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Autor Thema: Das Tal von Dalvarinan  (Gelesen 9986 mal)

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Die Stämme der Avari
« Antwort #15 am: 12. Aug 2019, 16:27 »
Córiel und Jarbeorn aus den Orocarni


Obwohl kein offensichtlicher Grund zur Eile bestand, legte Córiel ein rasches Tempo vor, als die Hochelbin sich mit Jarbeorn ihren Weg durch die immer flacher auslaufenden Vorgebirge der Orocarni bahnte. Sie waren einem kleinen Bach hinab bis zur Baumgrenze gefolgt, der sich schon bald zu einem sich rasch verbreiterndem, seichten Fluss zu vergrößern begann. Dem Stand der Sonne nach, die durch das inzwischen schon sehr dichte Blätterdach fiel, plätscherte das Flüsschen in südwestlicher Richtung dahin. Córiel beschloss daher, es an einer geeigneten Stelle zu überqueren und sich einen Weg nach rechts zu suchen, nach Nordwesten hin, wo sie das Dorf Gan Lurin vermutete. Helle Steine säumten das Flussbett und ermöglichten es, das flache Wasser nahezu überall zu passieren, was die beiden Gefährten nach einer kurzen Rast auch taten. Nachdem sie den kleinen Fluss hinter sich gelassen hatten, kamen sie schon bald in ein dichtes Waldgebiet, das Córiel vermuten ließ, dass sie das weitläufige Tal von Dalvarinan bereits wieder betreten hatten.

Sie sprachen nur wenig miteinander. Sowohl Mensch als auch Elb hingen eigenen Gedanken nach. Jarbeorn erzählte Córiel später, dass er während jener Reise oft an seine Familie gedacht hatte, insbesondere an seine jüngere Schwester Jekka, die im Firienwald lebte. Der Beorninger war besorgt um das Wohlergehen seines Volkes, das kaum einen Tagesmarsch von der bedrohten Grenze Rohans und dem Schatten Mordors entfernt lebte. Zweifel plagten den jungen Krieger bezüglich der Entscheidung seines Vaters, das Tal des Anduin zu verlassen und in Lothlórien, im Goldenen Wald Schutz zu suchen. Gerüchten nach stand das Anduin-Tal zwar nominell unter der Vorherrschaft Sarumans, dessen Macht vom Nebelgebirge, Moria, Lórien und dem südlichen Düsterwald ausging, doch seitdem die meisten Bewohner die Heimat der Beorninger verlassen hatten, war es vergleichsweise ruhig in dem schmalen Landstrich zwischen Wald und Gebirge geblieben. Dort waren die Schrecken Mordors fern, oder jedenfalls ferner als in Rohan, und mit dem Wiedererstarken der Elben des Düsterwalds, wovon man selbst in Rhûn wohl gehört hatte wenn man den Menschen der Stadt Dervogord glauben konnte, wäre ein zuverlässiger Verbündeter in nächster Nachbarschaft für Grimbeorns Volk gewesen.
Córiel hingegen war die meiste Zeit mit Erinnerungen beschäftigt, die aus Melvendës Gedächtnis ungefragt in Córiels Wahrnehmung aufstiegen, wenn ein äußerer Eindruck sie an etwas erinnerte, was vor Jahrtausenden geschehen war. Oft waren es Bäume, die solche unfreiwilligen Rückblenden auslösten. Melvendë hatte einen Großteil ihres Lebens unter dem Blätterdach des gewaltigen Wilden Waldes von Palisor verbracht und hatte ein Haus in den Baumkronen besessen. Und obwohl seit jenen lange vergangenen Tagen so viele Jahre ins Land gegangen waren, gab es noch immer viele Bäume, die aussahen, als entstammten dieser uralten Zeit. Selbst in Caras Galadhon hatte Córiel keine so mächtigen Bäume gesehen. Es gab Baumstämme, die breiter als viele Häuse waren, und so manche Baumkronen ragten so hoch hinauf, dass man die Spitze kaum sehen konnte. Gerne hätte die Hochelbin einen solchen Riesen erklommen, wenn die Zeiten unbeschwerter gewesen wären. Doch noch immer verspürte sie einen inneren Drang, der ihre Schritte beschleunigte und sie dazu antrieb, so rasch wie möglich zu den Hwenti zurückzukehren.

Nach einem Tag erreichten sie die Straße, der sie auf der Hinreise ins Gebirge hinein nach Osten gefolgt waren. Sie verlief inmitten des Waldes und schien gut gepflegt zu sein, denn sowohl Bäume als auch Unterholz hielten zu beiden Seiten des mit fester Erde ausgetretenen, recht breitem Weg ausreichend Abstand. Córiel und Jarbeorn überquerten die Straße, die zur Linken ebenfalls nach Südwesten verlief und setzten ihre Reise in Richtung des Hwenti-Dorfes fort.
Als es einige Meilen später zu dämmern begonnen hatte, schlugen sie ihr Lager für die Nacht auf einer kleinen Lichtung auf, die über ein Rinnsal voller klarem, kaltem Wasser verfügte. Jarbeorn entschied, ein kleines Lagerfeuer zu riskieren, um eine warme Mahlzeit zuzubereiten, während Córiel die Augen nach Gefahren offen hielt. Und obwohl das Feuer kaum rauchte, dauerte es kaum eine Viertelstunde, als es im Unterholz nahe der Lichtung verdächtig raschelte.
Córiel sprang auf und legte einen Pfeil auf die Sehne ihres Bogens, den sie griffbereit neben sich gelegt hatte. Doch was dort zwischen zwei breiten Baumstämmen zum Vorschein kam, war keine wilde Bestie, sondern ein Elb, in grüne Reisekleidung gehüllt, dessen Gesicht Córiel gleich erkannte.
"Vatharon?" fragte Córiel, als der Hwenti-Elb näher kam und ein breites Lächeln zeigte.
"Wie unvernünftig von euch," sagte Vatharon amüsiert. "Wisst ihr denn nicht, dass dieser Rauch alle möglichen unfreundlichen Dinge anlocken wird? Dies ist Hisildi-Gebiet, oder war es zumindest früher."
"Was meinst du damit?" wollte Jarbeorn interessiert wissen.
Vatharon setzte sich zu ihnen ans Feuer und warf einige grüne Blätter in die Glut, die er aus einer der Taschen seines Umhangs gezogen hatte. Beinahe augenblicklich wurde der Rauch erst weiß und dann geradezu unsichtbar. "Hier in diesem Teil des Waldes haben vor vielen Jahren die Hisildi-Elben gelebt. Sie sind ein Stamm der Windan und daher natürlich relativ verschlossen und bleiben gerne für sich. Bei den Hwenti hat man schon lange nichts mehr von ihnen gehört, aber ich glaube, dass sie noch immer hier in dieser Gegend leben."
Während Córiel nun die weitere Zubereitung des Abendessens übernahm, begann Jarbeorn, Vatharon über die unterschiedlichen Stämme der Avari in Palisor auszufragen, worauf sich der Hwenti-Elb nur allzu gerne einließ. Fröhlich erzählte er dem Beorninger mehr als dieser jemals fragen konnte.
"In den alten Überlieferungen der Hwenti gab es einst sieben Stämme der Avari, von denen uns heute nur noch fünf bekannt sind," sagte Vatharon. "Hier in Palisor kann man den Hwenti, den Kindi, Cuind und den Kinn-lai begegnen, und wenn man Glück hat, auch manchmal den Windan. Die Hwenti habt ihr ja bereits kennengelernt. Mein Volk hat sich hauptsächlich in Sonuvien - ihr kennt es als Dalvarinan - ausgebreitet, aber manche von uns leben auch östlich der Berge, der Orocarni, während andere weit in den Westen gezogen sind, wo unsere Erste, Ivyn, sie erwartet. Im Süden des Wilden Waldes lebt das zahlreiche Volk der Kindi, die sich den Bäume ganz besonders verbunden fühlen. Sie besitzen wundersame Bauten in ihren Wohnsitzen, die nicht erbaut, sondern gewachsen sind, und sind ein lebensfrohes, offenes und freundliches Volk, mit dem wir Hwenti nur aufgrund der größeren Distanz nicht ganz so häufig in Verbindung stehen. Ich selbst habe Awld-aronémer, eines ihrer Dörfer, erst einmal betreten, und befinde mich gerade auf dem Weg zu einer weiteren ihrer Siedlungen, das schillernde Makallin ganz im Süden. Dabei werde ich schon bald ins Gebiet der Kinn-lai kommen, die von den Avari den Sternen am engsten verbunden sind. Sie leben sehr verstreut im nordwestlichen Teil des Wilden Waldes, und sind die Hüter unserer heiligen Städten in Áyanvinvë, einem wichtigen Versammlungsort ganz in der Nähe von hier. Auch wenn die Kinn-lai uns Hwenti nicht feindlich gesinnt sind, habe ich doch oft das Gefühl, dass sie aus irgend einem Grund eine gewisse Abneigung gegen uns hegen, die ich noch nicht ganz verstehe. Mein Vater könnte dieses Rätsel gewiss lösen. Doch er hat im Augenblick andere Sorgen. Diese Sorgen sind auch die Ursache meiner Reise, denn unser Anführer bedarf den Rat von einem alten Freund, einem der Fürsten der Kindi, der in der besagten Stadt Makallin weilt und den er durch mich bitten will, sich mit ihm zu treffen. Ach, und wo ich gerade von gewissen Abneigungen rede - von den Windan, den Höhlen-Elben, habe ich ja bereits gesprochen: sie bleiben wirklich gerne unter sich. Sie sind Einzelgänger und leben in den Bergen, ähnlich wie die Zwerge. Einige von ihnen, die man die Gilthandi nennt, sollen wohl im südlichen Teil der Orocarni eine Stadt erbaut haben, aber ich kenne niemanden, der einen solchen Ort mit eigenen Augen gesehen hat. Die Windan sind nun einmal etwas geheimnisvoll, selbst für Avari. Da sind mir die Cuind schon deutlich lieber: sie haben eine Vorliebe für gutes Essen, und siedeln gerne in der Nähe von Wasser - ob an Flüssen, am Meer oder gar inmitten eines Sumpfes. Ihr müsst unbedingt eines Tages die Pfahlbauten in Cémende oder den Hafen von Sirafalma besuchen, wenn ihr Zeit habt. Die Cuind sind sehr gastfreundlich, und ich für meinen Teil kann von Fisch kaum genug bekommen. Ich hoffe, mein Vater entsendet mich als Nächstes zu Fürstin Nénsilmë! Sie soll neben ihrem Ruf als kluge und besonnene Anführerin auch eine exzellente Köchin sein. Ihr seht, meine Freunde, Palisor hat viel zu bieten, und ich hoffe, ihr werdet die Wunder dieses Landes alle auskosten können. Aber sagt, rieche ich da etwa fein gebratenes Wild?"
Vatharons Redeschwall hatte Jarbeorn keine Gelegenheit für Unterbrechungen gelassen. Nur der Geruch des fertigen Abendessens brachte den Hwenti-Elben schließlich dazu, seine Rede zu beenden. Das Wild, das der Beorninger unterwegs erjagt hatte, teilten sie gerne mit Vatharon, denn im Gegenzug ließ er sie von einem süßen Wein kosten, den er in einem großen Trinkschlauch mitgebracht hatte.
"Du bist also im Auftrag deines Vaters nach Süden unterwegs," setzte Córiel die in Vatharons Redeschwall enthaltenen Informationen zusammen. "Er wünscht, sich mit dem Fürsten der Kindi zu treffen?"
Vatharon nickte. "Ich bin mir nicht ganz sicher, worum es dabei geht, aber ich denke, das Thema der Orks in Palisor, deren Zahl weiter zugenommen hat, wird auf jeden Fall Teil dieser Unterhaltung sein."
Bevor er alleine weiterreiste, fassten Córiel und Jarbeorn in kurzen Sätzen für Vatharon zusammen, was sie in den Orocarni erlebt hatten. Als er von dem Sternendrachen erfuhr, wirkte Vatharon weniger überrascht als erwartet. Er nickte und sagte: "Ich wusste, dass die Legende vom Ilcalocë wahr ist. Und ich teile dein Empfinden, Córiel: Die Bestie ist nicht tot. Umso wichtiger ist es nun, dass ich meinen Auftrag schnell erfülle und nach Gan Lurin zurückkehre." Er erklärte den beiden den Weg zu seinem Heimatdorf und bat sie, seinem Vater Herion von den Geschehnnissen zu berichten. Dann brach er nach Süden hin auf und verschwand beinahe augenblicklich im Dunkel der Nacht zwischen dem Unterholz.
« Letzte Änderung: 15. Aug 2019, 14:52 von Fine »
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Herions Entscheidung
« Antwort #16 am: 15. Aug 2019, 16:32 »
Zwei Tage schlugen Córiel und Jarbeorn sich in nordwestlicher Richtung durch den Wald, bis sie schließlich wieder in die Nähe der Heimat der Hwenti kamen. Wenige Meilen von Gan Lurin entfernt begegneten ihnen drei Elben aus dem Dorf, die ihnen nur zu gerne den Weg wiesen. Am Eingangstor der Siedlung wurden sie bereits von Herion und einigen weiteren Hwenti erwartet. Von Vaicenya war jedoch nichts zu sehen, was Córiel nachdenklich machte. Ob man sie wohl gefangen hält? fragte die Hochelbin sich.
"Willkommen zurück," begrüßte der Anführer der Hwenti sie. "Ich sehe, Eure Reisegruppe ist um ein Mitglied ärmer geworden."
"Durin ist bei den Zwergen der Orocarni geblieben," erklärte Jarbeorn.
Herion nickte zufrieden. "Das ist gut. Ich fürchtete schon, ihm wäre etwas zugestoßen. Ich bin froh zu hören, dass ihr den Bewohnern der Berge tatsächlich begegnet seid. In den letzten Jahrzehnten gab es nur noch sehr selten Kontakt zwischen Elben und Zwergen."
Der Dorfälteste führte Córiel und Jarbeorn ins Zentrum von Gan Lurin, wo noch immer das große, einem Baumstamm ähnlichen Gebäude thronte. Im Inneren wurden ihnen verschiedene Erfrischungen angeboten, die die beiden nur allzu gerne annahmen. Obwohl es Winter war, war es unter dem dichten Blätterdach des Wilden Waldes vergleichsweise warm und in ihren dichten Pelzumhängen hatten Córiel und Jarbeorn zu schwitzen begonnen.
"Wie ist es euch auf eurer Reise ergangen, meine Freunde?" fragte Herion freundlich, nachdem er sich auf seinem Sitz niedergelassen hatte und auch seinen Gästen Stühle angeboten hatte. "Euer Ziel, die Zwerge der Orocarni zu finden, habt ihr ja offensichtlich erreicht."
Jarbeorn nahm einen großen Schluck von dem Wasser aus seinem Glas und antwortete: "Nun, die Reise war abenteuerlich, um die Wahrheit zu sagen. Wir sind dem Drachen aus den Legenden der Avari begegnet, dem..."
"Ilcalocë," half Córiel nach. "Dem Sternendrachen."
Herion nahm diese Enthüllung einigermaßen gelassen hin, doch die übrigen Hwenti, die sich gerade im Raum auffhielten und mehr oder weniger auffällig dem Gespräch lauschten, gaben Laute der Überraschung von sich. "Tatsächlich?" hakte Herion freundlich nach. "Diese Kreatur existiert also wirklich?"
Córiel nickte. "Ich habe mit der Bestie gesprochen. Er will sich zum Herrscher von ganz Palisor aufschwingen."
"Wieso gerade jetzt?" überlegte Herion. "Ich frage mich, ob er von der Uneinigkeit der Völker dieses Landes weiß und sie ausnutzen will."
"Die Zwerge haben schon viele Jahre mit den Orks zu tun, die der Drache in seinen Bann gezogen hat," sagte Jarbeorn. "Deshalb ist der Kontakt zu den Clans der Orocarni abgebrochen. Wir haben dem Herrn der Kristallhalle, Fürst Gárik, dabei geholfen, dem Sternendrache eine Falle zu stellen. Und Có-- und Melvendë war der Köder."
Nun machte Herion ein verdutztes Gesicht. "Wie das?"
Córiel blickte etwas betreten drein. "Nun, nachdem wir den Zwergen begegnet waren, brachten sie uns zu einem Berg, den sie als Frostspitze bezeichneten."
"Ah ja, Ihr sprecht von Ilmarës Wacht. Dem höchsten Gipfel der Orocarni. Dort oben hatte sich also der Ilcalocë all die Jahrtausende seit dem Fall der Thangorodrim verborgen?" sagte Herion und beugte sich interessiert vor.
"So ist es. Er sprach davon, dem Sternenlicht, das über ihm scheint, zu huldigen und von seinem Licht verzaubert zu sein, weshalb er die Bergspitze, die jenseits der Wolkendecke liegt, nur in den seltensten Fällen verlassen hat," fuhr Córiel fort. "Für die Zwerge ist die Luft dort oben zu dünn, doch offenbar hatten einst Avari vom Stamm der Windan dort oben eine Art Tempel oder Opferstätte errichtet."
Herion nickte wissend. "In der Tat. Jener Ort wurde von den Baumeistern errichtet, die später als Gilthandi bekannt wurden, ehe sie verschwanden." Er bedeutete Córiel, mit ihrer Erzählung fortzufahren.
"Anstatt mich sofort zu vernichten, zeigte der Drache sich interessiert an mir, seiner ungewöhnlichen Besucherin, und offenbarte mir seinen Plan, Palisor zu unterwerfen. Indem ich einen alten Aufzug der Windan verwendete, gelang es mir, die Bestie entlang der Bergflanke hinab in die Falle der Zwerge zu locken."
"Und dort habt ihr den Sternendrachen erschlagen," mutmaßte Herion.
Jarbeorn schüttelte den Kopf. "Nach einem harten Kampf stürzte der Drache von dem Plateau, auf dem die Zwerge ihn erwartet hatten, hinab in eine riesige Schlucht. Aber wir glauben nicht, dass er tot ist."
"Sofern ihr seinen Kadaver nicht mit eigenen Augen gesehen habt müssen wir davon ausgehen, dass die Bedrohung weiterhin besteht," meinte der Anführer der Hwenti mit wachsender Sorge in der Stimme. "Dann ist der Drache nun vermutlich wütend und aus seiner andächtigen Ruhe geweckt. Ich fürchte, seine Ausflüge von der Spitze des Berges hinab werden nun häufiger werden. Das ist gar nicht gut... das ist überhaupt nicht gut." Er verfiel in brütendes Schweigen, während Córiel und Jarbeorn unbehagliche Blicke austauschten.

Die Hwenti im Raum tuschelten untereinander, ohne dass Córiel verstehen konnte, was gesprochen wurde. Es vergingen fünf lange Minuten, ehe Herion sich wieder rührte.
"Hätte ich nur um ein wenig früher gewusst, was geschehen ist, dann hätte ich Vatharon mit größerer Eile und Dringlichkeit gen Makallin entsandt. Aber sei's drum. Ich habe noch andere Boten, die ich zu den Stammesführern entsenden kann." Er erhob sich. "Meine Freunde, ich weiß, dass ihr gerade erst eingetroffen seid, doch ich fürchte, die Nachrichten, die ihr gebracht habt, sind zu dringend, um sie unbeantwortet zu lassen. Dieser Drache, der Ilcalocë, er bedroht uns alle, ganz egal ob wir nun Hwenti, Cuind oder Kinn-lai sind. Es muss ein Rat der Anführer einberufen werden, so wie es einst in regelmäßigen Abständen geschah. Lasst die Fürsten der Avari in den heiligen Hallen von Áyanvinvë zusammenkommen, damit wir uns vereint dieser tödlichen Bedrohung stellen können."
Er hielt inne und wandte sich an Córiel und Jarbeorn. "Ihr beiden habt großen Mut bewiesen, als ihr euch dem Sternendrachen gestellt habt. Deshalb möchte ich euch bitten, zu unserem Nachbarvolk, den Cuind in die Stadt Nendallin zu gehen, und Fürstin Nénsilmë von dem berichten, das ihr mit euren eigenen Augen gesehen habt. Reist entlang der Wasser des Erwachens nach Westen, bis ihr in ein großes Sumpfgebiet kommt, wo ihr den Cuind schon bald begegnen werdet, damit sie euch zu ihrem Dorf inmitten des Marschlandes bringen. Richtet Nénsilmë meine Grüße aus und bittet sie, so bald wie möglich zur Heiligen Stätte zu kommen."
"Was ist mit Vaicenya?" wagte Córiel zu fragen.
"Sie ging mit ihrem Sohn zum Ufer, an dem sie einst erwacht ist, unter dem ersten Sternenlicht," sagte Herion. "Ich bin mir sicher, dass sie euch gerne begleiten werden."

Córiel und Jarbeorn erhielten frischen Reiseproviant von den Hwenti, um am folgenden Tag früh morgens aufbrechen zu können. Die Nacht verbrachten sie erneut in Vatharons Haus, das in der Abwesenheit seines Besitzers leer stand. Am nächsten Morgen trafen sie am Tor des Dorfes auf Vatharons Schwester Lathiawen.
"So, so," sagte die Kriegerin. "Ihr habt euch also einem echten Drachen gestellt." Sie blickte Córiel genau in die Augen, ohne zu blinzeln.
"Und wir sind noch hier," meinte Jarbeorn gut gelaunt. "Enttäuscht?"
Lathiawen grinste. "Unsinn. Es zeigt mir, dass ihr Mut in den Knochen habt. Ich freue mich schon darauf, die Bestie selbst zu sehen und sie spüren zu lassen, dass wir Hwenti keineswegs leichte Beute sein werden."
"Gib gut auf dein Dorf und deine Leute Acht," sagte Córiel. "Ich hoffe, dass ich mich täusche, aber irgend etwas sagt mir, dass der Sternendrache weiß, wohin ich nach dem Kampf auf der Frostspitze gegangen bin."
"Keine Sorge, Melvendë. Soll diese übergroße Eidechse ruhig herkommen," entgegnete Lathiawen. "Ihr werdet sehen: seine Größe wird keine Rolle spielen."
"Ha ha!" lachte Jarbeorn und schlug der Elbin kameradschaftlich auf die Schulter. "Ich mag deine Einstellung, meine Freundin."

Sie verabschiedeten sich bald darauf und zogen los. Der Weg zurück zum See von Cúivienen war von den Hwenti mit kleinen Holzkunstwerken markiert worden, die hier und da von den Bäumen herabhingen. Sie erinnerten Córiel an die Dekorationen, die sie im Dorf der Tatyar in Taur-en-Elenath gesehen hatte.
Als es Abend geworden war, traten sie aus den Schatten der großen Bäume heraus an einen der langen Strände der Wasser des Erwachens. Die Sonne war im Begriff, im Westen über dem See unterzugehen und am Ufer standen zwei Gestalten, die lange Schatten auf den weichen Sand warfen.
"Heda, Níthrar!" rief Jarbeorn und erregte die Aufmerksamkeit der beiden. Der jüngere Elb wandte sich ihnen zu und kam näher, während seine Mutter an Ort und Stelle verweilte, den Blick weiterhin auf das rötliche Wasser gerichtet.
Níthrar war eindeutig erfreut über das Wiedersehen, doch auf seinem Gesicht las Córiel, dass ihn etwas anderes beschäftigte. Als die Hochelbin nachhakte, antwortete er leise: "Ich habe mich jetzt von ihr verabschiedet. Ich kehre zurück in den Westen. Nach Gondor, denke ich."
"Weshalb?" wollte Córiel wissen, doch Níthrar blickte beiseite. Sie beschloss, nicht weiter nachzubohren und es dabei zu belassen, und gab auch Jarbeorn zu verstehen, es ihr gleich zu tun.
"Sichere Wege, mein Freund," sagte der Beorninger. "Ich hoffe du findest das, was du dort suchst."
Níthrar bedachte Jarbeorn mit einem prüfenden Blick. Dann bot er ihm den Arm zum Gruße an. "Gib gut Acht auf Córiel und auf dich selbst," bat er. "In diesen Zeiten scheint nichts von Dauer zu sein, selbst die engste Freundschaft." Mit diesen Worten wandte er sich ab und verschwand entlang des Strandes.
Córiel hatte sich vorsichtig Vaicenya genähert, die ihre Anwesenheit noch immer nicht zur Kenntnis genommen zu haben schien. Doch als die Hochelbin kaum noch einen Schritt entfernt war, drehte sich Vaicenya mit einem Mal um. Da die Sonne direkt hinter ihr unterging, konnte Córiel den Gesichtsausdruck der Dunkelelbin nicht sehen, doch sie hätte schwören, ein verräterisches Glitzern auf Höhe der Augen erkannt zu haben.
Vaicenya schlang die Arme um Córiel und presst sie an sich, ohne ein Wort zu sagen. Córiel hörte, wie Jarbeorn sich ihnen näherte, aber der Beorninger war taktvoll genug um die Lage zu deuten, weshalb er schwieg.
"Möchtest du darüber reden?" fragte Córiel behutsam und verwendete dabei die Sprache, die vor Zeitaltern von den Tatyar gesprochen worden war.
Sie spürte, wie Vaicenya den Kopf, der an Córiels Schulter ruhte, kaum merklich schüttelte.
"Wir gehen zu den Cuind, in die Stadt Nendallin," fuhr die Hochelbin fort. "Willst du mit uns kommen?"
Ein schwaches Nicken. Mehr nicht.
"Dann sollten wir uns bald auf den Weg machen. Die Sonne ist bereits untergegangen," sagte Córiel leise. "Wir gehen, wenn die Sterne heraufgezogen sind, um uns den Weg zu leuchten."
"Melvendë," wisperte Vaicenya. "Du wirst nicht fortgehen, oder?"
"Nein, werde ich nicht. Ich bleibe bei dir."
Vaicenya schloss die Augen und löste sich von Córiel. Sie nahm einen tiefen Atemzug und fand schließlich zu ihrem eigentlichen Selbst zurück. Córiel vermutete, dass etwas Schwerwiegendes zwischen Vaicenya und ihrem Sohn vorgefallen sein musste, denn so hatte sie die Dunkelelbin noch nie erlebt. Doch sie besaß genug Verstand, um nicht weiter nachzufragen.
"Nendallin", wiederholte Vaicenya nachdenklich. "Ich kenne diesen Ort, aber..."
"Aber?" wollte Jarbeorn interessiert wissen.
"Dort lebt die Fürstin der Cuind," beantwortete Vaicenya die Frage, als würde das alles erklären.
"Und?" bohrte der Beorninger nach.
"Nénsilmë, sie... kann mich nicht besonders gut leiden," gab Vaicenya zu.
"Das kommt nicht gerade überraschend," meinte Jarbeorn mit einem verschmitzten Grinsen.
"Schweig still," murmelte Vaicenya verärgert. "Oder ich muss dir doch noch das Fell über die Ohren ziehen."
Córiel musste lächeln. "Kommt schon. Die Sterne ziehen herauf und von Westen weht ein warmer Wind. Heute können wir noch einige Meilen hinter uns bringen. Und wenn die Fürstin der Cuind uns nicht willkommen heißt, werden wir ihr unsere Botschaft eben unwillkommen überbringen."
So ließen sie das uralte Gewässer hinter sich und machten sich zu dritt auf den Weg durch die Wälder Dalvarinans, zu den sumpfigen Flachlanden, die von den Cuind bewohnt wurden.


Córiel, Jarbeorn und Vaicenya zum Cuindar-Moor
« Letzte Änderung: 17. Sep 2019, 15:15 von Fine »
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Thorondor the Eagle

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Von Nendalin nach Gan Lurin I
« Antwort #17 am: 10. Okt 2019, 18:56 »
Coriel, Vaicenya, Jarbeorn, Nénsilmë, Caelîf, Rástor und Soldaten von Nurthaenar und Nendalin von Cuindar-Moor

Es war ein kühler Wintertag, als die Elben das Cuindar-Moor verließen um nach Gan Lurin zu reiten. Die mittlerweile stark angewachsene Gruppe wurde von Soldaten der Cuind angeführt, da sie die Wege durch das Moor kannten.
Sie verließen das Sumpfgebiet nördlich des Flusses Urundúinë. Als sie die Grenzen des unmittelbar anschließenden Waldes erreichten, dachte Caelîf an ihren Besuch in Awld-Aronemer. Mit seiner linken Hand fühlte er nach dem Geschenk, dass ihm Yindial überreicht hatte. Insgeheim freute er sich schon darauf den Baum in seinem Garten anzupflanzen, ihn zu hegen und zu pflegen und dafür zu sorgen, dass er auch abseits seines Herkunftsortes Früchte tragen würde.

Obwohl die Vegetation ein schnelles vorangekommen verhinderte, blieb auch nicht wirklich Gelegenheit um zu reden, da die Pfade sehr eng waren und die Pferde hintereinander laufen mussten. Als mehr als die Hälfte des Tages vorüber war, erreichten sie eine größere Lichtung.
„Wir sollten hier unser Lager aufschlagen, die Dämmerung setzt bald ein“, beschloss einer der Soldaten aus Nendalin.
Es dauerte nicht lange, bis die Elben ihre Zelte aufgeschlagen hatten. Zwischen den Bäumen erstrahlte das sanfte Licht einiger Elbenlampen, die Soldaten aus Nurthaenar und der Cuind hatten abseits voneinander jeweils ein Lagerfeuer errichtet und sich darum versammelt. Jeder von ihnen nahm sein Essen zu sich, sie redeten und lachten miteinander, ja die Cuind stimmten sogar ein Lied an.

Caelîf zog sich nach dem Essen ein wenig zurück und nahm vor seinem Zelt Platz.

Wir sollen die Elbenstämme der Avari vereinen? Wir schaffen es nicht einmal, dass diese 30 Mann miteinander reden. Wieso war es in Awld-Aronemer so einfach und hier ist es so schwierig? Warum sind die Cuind so abweisend?
„Dieselben Fragen stelle ich mir auch mein Freund“, riss ihn Rástor aus seinen Gedanken „Wieso sind die Cuind so abweisend uns gegenüber und wieso reagieren wir so auf die Abweisung? Sollten wir nicht unsere Arme ausbreiten und sie willkommen heißen?“
„Es ist nicht einfach, wenn sie so abweisend sind“, antwortete der Junge.
„Ja, aber sie und ihre Einstellung können wir nicht ändern und wir können es auch nicht erzwingen.“
„Ihr habt gesagt, dass unsere Verwandten, die Windan, alle Einzelgänger sind. Wenn es uns bereits so schwer fällt die Cuind zu überzeugen, wie wird es erst mit ihnen sein.“
„Das ist eine gute Frage. Aber wir können nur eines nach dem anderen angehen. So, ich werde mich jetzt noch ein wenig der diplomatischen Beziehungen mit der frostigen Fürstin widmen, ehe ich ein bisschen Ruhe suche“, sagte er.
Schockiert über diese Bemerkung fehlten Caelîf die Worte.
„Verzeih mir meinen Zynismus. Ich sollte mich wohl wieder mehr in Geduld üben.“

Mit diesen Worten verschwand der Veriaran und Caelîf wusste was er zu tun hatte. Er schnappte sich Alcôr und ging mit ihm zu den Cuind.
„Verzeiht, habt ihr noch Platz für uns zwei?“, fragte er schüchtern und empfing nur fragende Blicke aller im Kreis sitzenden Elben.
„Wieso wollt ihr hier bei uns sitzen?“, fragte einer etwas misstrauisch.
„Wenn wir schon einmal die Gelegenheit haben ein anderes Elbenvolk kennen zu lernen, dann sollten wir es nutzen oder? Und euer Lied, es klang sehr amüsant.“
Die Cuind brachen in Gelächter aus. Caelîf’s Gesicht wurde heiß und lief rot an. Er hoffte, dass es niemand sehen würde im Schein des Feuers.
„Natürlich, setzt euch her“, antwortete er und rückte ein Stück zu Seite „Wisst ihr, unser Lied, es handelt von einem Elbenprinzlein. Er hat keinen Mumm in den Knochen und seine Soldaten mussten ihn stets beschützen, vor einem Schatten, seinem brutalen Bruder, einer kleinen Spinne, seinem Vater und schließlich vor seiner eigenen Frau.“
Die Soldaten kicherten wieder.
„Es ist ein altes Soldatenlied. Shhhht, die Fürstin mag nicht, wenn wir es singen.“
„Warum tut ihr es dann?“, frage der junge Elb.
„Weil es gut für unsere Stimmung ist“, antwortete er, leise legte er nach „und weil WIR keine Prinzlein sind.“
Alle lachten wieder laut, Alcôr und Caelîf stimmten mit ein.

„Da will man sich schlafen legen um für den nächsten Tag gerüstet zu sein, hört man das Gelächter dieser Feier.“, ertönte nun die dumpfe Stimme Jarbeorns und die Elben verstummten augenblicklich. Das rote Flackern, dass sein Gesicht nur schemenhaft erhellte, ließ ihn noch bedrohlicher wirken.
„Ein bisschen Rücksichtnahme könnte man schon von euch erwarten“, sagte er. Mit seiner Pranke schob einen der Elben auf die Seite „RÜCK-sicht, sagte ich… geht doch.“
Jarbeorn und Coriel setzten sich ebenfalls dazu.

 „Habt ihr sein Gesicht gesehen“, sagte nun ein anderer Soldat der Cuind lachend „Früher hast du immer so geschaut, wenn deine Mutter zu den Quartieren kam um dich bloßzustellen, weil du immer Blödsinn gemacht hast.“
„Also, wenn deine Mutter so aussieht wie ich, dann würde ich bezweifeln, dass du mein Sohn bist“, lachte Jarbeorn.
Es dauerte nicht lange bis sich einige andere Soldaten Nurthaenar’s zu den Cuind gesellten. Sie waren neugierig darauf, was Alcôr und Caelîf so amüsierte. Das Eis zwischen den beiden Stämmen war gebrochen, zumindest für diesen einen Abend.

Als Jarbeorn beschloss schlafen zu gehen, schlossen sich die anderen Elben ihm an. Jeder ging in sein Zelt. Caelîf wickelte sich in seine Decke und schloss die Augen. Seine Gedanken wanderten nach Nurthaenar zu seiner Familie. Sie waren sicher gerade dabei die eingebrachte Ernte zu verarbeiten und einzulagern. Um diese Zeit machte seine Mutter immer Brot aus dem frischen Weizen, das liebte der junge Elb besonders. Vor allem wenn das ganze Haus nach dem Duft von frisch gebackenem Brot roch.

Bevor noch die Morgendämmerung anbracht, schlich sich der junge Elb aus dem Zelt. Er setzte sich zu der Lagerfeuerstelle und blickte auf das makellose Firmament übersäht mit Sternen. Aus der Ferne hörte er einen vertrauten Gesang, vermutlich waren sie im Reich der Kindi, vielleicht sogar Nahe dem Dorf Awld-Aronemer.
Es dauerte nicht allzu lange bis sich die ersten Elben im Lager regten. Da die Tage dieser Jahreszeit sehr kurz waren, mussten sie unmittelbar nach der Morgendämmerung aufbrechen um das Tageslicht gut zu nutzen.
„Na junger Freund, bist du schon fertig für die Abreise?“, fragte einer der Soldaten.
„Nein noch nicht. Ich habe eine Frage, Awld-Aronemer, ist es hier in der Nähe?“
„Ja, es dürfte nicht allzu weit weg sein. Vielleicht einen halben Tagesritt südlich von hier. Ihr kennt sie?“
Der Junge nickte.

Es hatten bereits alle ihre Zelte abgebrochen und beluden die Pferde damit. Rástor, Nénsilmë, Inglos, Coriel und ein Soldat der Cuind standen etwas abseits und besprachen ihren weiteren Weg.
Caelîf ging zu ihnen: „Mein Herr?“
„Was gibt es?“
„Einer der Soldaten verriet mir, dass unsere Freunde von Awld-Aronemer nur einen halben Tagesritt von hier entfernt sind. Sollten wir sie nicht über das Treffen informieren?“
„Nein“, funkte Nénsilmë dazwischen.
„Wieso sollten sie nicht am Treffen teilnehmen?“, fragte Rástor sie verblüfft.
„Ist dieses Treffen nicht nur Fürsten vorbehalten? Yindial ist nur die Tochter des Fürsten.“
„Im Sinne unseres Vorhabens, sollte das Treffen all jenen zugänglich gemacht werden, die daran teilhaben wollen, nicht wahr?“
„Mhh“, sagte sie nur „Was ist mit der Eile?“
„Da euch nichts daran zu liegen scheint, werde ich einen meiner Männer schicken“, beschloss Rástor.
„Ich kann für euch gehen, mein Herr“, bot sich Caelîf an.
„Nein junger Freund. Inglos, bitte geh du mir Alcôr und überbringe Laycáno und Yindial unsere Botschaft. Wir erwarten euch bei den Wassern des Erwachens. Hier, eine Karte“, befahl Rástor.
Caelîf bedauerte, dass er diesen Auftrag nicht erfüllen durfte. Zu gerne wäre er noch einmal zu den Kindi gereist.
1. Char Elea ist in Bree  -  2. Char Caelîf ist in Palisor

Thorondor the Eagle

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Von Nendalin nach Gan Lurin II: Die Wiege der Erstgeborenen
« Antwort #18 am: 11. Okt 2019, 16:06 »
Der nächste Reisetag verlief ähnlich wie der zuvor. Der kleine Unterschied war, dass sich die Reisegefährten untereinander mischten und sich trotz dessen, dass sie aufgefädelt hintereinander reiten mussten, miteinander tratschten. So kam es, dass sich Caelîf ungewollt hinter Coriel anreihte und sich Vaicenya bei dem Versuch zu ihrer Gefährtin aufzuschließen gleich hinter dem jungen Elben anschloss.
Lange Zeit beobachtete er sie.

Wie ist das wohl, wenn man erfährt, dass man bereits ein Leben hier gelebt hat? Sie muss ja Erinnerungen haben an etwas, das sie nie erlebt hatte. Zumindest nicht jetzt. Wie fühlen sich fremde Erinnerungen an? Vielleicht… es ist sicherlich möglich, dass ich auch schon einmal auf dieser Welt war…

„Wieso starrst du Melvendë unentwegt an?“, ertappte Vaicenya den jungen Elben und holte ihn damit aus seinen Gedanken.
„Das mache ich doch gar nicht.“
„Vaicenya“, sagte Coriel, die ihren Kopf zur Seite drehte und über die Schulter nach hinten schaute „Lass ihn doch in Ruhe. Jeder von uns schaut doch auf seinen Vordermann.“
Ruhe trat wieder ein.
„Ähm“, begann Caelîf schüchtern „Ich hätte da doch eine Frage.“
„Ja?“
„Wie hast du erfahren, dass du bereits ein früheres Leben hier hattest?“
Er sah wie sich ihre Augenbraue leicht nach oben schob: „Das ist eine komplizierte Geschichte. Kurz gesagt, Vaicenya hat meinem Gedächtnis auf die Sprünge geholfen. Sie kannte Melvendë schon immer.“
„Mhh“, der junge grübelte über die Antwort nach.
„Viele Nächte lang aber, hatte ich Träume und Albträume über Dinge und Situationen die ich nicht erkannte. Auch als du es mir gezeigt hast, Vaicenya. Es war wie ein fremder Traum, jetzt ist es wie… wie eine Täuschung meiner Erinnerung. Nicht wirklich echt, aber doch sehr vertraut“
„Es ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt darüber zu sprechen, meine Liebe“, kam wieder die besorge Stimme Vaicenyas „Lass sie in Ruhe.“
„Ich spreche gerne mit dir darüber Caelîf, aber vielleicht ist jetzt wirklich nicht der richtige Zeitpunkt dafür.“
„Danke“, antwortete er knapp.
„Was du gestern gemacht hast war sehr bewundernswert, Caelîf. Du scheinst entgegen meiner Annahme sehr gesellig zu sein. Diesbezüglich war Jarbeorn immer mein Retter.“
„Gut das du das erkannt hast, Stikke“, hörte er die kräftige Stimme des Beorninger. Er ritt vor ihr.
Der Elb freute sich über die Worte: „Ich weiß auch nicht. Allzu oft in meinem Leben bin ich noch nicht auf fremde Elben oder Menschen gestoßen und die Elben in Nurthaenar kenne ich fast alle seit meiner Geburt. Mit ihnen verbringe ich gerne Zeit.“
„Und wie ist es nun, da du ständig, an jedem Ort und zu jeder Zeit neue Elben kennen lernst?“
„Bis auf die Cuind, haben uns alle willkommen geheißen. Das war einfach und ein schönes Gefühl, vor allem in Awld-Aronemer.“
„Du wärst gerne dorthin gereist, nicht wahr?“, fragte Coriel.
„Ja. Zu schade, dass es der Veriaran nicht erlaubt hat.“
„Wenn dir so viel daran gelegen ist, wieso bist du nicht gegangen?“, fragte nun Vaicenya, die der Unterhaltung offensichtlich gefolgt war.
„Mein Herr Rástor hat anders entschieden. Es wird schon einen Grund haben.“
„Du meine Güte, diese Zeiten der jungen Unsicherheit, wo man folgt und gehorsam oder rebellisch auf Abwegen ist. Ich bin mir sicher, du hast noch niemandem eine Bitte oder einen Befehl abgeschlagen“, sagte sie und hatte leichte Verachtung im Ton.
„Nein, habe ich nicht und dafür schäme ich mich auch nicht.“
„Du schämst dich vermutlich eher, wenn du eine Anordnung nicht zur vollsten Zufriedenheit erfüllt hast.“
Damit traf sie natürlich ins Schwarze und Caelîf verschlug es die Sprache.
„Von deiner Sorte gibt es viele. Tun brav ihren Dienst, verweigern keinen einzigen Befehl und hinterfragen nichts.“
„Ist es denn schlimm so zu leben?“, fragte der junge Elb verunsichert.
„Das weiß ich nicht, solche Elben kenne ich nicht mehr und“, ihre Stimme nahm einen spöttischen Ton an „gelesen habe ich so und so noch nie von einem. Das sind nicht die großen Heldengestalten für Bücher.“
„Als hättest du je viel gelesen, Vaicenya“, versuchte Coriel sie in die Schranken zu weisen.
„Unser Leben, ist alles andere als gewöhnlich meine liebe Melvendë und Befehle oder Verbote sollten uns nicht kümmern. Wenn wir unsere Geschichte nicht zu Papier bringen, wird er es vermutlich tun“, antwortete sie.

Caelîf kränkte sich über die Bemerkungen Vaicenya’s, aber er wusste, dass sie Recht hatte. Er suchte keine Fortsetzung des Gespräches mehr, Coriel hatte sich auch abrupt wieder umgedreht und schwieg.
Es dauerte keinen halben Tag mehr bis sich schließlich der Wald um sie lichtete und sich vor ihnen der See von Cuivienen auftat. Der Ort hatte eine Magie inne, die den Elben sofort das Gefühl gab zuhause zu sein und sich wohl zu fühlen.
„Die Wasser des Erwachens“, präsentierte Nénsilmë den Ort „Ursprung aller Erstgeborenen.“
Ehrfurcht überkam den jungen Elben als er die sanften Wogen des Sees vor sich sah.
„Wunderschön, nicht wahr?“, fragte ihn Rástor, dem Tränen in den Augen standen „Nach all den Jahren bin ich wieder hier bei meinen Wurzeln.“
„Ich spüre, dass Elben immerfort diesen Ort bewohnt haben“, antwortete Caelîf.
„So ist es. Es ist der Ort, den Illúvatar für uns auserkoren hat.“
„Wir sollten noch zum nordöstlichen Ufer des Sees gelangen, dort befinden sich gute Lagerplätze und von dort geht auch der Weg weiter nach Gan Lurin“, sagte einer der Cuind-Soldaten.
Die Gruppe folgte diesen Anweisungen und knapp drei Stunden später hatten sie das Lager am Ufer des Sees errichtet. Die Sonne legte sich bereits knapp über die Bäume des westlichen Ufers.

Caelîf saß auf einem Stück Schwemmholz und sah auf das Wasser hinaus. Der Wind wehte immer wieder einige Haarsträhnen in sein Gesicht und wieder davon. Er nahm einige tiefe Atemzüge.
„Hier hat unsere Geschichte begonnen“, wiederholte Rástor, der dazugestoßen war und hinter ihm stehen blieb „Die Gegend und das Ufer sahen damals noch etwas anders aus, aber hier war es, wo mein Bruder und ich zum ersten Mal auf deine Großmutter getroffen sind. Hier entstand eine neue Bande die über viele Jahrtausende bestand und vielen Elben halt und Sicherheit gab.“
„Ich bin überglücklich hier sein und diesen Ort sehen zu dürfen. In meinen kühnsten Träumen hätte ich mir das nicht vorstellen können“, antwortete er.
„Dass es dir gefällt, dachte ich mir und dass du hier auch etwas Zeit verbringen willst. Darum habe ich dich nicht nach Awld-aronemer geschickt.“
„Dann bin ich froh euren Anweisungen folge geleistet zu haben.“
„Das tust du doch immer.“
„Habt ihr denn nie widersprochen oder euch gegen Anweisungen gewehrt?“
Rástor musste lachen: „Oft genug! Und oft genug habe ich mir auch jemanden gewünscht, der eine Entscheidung für mich trifft und ich einfach nur gehorsam leisten müsste. Die Zeit einen eingeschlagenen Weg zu hinterfragen und eine Entscheidung zu treffen wie man weiter geht, trifft uns alle irgendwann. Deine Eltern hatten das Glück in einer Stadt und in einer Zeit aufzuwachsen, wo die Sorgen sehr gering waren. Ich befürchte, dass diese Zeiten enden.“
Caelîf wirkte bedrückt.
„Junger Freund, bald kommt eine Zeit auf dich zu, wo du nicht einfach gehorsam leisten musst. Du wirst selbst entscheiden und du wirst hinterfragen müssen. Zweifelsohne wirst du Fehler machen, so wie jeder von uns. Aber Fehler gehören zum Erfolg dazu.“
Rástor setzte sich nun neben ihn.
„Nach Gan Lurin werde ich mit den Soldaten nach Nurthaenar zurückkehren, du aber sollst unseren Auftrag fortsetzen. Alcôr soll dir zur Seite stehen, wie ich höre hast du mit ihm gemeinsam die Bande zu den Cuind geschlagen. Und vielleicht könnt ihr euch bis zu dem Treffen der Stämme Melvendë und Jarbeorn anschließen. Dort sehen wir uns auf jedenfall wieder.“
„Und was ist mit meinen Eltern?“
„Du vermisst sie, nicht wahr?“
„Ich vermisse meine Heimat und natürlich auch sie.“
„Du wirst sie wiedersehen. Ich werde ihnen jedenfalls von ihrem tapferen Sohn und seinen Taten erzählen“, antwortete der Veriaran und legte dabei ein sanftes Lächeln auf.

An jenem Abend beschloss Caelîf alles aufzuschreiben, was er auf dieser Reise erlebt hatte und welche Geschichten er gehört hatte. Er wollte es Rástor mitgeben, damit es seine Eltern bekommen.
1. Char Elea ist in Bree  -  2. Char Caelîf ist in Palisor

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Wo alles begann
« Antwort #19 am: 14. Okt 2019, 11:47 »
Obwohl nur wenige Wochen seit dem letzten Mal, als sie an den Wassern des Erwachens gestanden war vergangen waren, kam sich Melvendë so vor, als wäre dies ihre erste Rückkehr seit ihrem Erwachen an jenem Strand, damals vor abertausenden von Jahren. Sie hatte das kleine Lager der Reisegruppe verlassen und war tief in Gedanken versunken einige Zeit am Ufer des großen Sees entlang gewandert, bis ihre Füße den weichen Sand erreicht hatten, an den sich ein Bruchteil ihrer selbst, tief verborgen in ihrem Inneren, noch sehr gut erinnerte.
Hier habe ich gelegen, mit all den anderen Tatyar, die mit mir erwacht sind, dachte sie und ging in die Hocke, um den Sand zögerlich zu berühren. Als sie zuletzt hier gewesen war, mit Durin, Jarbeorn und Vaicenya, war keine Zeit gewesen, um sich der Aura dieses Ortes wirklich gewahr zu werden. Sie hatten Níthrar und die anderen Gefangenen befreit und waren ohne Rast weiter zum Dorf der Hwenti gezogen. Jetzt hingegen hatte Melvendë Zeit. Sie ließ sich vorsichtig nieder und war überrascht, wie warm der feine Sand selbst im tiefsten Winter war.
Sterne funkelten am dunklen Himmel über ihr. Es waren noch immer die gleichen Konstellationen wie damals, vor Äonen, als sie zum ersten Mal die Augen geöffnet hatte. Damals hatte Vaicenya sie gefunden. Und als Melvendë hinter sich leichte Schritte im Sand wahrnahm, wusste sie, dass es auch an diesem Abend nicht anders sein würde.
Sie drehte den Kopf und blickte über ihre Schulter. Zu ihrer Überraschung stand jedoch nicht Vaicenya dort. Es war Caelîf, wie Melvendë verwundert erkannte. Der Junge musste ihre Überraschung gespürt haben, denn er machte ein erschrockenes Gesicht und hob die Hände.
"Verzeih' mir," beteuerte er. "Ich wollte dich nicht behelligen. Ich... sollte besser wieder gehen."
"Bleib," bat sie ihn. "Du störst mich nicht."
Caelîf suchte zweifelnd ihren Blick. Sie erholte sich von dem Schock und winkte ihn freundlich zu sich. Da schien er sich einen Ruck zu geben und ließ sich neben Melvendë am Strand nieder, keine drei Schritte vom Seeufer entfernt.
"Welch Glück, dass das Sternenlicht heute unverhüllt auf uns herabscheint," meinte Melvendë. "Allzu oft ist es hinter Wolken oder Baumkronen verborgen."
"Ich frage mich... ob es damals heller war," sagte Caelîf. "Als die ersten Elben erwachten. Ich habe gehört, dass damals weder Mond noch Sonne schienen."
"Es war auf seine eigene Art hell genug für uns," erwiderte Melvendë. "Wir machten uns Lampen, die das Sternenlicht spiegelte und es verstärkten, doch niemals gelang es uns, dabei die gleiche Schönheit von Vardas Licht zu erschaffen."
"Du erinnerst dich daran, wie es damals war?"
"Hier, an diesem Ort kommt es mir vor, als wäre ich niemals fort gewesen. Je länger ich meine einstige Heimat bereise, desto zugänglicher werden mir meine Erinnerungen. An diesem Strand... bin ich einst erwacht. Dies sind die Wasser des Erwachens, und sie haben etwas in meinem Inneren erweckt, das..." Sie hielt inne, und überlegte. "Ich fühle mich, als wären meine Erinnerungen seit meiner Wiederkehr aus Mandos' Hallen nur ein Traum gewesen. Und was vor meinem Tod geschah fühlt sich... echter an."
"Das verstehe ich nicht," sagte Caelîf. "Wie konntest du dich denn überhaupt wieder an das erinnern, was vor deiner Rückkehr geschah?"
"Du bist im Taur-en-Elenath gewesen, nicht wahr?" fragte Melvendë, was von Caelîf mit einem Nicken bestätigt wurde. "Dann hast du gewiß die Quelle gesehen, über die Tarásanë so treu wacht. Vaicenya begegnete mir auf einer Reise, die ich mit Jarbeorn unternahm, und erkannte mich wieder. Sie hat einen Ort verwendet, der Tarásanës Quelle sehr ähnlich ist, um meine Erinnerungen wiederherzustellen. Ich habe es lange nicht akzeptieren können, doch inzwischen... spätestens hier... weiß ich, dass ich Melvendë von den Tatyar bin, die einst hier an diesem Strand ihre ersten Schritte tat."
Sie atmete tief durch. Es war nicht leicht gewesen, ihre Gedanken in Worte zu fassen. Caelîf hatte derweil begonnen, sich Notizen zu machen. Feder und Pergament hatte der junge Nurthaenarer hervorgeholt und mit dunkler Tinte schrieb er in schwungvoller Schrift einige kurze Sätze auf. Als er Melvendës Blick bemerkte, hielt er wie ertappt inne.
"Ich habe beschlossen, mir die Geschichten, die ich meiner Reise erfahre, aufzuschreiben," erklärte Caelîf verlegen.
"Das ist eine wunderbare Idee," sagte Melvendë mit einem Lächeln. "Bitte, fahr fort."
Noch eine gute Stunde saßen sie zu zweit an dem verlassenen Strand, und Melvendë erzählte Caelîf die gesamte Geschichte ihrer Reise, die mit Jarbeorn an der Grenze zu Rohan begonnen hatte und sie an jenem Abend zurück an den Ort geführt hatte, an dem einst alles angefangen hatte. Schließlich schrieb der Junge das letzte Wort und unterdrückte halbwegs erfolgreich ein Gähnen. Entschuldigend erhob er sich und wünschte Melvendë eine gute Nacht, ehe er sich auf den Rückweg zum Lager machte.

Mit einem etwas melancholischen Gefühl blieb Melvendë alleine zurück. Sanftes Plätschern von winzigen Wellen, die den Strand hinauf und herab rollten, erfüllte ihre Ohren. Es war windstill. Die Sterne leuchteten mit unverminderter Kraft auf die Tatya herab, während sie noch über Caelîf und seine Entscheidung, ein Chronist zu sein nachdachte.
Das Sternenlicht hat nichts an Schönheit eingebüßt, ganz egal wie nah man ihm kommt, drang ihr ein Gedanke durch den Kopf. Ob von nah oder fern. Man muss es einfach bestaunen.
Melvendë wunderte sich über diese plötzliche Eingebung. Beinahe war es ihr so vorgekommen, als wäre der Gedanke nicht von ihr selbst gekommen. Sie sah sich am Strand um, doch da war niemand. Sie war allein.
Welch ein ungewöhnlicher Ort. Uralte Kräfte sind hier am Werk. Da, wieder ein fremder Gedanke. Diesmal war sich Melvendë sicher, dass er nicht ihrem eigenen Geist entstammte. Sie versuchte, sich zu konzentrieren und genauer hinzuhören.
Zu gerne würde ich verstehen, ob es die Schönheit des Sternenlichts war, die die ersten Elben an jenen Wassern erweckt hat. Melvendë erschrak. Sie hatte den Gedanken als eine deutliche Stimme wahrgenommen, die direkt in ihrem Kopf erklungen war. Es gab keinen Zweifel - jemand sprach mit ihr!
Hastig suchte sie den Strand ab. Noch immer war nicht einmal der Schatten einer Präsenz zu sehen. Auch der stille Wald am Ende des Strandes gab keine Bewegungen preis.
Ich spüre deine Furcht, kleine Melvendë, grollte die Stimme unheilvoll. Konnte es wahr sein? Es klang wie...
"Der Ilcalocë," wisperte sie entsetzt. "Was... was ist dies für ein grausamer Trick?"
Dachtest du, der Drachenzauber taugte nur dazu, widerwillige Zungen zu lösen? höhnte der Drache in ihren Gedanken. Als du zu mir auf den Gipfel kamst, habe ich dich mit meinem Mal versehen. Ich weiß, wo du dich aufhältst, egal wohin du gehst. Und ich kann über einige Entfernung hinweg zu dir sprechen, als stünden wir uns gegenüber.
Melvendë biss die Zähne zusammen und versuchte, die Stimme des Drachen aus ihrem Kopf zu vertreiben. "Verschwinde," knurrte sie.
Du kannst gegen meine Macht nicht bestehen. Niemand kann das. Schon bald wird ganz Palisor auf meinen Befehl hören.
"Nicht... wenn ich es... verhindern kann," presste sie angestrengt hervor.
Donnerndes Gelächter erfüllte ihren Kopf und sie presste sich verzweifelt die Hände auf die Ohren, ohne dass es etwas bewirkte. Melvendë brach in die Knie. Du willst mich aufhalten? Welch absurde Vorstellung. Du bist nicht mehr als ein Insekt für mich. Ich könnte dich mühelos zerquetschen, wenn ich es wollte.
"Dann... stell dich mir... Drache."
Mit einem Mal zog ein starker Westwind auf, der Melvendës Haar zerzauste. Sie blickte erschrocken über das weite, schwarze Wasser des Sees hinaus. Da erhob sich eine gewaltige Gestalt am fernen, gegenüberliegenden Ufer mit einem Brausen in den Himmel. Der Drache war ganz nahe! Er sauste über das Wasser hinweg auf Melvendë zu und verdunkelte das Sternenlicht mit seinen ausgestreckten Flügeln. Melvendë zog ihr Schwert mit einiger Anstrengung und kam taumelnd auf die Beine, als der Drache den Strand erreichte und sie mit einem Windstoß seiner Schwingen wieder zu Boden schickte.
Seine Stimme drang dröhnend zu ihr herab, während das Untier in niedriger Höhe in der Luft über dem Strand schwebte. Sein Flügelschlag schickte heftige Böen über Wasser und Sand und wirbelte beides auf. "Du kannst mich nicht aufhalten. Genieße die wenige Zeit, die dir und deinesgleichen noch bleibt! Ich werde es genießen, jeden einzelnen Elben Palisors persönlich zu verbrennen, wenn sich die Stämme weigern, vor mir das Knie zu beugen!"
Gewaltige Flammen schossen aus dem Maul des Drachen in den Himmel und erleuchteten den Strand mit rötlichem Licht. Dann schraubte sich der Sternendrache hoch in die Luft und schoss in östlicher Richtung davon.
Deine Zeit läuft ab, kleine Melvendë, erklang seine Stimme ein letztes Mal in ihrem Kopf.

Kraftlos und vollkommen geschockt blieb sie noch lange Zeit an Ort und Stelle im Sand liegen. Das Schwert war ihren Händen entglitten. Zum ersten Mal vermisste Melvendë den Blutrausch, unter dem Córiel so viele Jahre gelitten hatte. Wie gerne würde sie bei der nächsten Begegnung mit dem Drachen einfach ihre Gedanken ausblenden und sich ohne Rücksicht in den Kampf stürzen. Doch seitdem ihre schlummernden Erinnerungen erwacht waren, war dieser Teil von Córiels Persönlichkeit nahezu vollkommen verschwunden.
Vaicenya und Jarbeorn fanden sie schließlich dort an den Ufern des Cúivienen-Sees. Der Auftritt des Drachens war im Lager der Reisegruppe nicht unbemerkt geblieben und man hatte lange und in Sorge nach Melvendë gesucht. Langsam und stockend erzählte sie den beiden, was geschehen war.
"Das macht unseren Auftrag nur noch dringender," meinte Vaicenya grimmig. "Wir müssen die Stämme vereinen, koste es was es wolle, wenn wir gegen diesen Drachen bestehen wollen."
Gemeinsam brachten sie Melvendë zurück zum Lager. Sie fand bald etwas Schlaf, doch in ihren Träumen sah sie nichts als Feuer und Verderben, die ganz Palisor verschlangen...
« Letzte Änderung: 16. Okt 2019, 14:04 von Fine »
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Thorondor the Eagle

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Dunkle Visionen
« Antwort #20 am: 14. Okt 2019, 22:40 »
Mit einer gewissen Faszination blätterte Caelîf nochmals durch seine Notizen über das Leben von Coriel und auch Jarbeorn, ihren treuen Gefährten und über Vaicenya. Er hatte bemerkt, dass sich die Elbe dieselben Fragen stellte, wie er sie gestellt hätte. Also welche Antwort könnte er schon erwarten? Was er aber erst jetzt so richtig begriffen hatte war, dass sie von den westlichsten Gefilden Mittelerde’s kam. Keiner von den Elben die in diesem Wald waren, kamen je weiter als bis zum Taur-en-Elenath.

Diese merkwürdige Aura die von Coriel ausgeht, sie ist eigentlich eine Fremde, eine Elbe die hier nicht geboren war. Wie ist das Leben dort bei den Elben die einst den Herren des Westens gefolgt waren? Leben sie so wie wir? Ich hoffe, sie erzählt ...
Ein plötzlicher und unerwarteter Windstoß vom westlichen Ufer zog Caelîf’s Aufmerksamkeit auf sich. Er drehte sich hastig um und sah auf das Wasser hinaus. Die Spiegelung der Sterne war unter der unruhigen Oberfläche zur Gänze verschwunden. Er suchte nach dem Grund, sah in der Ferne aber nur die Silhouette von etwas sehr Großen. Der Schimmer des Sternenlichts brach sich auf merkwürdige Art auf dessen Oberfläche.

„Das kann doch unmöglich sein“, sagte er leise zu sich selber. Wie vom Blitz getroffen lief er zu seinem Zelt. Er kramte in seinem Reisegepäck, riss es förmlich aus der Tasche und griff nach dem Dolch den Tarásane ihnen geschenkt hatte. Weitere Windböen trafen sein Zelt und wirbelten Laub und Sand durch die Zeltöffnung.
Draußen angekommen war das Ungeheuer von seiner Stelle verschwunden. Aufgeregte Blicke nach rechts, in die Luft und dann auf das andere Seeufer ließen ihn den Drachen wieder ausmachen und zwar genau da wo er vor wenigen Augenblicken noch mit Coriel gesessen hatte. Ohne wirklich darüber nachzudenken hastete er das Seeufer entlang, vorbei an den Soldaten die mit gezogenen Schwertern schlicht dastanden und starrten.
„Caelîf“, hörte er Alcôr ihm noch hinterherrufen.
 Als er annähernd die Stelle erreicht hatte, spieh das Ungeheuer meterhohe Flammen in die Luft. Der Schreck ließ den Elben erstarren und warf ihn zurück. Unsanft landete er auf seinem Rücken. Ein weiterer Windhauch zog über ihn hinweg und wirbelte ihm den Sand des Ufers ins Gesicht, sodass er die Augen fest zusammenkneifen musste.

Erst als das Brennen in seinen Augen aufgehört hatte, sah er, dass der Drache verschwunden war und dass sich um Coriel bereits andere Elben eingefunden hatten.
„Caelîf mein Junge, ist dir etwas passiert?“, fragte ihn Rástor, der neben ihm kniete.
„Nein“, antwortete er kurz „Es war nur Sand in meinen Augen.“
„Das war er also, der Ilcalocë, die feurige Bestie der Orocarni.“
Und zum ersten Mal sah Caelîf Angst in den Augen seines Herren. Gemeinsam gingen sie zu Coriel Vaicenya und Jarbeorn waren bereits bei ihr.
„Was ist passiert?“, fragte Rástor Coriel.
„Ich glaube diese Fragen haben Zeit“, wehrte Vaicenya den Veriaran ab.
„Es ist in Ordnung, Vaicenya. Ich denke diese Botschaft ist wichtig für alle Elben Palisors. Der Ilcalocë erwartet, dass sich die Elben Palisors ihm unterwerfen“, sie brachte diese Worte nicht leichtfertig über die Lippen „Viele Chancen wird er uns nicht lassen.“
„Weiß er von dem Treffen?“
„Vermutlich nicht.“
„Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren, es ist dringender als wir alle gedacht haben. Ich muss zur Fürstin“, sagte Rástor und verschwand sofort im Dunkel der Nacht.
„Und du? Geht es dir gut?“, fragte Caelîf.
Coriel nickte: „Ja, er hat mich nur überrascht“, gab sie sich tapfer „Ich spürte seine Wut in mir und sein unbändiges Verlangen nach Macht. Er duldet keine Widersacher und er nährt sich aus unserer Angst.“
„Die Bestie ist wohl nicht zum Scherzen aufgelegt“, sagte Jarbeorn kleinlaut.
„Was dachtest du eigentlich was du gegen den Drachen ausrichten könntest?“, fragte Vaicenya wieder mit ihrem spöttischen Tonfall.
„Was sollte ich denn sonst tun? Das war alles was Möglich war.“
„Was war?“, fragte Coriel dazwischen.
„Dein junger Freund dachte, er kann den Drachen im Alleingang mit einem kleinen Messer zur Strecke bringen. Er lief damit wie ein Wildgewordener das Ufer entlang.“
Coriel lächelte ihm schwach zu als sie die Geschichte hörte. Jarbeorn hatte ihr mit seinen klobigen Händen eine Decke über die Schultern gelegt.

Die Aufregung im Lager der Elben war groß. Sie sprachen großteils durcheinander über das was sie gesehen hatten. Rástor suchte sofort das Zelt von Nénsilmë auf um mit ihr zu sprechen. Caelîf aber setzte sich vor sein Zelt, er wusste, dass Coriel von ihren Freunden bestmöglich versorgt werden würde, trotzdem sorgte er sich sehr um sie.
„Du warst ganz schön mutig alleine auf den Drachen loszugehen“, sagte Alcôr bereits als er sich ihm näherte.
„Was sollte ich denn tun? Zusehen wie er Coriel tötet?“
„Er hätte euch wohl beide erledigt.“
„Um diese Bestie besiegen zu können, braucht es wohl mehr als die paar Elben aus Nurthaenar, Nendalin und Gan Lurin.“
„Umso wichtiger ist unser Auftrag, Caelîf. Es wundert mich, dass ich dich daran erinnern muss.“
„Das ist er in der tat, meine Herren“, wurden sie von Rástor unterbrochen „Gönnt euch noch die ein oder andere Stunde Ruhe, bei Anbruch der Dämmerung werden wir aufbrechen!“
„Jawohl, mein Herr Rástor“, antwortete Alcôr im Befehlston. Ehe er sich zurückzog, warf er Caelîf einen aufmunternden Blick zu.
Rástor wandte sich ebenfalls ab um zu gehen, im letzten Moment drehte er sich noch um: „Was du gemacht hast war mutig, aber auch töricht. Ich möchte nicht darauf schimpfen, denn manchmal ist es nur ein Messerstich eines Tollpatsches der den Gegner zu Boden wirft. Tue mir nur einen Gefallen, passe gut auf dich auf.“

Der junge Elb war von dieser Aufregung sehr erschöpft. Er legte seinen Brustpanzer ab und machte es sich auf seinem Bett bequem. Er schloss seine Augen und versuchte ruhig zu werden. Es dauerte zum Glück nicht lange bis seine Augen zufielen und er in einen schlafähnlichen Zustand fiel.
In jener Nacht lag ein Schatten auf den Wassern des Erwachens. Es war viele tausende Jahre her, dass ein Drache oder sonst eine Gestalt des dunkelsten aller Herrscher an diesen gesegneten Ufern war.
Caelîf verfolgte ein Traum. Er saß auf dem Schwemmholz, auf dem er bereits in den Abendstunden mit Rástor saß und blickte gedankenverloren über den See. Die Magie dieses Ortes hatte ihn in den Bann gezogen. Der westliche Himmel war verdunkelt und es war kalt. Aus den Wäldern hörte man ein Rascheln und ohne weitere Vorwarnung trat aus dem Dickich des westlichen Ufers ein übergroßer Wolf heraus. Sein Fell war zerfleddert, vermutlich von Rudelkämpfen. Er trat an den Rand des Wassers und begann intensiv am Boden zu schnuppern. Als er zu Caelîf herübersah, begann er zu knurren und fletschte seine Zähne. Plötzlich bemerkte der Elb etwas im Augenwinkel, er drehte seinen Kopf und sah einen weiteren Wolf direkt neben ihm. Noch eher er aufstehen und weglaufen konnte, sprang das Tier mit einem Satz auf ihn zu und attackierte ihn.

Sein Herz raste, sein Körper pulsierte als er aufgerichtet in seinem Bett erwachte. Schnell hob und senkte sich sein Brustkorb, mit jedem Absinken stieß er die Luft keuchend aus seinen Lungen.
„Caelîf?“, rief Alcôr in sein Zelt. Als er ihn sah, setzte er eine besorgte Miene auf „Ist alles in Ordnung?“
„Ja, nur ein Albtraum.“
„Und ich dachte schon, du hast eine junge Elbe aus dem Gefolge der Fürstin bei dir“, scherzte er „Wir brechen auf, mach dich fertig.“

In Windseile zog sich Caelîf an und brach seine Zelte ab. Rástor verkündete ihnen, dass sie ab hier nicht mehr mit Pferden weiterreiten konnten. Der Wald war zu dicht um auf den Rössern sitzen zu können, also ließen sie diese zurück. Einige der Elben blieben aber bei ihnen. Der weitere Pfad führte sie durch das dichte Unterholz Richtung Nordosten.
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Das Mal des Sternendrachen
« Antwort #21 am: 21. Okt 2019, 19:59 »
Während sich die Reisegruppe ihren Weg durch den dichten Wald im Land der Hwenti suchte, war Melvendë tief in Gedanken versunken. Geradezu automatisch setzte sie einen Fuß vor den anderen, im Gänsemarsch hinter Jarbeorn auf dem schmalen Waldpfad hergehend.
Der Drache beobachtet uns, war sie sich sicher. Er hat gesagt, dass er mich aufspüren kann, egal wo ich bin. Sollte ich wirklich zum Treffen der Stammesführer gehen, das Herion einberufen will? Wird das nicht einen Angriff des Sternendrachen geradezu provozieren?
Sie warf einen Blick zu Vaicenya, die weiter vorne gerade um einen großen Baumstamm herum bog. Die Dunkelelbin hatte dem Drachen allerlei Flüche und Verwünschungen hinterher gerufen, als das Ungetüm längst nur noch ein dunkler Punkt am Nachthimmel gewesen war. Würde sie die Kraft aufbringen können, den Drachen zu erschlagen? Und wenn es Vaicenya nicht tun würde, dann vielleicht einer der anderen talentierten Kämpfer, denen Melvendë in Palisor bereits begegnet war. Was war mit Lathiawen von den Hwenti? Oder einer der mächtigen Kinn-lai, von denen man schon so einige Gerüchte gehört hatte?
Zweifel nagten an Melvendë. Wenn ich zu diesem Treffen in der heiligen Stätte gehe, besteht die Möglichkeit, dass der Drache uns dort angreift. Doch... wenn wir damit rechnen, könnten wir ihm nicht eine Falle stellen? Vielleicht kann ich mich darin üben, seine nahende Gegenwart rechtzeitig wahrzunehmen, überlegte sie. Was, wenn sie eine Art Frühwarnsinn für die Präsenz des Sternendrachen entwickeln könnte, und somit sein Mal, mit dem er die Tatya-Elbin belegt hatte, gegen ihn verwenden würde?
"He, Stikke, du machst ein Gesicht, als wäre dir eine ganze Horde Rindviecher über die Leber gelaufen," brummte Jarbeorn und riss Melvendë damit aus ihren Gedanken.
"Mag sein," gab sie zurück. "Zumindest fühlt es sich in etwa so an."
"Worum geht's?" wollte der Beorninger wissen. "Wieder der Drache, hm?"
"Du hast es erfasst," murmelte Melvendë. "Ich wünschte, ich wüsste, welcher Art das Mal ist, mit dem er mich belegt hat."
"Ein Drachenmal," überlegte Jarbeorn. "Lass mich mal überlegen. Mir fällt da nur eine einzige Geschichte meines Volkes ein, in dem ein Drache erwähnt wird. Scatha, der Lindwurm. Einer der Pferdeherren - Vorfahren der tapferen Rohirrim - erschlug die Bestie, doch der Schatz, den er damit erbeutete, brachte ihm nichts als Ärger und letztlich den Tod. Man sagt, dass der Schatz mit dem Drachenzauber belegt worden sei, weil der Lindwurm so lange darauf gelegen war."
"Das würde also bedeuten, ein Drachenmal wird bei einer Berührung übertragen," mutmaßte Melvendë. "Wo hat er mich berührt..."
Sie dachte zurück an ihre erste Begegnung mit dem Sternendrachen, auf dem Gipfel der Frostspitze. Und ihr fiel ein, wie der Drache sie mit seinem gewaltigen geschuppten Schweif beiseite geschoben hatte, und dabei am gesamten Oberkörper berührt hatte. "Es muss irgendwo am Oberkörper sein," murmelte sie.
"Nun, ich denke, es ist zu kalt, um jetzt nachzusehen," meinte Jarbeorn.
Melvendë warf ihm einen finsteren Blick zu. "Ich werde dich ganz gewiss nicht nachsehen lassen."
Jarbeorn holte tief Luft. "Du verletzt mich, Stikke. Vertraust du mir etwa nicht?"
"Red keinen Unsinn, du übergroßer Bettvorleger. Aber es gibt Dinge, für die eine Frau nun einmal eine andere Frau braucht."
"Ah, so ist das also. Du willst Caelîf und mich also kategorisch ausschließen." Jarbeorns kaum unterdrücktes Grinsen zeigte ihr, wie ernst er diese Anschuldigungen meinte.
"Mein lieber Jarbeorn," begann sie. "Manchmal frage ich mir wirklich, ob es deine Mutter wirklich so versäumt hat, bei deiner Erziehung auch etwas Manieren einfließen zu lassen."
"Lass meine Mutter aus dem Spiel, Stikke!" grollte der Beorninger, ehe er lachen musste.
"Vielleicht sollte ich einmal ein ernstes Wörtchen mit der guten Dame reden," machte Melvendë ungerührt weiter. "Und ihr von den Schandtaten ihres Sohnes berichten. Glaube mir, sie sind zahlreich. Sehr zahlreich."
"Sie würde dir gefallen," meinte Jarbeorn. "Sie würde zuhören, nicken, und dich dann auf herzlichste Art und Weise zwingen, so viel Honigkuchen zu essen, bis dein Bauch zu platzen droht."
Jetzt lachte auch Melvendë. "Das würde mir wirklich gefallen," gab sie lächelnd zu.

Einige Meilen von Gan Lurin, dem Dorf der Hwenti entfernt begegneten sie um die Nachmittagszeig den ersten Elben, die im Wald auf der Beerensuche unterwegs waren. Die Hwenti bestaunten den ungewöhnlichen Zug von Reisenden, der da durch ihren Wald gepoltert kam, boten jedoch bald an, die Gruppe zu ihrem Dorf zu führen. Während sie dem Waldpfad nach Osten folgten, hing Melvendë erneut ihren Gedanken nach, denn Jarbeorn ging nun am vorderen Ende der Reisegruppe und unterhielt sich kameradschaftlich mit einigen der Hwenti, die ihn wiedererkannt hatten.
Ich frage mich, ob ich Gan Lurin überhaupt betreten sollte, dachte sie. Wird es den Drachen nicht anlocken? All die Unschuldigen, die dort leben, schweben meinetwegen in Gefahr... Sie seufzte. Ich sollte mit Herion darüber sprechen, entschied sie. Ich hoffe, er wird zu finden sein, wenn wir das Dorf erreicht haben.
"Bitte entschuldige die Störung," sagte eine Stimme neben ihr und Melvendë blickte auf. Der Pfad hatte sich weit genug verbreitert, dass zwei Personen nebeneinander gehen konnten, und mit anfänglichem Erstaunen entdeckte sie Caelîf, den seine lebhaften Schritte nun neben Melvendë geführt hatten. "Du scheinst tief in Gedanken zu sein. Eigentlich hätte ich allerdings eine Frage..."
Melvendë fiel auf, dass der junge Nurthaenarer sie voller Interesse betrachtete. "Hat diese Frage mit dem Drachen zu tun?" wollte sie wissen.
Caelîf gab ein verschämtes Lachen von sich. "Du triffst den Nagel auf den Kopf," gab er zu. "Wie... wie war das, als er dir gegenüberstand? Hat er zu dir gesprochen?"
"Zuerst hörte ich seine Stimme in meinen Gedanken," erklärte Melvendë leise. "Als er später nahe genug war, sprach er mich direkt an - so wie er es bereits auf der Frostspitze getan hat. Seine Stimme... war wie ein Donnergrollen."
"Das muss furchtbar gewesen sein," sagte Caelîf, der etwas bedrückt wirkte, aber den Kopf nicht hängen ließ.
"Es war... einschüchternd auf eine Art und Weise," sagte Melvendë nachdenklich. "Aber gleichzeitig verspürte ich diesen starken, inneren Ruf... dem Drachen zu widerstehen. Mich ihm entgegenzustellen. Das hat mich bei Verstand gehalten, glaube ich. Doch da ist auch das Mal des Drachen... Caelîf, er kann mich überall aufspüren, verstehst du? Ich... bin eine Gefahr für euch alle."
Caelîf nickte langsam. "Ich verstehe, denke ich," sagte er. "Du weißt nicht, wie du damit umgehen sollst,, nicht wahr? Vielleicht sollten wir mit Meister Rástor darüber sprechen. Er weiß immer einen Rat."
"Das ist eine gute Idee," befand Melvendë. "Das sollten wir t..."
Laute Stimmen rissen ihre Aufmerksamkeit auf sich. Vorne, am Anfang des Reisezuges war etwas im Gange. Neugierig und ein wenig besorgt hastete Melvendë vorwärts, auf die Stimmen zu, dicht gefolgt von Caelîf. Sie bogen um eine Wegbiegung und standen mit einem Mal am Rande des Waldes. Ganz in der Nähe erhoben sich die Palisaden von Gan Lurin. Und genau wie es bei Melvendës ersten Besuch im Dorf der Hwenti gewesen war, stand auch diesmal dessen Beschützerin auf dem Wehrgang oberhalb des hölzernen Tores, ein blankes Schwert in der Hand.
"Sieh mal einer an, wen die Waldpfade da vor unser Dorf geführt haben," spotette Lathiawen. Ihr Blick richtete sich auf eine der Personen, die wenige Schritte vor dem Tor zum Halten gekommen waren. Da waren Jarbeorn und Vaicenya, die etwas abwartend nach oben schauten, doch rasch entdeckte Melvendë, auf wen es Lathiawen tatsächlich abgesehen hatte...
"Die Höflichkeit der Hwenti lässt also auch nach all den Jahren immer noch zu wünschen übrig," erwiderte Nénsilmë, die Fürstin der Cuind mit kühler Stimme.
"Welch wundersame Zeiten dies sind, wenn die Mooresherrin tatsächlich einmal ihren geliebten Sumpf verlässt. Also, Nénsilmë - was bringt dich hierher, und was noch viel wichtiger ist - wieso sollte ich dich einlassen?"
Ehe die Herrin der Cuind etwas erwidern konnte, tauchte zu Melvendës Erleichterung Herion neben Lathiawen auf. "Friede, Lathia," sprach er. "Ich habe unsere Gäste dort eingeladen. Lass' die Tore öffnen und bitte sie hinein. Es gibt viel zu bereden."
Es dauerte keine Minute, bis sich die Tore langsam und knarrend öffneten. Einer nach dem anderen marschierten die Reisenden ins Innere des Dorfes zwischen den Hütten der Hwenti hindurch bis zu dem großen zentralen Platz, wo sich Herions Wohnsitz befand.
Ich hoffe, die Uneinigkeit unter den Avari-Stämmen ist nicht von Dauer, dachte Melvendë, als sie hinter Caelîf auf das große, wie ein Baumstamm geformte Gebäude zuging, indem der Herr von Gan Lurin seine Gäste nun empfangen würde...
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Rat der Avari
« Antwort #22 am: 16. Jan 2020, 17:27 »
„Willkommen," sagte Herion, der auf seinem Sitz im Inneren der runden Halle Platz genommen hatte, in der er einst auch Córiel, Jarbeorn und Vaicenya bei ihrem ersten Besuch in Gan Lurin empfangen hatte. "Ich bin froh, dass meine treuen Boten wohlbehalten zurückgekehrt sind, und freue mich über euren Erfolg, meine Freunde." Er nickte Melvendë freundlich zu, ehe er Fürstin Nénsilmë ansah. "Und ich bin froh, dich nach so langer Zeit wieder hier in Gan Lurin willkommen zu heißen, werte Nénsilmë."
Diese erwiderte den Blick, doch ihre Miene blieb hart. "Es waren nicht deine Worte, die mich überzeugten, mein Volk zurückzulassen," antwortete sie und warf einen Seitenblick auf Rástor, der neben ihr stand.
"Dann habe ich dein Eintreffen also ihm zu verdanken?" schlussfolgerte Herion, ehe er die rechte Hand auf seine Brust legte, um sich vorzustellen. "Ich bin Herion von den Hwenti, Wortführer von Gan Lurin."
"Mein Name ist Rástor, Vériarian von Nurthaenar," antwortete Rástor mit wohltönender Stimme. "Ich danke Euch für Eure Gastfreundschaft, Meister Herion. Euer Aufruf an die Stämme Palisors liegt auch mir auf dem Herzen, denn eine gute Freundin hieß mich, einen ganz ähnlichen Weg zu beschreiten. Unser Volk, die Gilthandi, lebten lange Zeit im Verborgenen, doch nun ist der Moment gekommen, in dem wir uns mit unseren einstigen Verwandten vereinen müssen, um die Bedrohung durch den Sternendrachen gemeinsam zu überstehen." Er verneigte sich und breitete die Arme in Richtung seiner beiden Begleiter aus. "Dies sind Alcôr und Caelîf, zwei meiner Begleiter. Da ich selbst bald nach Nurthaenar zurückkehren werde, werden diese beiden die Gilthandi vertreten und mit meiner Stimme sprechen, bis sich die Anführer der Stämme an der heiligen Stätte versammeln werden. Ich bitte Euch daher, Herion: Nehmt Alcôr und Caelîf in die Reihen Eurer Gesandten auf."
Herion wirkte erstaunt, aber auch erfreut. "Gerne gebe ich Eurem Gesuch statt, Vériarian Rástor. Alcôr und Caelîf sollen mit jenen gehen, die ich zu den Kinn-lai zu entsenden gedenke."
Nénsilmë verschänkte die Arme vor der Brust. "Mach dir keine Mühe, Herion. Bei den Kinn-lai werden deine Worte auf taube Ohren stoßen. Ihre Hitzköpfigkeit und Sturheit ist uns nur zu gut bekannt."
Bei diesen Worten geriet die Menge von Zuschauern, die sich im hinteren Teil der Halle gesammelt hatten, in wachsende Unruhe, bis sich eine dunkelblonde Elbin grob nach vorne drängte. Sie trug eine Rüstung, auf deren Brustpanzer ein stilisierter Stern mit einem roten Rubin im Zentrum prangte. Unter dem Arm hielt sie einen Helm, den sie offenbar vor Kurzem noch getragen hatte. "Hochmütige Worte von der Anführerin der treulosen Cuind," fauchte sie. "Ich habe nichts anderes von jenem Stamm erwartet, der es einst als Erster wagte, die Pflicht des Schutzes von Ayáninvë zu vernachlässigen!"
Dieser Ausbruch löste einen Aufruhr aus. Elben schrien wild durcheinander und standen kurz davor, aufeinander loszugehen. "Wer ist dieses respektlose, vorlaute Kind?" hörte Melvendë die Herrin der Cuind rufen, und auch die Antwort konnte sie mit einiger Mühe durch das Chaos hören: "Ich bin Telumenáryeldë, Tochter des großen Telumenáro! Und ich sage dir, stellvertretend für alle Kinn-lai: Wir brauchen weder dich noch deinen Stamm von Verrätern!"
Schließlich gelang es Herion mit großer Mühe, den Saal wieder zur Ruhe zu bringen. Nénsilmë und Telumenáryeldë, bei der es sich tatsächlich noch um eine relativ junge Elbin handelte, starrten einander wütend an, bis Rástor sich geschickt mit seinen Leuten zwischen die Streithähne manövrierte und ihnen so für den Augenblick die Sicht aufeinander nahm.
"Bitte beruhigt euch," bat Herion. "Wir können uns Streit und Uneinigkeit nicht leisten, wo der Schatten des Drachen so drohend über uns hängt. Nur gemeinsam können wir diese Gefahr für ganz Palisor abwenden."
"Das sehe ich ebenso," stellte Telumenáryeldë heftig klar. "Aber ich weiß, dass ihr scheitern werdet, wenn ihr die dort zu unseren Axan schickt."
"Sind damit die Ratsmitglieder der Kinn-lai gemeint, die den Fürsten deines Volkes wählen?" fragte Rástor mit Interesse nach.
"So ist es," sagte Telumenáryeldë. "Sie werden nicht mit Worten zu überzeugen sein, sondern mit Taten. Sie respektieren Stärke."
"Unzivilisierte Barbaren," hörte Melvendë die Fürstin der Cuind murmeln. Doch Nénsilmë ergriff nicht das Wort, sondern schien abzuwarten, was Herion tun würde. Dieser lehnte sich langsam in seinem Stuhl zurück. "Nun, junge Telumenáryeldë, du kennst deine Leute hier am besten. Würdest du dich bereit erklären, meine Gesandten nach Amon Yúla zu begleiten? Eine ortskundige Führerin wäre ihnen gewiss von großer Hilfe."
Die junge Kinn-lai reckte stolz das Haupt. "Das werde ich," versprach sie. "Sie dürfen ruhig mit mir kommen, wenn ich heimkehre. Solange die richtigen Leute dafür ausgewählt werden." Der Seitenhieb gegen Nénsilmë war nur allzu offensichtlich.
"So sei es," antwortete Herion, ohne auf den Spott einzugehen. "Vaicenya, Nénsilmë und ich werden hier in Gan Lurin bleiben, um Vorbereitungen für die Zusammenkunft der Stammesführer im Heiligtum von Ayáninvë zu treffen, während Lathiawen mit einigen anderen zu den Zwergen aufbrechen sollte, um ihnen von den Ereignissen zu berichten. Auch sie sind wichtige Verbündete, die wir in unserem Kampf gegen den Drachen nicht außer Acht lassen sollten. Alcôr, Caelîf und... Melvendë: euch drei würde ich bitten, mit unserer jungen Freundin hier zu ihrem Stamm gehen und die Kinn-lai überzeugen, sich dem Treffen anzuschließen. Ihr hattet bei den Cuind Erfolg und ich vertraue darauf, dass ihr mit Telumenáryeldës Unterstützung auch die Ohren der Kinn-lai erreichen könnt. Vatharon hingegen wird erneut zu den Kindi im fernen Süden reisen. Ich schlage vor, dass wir alle den kommenden Abend und die Nacht nutzen, um morgen ausgeruht aufbrechen zu können. Mögen all jene Fahrten von Erfolg gekrönt sein."

Der Saal des Ältesten von Gan Lurin leerte sich langsam. Jarbeorn sprach noch einige Zeit leise mit Herion, während Melvendë geduldig darauf wartete, dass der Beorninger das Gespräch beendete. Als er schließlich zur ihr herübergeschlendert kam, sah sie ihm im Gesicht an, dass er eine wichtige Entscheidung getroffen hatte.
"Meister Herion hat mich gebeten, mit Lathiawen zu den Zwergen zu gehen," sagte Jarbeorn.
"Und weshalb erzählst du mir das, als bräuchtest du meine Erlaubnis dazu?" neckte sie ihn.
"So ist es nicht gemeint, Stikke," erwiderte Jarbeorn schmunzelnd. "Es ist nur so... wir sind nun so lange gemeinsam unterwegs gewesen, seitdem ich dich aus diesem seltsamen Teich im Goldenen Wald gezerrt habe. Und nun führen unsere Wege in gegenüberliegende Richtungen."
"Ist das etwa Trennungsangst, die ich da heraushöre?" trieb sie ihren Spott auf die Spitze.
Jarbeorn lachte. "Auf gewisse Art und Weise hast du womöglich sogar recht," meinte er. "Vermutlich habe ich mich einfach zu sehr daran gewöhnt, dich an meiner Seite zu haben."
"Es ist ja kein Abschied für immer," meinte Melvendë beschwichtigend. "Wenn du bei den Zwergen gewesen bist, machst du dich auf den Weg nach Ayáninvë. Lathiawen kennt sicherlich den Weg dorthin. Dann treffen wir uns dort, wenn ich bei den Kinn-lai gewesen bin."
"Aber wehe du vermöbelst diesen Drachen ohne mich," warnte der Beorninger.
"Ich werde, so gut ich kann, damit auf dich warten, du riesiger, sentimentaler Bettvorleger," versprach sie grinsend.

Als die Sonne untergegangen war, beschloss Melvendë, einen kleinen Spaziergang durch das Dorf zu machen. Jarbeorn hatte beschlossen, nach Lathiawen zu suchen, während Vaicenya in Herions Halle geblieben war, um mit dem Ältesten über ihre bevorstehenden Planungen zu sprechen. Es waren zu dieser Tageszeit nur noch wenige Hwenti unterwegs. So kam es, dass Melvendë nach einiger Zeit, tief in Gedanken, plötzlich an einer kleinen Wiese am hinteren Rand des Dorfes stand, die von einer flachen Hecke sowie der Dorfpalisade begrenzt wurde. Als Melvendë interessiert näher kam, fielen ihr eine Vielzahl von flachen Steinen auf, in die eindeutig elbische Schriftzeichen eingraviert worden waren. Sie stellte fest, dass es sich dabei um Namen handelte, und verstand: Sie stand auf einer Art Friedhof, wo diejenigen der Hwenti, die zu Mandos' Hallen gegangen waren, ihre Körper zur Ruhe gelegt hatten.
Eine sanfte Brise strich durch Melvendës Haar, das sie ausnahmsweise offen trug. Beinahe war es ihr, als würde sie die sanften Stimmen derer, die fortgegangen waren, im Wind hören. Sie musste an die vielen Freunde denken, die sie einst in ihrem Leben vor der Ankunft der ersten Schatten gehabt hatte, und die sie bis auf Vaicenya und Tarásanë allesamt verloren hatte. Schwermütig hob sie den Blick zu den Sternen hinauf, die inzwischen herausgekommen waren und begann nach einiger Zeit des Schweigens, mit leiser Stimme ein Lied zu singen.

Von den Bergen herab durch die Wildnis der Wälder
fließt das klare Wasser im Waldfluss zum See,
Wo einst unter dem Licht der altehrwürd'gen Sternen
Unser Leben begann, als das Feuer ward jung

Sanfter Regen benetzt mein Haar
Eine Stimme erklingt, so hell und klar
Im Verborgenen einst ward ihr Lied erdacht
Als die Welt noch jung war und wir erst erwacht...

Ihre Stimme verhallte. Melvendës Hände waren ineinander verklammert, als sie sich langsam umdrehte. Dort, am Eingang des Friedhofes, stand jemand.
"Das war ein schönes Lied," sagte Caelîf etwas schüchtern.
Melvendë sollte eigentlich überrascht von seinem plötzlichen Auftauchen sein, doch sie war es nicht - den Grund dafür kannte sie nicht. "Tarásanë hat es einst zum ersten Mal gesungen," erzählte sie.
"Du meinst... die Herrin der Quelle?"
"Ja," antwortete sie. "Sie war... nein, sie ist mir eine teure Freundin."
Caelîf schwieg einen langen Augenblick. Dann schien er sich ein Herz zu fassen und sagte: "Ich bin froh, dass wir gemeinsam zu den Kinn-lai gehen werden. Denkst... denkst du, wir werden Erfolg haben?"
Melvendë musste lächeln. Irgendwie war es dem Jungen gelungen, ihren Schwermut mit seiner unschuldigen Frage zu vertreiben. "Wir werden das schon hinbekommen, Caelîf," sagte sie zuversichtlich. Ganz egal, wie schwer es werden mag."
Caelîf nickte. "Komm," sagte Melvendë. "Gehen wir zurück zu den Anderen. Ich habe noch die eine oder andere Frage an deinen Meister, ehe er nach Nurthaenar zurückkehrt."
« Letzte Änderung: 11. Feb 2021, 07:20 von Fine »
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Abschied aus Gan Lurin
« Antwort #23 am: 21. Jan 2020, 07:23 »
„Für wen hast du denn dieses Lied gesungen?“, fragte Caelîf als sie am Weg zurück waren.
„Über so viele Jahre habe ich viele meiner Freunde verloren, ich dachte nicht an jemanden bestimmten“, antwortete sie. Es wirkte aufrichtig.
„Hat die Herrin der Quelle dieses Lied auch für dich gesungen – an deinem Grab?“
Melvendë blieb abrupt stehen und schaute ihn an: „Vor dir muss ich mich hüten“, sagte sie leicht erregt „Ja das hat sie, aber darüber möchte ich nicht sprechen.“
„Es tut mir leid“, entschuldigte er sich augenblicklich. Ein weiteres Wort traute er sich nicht mehr zu sagen. Mit einer Handbewegung deutete er ihr den Weg und sie ging weiter.

Als sie sich dem Gebäude im Zentrum des Dorfes näherten, bemerkten sie eine Unruhe. Es schienen weitere Elben angekommen zu sein und anhand ihrer braunen, recht einfachen Kleidung glaubt Caelîf, dass es sich um die Kindi aus Awld-Aronémer handelte. Von der Neugier gepackt eilte er in die Ratshalle und tatsächlich Yindial war ebenfalls angekommen.
„Mein Herr Rástor, was ist passiert“, fragte er aufgeregt.
„Nun, ein paar Momente nachdem du den Raum verlassen hast teilte man uns mit, dass die Kindi aus dem Westen vor den Toren stehen. Yindial begehrt an der Reise zu ihrem Vater nach Süden teilzunehmen. Du kannst dir vorstellen, was das für Diskussionen ausgelöst hat. Nénsilmë hat keine Gelegenheit ausgelassen um die Kinn-lai zu attackieren. Dass sie sich auf die Seite der Kindi stellt ist wohl auch zu ihrem eigenen Nutzen.“
„Und kann sie mitreisen?“
„Ja, Meister Herion hat ein Machtwort gesprochen. Immerhin ist Vatharon sein Gesandter.“
„Also ist alles zum Besten verlaufen!“, stellte der junge Elb fest.
„Das wird sich wohl erst zeigen“, antwortete er.
„Wo warst du denn?“, fragte nun Rástor.
„Ich habe mir Gan Lurin angeschaut und bin auf Co… Melvendë gestoßen, aber ich fürchte ich habe sie verärgert“, gestand Caelîf „Es ist sicher nicht leicht, wenn sich zwei Personen in einem Körper befinden.“
„Das sicher nicht, aber es ist auch nicht so schwer wie du es dir vorstellst. Im Grunde genommen sind wir alle nicht nur eine Person. Du bist der Sohn deiner Eltern, der Bruder deiner Geschwister, der Onkel deiner Neffen, Freund deiner Freunde und Mitglied einer Gemeinschaft… Das alleine sind fünf Personen in einem Körper. Im Kern sind sie alle sehr ähnlich, aber im Außen reagieren sie jeweils anders auf ihr Gegenüber. Der Unterschied ist, wir wachsen mit all unseren Ichs auf, Melvendë wurde es in wenigen Augenblicken offenbart. Sie braucht wohl ein wenig Zeit dies zu akzeptieren.“
„Das klingt irgendwie schlüssig.“
„Sei rücksichtsvoll, wenn du mit ihr sprichst“, bat er den jungen Elben.
„Meint ihr nicht, dass dieser Gemeinschaft noch ein sturer, unsensibler und leicht aggressiver Charakter fehlt?“, fragte er seinen Herrn, deutete dabei unauffällig auf Nensilmë und versuchte sein Grinsen zu unterdrücken.
„Ich hoffe das hat sie nicht gehört“, konterte der grauhaarige Elb.

In den folgen Stunden zog sich Caelîf in seine Herberge zurück. Er hatte sich eines der Bücher aus der großen Halle mitgenommen und stöberte in den Seiten. Die meisten Wörter konnte er aufgrund der Ähnlichkeit verstehen, manche allerdings nicht und so widmete er sich in erster Linie dem Kartenmaterial und den Zeichnungen. Er verbrachte einige Stunden damit das wichtigste des Tages für seine Reiseaufzeichnungen niederzuschreiben, dann aber widmete er sich etwas, das ihm sehr am Herzen lag: Er schrieb einen Brief an seine Familie.

Es ist schwer so viele Eindrücke in so wenigen Worten niederzuschreiben… Und wie kann ich ihnen sagen, dass es die beste Entscheidung war fortzugehen ohne sie zu verletzen? Und wie kann ich ihnen sagen, dass ich Sehnsucht nach Nurthaenar habe ohne gleich Besorgnis bei ihnen auszulösen? Ich hoffe nur, dass sie stolz auf mich sind und dass Rástor nur die guten Erlebnisse aufzählt. Nicht den Teil wo ich im Schlamm des Kupferflusses landete und völlig schmutzig in Awld-Aronemér angekommen bin. Ich höre sie schon darüber lachen.

Er war so darin vertieft die richtigen Worte zu finden, dass er die Zeit vollkommen übersehen hatte. Ein Klopfen an der Tür riss ihn aus seinen Gedanken.
„Bist du bereit für die Abreise“, fragte Alcôr der bei der Tür hereinschaute.
„Ähm… ja, einen Augenblick brauche ich noch.“
Er verfasst die hurtig die letzten Zeilen: …Es ist schon wieder an der Zeit aufzubrechen, sodass ich diesen Brief nicht in geeigneter Form beenden kann. Ihr fehlt mir sehr, aber umso schöner wird es sein, wenn wir einander wiedersehen. In Liebe euer Caelîf.

So schnell er konnte, packte er seine Sachen zusammen und eilte auf die Straße hinaus. Die gerüsteten Soldaten der Kinn-lai standen bereits außerhalb des Tores, Coriel verabschiedete sich noch von Jarbeorn. Er konnte erkennen wie seine Augen wässrig wurden. Auch Vatharon und Yindial hatten sich zum Abmarsch bereit gemacht. Einen Teil des Weges gingen sie wohl gemeinsam. Der junge Elb suchte Rástor auf und übergab ihm den Brief und den ersten Teil des Reiseberichtes.
„Ich werde es deinem Vater überreichen sobald wir in Nurthaenar angekommen sind.“
„Vielen Dank.“
„Und nun ist es an der Zeit aufzubrechen, junger Freund. So wie Melvendë hast auch du nun die Chance ein neues Ich kennen zu lernen, denn eine neue Aufgabe wartet auf dich. Gehe mit den besten Wünschen unsers Volkes und dem Segen Illúvatars.“
Er verneigte sich vor Rástor. Als er sich dem Tor näherte spürte er seinen Herzschlag schneller und lauter werden.

„Auf geht’s!“, rief ihm Alcôr entgegen der bereits nahe den Soldaten der Kinn-lai wartete.
„Bist du auch so nervös wie ich?“, fragte Caelîf etwas betreten.
„Wer wäre nicht aufgeregt, da uns ein solches Abenteuer bevorsteht. Aber wir haben ganz angenehme und ansehnliche Begleitung“, flüsterte er und hatte ein freches Grinsen im Gesicht. Mit einer unscheinbaren Kopfbewegung deutete er auf die junge Gardistin der Kinn-lai die am Vorabend so feurig das Wort ergriffen hatte. Caelîf war überrascht, denn so hatte er Alcôr noch nie wahrgenommen, allerdings kannte er ihn auch nicht so gut.
„Und, seid ihr bereit?“, kam plötzlich die Stimme von Melvendë aus dem Hintergrund.
Beide Elben nickten ihr zu.
„Ich hoffe, ich bin dir gestern nicht zu nahegetreten“, hakte Caelîf nochmals nach.
„Gestern Abend? Ich bitte dich, daran habe ich gar nicht mehr gedacht“, tat sie seine Versöhnung ab.

Dann brachen sie auf.
1. Char Elea ist in Bree  -  2. Char Caelîf ist in Palisor

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Zwei Namen, zwei Leben
« Antwort #24 am: 23. Jan 2020, 17:49 »
Telumenáryeldë marschierte entschlossenen Schrittes voraus, in südwestlicher Richtung vom Dorf der Hwenti fort. Alcôr, Caelîf und Melvendë folgten ihr entlang eines sich windenden Waldpfades, auf dem sie immer wieder herabhängenden Ästen oder in den Weg hinein wachsenden Büschen ausweichen mussten. Es war Mittag, doch von der Sonne war kaum etwas zu sehen unter dem dichten Blätterdach des Waldes. Auf der Ebene hätten die vier Elben vermutlich gefroren, doch der Wald schien noch ein wenig Wärme gestaut zu haben, weshalb ihnen schon bald warm vom Marschieren wurde.
Mit leichter Belustigung beobachte Melvendë den dunkelhaarigen Alcôr, der vor ihr ging. Die verstohlenen Blicke, die der Nurthaenarer der jungen Kinn-lai-Wächterin zuwarf, waren Melvendë nicht entgangen. Gerade wollte sie sich zu Caelîf umdrehen, um eine dezente Bemerkung fallen zu lassen, als dieser seine Schritte beschleunigte und sich neben die Tatya setzte. Der Pfad war etwas breiter geworden und ließ zu, dass zwei Reisende bequem nebeneinander gehen konnten.
"Ich habe eine Frage an dich," begann Caelîf, wie üblich etwas zurückhaltend.
"Das trifft sich gut," antwortete Melvendë. "Ich wollte dich ebenfalls etwas fragen."
"Dann, nur heraus damit!" bot er sofort höflich an.
"Unsinn, das kann warten. Du hast zuerst gefragt."
"Aber -"
"Raus mit der Sprache, Caelîf," beendete sie freundlich, aber mit etwas Nachdruck die Diskussion.
"Also, ich..." begann der Junge. "Ich wollte dich fragen, naja, also mit welchem Namen ich dich ansprechen soll. Vorgestellt wurdest du mir von der Herrin der Quelle als Córiel, du selbst nennst dich seit unserem ersten Treffen im Cuindar-Moor jedoch Melvendë."
"Ich entschuldige mich für die Verwirrung," sagte Melvendë lächelnd. "Ich bin mit beiden Namen zufrieden, schätze ich. Aber... dieses Land weckt meine ältesten Erinnerungen und macht mich mehr und mehr zu der Elbin, die ich damals war... damals, als Sonne und Mond noch viele Jahrtausenden nicht am Himmel stehen sollten. Seit Cuiviénen erscheint es mir... nein, fühle ich mich nicht mehr wie Córiel. Als hätte ich diese Identität nur als Platzhalter verwendet, nach meiner Rückkehr nach Mittelerde. Und jetzt, nach all den Jahren, mein wahres Ich wiederentdeckt."
Caelîf nickte. "Ich denke, ich verstehe," sagte er. "Dann werde ich bei Melvendë bleiben, solange es angebracht ist."
"Solange es angebracht ist?" wiederholte Melvendë fragend.
Der junge Elb blickte verlegen beiseite. "Ich wollte sagen, für den Fall dass du deinen Namen wieder änderst, würde es..."
"Schon gut, schon gut," lachte Melvendë. "Mach' dir keine Sorgen. Ich sagte ja bereits, dass ich auch mit mehreren Namen gut leben kann. Weißt du, wie Jarbeorn mich nennt?"
"Ich habe den Namen gehört, aber ich kenne seine Bedeutung nicht," entgegnete Caelîf vorsichtig, mit hörbarem Interesse.
"Es ist ein Wort aus der Sprache der Beorninger, dem Volk Jarbeorns, und bedeutet "Stachel" - er bezieht sich damit auf den Speer, den ich lange Zeit im Kampf verwendet habe." Inzwischen war Melvendë mit einem Schwert, Bogen und einem leichten Schild bewaffnet: Waffen, die aus Herions Besitzt stammten und die sie sich kurz vor dem Aufbruch aus Gan Lurin ausgesucht hatte.
Caelîf lächelte. "Es scheint eine Art Spitzname zu sein, und nicht gerade einer von der liebenswürdigen Art," vermutete er.
"Anfänglich zog er mich damit auf, als wir uns noch nicht so gut kannten. Aber ich habe mich daran gewöhnt," antwortete sie.
"Es war deutlich zu sehen, dass euch beiden ein enges Band verbindet," fuhr Caelîf fort. "Ich frage mich nur, ob..."
Melvendë hob die Hand. "Ich unterbreche dich besser gleich," sagte sie und legte den Kopf schief. "Jarbeorn ist ein enger und guter Freund und Kamerad. Mehr nicht."
Caelîf wurde rot. "Verstehe," murmelte er.
"Mach dir nichts draus!" erwiderte sie. "Du bist nicht der Erste der die falschen Schlüsse gezogen hat." Sie betrachtete Caelîf einen Augenblick, dann fragte sie: "Wie sieht es bei dir aus, Caelîf? Gibt es jemanden, der dir... wichtig ist?"
"Meine Eltern, meine Großmutter, Meister Rástor..." antwortete Caelîf sofort.
"Du weißt, wie die Frage gemeint war," neckte sie ihn.
Doch Caelîf blieb ihr die Antwort schuldig. Ehe Melvendë nachhaken konnte, gelangten sie an eine Weggabelung und die Gruppe versammelte sich um ihre Führerin.

Drei Pfade führten nach Südwesten, Südosten und direkt nach Osten weiter. Direkt an der Kreuzung stand ein uralter, verwitterter Markstein, in den stark verblichene Runen eingraviert worden waren.
"Ich vermute, wir werden dem Weg weiter nach Südwesten folgen?" äußerte sich Alcôr als Erster.
"Das wäre dumm," entgegnete die junge Kinn-lai, so direkt wie es ihre Art zu sein schien. "Dieser Weg führt aus Dalvarinan hinaus, auf die westlichen Ebenen, und ist nicht sicher. Dort wurden immer wieder Orks gesichtet. Außerdem zieht sich der Pfad in vielen Biegungen durch unstetes Gelände dahin. Letzten Endes ist es ein großer Umweg."
"Welchen Weg schlägst du also vor, Telumenáryeldë?" wollte Melvendë wissen.
Die junge Kriegerin begegnete ihrem Blick. "Wir sind hier nicht in der Halle irgendwelcher hochwürdigen Persönlichkeiten," sagte sie. "Ich bin Náriel. Das ist kürzer und praktischer."
"Dann also Náriel," sagte Melvendë und nickte freundlich. Passt zu ihrer Haarfarbe genauso gut wie zu ihrer Persönlichkeit, dachte sie bei sich. "Du kennst dich hier aus, und bist den Weg vom Gebiet der Kinn-lai nach Gan Lurin erst vor Kurzem gegangen. Wo geht es für uns weiter?"
"Nach Südosten," antwortete Náriel. "Wir durchqueren dort das dichteste Stück Wald und verlassen dann das Tal von Dalvarinan, um Kinn-lai-Land zu betreten. Die Gegend, in die wir dann kommen, wird Taurannor genannt. Sie ist etwas weniger dicht bewaldet, obwohl sie inmitten des Wilden Waldes von Palisor liegt. Im Zentrum von Taurannor liegt Amon Yúla, der Sitz des Rates der Axan - den Anführern der Kinn-lai."
"Dann sollten wir keine Zeit mehr verlieren," schlug Alcôr vor.
Náriel nickte. "Wenn wir das Tempo beibehalten, schaffen wir es noch heute über die Grenze Dalvarinans hinüber. Dann wären wir nur noch vier Tagesmärsche von Amon Yúla entfernt."
"Gut, machen wir uns auf den Weg," stimmte Melvendë zu.
So folgten sie Náriels Rat und nahmen den Weg nach Südosten, der nun beinahe schnurgerade durch den dichten Wald führte. Melvendë kam es vor, als ginge es stetig sanft bergab. Mit jedem Schritt schienen die Bäume näher an den Pfad zu rücken, sodass sie schon bald im Gänsemarsch einer hinter dem anderen hergehen mussten. Diesen Zustand behielt der Weg einige Meilen lang bei, bis sie urplötzlich aus dem Dickicht heraus auf eine Lichtung kamen. Hier bog der Weg scharf nach Rechts ab und führte ab diesem Punkt wieder in richtige Himmelsrichtung. Wie Náriel vorausgesagt hatte, wurden die Abstände zwischen den Bäumen beinahe sofort sehr viel größer und der Wald wirkte offen und einladend. Diesem Zustand zum Trotz blieben sie auf dem Weg, um nicht die Orientierung zu verlieren. So verließen sie das Tal von Dalvarinan und gelangten ins Land der Kinn-lai...


Caelîf, Náriel, Melvendë und Alcôr nach Taurannor
« Letzte Änderung: 12. Apr 2020, 20:14 von Thorondor the Eagle »
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