressiver Charakter fehlt?“, fragte er seinen Herrn, deutete dabei unauffällig auf Nensilmë und versuchte sein Grinsen zu unterdrücken.
„Ich hoffe das hat sie nicht gehört“, konterte der grauhaarige Elb.

In den folgen Stunden zog sich Caelîf in seine Herberge zurück. Er hatte sich eines der Bücher aus der großen Halle mitgenommen und stöberte in den Seiten. Die meisten Wörter konnte er aufgrund der Ähnlichkeit verstehen, manche allerdings nicht und so widmete er sich in erster Linie dem Kartenmaterial und den Zeichnungen. Er verbrachte einige Stunden damit das wichtigste des Tages für seine Reiseaufzeichnungen niederzuschreiben, dann aber widmete er sich etwas, das ihm sehr am Herzen lag: Er schrieb einen Brief an seine Familie.

Es ist schwer so viele Eindrücke in so wenigen Worten niederzuschreiben… Und wie kann ich ihnen sagen, dass es die beste Entscheidung war fortzugehen ohne sie zu verletzen? Und wie kann ich ihnen sagen, dass ich Sehnsucht nach Nurthaenar habe ohne gleich Besorgnis bei ihnen auszulösen? Ich hoffe nur, dass sie stolz auf mich sind und dass Rástor nur die guten Erlebnisse aufzählt. Nicht den Teil wo ich im Schlamm des Kupferflusses landete und völlig schmutzig in Awld-Aronemér angekommen bin. Ich höre sie schon darüber lachen.

Er war so darin vertieft die richtigen Worte zu finden, dass er die Zeit vollkommen übersehen hatte. Ein Klopfen an der Tür riss ihn aus seinen Gedanken.
„Bist du bereit für die Abreise“, fragte Alcôr der bei der Tür hereinschaute.
„Ähm… ja, einen Augenblick brauche ich noch.“
Er verfasst die hurtig die letzten Zeilen: …Es ist schon wieder an der Zeit aufzubrechen, sodass ich diesen Brief nicht in geeigneter Form beenden kann. Ihr fehlt mir sehr, aber umso schöner wird es sein, wenn wir einander wiedersehen. In Liebe euer Caelîf.

So schnell er konnte, packte er seine Sachen zusammen und eilte auf die Straße hinaus. Die gerüsteten Soldaten der Kinn-lai standen bereits außerhalb des Tores, Coriel verabschiedete sich noch von Jarbeorn. Er konnte erkennen wie seine Augen wässrig wurden. Auch Vatharon und Yindial hatten sich zum Abmarsch bereit gemacht. Einen Teil des Weges gingen sie wohl gemeinsam. Der junge Elb suchte Rástor auf und übergab ihm den Brief und den ersten Teil des Reiseberichtes.
„Ich werde es deinem Vater überreichen sobald wir in Nurthaenar angekommen sind.“
„Vielen Dank.“
„Und nun ist es an der Zeit aufzubrechen, junger Freund. So wie Melvendë hast auch du nun die Chance ein neues Ich kennen zu lernen, denn eine neue Aufgabe wartet auf dich. Gehe mit den besten Wünschen unsers Volkes und dem Segen Illúvatars.“
Er verneigte sich vor Rástor. Als er sich dem Tor näherte spürte er seinen Herzschlag schneller und lauter werden.

„Auf geht’s!“, rief ihm Alcôr entgegen der bereits nahe den Soldaten der Kinn-lai wartete.
„Bist du auch so nervös wie ich?“, fragte Caelîf etwas betreten.
„Wer wäre nicht aufgeregt, da uns ein solches Abenteuer bevorsteht. Aber wir haben ganz angenehme und ansehnliche Begleitung“, flüsterte er und hatte ein freches Grinsen im Gesicht. Mit einer unscheinbaren Kopfbewegung deutete er auf die junge Gardistin der Kinn-lai die am Vorabend so feurig das Wort ergriffen hatte. Caelîf war überrascht, denn so hatte er Alcôr noch nie wahrgenommen, allerdings kannte er ihn auch nicht so gut.
„Und, seid ihr bereit?“, kam plötzlich die Stimme von Melvendë aus dem Hintergrund.
Beide Elben nickten ihr zu.
„Ich hoffe, ich bin dir gestern nicht zu nahegetreten“, hakte Caelîf nochmals nach.
„Gestern Abend? Ich bitte dich, daran habe ich gar nicht mehr gedacht“, tat sie seine Versöhnung ab.

Dann brachen sie auf.

Fine:
Telumenáryeldë marschierte entschlossenen Schrittes voraus, in südwestlicher Richtung vom Dorf der Hwenti fort. Alcôr, Caelîf und Melvendë folgten ihr entlang eines sich windenden Waldpfades, auf dem sie immer wieder herabhängenden Ästen oder in den Weg hinein wachsenden Büschen ausweichen mussten. Es war Mittag, doch von der Sonne war kaum etwas zu sehen unter dem dichten Blätterdach des Waldes. Auf der Ebene hätten die vier Elben vermutlich gefroren, doch der Wald schien noch ein wenig Wärme gestaut zu haben, weshalb ihnen schon bald warm vom Marschieren wurde.
Mit leichter Belustigung beobachte Melvendë den dunkelhaarigen Alcôr, der vor ihr ging. Die verstohlenen Blicke, die der Nurthaenarer der jungen Kinn-lai-Wächterin zuwarf, waren Melvendë nicht entgangen. Gerade wollte sie sich zu Caelîf umdrehen, um eine dezente Bemerkung fallen zu lassen, als dieser seine Schritte beschleunigte und sich neben die Tatya setzte. Der Pfad war etwas breiter geworden und ließ zu, dass zwei Reisende bequem nebeneinander gehen konnten.
"Ich habe eine Frage an dich," begann Caelîf, wie üblich etwas zurückhaltend.
"Das trifft sich gut," antwortete Melvendë. "Ich wollte dich ebenfalls etwas fragen."
"Dann, nur heraus damit!" bot er sofort höflich an.
"Unsinn, das kann warten. Du hast zuerst gefragt."
"Aber -"
"Raus mit der Sprache, Caelîf," beendete sie freundlich, aber mit etwas Nachdruck die Diskussion.
"Also, ich..." begann der Junge. "Ich wollte dich fragen, naja, also mit welchem Namen ich dich ansprechen soll. Vorgestellt wurdest du mir von der Herrin der Quelle als Córiel, du selbst nennst dich seit unserem ersten Treffen im Cuindar-Moor jedoch Melvendë."
"Ich entschuldige mich für die Verwirrung," sagte Melvendë lächelnd. "Ich bin mit beiden Namen zufrieden, schätze ich. Aber... dieses Land weckt meine ältesten Erinnerungen und macht mich mehr und mehr zu der Elbin, die ich damals war... damals, als Sonne und Mond noch viele Jahrtausenden nicht am Himmel stehen sollten. Seit Cuiviénen erscheint es mir... nein, fühle ich mich nicht mehr wie Córiel. Als hätte ich diese Identität nur als Platzhalter verwendet, nach meiner Rückkehr nach Mittelerde. Und jetzt, nach all den Jahren, mein wahres Ich wiederentdeckt."
Caelîf nickte. "Ich denke, ich verstehe," sagte er. "Dann werde ich bei Melvendë bleiben, solange es angebracht ist."
"Solange es angebracht ist?" wiederholte Melvendë fragend.
Der junge Elb blickte verlegen beiseite. "Ich wollte sagen, für den Fall dass du deinen Namen wieder änderst, würde es..."
"Schon gut, schon gut," lachte Melvendë. "Mach' dir keine Sorgen. Ich sagte ja bereits, dass ich auch mit mehreren Namen gut leben kann. Weißt du, wie Jarbeorn mich nennt?"
"Ich habe den Namen gehört, aber ich kenne seine Bedeutung nicht," entgegnete Caelîf vorsichtig, mit hörbarem Interesse.
"Es ist ein Wort aus der Sprache der Beorninger, dem Volk Jarbeorns, und bedeutet "Stachel" - er bezieht sich damit auf den Speer, den ich lange Zeit im Kampf verwendet habe." Inzwischen war Melvendë mit einem Schwert, Bogen und einem leichten Schild bewaffnet: Waffen, die aus Herions Besitzt stammten und die sie sich kurz vor dem Aufbruch aus Gan Lurin ausgesucht hatte.
Caelîf lächelte. "Es scheint eine Art Spitzname zu sein, und nicht gerade einer von der liebenswürdigen Art," vermutete er.
"Anfänglich zog er mich damit auf, als wir uns noch nicht so gut kannten. Aber ich habe mich daran gewöhnt," antwortete sie.
"Es war deutlich zu sehen, dass euch beiden ein enges Band verbindet," fuhr Caelîf fort. "Ich frage mich nur, ob..."
Melvendë hob die Hand. "Ich unterbreche dich besser gleich," sagte sie und legte den Kopf schief. "Jarbeorn ist ein enger und guter Freund und Kamerad. Mehr nicht."
Caelîf wurde rot. "Verstehe," murmelte er.
"Mach dir nichts draus!" erwiderte sie. "Du bist nicht der Erste der die falschen Schlüsse gezogen hat." Sie betrachtete Caelîf einen Augenblick, dann fragte sie: "Wie sieht es bei dir aus, Caelîf? Gibt es jemanden, der dir... wichtig ist?"
"Meine Eltern, meine Großmutter, Meister Rástor..." antwortete Caelîf sofort.
"Du weißt, wie die Frage gemeint war," neckte sie ihn.
Doch Caelîf blieb ihr die Antwort schuldig. Ehe Melvendë nachhaken konnte, gelangten sie an eine Weggabelung und die Gruppe versammelte sich um ihre Führerin.

Drei Pfade führten nach Südwesten, Südosten und direkt nach Osten weiter. Direkt an der Kreuzung stand ein uralter, verwitterter Markstein, in den stark verblichene Runen eingraviert worden waren.
"Ich vermute, wir werden dem Weg weiter nach Südwesten folgen?" äußerte sich Alcôr als Erster.
"Das wäre dumm," entgegnete die junge Kinn-lai, so direkt wie es ihre Art zu sein schien. "Dieser Weg führt aus Dalvarinan hinaus, auf die westlichen Ebenen, und ist nicht sicher. Dort wurden immer wieder Orks gesichtet. Außerdem zieht sich der Pfad in vielen Biegungen durch unstetes Gelände dahin. Letzten Endes ist es ein großer Umweg."
"Welchen Weg schlägst du also vor, Telumenáryeldë?" wollte Melvendë wissen.
Die junge Kriegerin begegnete ihrem Blick. "Wir sind hier nicht in der Halle irgendwelcher hochwürdigen Persönlichkeiten," sagte sie. "Ich bin Náriel. Das ist kürzer und praktischer."
"Dann also Náriel," sagte Melvendë und nickte freundlich. Passt zu ihrer Haarfarbe genauso gut wie zu ihrer Persönlichkeit, dachte sie bei sich. "Du kennst dich hier aus, und bist den Weg vom Gebiet der Kinn-lai nach Gan Lurin erst vor Kurzem gegangen. Wo geht es für uns weiter?"
"Nach Südosten," antwortete Náriel. "Wir durchqueren dort das dichteste Stück Wald und verlassen dann das Tal von Dalvarinan, um Kinn-lai-Land zu betreten. Die Gegend, in die wir dann kommen, wird Taurannor genannt. Sie ist etwas weniger dicht bewaldet, obwohl sie inmitten des Wilden Waldes von Palisor liegt. Im Zentrum von Taurannor liegt Amon Yúla, der Sitz des Rates der Axan - den Anführern der Kinn-lai."
"Dann sollten wir keine Zeit mehr verlieren," schlug Alcôr vor.
Náriel nickte. "Wenn wir das Tempo beibehalten, schaffen wir es noch heute über die Grenze Dalvarinans hinüber. Dann wären wir nur noch vier Tagesmärsche von Amon Yúla entfernt."
"Gut, machen wir uns auf den Weg," stimmte Melvendë zu.
So folgten sie Náriels Rat und nahmen den Weg nach Südosten, der nun beinahe schnurgerade durch den dichten Wald führte. Melvendë kam es vor, als ginge es stetig sanft bergab. Mit jedem Schritt schienen die Bäume näher an den Pfad zu rücken, sodass sie schon bald im Gänsemarsch einer hinter dem anderen hergehen mussten. Diesen Zustand behielt der Weg einige Meilen lang bei, bis sie urplötzlich aus dem Dickicht heraus auf eine Lichtung kamen. Hier bog der Weg scharf nach Rechts ab und führte ab diesem Punkt wieder in richtige Himmelsrichtung. Wie Náriel vorausgesagt hatte, wurden die Abstände zwischen den Bäumen beinahe sofort sehr viel größer und der Wald wirkte offen und einladend. Diesem Zustand zum Trotz blieben sie auf dem Weg, um nicht die Orientierung zu verlieren. So verließen sie das Tal von Dalvarinan und gelangten ins Land der Kinn-lai...


Caelîf, Náriel, Melvendë und Alcôr nach Taurannor

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