Die Karawane kam auf der holprigen Straße durch den dichten Urwald, der sich jenseits der Handelsstation zwischen den Berghängen im Süden und dem breiten Fluss im Norden erstreckte, nur langsam voran. Eayan hatte von Abrazîr ein Pferd erhalten, während Edrahil es sich auf einem der Wagen zwischen einigen fest verschlossenen Kisten bequem gemacht hatte - ganz in seiner Rolle als Gelehrter, der außerhalb seines Elementes war und nicht reiten konnte. Nicht, dass er sonderlich unglücklich darüber gewesen wäre, denn längere Ritte verursachten in seinem linken Knie mit der Zeit starke Schmerzen.
Kurz nach der Mittagszeit befahl Abrazîr Halt, und sie suchten unter einigen mächtigen, verschlungenen Bäumen von einer Art, wie Edrahil sie nie zuvor gesehen hatte, Schutz vor der gnadenlosen Mittagssonne. Zu diesem Zeitpunkt suchte Abrazîr das erste Mal seit ihrem Aufbruch das Gespräch mit Edrahil.
"Wir werden bald nass bis auf die Haut werden", sagte Abrazîr, und deutete zum Himmel, wo sich über ihnen allmählich dunkle Wolken zusammenzogen. "Was vormittags zum Himmel verdampft..."
"... kommt nachmittags als Regen wieder herunter", beendete Edrahil den Satz für ihn. "Faszinierend. Heißt das, wir werden heute nicht mehr weiterfahren?" Abrazîr lachte herzlich. "Ihr seid mir wirklich ein echter Bücherwurm. Der Regen wird zwar heftig, aber vermutlich nicht allzu lang sein. Und wenn er zu lang ist, reisen wir eben im Regen weiter, wir haben schließlich keine Zeit zu verlieren." Edrahil verzog ein wenig das Gesicht - absichtlich so, als versuchte er seinen Unmut zu verbergen. Abrazîr lachte erneut.
"Ihr seid im tiefen Süden, da solltet ihr euch an etwas anderes Wetter gewöhnen, mein lieber... da fällt mir ein, dass ich euch noch nicht nach eurem Namen gefragt habe." Seine Augenbrauen zogen sich verärgert über sich selbst zusammen. "Man nennt mich Maratar", antwortete Edrahil ohne zu zögern, und verneigte sich leicht aus seiner sitzenden Position heraus.
"Maratar...", meinte Abrazîr langsam. "Dann kommt ihr vermutlich aus Gondor?" "Allerdings", erwiderte Edrahil, und überlegte rasch. Abrazîrs Akzent nach zu urteilen, kam dieser vermutlich eher aus dem westlichen Gondor, also fuhr er fort: "Ich war Gelehrter im Diensten des Truchsess in Minas Tirith. Aber ich habe die Stadt noch vor Beginn des Krieges verlassen, lasst mich überlegen... das muss jetzt bald sechs Jahre her sein." Abrazîr zog eine Augenbraue in die Höhe. "Sechs Jahre? Da habt ihr aber lange gebraucht, um hierher zu kommen."
"Nun, Reisen ist nicht umsonst", erwiderte Edrahil. "Schon gar nicht in Harad für jemanden in Gondor. Ich habe ein wenig als Übersetzter gearbeitet, ein wenig als Schreiber, bis ich schließlich genug Geld zusammen hatte, um meine Reise fortsetzen zu können." Abrazîr nickte langsam - offenbar hielt er die Geschichte für glaubwürdig. "Rae - Taraezaphel meine ich natürlich - wird sich denke ich über eure Ankunft freuen. Der Wiederaufbau von Arzâyan hat bislang eher Muskelkraft und Kampfgeschick erfordert, und wir haben niemanden, der unsere Geschichte niederschreibt. Und wer wäre dazu besser geeignet als ein Gelehrter, der die Geschichte des alten Reiches so gut kennt wie ihr?"
Edrahil nickte unverbindlich und wollte gerade etwas erwidern, als der Regen plötzlich über sie herein brach. Selbst die mächtigen Baumkronen über ihnen boten nicht sonderlich viel Schutz und innerhalb weniger Augenblicke war zu seinem Ärger vollkommen durchnässt. Die Straße wenige Schritte weiter verschwand beinahe hinter einem grauen Regenvorhang. Die Wächter, die Abrazîr dort aufgestellt hatte, waren durch den dichten Regen kaum noch zu sehen. Edrahil blinzelte, und im nächsten Augenblick waren die beiden Männer verschwunden.
"Abrazîr, eure..."
Wachen sind verschwunden, hatte Edrahil sagen wollen, doch er verstummte, als sich direkt neben ihm ein Speer in das Holz des Wagens bohrte und zittternd dort stecken blieb. Abrazîr stieß einen überaus hässlichen Fluch aus, riss das Schwert aus der Scheide und begann, Befehle zu brüllen.
Edrahil rührte sich nicht vom Fleck, und blieb zwischen den Kisten auf dem Wagen versteckt sitzen. Im Kampf war er zu nichts nütze, nahm aber dennoch seinen Dolch zur Hand - auch wenn die Angreifer, die im Regen für ihn nur als verschwommene Schemen zu erkennen waren, anscheinend Feinde von Arzâyan waren, bedeutete das nicht, dass sie ihn oder Eayan nicht ebenfalls töten würden. Doch zu seinem Glück gelangte kein einziger der Angreifer zu ihm.
Der Regen dämpfte alle Geräusche des Kampfes, und Edrahil sah nur verschwommene Gestalten miteinander ringen, ohne genauer erkennen zu können, welche Seite die Oberhand gewann. Dann, mit einem Mal, war alles vorüber. Die Kampfgeräusche verstummten, und die Angreifer verschwanden so rasch wie sie gekommen waren. "Sie haben einen der Wagen geplündert", hörte Edrahil einen von Abrazîrs Männern sagen - auf Adûnâisch, einer Sprache, die Edrahil zwar kaum sprechen, aber doch einigermaßen verstehen konnte. "Unwichtig", erwiderte Abrazîr in der gleichen Sprache, doch mit hörbarem Akzent. "Nur der eine Wagen ist wichtig, wie ihr wisst." Edrahil hörte Schritte in seine Richtung kommen, und gab sich Mühe, ängstlich und verwirrt zu wirken.
"Ich hoffe, euch hat keiner dieser Kerle belästigt?", fragte Abrazîr, der um den Wagen herum gekommen war, und Edrahil schüttelte den Kopf. "Sie sind nicht in meine Nähe gekommen. Was... waren das für Leute?"
"Sie nennen sich selbst
Die Verlorenen Stämme, oder so ähnlich", antwortete Abrazîr grimmig. "Eigentlich sind sie kaum besser als Räuber, aber sie leben bereits seit Ewigkeiten in diesen Wäldern und Bergen. Das alte Arzâyan hatte sie unter Kontrolle, doch noch sind wir nicht stark genug um das ebenfalls zu tun." Er wandte sich ab, und begann Befehle zum Aufbruch zu erteilen. An seiner Stelle tauchte nun Eayan am Wagen auf, der sein blutiges Schwert mit einem großen Blatt säuberte. "So viel Unterhaltung hatte ich hier noch gar nicht erwartet", meinte er, und warf Edrahil einen ironischen Blick zu. "Ich hoffe, ihr habt euch auf eurem bequemen Platz nicht gar zu sehr gelangweilt?"
Edrahil schüttelte den Kopf. "Ganz und gar nicht - meine Tage des Kampfes sind vorbei. Besser das zu erkennen, als einen schnellen Tod zu sterben."
"Da kann ich wenig gegen sagen", erwiderte Eayan. "Dieser Abrazîr wirkt jedenfalls etwas besorgt, und will sofort aufbrechen - trotz dieses widerlichen Regens."
"Er hat etwas auf diesen Wagen, dass von großer Bedeutung für Rae ist." Edrahil sprach leise, sodass der Wagenlenker auf dem Bock des Wagens ihn nicht hören konnte. "Und ich vermute, dass es in diesen Kisten ist." Er klopfte leicht gegen eine der hölzernen Kisten neben sich. "Deshalb ist kein einziger der Angreifer zu diesem Wagen gelangt, weil sie ihn am besten verteidigt haben. Die anderen Wagen sind lediglich Köder."
"Das ergibt Sinn." Eayan verstaute sein inzwischen einigermaßen sauberes Schwert wieder. "Wenn er diese Reise öfter macht, dürfte er mit einem Angriff gerechnet haben." Bevor Edrahil etwas erwidern konnte, setzte sich der Wagen mit einem Ruck in Bewegung, und Eayan ging davon, um sich sein Pferd zu holen.
Der letzte Abschnitt bevor sie ins Herz von Arzâyan kommen würden, lag vor ihnen.
Edrahil, Eayan und Abrazîr nach Arzâyan