Músab, Aerien, Aglarân, Narissa, Gatisen, Alára und Abdul mit dem königlichen Heer Kermas aus der HauptstadtDas hastig zusammengezogene Heer war unter großen Anstrengungen in einem Gewaltmarsch entlang der Nordstraße Kermas marschiert. Große Sorgen trieben es an, denn je weiter es kam, desto mehr Berichte von der Grenze trafen ein. Fliehende Menschen, die den Soldaten entgegenkamen, erzählten von Verwüstung in den Gebieten jenseits der großen Burg von El Kurra und von marodierenden Banden von Plünderern, die im Auftrag des Tyrannen Kashta durch die umliegenden Dörfer zogen und Tod und Leid hinterließen.
Aerien war den Großteil des Weges schweigend neben Narissa hergeritten. Ihre Pferde, Grauwind und Karab, waren nach dem kurzen Aufenthalt in der Hauptstadt Kermas genügend ausgeruht gewesen, um die nächste Reise anzutreten. Während sie auf der Nordstraße zur Grenze gezogen waren, hatte die bevorstehende Schlacht Aerien die Lust an Unterhaltungen verdorben, was sich auch auf Narissa ausgewirkt hatte. Nur hin und wieder hatten sie ein paar Worte miteinander gewechselt. Beide hatten sich innerlich auf das vorbereitet, was nun kommen würde.
Als die Burg von El Kurra am Horizont aufgetaucht war, hatten die Kermer erleichtert aufgeatmet. Die Festung stand noch und es stieg auch kein Rauch von den Mauern auf. Sie waren rechtzeitig eingetroffen. Einige lokale Truppenverbände waren bereits vor Ort, um die Garnison der Burg zu verstärken. Doch die Freude währte nicht lange. Von Músab entsandte Kundschafter kehrten bereits nach wenigen Minuten zurück und sie alle berichteten dasselbe: Kashtas Armee war dem Heer des Königs zahlenmäßig deutlich überlegen, und es war nur noch eine kurze Entfernung von El Kurra entfernt.
Hastig ließ Músab seine Krieger auf der Ebene außerhalb der Festung antreten und seine Kommandanten brachten die königliche Streitmacht in Formation. In die vordersten Reihen bezogen schwere kermische Schildträger Position, verstärkt durch die Männer aus Músabs königlicher Garde und den Jägern von Aryasel. Den linken Flügel des Heeres stellte Músab unter das Kommando Abduls von Assuit, der selbst ein erfahrener Heerführer war. Den rechten Flügel befehligte General Aspelta, während das Zentrum der Streitmacht von Taloraqen, dem Burgvogt von El Kurra angeführt wurde. Músab selbst stellte sein Banner auf einem flachen Hügel hinter der linken Flanke auf, von der er das gesamte Schlachtfeld überblicken konnte. Für seinen Schutz sorgten sein Bruder Alára, der schweigsame Gardist Aglâran und der Rest der Palastwachen sowie die Garnison der Burgwächter von El Kurra. Auch Aerien und Narissa hatten sich dort eingefunden. Beide hatten nur wenig Interesse daran, persönlich an der Schlacht teilzunehmen und dadurch eine Verletzung oder gar den Tod zu riskieren. Sie würden aus der relativen Sicherheit von Músabs Kommandoposten den Verlauf der Schlacht beobachten und auf das Beste hoffen.
Eine gewaltige Staubwolke am nördlichen Horizont kündigte nur wenige Minuten später das Eintreffen der feindlichen Streitmacht an. Als die Armee Kashtas nahe genug heran gekommen war, konnte man erkennen, dass sie unter dem Banner Kermas marschierte, das durch ein stilisiertes schwarzes Auge ergänzt worden war. Eine nur allzu deutliche Erinnerung daran, dass sich der Tyrann, der Músab stürzen wollte, auf Unterstützung aus Mordor verließ.
Aerien hatte erwartet, dass vor Beginn der Schlacht eine letzte Verhandlung zwischen den verfeindeten Anführern der beiden Heere stattfinden würde, doch Kashta schien dafür keine Geduld übrig zu haben. Kaum hatten seine Soldaten ihre Kampfformation eingenommen, erschallten von Norden Hörner, die das Heer der Invasoren zum Angriff aufriefen. Ein Teil der Truppen Kashtas bestand, soweit Aerien es erkennen konnte, aus Kermern, doch der Großteil der Soldaten Kashtas schienen Haradrim von anderen Stämmen zu sein. Darüber hinaus verfügten sie über mehr Reiter, von denen ein Teil anstatt auf Pferden auf dem Rücken von Kamelen in die Schlacht zog. Obwohl sie Músabs Heer zahlenmäßig deutlich überlegen waren, verfügten sie jedoch nicht über Mûmakil. Auf der Seite der Loyalisten waren zwei der gewaltigen Ungetüme aufgestellt worden, eines an jeder Flanke. Aerien hoffte, dass die mächtigen Kreaturen den Nachteil, in dem sich Músabs Heer befand, ausgleichen würde.
"Die rechte Flanke soll sich dagegen wappen, von Kavallerie angegriffen zu werden," befahl Músab, der aufmerksam beobachtete, wie Kashtas Armee vorrückte. "Es muss verhindert werden, dass sie unserem Zentrum in den Rücken fallen können. Das Heer soll sich zunächst defensiv verhalten, bis sich eine Gelegenheißt zum Vorstioß zwischen die feindlichen Reihen ergibt." Boten eilten davon, um die Befehle ihres Königs weiterzuleiten. Die verfeindeten Streitmächte waren inzwischen nur noch einen Steinwurf voneinander entfernt. Die kermischen Bogenschützen auf beiden Seiten eröffneten das Feuer und sorgten für erste Verluste und etwas Unordnung in beiden Formationen. Dann schwoll das Getöse auf dem Schlachtfeld zu großem Lärm an, als die vordersten Krieger Kashtas auf die Schildträger in Músabs Frontlinie trafen und die eigentliche Schlacht begann.
Von ihrer Position auf Músabs Hügel konnte Aerien den Verlauf der Schlacht recht gut im Auge behalten. Die Vorsicht hatte sie dazu gebracht, einen Teil ihrer Rüstung anzulegen, die sie aus Tol Thelyn mitgebracht hatte. Brust, Schultern und Oberarme waren in Stahl gehüllt und ihr Schwert hing auf ihrem Rücken. Narissa hingegen hatte auf zusätzlichen Schutz verzichtet und trug ihre gewöhnliche Reisekleidung. Aerien wusste, dass ihre Freundin trotzdem gut auf sich aufpassen konnte und es bevorzugte, flink und beweglich zu bleiben.
Aerien beobachtete, wie die Krieger Kermas dem ersten Ansturm standhielten. Bogenschützen feuerten über die Köpfe ihrer Verbündeten hinweg und die Mûmakil waren wie zwei gewaltige Felsen in der Brandung, die die Flanken der Kermer verankerten. Pferde und Kamele scheuten vor den mächtigen Tieren und hielten die feindlichen Reiter davon ab, Músabs Streitmacht zu flankieren.
"Ich glaube, es läuft einigermaßen gut für uns," sagte Aerien zu Narissa, die einen ihrer Dolche in der linken Hand kreisen ließ, während sie den Ablauf des Gefechts beobachtete.
"Es hat gerade erst begonnen," erinnerte Narissa ihre Freundin. "Wir werden sehen, ob sich das Blatt wendet." Narissa hatte darauf bestanden, die Pferde ganz in der Nähe anzubinden, um sich die Möglichkeit der Flucht stets offen zu halten.
Erste Meldungen von den Kommandanten unten auf dem Schlachtfeld trafen ein und wurden an Músab überbracht. Der König nahm die Botschaften geduldig entgegen und schickte die Boten mit neuen Befehlen nach unten, während er an der Spitze des Hügels stand und den Blick niemals von der Schlacht abwendete. Und so vergingen viele Minuten, in denen sich das Bild, das sich Aerien und Narissa bot, kaum änderte. Kashtas Armee versuchte weiterhin, Músabs Zentrum zu überrennen und seine Flanken zum Einbrechen zu bringen, doch die Loyalisten kämpften standhaft dagegen an und trieben die Haradrim in Kashtas Diensten wieder und wieder zurück. Beide Seiten erlitten Verluste, doch das Kräfteverhältnis verschob sich in der ersten halben Stunde der Schlacht nicht entscheidend.
All dies änderte sich, als der Mûmak an der linken Flanke in die Knie ging und vor Schmerzen aufbrüllte. Irgendwie war es den Reitern Kashtas gelungen, das Ungetüm zu Fall zu bringen, und als der gewaltige Körper auf den flachen Boden der trockenen Ebene aufschlug, bebte die Erde. Die linke Flanke geriet in Unordnung und das Banner von Assuit, das König Abdul geführt hatte, ging im Gewirr des Gefechts verloren. Der Fall des Mûmaks hatte eine große Staubwolke aufgewirbelt, die die Sicht auf die linke Flanke deutlich erschwerte. Schemenhafte Gestalten waren zu erkennen, die miteinander kämpften, doch Freund und Feind waren kaum noch auseinander zu halten.
"Aspelta soll Verstärkung zur linken Flanke entsenden und sie um jeden Preis stabilisieren," befahl Músab einem der Boten, der sogleich in der sich nur langsam legenden Staubwolke verschwand. Doch kaum einen Augenblick später tauchte der Bote wieder auf, mehrere Schritte rückwärts taumelnd, ehe er von einem Pfeil getroffen tot zusammenbrach. Aus dem Staub hervor brach eine große Zahl der Krieger Kashtas, die es geschafft hatten, an den Verteidigern der linken Flanke vorbei zu gelangen und die nun Músabs Kommandoposten direkt angriffen.
Aerien drehte sich erschrocken um, um sich in Richtung der Pferde zurückzuziehen, doch es war zu spät. Reiter Kashtas hatten den Hügel, auf dem der König Kermas Stellung bezogen hatte, eingeschlossen. Es gab kein Entkommen.
Die Gardisten des Königs formierten sich in einem Ring um ihren Herrn, der sein Schwert gezogen hatte. Músabs Bruder Alára, der in jeder Hand eine Axt trug, schien es kaum erwarten zu können, Blut zu vergießen. Auch Aerien und Narissa bewaffneten sich, gerade rechtzeitig bevor der Angriff auf den Hügel begann. Chaos breitete sich aus, als sich die Haradrim Kashtas von allein Seiten auf die wenigen Verteidiger des Königs stürzten.
Einige Minuten gelang es den Wächtern des Königs, die Angreifer abzuwehren, doch dann öffnete sich eine Lücke in ihren Reihen, als zwei Gardisten kurz nacheinander von Armbrustbolzen getroffen zu Boden gingen. Mehere brüllende Krieger warfen sich dem König persönlich entgegen, der ihren waghalsigen Vorstoß mit einem schnellen Schwertstich beendete. Doch nun, da die Formation der Verteidiger aufgebrochen war, brach heilloses Chaos auf dem Kommandoposten Músabs aus. Überall tauchten neue Feinde auf und schon bald war ein jeder gezwungen, ums nackte Überleben zu kämpfen.
Aerien gelang es anfänglich gut, sich gegen die Angriffe zur Wehr zu setzen. Da Narissa ihr den Rücken deckte, konnte sie mehrere der, bei ihrem Anblick etwas unvorsichtiger werdenden Feinde, mit ihrer Klinge töten. Blut tropfte von dem Schwert auf den trockenen Boden des Hügels hinab, während das Gefecht mit unverminder Härte weiterging. Aerien sah, wie Alára wie ein Berserker unter den Haradrim wütete, ehe sie sich bereits neuen Gegnern gegenüber wiederfand. Mit einem raschen Blick über die Schulter stellte sie fest, dass Narissa verschwunden war. Doch sie hatte keine Zeit dafür, sich nach ihrer Freundin umzusehen. Schon drangen die Haradrim gegen sie vor und Aerien gelang es nur mit Mühe, die mit langen Speeren geführten Stiche mit ihrer eigenen Klinge zu parieren. Sie machte zwei schnelle Schritte rückwärts, um etwas Abstand zu gewinnen und sich Luft zu verschaffen. Da schwirrte ein verirrter Pfeil heran und traf einen der Haradrim ins Auge. Schreiend ging der Mann zu Boden. Aerien nutzte die Verwirrung und sprang vor. Ein Überkopfhieb ihres Schwertes spaltete den Helm des zweiten Feindes.
Schwer atmend blieb sie stehen und blickte sich nach Narissa um. Zu ihrer Erleichterung entdeckte sie ihre Freundin in einiger Entfernung, als Narissa gerade einem feindlichen Kermer die Kehle durchschnitt, um gleich darauf wieder im Chaos der Schlacht unterzutauchen. Aeriens Sorge minderte sich ein wenig und sie hoffte, dass Narissa größeren Gefahren aus dem Weg gehen würde. Als sie sich weiter umsah, blieb ihr Blick an einer Gestalt in einem schwarzen Umhang mit Kapuze hängen. Offenbar handelte es sich dabei um einen der feindlichen Kommandanten, denn er sorgte mit Handbewegungen dafür, dass seine Untergebenen ihren Angriff auf Músabs Posten aufrecht erhielten, obwohl sie dabei schwere Verluste erlitten. Der Verhüllte schien selbst keiner der Haradrim zu sein, was Aerien an der Art und Weise erkannte, wie er sich bewegte. Auch führte er keinen der in vielen Stämmen üblichen Krummsäbel oder Speere, sondern hielt ein Schwert in den Händen, das Aeriens eigener Waffe ähnelte. Ein Grauen überkam sie bei diesem Anblick, welches sich noch verstärkte, als der dunkle Krieger sich beinahe mühelos den Weg zu ihr bahnte. Drei Leichen der Gardisten Músabs pflasterten seinen Weg und nichts schien ihn aufhalten zu können.
Da trat der König selbst dem Schatten in den Weg. "Ich kenne dich," stieß Músab hervor, und Aerien hörte den Hass deutlich in der Stimme des Königs. "Der Mörder meiner geliebten Mutter wird mir nicht noch einmal entkommen. Es war ein Fehler, nach Kerma zurückzukehren, Abschaum,"
"Sieh an, Ihr erinnert Euch also noch an mich,
Euer Gnaden," erwiderte der feindliche Kommandant spöttisch. Dann ging er ohne ein weiteres Wort zum Angriff über. Músab hielt ihm stand, doch Aerien konnte sehen, dass der König rasch in Schwierigkeiten geriet. Obwoh seine Kampftechnik von großer Erfahrung zeugte, verlangsamten ihn offensichtlich die Wunden, die er im Verlauf des Kriegers erlitten hatten, und so kam es, dass Músab nach einem heftigen Schlagabtausch sein Schwert verlor. Doch anstatt den König zu töten schleuderte der Schatten ihn nur mit einer Leichtigkeit beiseite, die von großer Verachtung und Überheblichkeit zeugte.
"Ich bin nicht Euretwegen hier, Músab," sagte er. Dann setzte er langsam seine Kapuze ab und Aerien konnte sein Gesicht sehen. Und sie erkannte die Augen, die ihr entgegen starrten. Es waren dieselben Augen, die sie in ihrem eigenen Gesicht trug.
"...Balâkan?" stieß sie ungläubig hervor. Eine Woge von Gedanken stürmte auf sie ein. Was tat ihr Bruder hier, so weit im Süden, so fern der Heimat? Er, der stets danach getrachtet hatte, sich in der Gesellschaft Mordors zu beweisen und im Namen Saurons schon viele grausame Taten vollbracht hatte? Er, der einst Titel und Rang von Aeriens Vater erben sollte? Als Aerien Mordor verlassen hatte, war Balâkan in Khand unterwegs gewesen, um einen aufrührerischen Stamm für den Dunklen Herrscher zu unterwerfen, doch es bestand kein Zweifel... nun war er hier. Und in diesem Moment fiel Aerien wieder ein, wie sie - vor wenigen Wochen erst - an der Art des Überfalls, der auf die Mutter König Músabs, Aeriens Großtante Belazîl, durchgeführt worden war, Balâkans Handschrift erkannt hatte. Músabs Worte waren wahr... Aeriens älterer Bruder
war bereits zuvor in Kerma gewesen und hatte die Mutter des Königs ermordet. Aerien erinnerte sich daran, wie sie Músab in Aín Séfra kennen gerlernt hatte und wie dieser damals auf der Suche nach dem Mörder gewesen war, den er als einen der Schwarzen Númenorer identifiziert hatte. Nun also sollte sich der Kreis schließen.
Balâkan lächelte weder, noch versuchte er, Aerien zu schmeicheln, wie es Karnûzîr getan hatte. Sie waren in ihrer Herangehensweise so unterschiedlich wie Sonne und Mond. Balâkan war stets direkt und brutal gewesen. Es war eindeutig, weshalb er hier war: Er würde Aerien in Gewahrsam nehmen und sie gewaltsam nach Mordor bringen, um sie vor den Thron des Großen Auges zu schleudern.
"Dein kleines Abenteuer endet hier, Abtrünnige," knurrte Balâkan. Dann sprang er vor, das Schwert zum Angriff erhoben. Aeriens Instinkte übernahmen und sie parierte den Schlag, der ihr den linken Arm abgetrennt hätte. Im Hintergrund erhaschte sie einen Blick auf Narissa, die versuchte, zu ihr durchzudringen, jedoch von mehreren Haradrim daran gehindert wurde. Aerien machte einen Ausfallschritt, ließ dadurch einen Hieb gegen ihre ungeschützte Seite ins Leere laufen und stach dann mit der Spitze ihres Schwertes präzise zu. Sie wusste, wo die Rüstungen aus Mordor ihren Schwachpunkt hatten... oder zumindest hatte sie geglaubt, es zu wissen. Doch aus Balâkans Achsel lief wider Erwarten kein Blut, als Aerien die Klinge wieder zurückzog. Ihr Bruder warf ihr einen verächtlichen Blick zu. "Hast du wirklich geglaubt, ich wäre auf so etwas nicht vorbereitet gewesen?" knurrte er, ehe er wieder zum Angriff überging. Doch Aerien ließ ihn gar nicht erst heran kommen. Sie sprang rückwärts, wirbelte Staub auf und trat ihrem Feind eine Handvoll Sand ins Gesicht. Das brachte ihn für einen Augenblick ins Stocken. Die Gelegenheit nutzend schlug sie halbhoch zu, um ihn zu entwaffnen. Doch seine Klinge drehte sich rechtzeitig und hielt Aeriens Angriff auf.
"Vorhersehbar," hörte sie ihn sagen. Das machte sie noch wütender. Ihre Angst war verschwunden, ersetzt durch einen heißen Zorn. Beide Hände fest um den Griff ihres Bastardschwertes gepresst setzte sie Balâkan mit einer Serie von rapide geführten Schlägen unter Druck, die ihn mehrere Schritte zurückdrängten. Doch es gelang Aerien nicht, seine Deckung zu durchdringen. Sie wirbelte um die eigene Achse, duckte sich unter einem Gegenschlag hinweg und ließ ihr Schwert von unten auf ihn zuschnellen... nur um erneut von seiner Parade aufgehalten zu werden. Sie musste sich eingestehen, dass er deutlich besser als sie selbst war.
"Das genügt jetzt," sagte Balâkan bedrohlich. Und noch während Aerien ihm in die Augen starrte, bewegte er sich schneller, als je zuvor. Flink wie eine Kobra tauchte er unter ihrem hastig erhobenen Schwert hinweg und versetzte ihr zwei brutale Schläge mit seiner gepanzerten Faust, die ihr die Klinge aus der Hand prellten und ihr die Luft aus den Lungen trieben. Etwas Großes sauste auf Aeriens Kopf zu, und im nächsten Moment fand sie sich mit dröhendem Schädel im Staub zu Balâkans Füßen wieder. Verzweifelt tastete sie nach ihrem Schwert und schrie auf, als sein eiserner Stiefel ihre Hand unter sich begrub und sie am Boden festnagelte.
Da rauschte ein weißer Blitz heran, als es Narissa endlich gelungen war, zu Aerien durchzudringen. Aerien sah, wie ihre Freundin von hinten auf ihren Bruder lossprang. Ihre Augen weiteten sich, als sie einen Dolch in Balâkans freier Hand aufblinken sah. Ohne dass sich der Schwarze Númenorer umdrehte, schnellte seine linke Hand rückwärts und sorgte dafür, dass sich die Klinge des Dolches in Narissas Oberkörper nahe der Schulter bohrte. Sie war drauf und dran gewesen, Balâkan von hinten zu erstechen, doch er hatte genau gewusst, wo sie sein würde. Aerien schrie, als Narissa mit weit aufgerissenen Augen taumelte und dann zu Boden sank. Blut lief aus ihrem Mundwinkel, ehe sie aus Aeriens Sichtfeld verschwand.
"Warum? Warum nur hast du das getan?" stieß Aerien hervor, den Tränen nahe.
"Das war nicht ich, Abtrünnige," erwiderte ihr Bruder kalt. "Du selbst bist dafür verantwortlich. Ich stelle nur sicher, dass der Wille des Großen Gebieters geschieht." Er beugte sich vor, um sie zu packen und mit sich zu schleifen.
Etwas sehr Schweres traf Balâkan in die Seite und ließ ihn einen Schritt von Aerien weg stoplern. Mühsam zog sie sich in eine sitzende Position hoch und erkannte, dass jemand sich zwischen sie und ihren Bruder gestellt hatte. Jemand, der dunkle Rüstung und einen ebenso finsteren Helm trug und mit Schwert und Schild bewaffnet war.
"Aglâran..." murmelte sie, als sie den Gardisten erkannte.
"Noch ein Verräter, den es zu richten gilt," knurrte Balâkan und wischte sich das Blut ab, das aus seiner Nase lief. Und während er auf Aglâran losging, kroch Aerien um die Kämpfenden herum zu der Stelle, an der Narissa lag. Ihr weißes Oberteil hatte sich rings um die Stelle, an der noch immer Balâkans Dolch steckte, tiefrot verfärbt und sie war noch blasser als sonst. Doch Narissa atmete und ihre Augen waren offen. Aerien zog sie an sich und hielt sie fest.
"Verdammt," hauchte Narissa schwach, als sie Aerien wahrgenommen hatte. "Dieser Mistkerl hat mich ziemlich übel erwischt..."
"Schhhh," machte Aerien. "Nicht sprechen. Ich muss das Ding rausziehen, hörst du? Das... wird ziemlich wehtun, aber... es muss sein."
Narissa gab ein angestrengtes Geräusch von sich, doch sie wehrte sie nicht. Aerien packte den Griff des Dolches und zog ihn mit einem Ruck heraus. Dann riss sie ein langes Stück von ihrem Stoffärmel ab und presste es auf die Wunde, während Narissa das Gesicht vor Schmerzen verzog.
Lautes Schwerterklirren lenkte Aeriens Aufmerksamkeit wieder auf das um sie herum tobende erbitterte Gefecht. Balâkan und Aglâran lieferten sich einen heftigen Schlagabtausch und schienen einander ebenbürtig zu sein. Beide mussten mehrere Treffer einstecken, doch keinem gelang es, seinen Gegner entscheidend zu verletzen oder zu entwaffnen, bis Aglâran schließlich einen gegen seinen Kopf geführten Hieb mit der Kante seines Schildes abfing und daran abgleiten ließ, und noch in derselben Bewegung den schweren Schild mit der Spitze gegen Balâkans Brust rammte, welcher schwer getroffen rückwärts taumelte und dabei sein Schwert verlor. Sogleich setzte Aglâran nach, um seinem Feind den Todesstoß zu versetzen, doch da griff ihn ein Haradrim-Krieger von hinten an, um seinen Kommandanten zu retten. Wütend fuhr der dunkle Gardist herum und köpfte den vermeintlichen Retter Balâkans. Und dieser kurze Moment der Ablenkung war alles, was Aeriens Bruder benötigte. Er kam geschickt auf die Beine und verschwand im Chaos des Gefechts, das noch immer rings um Músabs Kommandoposten tobte.
Aglâran kehrte zu Aerien zurück. Sein Gesicht war hinter dem schmalen Sehschlitz seines schwarzen Helmes nicht zu sehen. Aerien war sich nicht sicher, was er nun von ihr hören wollte. Er hatte ihr die behandschuhte Hand entgegenstreckt und schien ihre Reaktion abzuwarten. Sie fühlte sich in ihre alte Rolle am Hofe von Durthang zurückversetzt, in der sie beinahe ständig von Gardisten wie Aglâran umgeben war, die ihre Leben für den Adel aufs Spiel setzen mussten. Doch heute war sie nicht mehr Azruphel von den Schwarzen Númenorern, und Aglâran stand nicht mehr in ihren Diensten. Also tat sie etwas, was keiner aus der Gesellschaft von Durthang seinen Untergebenen gegenüber jemals zuvor geäußert hatte: Sie bedankte sich.
"Ohne dein Eingreifen wäre ich jetzt tot, oder noch schlimmer, in Gefangenschaft geraten," sagte sie und ergriff die angebotene Hand, um sich auf die Beine helfen zu lassen. "Dafür bin ich dir dankbar, Aglâran."
Aglâran gab ihr keine Antwort. Er musterte sie nur eindringlich, als wäre er sich selbst nicht ganz im Klaren darüber, was als Nächstes zu tun sein. Dann kehrte er ins Gefecht zurück.
Aerien verband Narissas Wunde, die zwar noch immer blutete, aber nicht wirkte, als wäre sie lebensbedrohlich. Derweil erstarben die Kampfgeräusche um sie herum ein wenig. Der Ansturm auf den Hügel des Königs ließ nach und Aerien vermutete, dass der Grund dafür Balâkans Rückzug war.
"Wo ist der Mörder meiner Mutter?" stieß Músab ächzend hervor, der sich ganz in der Nähe mühsam auf den Beinen hielt.
"Er ist fort," antwortete Aerien. "Sagt, König Músab, wie läuft die Schlacht?"
Der König ließ seinen Blick nach unten schweifen, wo die beiden Heere noch immer ineinander verkeilt waren. Soweit Aerien es erkennen konnte, war der zweite Mûmak noch am Leben und sorgte für große Verluste in Kashtas Reihen. Ehe Músab auf Aeriens Frage antworten konnte, gelang es einem Boten, zu ihnen durchzudringen. Der Kermer brachte die Nachricht, dass Verstärkungstruppen von Nordwesten her kommend gesichtet worden waren, die unter dem Banner Suladans marschierten.
"Wie die Schlacht läuft?" murmelte Músab. "Nun, bis jetzt haben wir uns behaupten können." Er hob den Kopf und blickte standhaft nach Nordwesten. "Aber das Ende dieses Kampfes naht."