Valion, Valirë, Lóminîth und Erchirion aus Anfalas Das Tal von Nan Faerrim lag zwischen zwei niedrigen Ausläufern des westlichsten Arms des weißen Gebirges, der sich in südwestlicher Richtung zum Kap von Andrast hinzog und das Lehen von Anfalas von den wilden Landen auf der anderen Seite trennte. Eine kleine, mit Steinen gepflasterte Straße führte in das Tal hinein, an dessen Eingang ein aus weißem Stein errichteter Torbogen stand. Linker Hand des Durchgangs hing das Banner der Herren des Tals: der rote Luchs von Haus Seren. Zu Valions Missfallen hing auf der rechten Seite nicht etwa der Weiße Baum von Gondor, sondern der Fisch von Anfalas - Golasgils Siegel, doch vermutlich im Namen seines Sohnes Toradan aufgehängt.
Kein gutes Zeichen, dachte er, während sie durch den Torbogen ritten. An dieser Stelle verabschiedeten sich die Soldaten, die Golasgils Sohn ihnen als Eskorte mitgegeben hatte von ihnen, und ritten zurück in Richtung Maerost.
Das Tal schien sich auf den ersten Blick nur wenig verändert zu haben, seitdem die Zwillinge zuletzt dort gewesen waren. Die Bäume trugen Blätter in den verschiedensten Gelb- Rot- und Brauntönen, und erinnerten sie deutlich daran, dass der Herbst gekommen war. Die verstreuten Dörfer und Höfe der Talbewohner strahlten ein Bild des Friedens aus. Nan Faerrim war eine verschlafene Gegend, die noch nie von einem Krieg heimgesucht worden war, denn das Tal lag fern der Küste und musste keine Korsarenüberfälle fürchten. Und auch die anderen bedrohten Grenzen Gondors waren weit weg. Da die Erntezeit nahte, waren die Felder voller Aktivität, und auch die vielen Apfelbäume erfreuten sich großer Aufmerksamkeit. Valion fiel auf, dass sich die Anzahl der Bewohner des Tals vermehrt hatte; vermutlich hatten Flüchtlinge aus den Ostgebieten Gondors hier Zuflucht gesucht und gefunden.
Sie folgten der Straße im gemächlichen Schritt durch das Tal, bis ihr Ziel in Sicht kam: Die kleine Burg von Haus Seren, der Wohnsitz der Vorfahren Míleths, der Mutter der Zwillinge.
Valirë lenkte ihr Pferd neben ihren Bruder. "Denkst du, der alte Luchs wird erfreut sein, uns zu sehen?"
"Natürlich wird er das. Du weißt doch, dass sein Zorn genauso schnell verraucht, wie er sich entflammt," antwortete Valion.
"Nicht, wenn Mutter dabei ein Wörtchen mitzureden hat," erwiderte seine Schwester.
"Welchen Grund sollte sie dazu haben? Sieh uns doch an. All ihre Wünsche sind in Erfüllung gegangen." Er deutete auf Lóminîth und Erchirion. "Unsere Verlobungen betreffend, meine ich."
"Ich habe schon verstanden, kleiner Bruder," gab Valirë schnippisch zurück. "Ich frage mich nur, weshalb Mutter uns gerade jetzt zu sich ruft. Du hast doch ebenfalls das Banner von Anfalas am Torbogen gesehen. Denkst du, die Gerüchte über die Separatisten könnten wahr sein? Steckt Toradan vielleicht doch dahinter?"
"Wir werden sehen. Wenn wir mit Mutter gesprochen haben, werden wir der Sache auf den Grund gehen."
Sie kamen ans Burgtor. Der Sitz von Haus Seren bestand aus einer kleinen, von einer einzelnen Mauer umgebenen Burg, die von zwei gleich hohen Türmen gekrönt wurde. Dazwischen befand sich die große Halle des Talherren.
Im Innenhof saßen sie ab und ließen ihre Pferde zu den nahen Stallungen bringen. Valion war froh, keine Soldaten von Anfalas in der Burg zu entdecken. Auf den Schilden der Bewaffneten war ausschließlich der Luchs von Haus Seren zu sehen. Etwas besserer Laune führte er den Rest der Gruppe zur großen Halle und stieß die schweren Torflügel weit auf.
Die Halle erinnerte an den Fürstensaal von Dol Amroth, auch wenn sie deutlich kleiner war. Am gegenüberliegenden Ende war ein erhöhter Sitz, hinter dem drei große Banner von der Rückwand herabhingen. In der Mitte hing der rote Luchs von Nan Faerrim, und rechts davon der Fisch von Anfalas. Links hing der Weiße Baum von Gondor, doch auf dem Banner lag ein Schatten.
Ob das wohl ein Zeichen sein soll? fragte sich Valion, während sie die Halle durchquerten.
Auf dem erhöhten Sitz saß eine imposante Gestalt. Breitschultrig und aufrecht trotz seines hohen Alters musterte Maecar Serenion, Herr von Nan Faerrim, seine Besucher. Und als er sie erkannte, erhob er sich mit freudestrahlendem Gesicht. Um seine Schultern hing ein breiter, fellbesetzter Umhang, und seine Kleidung war die eines Jägers, wenngleich sie etwas prunkvoller war. Neben ihm standen zwei weitere Menschen: ein junger Mann, der Jagdkleidung über einem Kettenhemd trug und ein Schwert umgegürtet hatte, und die Mutter der Zwillinge, Maecars Tochter Míleth Sereniel.
"Da sind ja meine tapferen Enkel!" rief Maecar und breitete die Arme aus, während er ihnen entgegenkam. Valirë war die Erste, die ihm in die Arme sprang. "Kleiner Wildfang, hast du dich also endlich zähmen lassen?" kommentierte der Herr von Nan Faerrim.
"Niemals," antwortete sie fröhlich. "Ich ...
dulde ihn nur."
Maecar lachte schallend. "Du bist genau wie deine Mutter. Und du, mein Junge!" Er wandte sich Valion zu. "Selbst hier im verschlafenen Nan Faerrim haben wir von deinem Abenteuer in Umbar gehört. Wie ich sehe, hast du dir ein ziemlich hübsches Andenken mitgebracht."
Lóminîth - eindeutig verärgert - gab ein empörtes Hüsteln von sich, was den Herrn des Tales jedoch nicht zu stören schien.
"Ich vergesse meine Manieren, edle Dame," sagte der alte Luchs und bot ihr galant die Hand an. "Maecar, Alastars Sohn, zu Euren Diensten. Ich heiße Euch in meinem bescheidenen Heim willkommen."
"Ich danke Euch, Herr," antwortete Lóminîth, und ihr frostiger Unterton in der Stimme ließ dabei tatsächlich ein wenig nach. "Ich bin Lóminîth von Haus Minluzîr."
Maecar nickte respektvoll, doch ehe er weitersprechen konnte, nahm zum ersten Mal die Mutter der Zwillinge das Wort. "Da seid ihr beiden ja endlich," sagte sie streng, doch ihre Miene strafte ihre Worte Lügen, denn sie lächelte. "Es ist gut, dass ihr gekommen seid." Rasch umarmte sie ihre Kinder und wandte sich dann an Erchirion. "Mein Prinz, du bist ein mutiger Mann, doch ich setze darauf, dass du weißt, was du tust." Sie warf dabei einen bedeutungsvollen Blick auf ihre Tochter.
"Oh, ich folge nur den Wünschen meines Vaters, Frau Míleth," antwortete Erchirion mit einem zuversichtlichen Lächeln. "In seiner Weisheit hat er diese Verlobung angeordnet und wer wäre ich, mich seinen Anweisungen zu widersetzen?"
"Imrahil gelingt es nach all den Jahren noch immer, für eine Überraschung zu sorgen," meinte Míleth. "Ich freue mich für euch. Und nun lasst mich sehen, wer es geschafft hat, das Herz meines Sohnes für sich zu vereinnahmen!" Sie stellte sich vor Lóminîth und musterte sie von Kopf bis Fuß. Dann nickte sie, scheinbar zufrieden. "Sie ist ansehnlich und kräftig. Sie wird dir gesunde Kinder schenken, Valion."
Valion verschluckte sich bei diesen Worten, und Valirë und Maecar brachen in Gelächter aus. Die sonst so beherrschte Lóminîth errötete und sagte schließlich etwas betreten: "Ich bin froh, Euren Ansprüchen zu genügen, Herrin Míleth."
"Warum so förmlich, meine Liebe? Du wirst mich Mutter nennen - wir sind jetzt eine Familie," sagte Míleth entschieden.
"Eine ganz besondere Familie, wie es mir scheint," sagte eine Valion unbekannte Stimme. Der junge Jäger, der neben seinem Großvater gestanden hatte und der etwas abseits abgewartet hatte, trat nun hinzu. "Es wärmt mein Herz, Zeuge dieser Wiedervereinigung zu werden."
"Dies ist Gilvorn, Jäger von Lossarnach," stellte Maecar den jungen Mann vor. "Er kam mit einer großen Gruppe Flüchtlinge vor ungefähr einem Jahr hierher und hat sich bereits in dieser kurzen Zeit als unschätzbar hilfreich für mich erwiesen."
"Ihr beschämt mich, mein Herr," erwiderte Gilvorn und blickte zu Boden. "Ich bin nur ein einfacher Mann, der versucht, seinen Weg in Mittelerde zu gehen."
"Er ist ein guter Junge, das kann ich euch sagen. Seinen Ratschlägen zu folgen hat sich für mich bislang noch immer ausgezahlt."
Valion nickte Gilvorn freundlich zu, der sich wieder zu entspannen schien. Dann wandte er sich an seinen Großvater. "Wie du weißt, sind wir nicht nur wegen der Familie hier, alter Mann." Die Bezeichnung entlockte Maecar ein belustigtes Schnaufen, während Lóminîth aufgrund der augenscheinlichen Respektlosigkeit hörbar nach Luft schnappte. Valion warf einen kurzen Seitenblick auf den Jäger von Lossarnach, entschied dann jedoch, dass der junge Mann ruhig hören konnte, was er jetzt sagen würde.
Wenn Großvater ihm vertraut, dann tue ich das ebenfalls. "Imrahil entsandte uns wegen der Gerüchte über Separatisten in Anfalas und den Pinnath Gelin."
Maecar nickte ernst. "Ja, das ist eine üble Angelegenheit, das kann ich euch sagen. Das Ganze geht von Arandol aus. Die Stadt ist seit Hirluins Tod nicht zur Ruhe gekommen, und dem neuen Lehensfürsten, Elatan, ist es bislang nicht gelungen, Ordnung zu schaffen. Das hat er davon, dass er sich die meiste Zeit in Dol Amroth aufhält. Doch in den letzten Monaten hat sich die Lage verschlimmert. Es drang Kunde an mein Ohr, dass einer der Verwandten Elatans inzwischen genügend Anhänger um sich geschart hat, um die Macht in Arandol und den Pinnath Gelin an sich zu reißen und Gondor die Treue aufzukündigen."
"Das werden wir nicht zulassen," warf Valirë entschlossen ein, und Erchirion nickte bekräftigend.
"Ich bin mir sicher, ihr werdet der Sache auf den Grund gehen und diesen Unfug beenden, Kinder," sagte Míleth. "Doch dafür ist auch morgen noch Zeit. Heute werden wir einen gemeinsamen Abend als Familie verbringen." Ihr Tonfall, obwohl freundlich und liebevoll, sagte ganz klar aus:
Keine Widerrede. Die Zwillinge kannten diesen Ton nur allzu gut.
Maecar lachte laut. "Gebt Acht! Wenn sich meine Tochter etwas in den Kopf gesetzt hat, solltet ihr euch ihr lieber nicht widersetzen!" sagte er, an Lóminîth und Erchirion gewandt. "Gilvorn, mein Junge! Geh und sieh zu, dass wir heute Abend ein Festmahl auf dem Tisch haben." Der junge Jäger nickte und eilte aus der Halle.
"Was hältst du von Golasgils Sohn, Großvater?" fragte Valion kurz darauf. "Er scheint es sich in den Kopf gesetzt zu haben, seinen Vater als Lehnsherrn von Anfalas abzulösen."
"Pah! Er ist ein grüner Junge, der nichts vom Krieg versteht," erwiderte Maecar verächtlich. "Ich habe ihn sein Banner am Torbogen des Taleingangs aufhängen lassen, damit er mich in Ruhe lässt. Scheint viel auf diese kleinen Machtspielchen zu geben, aber ich glaube nicht, dass da mehr dahinter steckt."
"Ich hoffe, du hast recht, alter Mann... ich hoffe, du hast recht."