So hatte ich mir das aber nicht vorgestellt, dachte Kerry, als sie hastig nach ihrem Schwert griff und es mit einem Ruck hervorzog.
Muss das gerade jetzt passieren?Sie hatte seit ihrer kleinen, merkwürdigen Unterhaltung mit Helluin weiterhin die andauernde Belagerung beobachtet, die Stunde um Stunde uninteressanter für sie wurde, da sich einfach nichts tat. Noch immer war das Tor uneingenommen, auch wenn es nun von den Wehrgängen kaum noch Widerstand gab, da sie durch Beschuss der Ballisten stark beschädigt worden waren. Doch solange das Tor standhielt, würde die Belagerung erfolglos bleiben. Kerry hatte sich schließlich nichts sehnlicher gewünscht, als dass irgend etwas sie von ihrer unaufregenden Zuschauerrolle ablenken würde.
Doch sie hätte vorsichtig mit ihren Wünschen sein sollen. Denn nun war etwas geschehen, das die Langeweile auf dem Rabenberg jäh unterbrochen hatte. Sie waren angegriffen worden.
Orks und Ostlinge waren von Norden auf die Bergflanke gekommen und hatten die Waldläufer in ein Gefecht verwickelt, das nun auch bis zu Kerry vorgedrungen war. Noch immer hielt sie sich in der Nähe der Treppe auf, die zurück hinunter ins Tal führte, bereit, notfalls den Rückzug anzutreten. Bislang hatte es dazu noch keinen Grund gegeben, denn die Orks und Ostlinge beschäftigten die Waldläufer zwar, waren aber nicht zahlreich genug, um sie zu überrennen.
Warum habe ich mir nicht einfach gewünscht, wieder zuhause in Eregion zu sein, dachte sie und ärgerte sich über sich selbst.
Dass gerade dieser dumme Wunsch in Erfüllung gehen muss...Ein gedrungener Ork sprang auf sie zu und sie verbannte ihre verärgerten Gedanken aus ihrem Kopf. Sie rief sich ihr Training wieder in den Sinn und machte einen raschen Ausfallschritt nach links. Der hoch angesetzte Hieb der Kreatur ging ins Leere und Kerry gelang es, ihm ihre kurze Klinge in den Rücken zu rammen. Röchelnd brach der Ork zusammen. Kerry hatte einige Schwierigkeiten, ihr Schwert aus dem Kadaver zu befreien, doch nach mehreren Anläufen geling es ihr schließlich. Ein rascher Blick in alle Richtungen zeigte ihr, dass sie sich nicht mehr in unmittelbarer Gefahr befand. Für einen Augenblick waren die Orks ins Wanken geraten, und die Dúnedain erschlugen mehrere von ihnen. Helluin, der einen Bogen ergriffen hatte, verschoss zielgenau einen Pfeil mitten in das Gesicht eines besonders hässlichen Orks, wie Kerry fand. Neben ihm stand Forgam, sein Stellvertreter, und hielt eine der kleinen Orthancfeuer-Kugeln in der Hand. Er wartete auf den passenden Augenblick, dann warf der grauhaarige Dúnadan Sarumans Werk inmitten der sich wieder sammelnden Orks. Mit einem Lichtblitz und lautem Krachen wurden sie auseinandergeschleudert.
Doch die Ostlinge waren nicht so leicht zu besiegen. Noch mehr von den in golden schimmernde Rüstungen gekleideten Soldaten tauchten am Rand des Bergkammes auf und gingen zum Angriff über. Diesmal waren sie in der Überzahl, und sie ließen sich nicht so leicht einschüchtern wie die Orks. Ihr Kommandant, der ein rotes Banner mit sich führte, schien fest entschlossen zu sein, die Dúnedain vom Rabenberg zu vertreiben. Und so waren Kerry und die Waldläufer gezwungen, um ihr Leben zu kämpfen und konnten daher nicht mehr darauf achten, ob Verstärkung für die im Inneren des Erebors belagerte Streitmacht Mordors eintraf.
Erneut gelang es einigen Feinden, durch die Verteidigungslinie der Waldläufer bis zu Kerry vorzudringen. Zwei schwer gepanzerte Ostlinge kamen auf sie zu und Kerry wich mehrere Schritte zurück, bis sie mit dem Rücken an einen großen Felsen stieß. Da schwirrte ein Pfeil Helluins heran und fand die Schwachstelle der Rüstung am Hals des vorderen Kriegers. Der zweite Ostling blieb stehen und zögerte. Kerry konnte sein Gesicht unter dem Helm nicht erkennen, doch in der Körperpsrache des Mannes glaubte sie Überraschung zu erkennen. War er überrascht, jemanden wie sie hier vorzufinden? An ihrem Geschlecht konnte es nicht liegen. Unter den Dúnedain Helluins waren drei weitere Frauen, die genauso gefährlich wie die männlichen Waldläufer waren. Kerry beschloss, das Zögern ihres Feindes zu nutzen und ging kurzerhand zum Angriff über. Mit einem Schrei sprang sie vorwärts und legte all ihre Kraft in einen beidhändigen Hieb, der auf das Langschwert des Ostlings zielte und zu Kerrys eigener Überraschung sein Ziel genau traf. Sie spürte, wie der Widerstand, auf den sie getroffen war, nachgab und mit einem lauten Klirren sprang das Schwert aus der Hand des Ostlings. Er taumelte rückwärts, ließ seinen Schild fallen und stolperte über einen Stein und strauchelte. Schon war Kerry über ihm, hob das Schwert weit über ihren Kopf, zum Todesstoß ausholend, und...
"N-nein! Oh bitte, nein!"
Kerry hielt inne. Der Ostling hatte seinen Helm verloren als er gestürzt war und sie blickte in die vor Angst weit aufgerissenen Augen eines Jungen. Kaum älter als siebzehn oder sogar sechzehn musste er sein. Mit einer Hand stützte er sich in eine halbwegs aufrechte Sitzposition auf, die andere Hand war abwehrend erhoben. Sein Blick war flehend geworden.
"Verschone mich! Ich... ich will nicht sterben!"
Kerry war entsetzt. Noch immer hatte sie ihr Schwert mit beiden Armen gepackt, aber sie ließ die Klinge langsam mehr und mehr sinken. Sie wusste, dass dieser Junge ihr Feind war.
Er gehört zu den Dienern Saurons, dachte sie sich.
Und er hätte mich getötet, wenn ich ihn gelassen hätte. Und doch konnte sie es nicht tun. Tränen liefen den Ostling über die Wangen und er begann, leise zu schluchzen. Kaum hörbare Worte in einer fremden Sprache drangen über seine Lippen, die sich beinahe lautlos bewegten.
Da handelte Kerry instinktiv. Sie ließ ihr Schwert fallen. Er war nur ein Junge, der genauso fehl am Platz zu sein schien wie sie selbst. Irgend jemand hatte ihm einen Befehl gegeben, und er war dazu gezwungen worden, ihn auszuführen. Es war nicht seine Schuld. Kerry ließ sich neben ihm auf ein Knie nieder und sagte: "Ist schon gut. Ich werde dich nicht töten."
Der Ostling verschluckte sich und hustete, doch dann begann er, sich zu entspannen. "Bist du verletzt?" fragt Kerry.
"Ich... Nein, mir fehlt nichts, schätze ich," stieß er hervor und wischte sich mit dem Handrücken über das Gesicht. "Ich danke dir, gütige Fremde."
"Ich heiße Kerry," gab sie zurück.
"Aino, Sohn des Rauno," antwortete er und blickte sich um. Noch immer tobte das Gefecht, doch die Dúnedain hatten trotz einiger Verluste inzwischen die klare Oberhand gewonnen. Langsam aber sicher drängten sie die verbliebenen Ostlinge zum Berg zurück. Der Bannerträger war bereits gefallen und es würde nicht lange dauern, bis auch der Rest der Ostlinge besiegt oder in die Flucht geschlagen wäre. Kerry und Aino befanden sich daher in einiger Entfernung von den kämpfenden Dúnedain und man schenkte ihnen keine Beachtung.
"W-was hast du nun mit mir vor, Kerry?"
"Ich weiß es nicht. Du bist nicht mein Gefangener. Erzähl mir erst einmal, was hier eigentlich vor geht, Aino. Warum bist du hier?"
Aino blickte zu Boden. "Mein Vater schickte mich zum Berg, um erste Kriegserfahrungen zu sammeln. Er ist einer der höchsten Heerführer des Königs und führt nun das Kommando über die Palastgarde, in Gortharia. Man teilte mich einer Gruppe von Kriegern zu, die zeitgleich mit dem Ausfall den Spähposten auf dieser Bergflanke hier oben angreifen sollten, um als Ablenkung zu dienen."
"Moment mal," unterbrach Kerry. "Ausfall? Ablenkung? Wovon sprichst du?"
Aino setzte ein gequältes Lächeln auf. "Die Belagerung des Berges wird vermutlich scheitern. Verstärkung ist von Süden hierher auf dem Weg und fällt eurem Heer schon bald in den Rücken. Außerdem entsandte der... der Falsche König eine starke Streitmacht durch den Seiteneingang des Berges, um sich der Verstärkung anzuschließen und die Belagerer zwischen Hammer und Amboss zu zerschmettern. Und da bekannt war, dass Späher auf der westlichen Bergkante positioniert sind, befahl man uns, die wachsamen Augen mit einem Angriff abzulenken, damit niemand die Falle rechtzeitig bemerkt."
Kerry fluchte und sagte: "Das ist nicht gut. Meine Freunde sind dort unten! Ich muss sie warnen."
"Aber-"
"Kein aber! Wenn du versuchst, mich aufzuhalten, muss ich dich doch noch töten." Kerry wusste natürlich, dass sie diese Drohung nicht in die Tat umsetzten würde, doch auf Aino hatten ihre Worte dennoch die gewünschte Wirkung. Er erschauerte und seine Augen weiteten sich.
"Bitte nicht!"
Kerry musterte den Jungen. "Du bist aber kein besonders tapferer Krieger," stellte sie fest. "Lässt dich von einem Mädchen herumschubsen und einschüchtern."
Aino gab ein verärgertes Geräusch von sich. "Das ist nicht fair. Ich bin einfach nicht für den Krieg geschaffen! Meine Leidenschaft ist das Musizieren, ganz besonders an der Harfe. Aber mein Vater will unbedingt einen großen Krieger aus mir machen. Ich... ich werde niemals seinen Erwartungen gerecht werden." Ein tiefer Seufzer folgte diesen Worten.
"Unsinn," widersprach Kerry, ehe ihr einfiel, in welcher Gefahr ihre Freunde unten im Tal schwebten. "Ich habe jetzt schon genug Zeit verschwendet. Ich muss..."
"Was haben wir denn hier? Hast du einen Gefangenen gemacht, Kerry?" sagte Helluins Stimme hinter ihr. Gemeinsam mit Forgam war der Stammesführer der Dúnedain unbemerkt herangekommen.
"Ja, ich meine, nein - ist das wichtig? Helluin, hör mir zu! Das ist eine Falle!" rief Kerry und fasste rasch zusammen, was Aino ihr erzählt hatte. Sofort rannten mehrere Waldläufer zur östlichen Felskante des Rabenberges, um die Lage dort unten einzuschätzen.
"Es sieht nicht gut aus," sagten sie. "Das Heer ist bereits von hinten angegriffen worden. Es sieht so aus, als hätten sie die feindliche Vorhut zunächst zurückgeschlagen, doch inzwischen hat sich das Tor des Erebors geöffnet und mehr und mehr Feinde strömen heraus. Sie wagen einen großangelegten Ausfall!"
Und tatsächlich konnte Kerry nun sehen, wie starke Verbände durch das geöffnete Tor des Erebors heraus drängten und das Heer Sarumans von zwei Seiten in die Zange nahmen. Eine heftige, offene Schlacht entbrannte aufs Neue rings um Thal herum.
"Im Augenblick können wir nichts tun, als die Stellung zu halten," sagte Helluin. "Nun zu deinem Gefangenen, Kerry."
"Wenn er keine weiteren wichtigen Informationen hat, sollten wir ihn einfach töten," schlug Forgam vor. "Er ist eine unnötige Belastung."
"Nein!" widersprach Kerry. "Können wir ihn nicht einfach gehen lassen? Er ist doch nur ein Junge, der genauso wenig in diesem Krieg sein will, wie ihr oder ich."
"Ihn gehen lassen? Damit er sich wieder unseren Feinden anschließen kann und uns erneut angreifen kann? Ich denke nicht." Forgam zog sein Schwert und Aino schrie ängstlich auf.
"Er ist
mein Gefangener und ich sage, er bleibt am Leben!" Kerry stellte sich schützend vor den Ostling und blickte Helluin flehend an.
"Lass gut sein, Forgam," sagte dieser schließlich. "Im Augenblick haben wir Wichtigeres, mit dem wir uns befassen müssen."
Wie aufs Stichwort traf ein Bote über die steile Treppe aus dem Tal ein. Es war ein Ork, der das Zeichen der Weißen Hand trug.
"Der Gebieter befiehlt den Rückzug," berichtete er. "Das Heer wird sich hier an dieser Position sammeln und dann über die Bergflanke nach Westen in Richtung des Waldes abrücken."
Helluin warf einen Blick nach unten. "Die Ostlinge haben einen Keil zwischen die Uruks und die Elben des Waldlandreiches getrieben," stellte er fest. "Wissen Thranduils Leute Bescheid von diesem Befehl?"
"Es ist zu gefährlich, ihnen jetzt noch eine Nachricht zu senden und ihr Rückweg ist bereits abgeschnitten," antwortete der Bote. "Sie sind auf sich allein gestellt."
Kerry sah Helluin deutlich an, wie er einen inneren Konflikt mit sich austrug. Schließlich nickte er nur, und der Bote verschwand auf demselben Weg, auf dem er gekommen war.
"Wir müssen Oronêl und Finelleth warnen," drängte Kerry.
Helluins Gesicht war eine grimmige Maske. "Ich kann nicht erneut einen direkten Befehl ignorieren. Fehlt auch nur einer meiner Leute, wird Saruman es bemerken."
"Dann... dann werde
ich gehen," beschloss Kerry.
"Das ist viel zu gefährlich!" rief Helluin. "Ein ganzes Heer von Ostlingen steht zwischen dir und den Elben. Du wirst niemals lebendig auf der Ostseite des Tals ankommen!"
"Ich muss es zumindest versuchen, das bin ich ihnen schuldig," gab Kerry zurück. "Und außerdem werde ich nicht alleine gehen. Ich nehme Aino mit, und er wird mir schon den Weg freiräumen. Immerhin ist er der Sohn eines Generals."
Sie zog den Jungen auf die Beine, ehe Helluin sie aufhalten konnte.
"Kerry, das ist Wahnsinn!" versuchte er noch einzuwenden.
"Vielleicht. Aber wenn es Wahnsinn ist, seine Freunde zu retten, dann darfst du mich gerne als vollkommen verrückt bezeichnen. Das ist es, was für mich Freundschaft bedeutet. Ich gehe jetzt - versuche nicht, mich aufzuhalten."
Helluin schien es die Sprache verschlagen zu haben. Kerry zog Aino mit sich in Richtung der Treppe, ihr Schwert in der freien Hand haltend.
Forgam machte einen Schritt in ihre Richtung, doch da sagte Helluin schließlich: "Lasst sie gehen."
Und so verließ Kerry den Rabenberg und kam Schritt für Schritt, Stufe für Stufe, der laut tobenden Schlacht vor den Toren des Erebors immer näher...
Kerry und Aino in Richtung Thal den Berg hinab...