Aerien und Narissa mit Gatisen und Aspelta aus der Provinz AlodiaMúsab mit Aglâran und dem königlichen Gefolge aus NapataAls in der Ferne die Türme der Hauptstadt des Reiches von Kerma auftauchten, gestatte Aerien es sich, aufzuatmen. Seit dem Hinterhalt, den Mustqîm ihnen gestellt und aus dem sie nur dank Gatisens unerwartetem Eintreffen entkommen waren, hatte sie ständig über die Schulter gesehen und weitere Angriffe befürchtet. Sie war so sehr ihrem Verfolgungswahn verfallen, dass sie es bislang nicht geschafft hatte, mit Narissa über den Fakt zu sprechen, dass diese einen Halbbruder hatte. Geschweige denn davon, was Aerien in ihrem Fieberwahn nach der Flucht aus der Gefangenschaft des falschen Anlamanis gesehen hatte.
Die Gruppe von Reitern folgte dem Verlauf der Straße, die aus Alodia zur Hauptstadt führte, die ein kleines Stück südlich der Stadtmauern der Königsstadt über eine kleine Anhöhe führte. Dort hielten die Reiter für einen kleinen Augenblick an. Der Hügel bot ihnen einen ausgezeichneten Blick über die Hauptstadt, deren Dächer im Licht der Mittagssonne glänzten und ein einladendes Bild schufen. Für einen Moment war Aerien in diesem faszinierenden Anblick wie gefangen und vergaß ihre Sorgen.
„Seht doch,“ sagte Narissa neben ihr. „Dort, auf dem Fluss! Das muss eine ganze Flotte sein, die dort unterwegs ist!“
Aerien folgte Narissas Blick, der zum Wasser hin ging, das zu beiden Seiten der Stadt verlief und direkt östlich der Königsstadt aus zwei Strömungen einen besonders breiten Fluss bildete. Und dort, von stromabwärts kommend, waren acht Schiffe zu sehen, die nacheinander in den Hafen Kermas einliefen. Vorneweg fuhr ein Schiff aus dunklem Holz mit rotgoldenen Bannern.
„Das ist die
Kadarzimril, das Flaggschiff meines Onkels,“ erklärte Gatisen. „Der Name stammt von der Mutter des Königs und bedeutet...“
„
Burgherrin“, sagte Aerien. „Es ist adûnâisch. Ich frage mich, woher Músabs Mutter diese Sprache erlernt hat.“
„Soviel ich weiß, war es ihre Muttersprache,“ sagte Gatisen. „Um die Kandake ranken sich einige Legenden. Niemand weiß genau, wo sie her kam. Und ich schätze, nun, da sie tot ist, wird niemand die Wahrheit jemals erfahren werden.“
„Du sagtest, das vorderste Schiff war das des Königs?“ lenkte Narissa die Unterhaltung wieder auf die aktuellen Ereignisse. „Also ist er offenbar genau rechtzeitig nach Hause gekommen, um sein Symbol in Empfang zu nehmen.“
„Ein merkwürdiger Zufall,“ meinte Aspelta, der General Kermas. „Er muss an Napata vorbeigekommen sein, unserem Haupthafen am kermischen Golf... der seit einigen Tagen unter Belagerung durch die Verräter Kashtas steht. Doch wenn der Qore nun hier ist, kann das nur eines bedeuten. Die Belagerung Napatas wurde aufgehoben oder gebrochen.“
„Finden wir es heraus!“ rief Gatisen und preschte vor, dicht gefolgt vom Rest der Reiter.
Sie hielten sich nicht damit auf, Músab in den Gemäuern seines Palastes zu empfangen. Stattdessen nahmen sie, nachdem sie das südliche Tor Kermas passiert hatten, den direkten Weg zum Hafen, wo sich bereits eine beträchtliche Menschenmenge versammelt hatte, um den König in Empfang zu nehmen. Es war schließlich Aspelta, der dafür sorgte, dass sie sich ihren Weg zu der Anlegestelle bahnen konnten, an der die
Kadarzimril angelegt hatte. Gerade als Aerien und Narissa aus ihren Sätteln kletterten, kam König Músab mit seinem Gefolge die breite Rampe hinab, die das Deck seines Flaggschiffes mit dem Hafenkai verband. Dicht hinter dem König schritt die finstere Gestalt Aglârans, dessen Helm seine Blicke verbarg.
„Onkel!“ rief Gatisen. „Wie schön, dich wohlbehalten wieder zuhause willkommen zu heißen!“ Der Prinz trat vor und umarmte den König, der ihm im Gegenzug die Hand auf die Schulter legte.
„Gatisen, mein Junge,“ hörte Aerien Músab sagen. „Womit habe ich diese Begrüßung denn verdient?“ Der König schmunzelte.
„Du wirst es nicht glauben, wen ich mitten auf der Straße in Alodia aufgegabelt habe,“ antwortete Gatisen gut gelaunt. „Sieh nur!“ Er streckte den Arm aus und deutete auf Aerien und Narissa.
Músabs Augenbrauen hoben sich an, genau wie seine Mundwinkel. Er kam gemächlich auf die Mädchen zu, wobei man sehen konnte, dass der König Kermas humpelte. „Ihr seid also zurückgekehrt“, sagte Músab und musterte sie eindringlich. „Wie ist eure Fahrt verlaufen? Haben sich eure Hoffnungen erfüllt?“
Aerien legte sich ihre Worte sorgfältig zurecht - immerhin sprachen sie mit einem König - doch Narissa war schneller. „Wir haben das Königssymbol gefunden, wie Ihr es von uns verlangt habt,“ sagte die Weißhaarige mit hörbarem Stolz in der Stimme. „Ihr habt doch wohl nicht geglaubt, dass wir scheitern würden, oder?“
Músab schien die Spitze nicht zu stören. „Ihr habt es?“ wiederholte er leise. „Ihr habt den Zahn des Arkhasias tatsächlich gefunden?“
Aerien griff in ihre Tasche und tastete darin nach dem Königssymbol herum. Für einen kurzen, schrecklichen Moment griffen ihre Finger ins Leere, und schon fürchtete sie, ihren Schatz irgendwo unterwegs verloren zu haben, doch dann streifte ihr Ringfinger die eiserne Fassung, in der der Drachenzahn eingesetzt worden war und sie packte zu. Und obwohl sie eine Meisterin der Zurückhaltung war, konnte sie sich ein kleines, triumphierendes Lächeln nicht verkneifen, als sie das Königssymbol hervorzog, um es dem König zu überreichen.
Músab nahm den Drachenzahn ehrfürchtig entgegen und ließ die Hände vorsichtig darüber gleiten. „Beeindruckend,“ murmelte er. Dann hob er das Königssymbol hoch über seinen Kopf und ein Raunen ging durch die versammelte Menge.
„Das Königssymbol des Anlamani ist nach vielen Jahren endlich zu uns zurückgekehrt!“ rief der König mit lauter Stimme. „Und ich, als Erbe des Drachentöters, nehme es hiermit wieder in meinen rechtmäßigen Besitz! Möge es für Freund und Feind ein ewiges Zeichen dafür sein, dass ich - und meine Nachkommen - einen unanfechtbaren Anspruch auf den Thron Kermas haben!“
Jubel brach unter allen Anwesenden aus. Derweil sah Aerien, wie der König General Aspelta einige Anweisungen ins Ohr flüsterte, woraufhin der General nickte und dann in der Menge verschwand.
„Wie ist die Situation in Napata?“ fragte Gatisen den König, während die Menge sich wieder etwas beruhigte.
„Die Stadt steht noch,“ antwortete Músab und setzte sich in Richtung des Palastes in Bewegung, wobei der den Mädchen bedeutete, ihm zu folgen. Neugierig taten Aerien und Narissa, wie ihnen geheißen worden war.
„Wir hatten Glück, dass die Mûmakil in der Nähe waren und die feindlichen Belagerungsmaschinen zerstört haben,“ fuhr Músab fort und erzählte vom Verlauf der Schlacht bei Napata, in der er am Tag zuvor gekämpft hatte. Die Hafenstadt wäre beinahe durch Verrat in die Hände des Tyrannen Kashta gefallen, doch durch Músabs günstiges Eintreffen per Schiff hatte sich das Blatt zugunsten der Verteidiger gewendet und Napata war gerettet worden. Anschließend waren alle kampffähigen Krieger auf dem Fluss weiter zur Hauptstadt gefahren.
Durch die vollen Straßen ging es in Richtung des Palastes. Músabs Garde räumte ihnen den Weg frei und sorgte dafür, dass sie gut voran kamen. Als sie den großen Platz direkt vor den Stufen des Königspalastes erreicht hatten, staunte Aerien nicht schlecht. Der gesamte Hofstaat Músabs hatte sich hier versammelt.
„Empfangt nun eure Belohungen, meine Freunde,“ wandte sich Músab an Narissa, die breit grinste, und Aerien, die sich fragte, wo das wohl alles noch hinführen würde. „Bleibt hier für einen Augenblick stehen, bis ich euch zu mir rufe.“
Eine Gasse öffnete sich in der Menge, die Músab würdevoll entlang schritt, bis er zur untersten Stufe der Treppe zum Palast hinauf kam. Dort hielt er inne, bis einer der Würdenträger ein großes, königliches Banner entrollt und neben dem König aufgestellt hatte. Darauf war das Siegel der Anlamaniden zu sehen. General Aspelta trat vor und reichte Músab sein Schwert, welches der König zog und es ins Licht der Sonne hielt, in dem die Klinge aufglitzerte. Dann übergab der Qore das Königssymbol an Gatisen, der es ehrfürchtig in Empfang nahm und für alle gut sichtbar in Händen trug.
Músab nickte Narissa und Aerien auffordernd zu, und sie setzten sich in Bewegung. Durch ein Spalier, gebildet von Músabs Höflingen und seinen Beratern, schritten sie - nachdem Aerien Narissa sanft, aber wirksam daran gehindert hatte, einfach loszustürmen - ruhigen Schrittes auf den König zu. Kein Wort war zu hören, bis sie vor ihm zum Stillstand gekommen waren.
„Kniet nieder,“ forderte Músab.
Aerien tat, wie ihr geheißen, doch Narissa zögerte. „Wieso?“ fragte sie, doch Músab schmunzelte nur.
„Mach schon,“ raunte Aerien ihrer Freundin zu, die sich schließlich fügte.
Músab hob sein Schwert und berührte mit der Klinge erst Narissa an der linken Wange, und anschließend Aerien an der rechten.
„Ihr habt vollbracht, was niemand für möglich gehalten hatte,“ sagte er laut. „Als Dank lasse ich euch beiden die höchste Ehre zuteil werden, über die es mir zu verfügen gestattet ist. Narissa, Tochter der Herlenna vom Turm, und Aerien Belkâli, Gesandte von Tol Thelyn... erhebt euch als Mitglieder meines Hauses und als Prinzessinen des Königreiches von Kerma.“
Prinzessin? schoss es Aerien durch den Kopf, während sie aufstand. „Das ist zu viel der Ehre, Euer Majestät,“ stammelte sie, doch Músab winkte nur ab.
„Es ist meine Entscheidung, wie ich euch belohne,“ antwortete der König. „Kommt. Wir sollten nach drinnen gehen. Es gibt viel zu besprechen....“
Músab, Narissa, Aerien, Aglâran, Gatisen, Aspelta sowie der Rest des königlichen Rates zum Königspalast von Kerma