Es war heiß. Sehr heiß. Die Sonne prallte auf das kleine Haus auf einem Hof nahe Balanjar. Schon seit Wochen wartete man hier vergeblich auf ein bisschen Abkühlung. Einen leichten Wind, ein paar Wolken oder wenn möglich sogar ein wenig Regen. Doch die Sonne schien erbarmungslos weiter.
Auf der Veranda saß ein junges Mädchen im Alter von 12 Jahren in einem Schaukelstuhl und blickte mit ihren grünen, leicht hervorstechenden Augen trübselig in die Ferne. Die Sonne brannte auf ihrer Haut und trotz ihrer dunklen Pigmentierung musste sie aufpassen, keinen Sonnenbrand zu bekommen.
In der Ferne sah sie fast nichts außer verdorrtes Land. Die Dürre dauerte nun schon viel zu lange an. Zwar waren strahlender Sonnenschein und Hitze in Balanjar die Norm, doch dass es so lange nicht regnete, war schon sehr ungewöhnlich. Das Mädchen seufzte schwer, während sie beobachtete, wie ihr Vater in der Ferne mit dem Vieh arbeitete. Vermutlich gab er ihnen etwas zu trinken. Das letzte bisschen Wasser, was sie noch entbehren konnten. Wenn es in den nächsten Tagen nicht endlich anfing zu regnen, würde es sehr schwer werden. Das war zumindest die Formulierung, die ihre Eltern verwendeten, auch wenn das junge Mädchen nicht genau wusste, was das wirklich bedeuten würde. Und sie hoffte, es auch niemals erfahren zu müssen.
„Ceyda, komm bitte ins Haus. Du gehst mir noch ein, wenn du hier weiterhin in der Sonne sitzt.“
„Jaja Oma, ich komme ja schon“, antwortete das Mädchen namens Ceyda trübsinnig. Drinnen würde es auch nicht kälter sein als hier draußen. Nur stickiger.
Ceyda stand auf. Ihre langen, wallenden blonden Haare fielen über ihr junges, ovales Gesicht. Sie musste das einzige blonde Mädchen im Umkreis von 100 Meilen sein. Alle anderen Menschen hier hatten schwarzes oder braunes Haar. Ceyda mochte diese Besonderheit an sich sehr gerne, doch sie konnte es nicht leiden, wenn die Leute in der Stadt sie deswegen anstarrten. Auch deshalb verließ sie den Hof ihrer Eltern selten. Ceyda warf einen letzten trübseligen Blick in die Ferne, warf ihr Haar zurück und folgte ihrer Großmutter ins Haus.
Es war schon lange dunkel, als Ceydas Eltern endlich von der Arbeit auf dem Hof zurückkehrten. Ceyda hatte schon seit geraumer Zeit extremen Hunger, doch man hatte ihr verboten, außerhalb der gemeinsamen Familienmahlzeiten etwas zu Essen. Jetzt saß die gesamte Familie, bestehend aus Ceyda, ihren zwei Großeltern, ihren beiden Eltern und ihren zwei kleinen Brüdern, gemeinsam am Esstisch und nahm eine spärliche Mahlzeit zu sich.
„Wenn das so weitergeht, halte ich nicht mehr lange durch“, klagte Ceydas Großvater Acrun.
„Es tut mir Leid, aber mehr habe ich mit unseren spärlichen Ersparnissen in der Stadt nicht bekommen. Auch die Händler leiden unter der Dürre und haben ihre Preise allesamt aufgestockt.“, erklärte sich Ceydas Mutter Basak.
„Du musst durchhalten, Opa. Schließlich habe ich nur einen Großvater“, meinte Ceyda mit heiterem Unterton. Sie wusste, dass Acrun seine Worte nicht ernst meinte. Allerdings fiel ihr auf, dass ihr Vater Vadim bei diesen Worten einen äußerst seltsamen Gesichtsausdruck angenommen hatte. Auch Basak hatte das bemerkt.
„Ist etwas los, Schatz?“, fragte sie besorgt.
„Ach nichts. Ich mache mir nur sorgen. Ich hoffe einfach, dass es bald wieder regnet.“
„Das hoffen wir alle.“
Ceyda blickte aus dem Fenster ihres Anwesens. Verdammter Sonnenschein, dachte sie und wandte sich ab. Immerhin regnete es hier in Gortharia häufiger als Balanjar. Doch heute war es wieder mal kochend heiß. Sie verabscheute solche Tage. Sie genoss es viel mehr, im Regen durch die Straßen Gortharias zu wandern. Heute würde sie viel lieber den ganzen Tag zu Hause bleiben. Doch es half nichts. Auch an solchen Tagen gab es Leute, die ihre Hilfe brauchten. Vermutlich sogar mehr Leute als sonst.
Jari schnarchte laut auf. Ceydas Ehemann liebte es an freien Tagen lange durchzuschlafen. Ceyda betrachtete drehte sich um und betrachtete ihn, wie er da so in ihrem gemeinsamen Bett lag. Er hatte kurze blonde Haare, blaue Augen und eine große, lange Narbe, die sich quer über sein ansonsten makelloses Gesicht zog. Diese Narbe hatte er aus der Schlacht am Pelennor mitgebracht. Ein kleiner Moment der Unachtsamkeit und sein komplettes Gesicht war verunstaltet. Ceyda konnte froh sein, dass es ihren Ehemann nicht noch schlimmer erwischt hatte. Er hätte auch tot sein können. Und auch wenn sich Ceyda die Hochzeit mit Jari nicht ausgesucht hatte, so war sein Tod doch das letzte was sie wollte.
Sie war gerade einmal 18 Jahre alt gewesen, als ihre Eltern mit den Eltern Jaris die Hochzeit arrangiert hatten. Es war eine große Ehre für eine arme Bauersfamilie, dass ihre Tochter mit dem Sohn eines Adeligen verheiratet wurde. Für eine echte Adelsfamilie wäre das wohl auch ein zu großer Skandal gewesen, doch Jaris Familie war noch nicht lange adelig. Es war Jaris Vater Nizar gewesen, der für seine herausragenden militärischen Leistungen bei der Unterwerfung der letzten freien Stämme Rhûns von König Ulfast in den Adelsstand erhoben wurde. Als ein solcher Emporkömmling hat man es in Gortharia schwer, von den Geblütsadeligen wirklich ernst genommen zu werden. Doch durch seinen Ruf als einer der besten Krieger aller Zeiten, konnte Jaris Vater sich den nötigen Respekt bei Verhandlungen erzwingen. Und auch das Gerede über die Hochzeit seines Sohnes mit einer Bauerstochter erstarb rasend schnell, als Nizar anfing davon zu reden, dass er sich in seiner Ehre verletzt fühle. Außerdem half es mit Sicherheit, dass Ceyda aufgrund ihre blonden Haare und ihrer kurvigen Figur damals als eines der schönsten Mädchen aus dem gesamten Fürstentum Balanjar bezeichnet wurde. Vermutlich nur aus diesem Grund hatte Jari überhaupt Interesse an ihr gezeigt.
Anfangs hatte Ceyda der Hochzeit eher skeptisch gegenübergestanden. Doch inzwischen musste sie eingestehen, dass sie viel mehr Glück gehabt hatte, als viele andere Mädchen in einer ähnlichen Lage es gehabt hätten. Jari war sehr nett und behandelte sie gut. Ceyda mochte ihn, auch wenn von echter Liebe keine Rede sein konnte. Sie sah Jari mehr als eine Art guten Freund. Und auch mit Jaris Eltern verstand sie sich sehr gut. Da Nizar selber aus eher einfachen Verhältnissen stammte, war er nicht so schrecklich formell und abgehoben wie die meisten anderen Adeligen, sondern eher offen und freundlich. Auch wenn er manchmal eine ziemlich grausamen Humor hatte, war Ceyda froh, ihn zu kennen. Ohne ihn, wäre sie in ihrer Anfangszeit in Gortharia wohl nicht zurechtgekommen, denn als sie vor etwa 12 Jahren hier hergezogen war, hatte sie bis auf ihren Onkel niemanden gekannt. Und den hatte sie zuvor auch nur zwei mal gesehen, als dieser sie in ihrer Kindheit auf dem Hof in Balanjar besucht hatte. Seitdem Ceyda in Gortharia wohnte hatten die beiden jedoch ein freundschaftliches Verhältnis zueinander aufgebaut, auch wenn sie immer noch nicht allzu viel Kontakt hatten. Vielmehr nutzte Ceyda inzwischen die vielen Kontakte und Beziehungen, die sie inzwischen dank Nizar in Gorharia pflegte. Er war es gewesen, der ihr die richtigen Leute vorgestellt und die wichtigen Orte gezeigt hatte. Dank ihm kannte Ceyda sich inzwischen ziemlich gut in der Hauptstadt aus und hatte gute Beziehungen innerhalb des Adels, der Palastwache, der Stadtwache und sogar einigen Untergrundorganisationen .
Inzwischen lebten auch Ceydas Eltern in Gortharia. Sie waren vor ca. 2 Jahren zu ihrem Onkel gezogen, kurz nachdem Jari in den Krieg gegen Gondor gezogen war. Anscheinend hatte ihr Onkel Hilfe gebraucht und ihr Vater hatte dafür seinen Hof an Ceydas kleine Brüder weitergegeben. Worin genau diese Hilfe bestand war Ceyda nicht bekannt und sie fragte auch nicht so genau nach. Sie war einfach nur froh, dass sie ihre Eltern jetzt wieder häufiger zu Gesicht bekam. Auch wenn sie sich zuvor regelmäßig geschrieben hatten, war es doch etwas anderes, sich in Person zu treffen. Ich muss die beiden mal wieder besuchen, nahm sich Ceyda bei dem Gedanken an ihre Eltern vor.
Jari regte sich. Er schien langsam aufzuwachen.
„Guten Morgen, Schlafmütze“, begrüßte Ceyda ihn.
„Morgen“, antworte Jari schlaftrunken.
„Irgendwann müssen auch die größten Langschläfer aufstehen, nicht wahr?“
„Ja leider. Irgendwie ein deprimierender Gedanke.“
„Kommst du mit zum Frühstück?“
„Gib mir eine Minute. Diese verdammte Helligkeit hält doch keiner aus.“
„Ja, mir wäre Regen jetzt auch lieber.“
„Du nutzt auch jede Gelegenheit, um deine Verrücktheit zu erwähnen, oder?“
„Klar, ich muss dich ja schließlich daran erinnern, dass du freiwillig eine Verrückte geheiratet hast.“
„Wie auch immer. Lass uns Frühstücken.“
Allmählich begann es zu dämmern. Ceyda lief die noch viel bevölkerten Straßen Gortharias entlang und genoss, dass es allmählich wieder kühler wurde. Sie trug ein schlichtes, knielanges, luftiges, azurblaues Kleid – ihr Lieblingskleidungsstück, kombiniert mit einem farblich dazu passenden Hut, um ihr Gesicht vor der Sonne zu schützen.Wenn sie durch die Straßen ging, trug sie lieber einfache Kleidung dieser Art, um nicht großartig als Adelige aufzufallen.
Sie hatte den Tag größtenteils damit verbracht, einigen einfachen Leuten frisches Wasser zu spendieren. Sie empfand es als ihre Pflicht als Tochter einer einfachen Bauersfamilie, die es ohne eigene Leistung zu Reichtum gebracht hatte, diesen Reichtum mit anderen einfachen Leuten zu teilen. Doch sie würde lügen, wenn sie behaupten würde, das sie es nicht auch genießen würde, wenn die Leute vor Dankbarkeit vor ihr auf die Knie fielen. Insbesondere wenn es sich dabei um so einen hübschen jungen Mann handelte, wie Javed. Ceyda hatte ihn jetzt schon häufiger gesehen und war jedes mal mehr von seinem schüchternen Lächeln und seiner ehrlichen Dankbarkeit angetan. Zum Glück begleitete Jari sie nicht bei ihren alltäglichen Geschäften, denn sonst könnte er genau beobachten, wann die junge Frau rot wurde.
Ceyda erreichte das Anwesen, in dem sie gemeinsam mit ihrem Ehemann, dessen Eltern sowie einigen Bediensteten gemeinsam lebte. Im Vergleich mit den Anwesen der anderen Adeligen oder gar dem Königspalast war es eher klein und doch war es eigentlich viel zu groß für so eine kleine Familie. Das Haus, in dem Ceyda aufgewachsen war hatte eine ähnliche Menge an Leuten beherbergt und besaß maximal ein drittel der Größe dieses Anwesens. Ceyda und Jari hatten den gesamten dritten Stock für sich alleine. Vermutlich wartete er schon auf sie.
Ceyda betrat das Anwesen und spürte direkt, das etwas nicht stimmte. Jari und seine Eltern standen in der Eingangshalle und sahen sich an. Jari wirkte erschrocken, Tarina – Jaris Mutter – wirkte regelrecht entsetzt, während Nizar eher grimmig dreinschaute. Wobei das eigentlich nicht viel aussagte. Nizar schaute immer grimmig.
„Was ist los?“, wollte Ceyda wissen.
„Wir haben soeben eine Nachricht er halten. Die Belagerung des Erebor dauert länger an als erhofft. Die Truppen vor Ort bitten um Verstärkung. Und der König... ist dieser Bitte nachgekommen“, antwortete Jari mit schwerer Stimme.
„WAS? Heißt das... Heißt das, du musst wieder in den Krieg?“
„Ja.“
„Aber, du hast dich doch gerade erst von deiner letzten großen Schlacht erholt. Die können dich doch jetzt nicht einfach so wieder wegschicken.“
„Doch, das können sie.“
„Verdammt.... Was hast du gesagt, wo es hingeht? Erebor? Nunja, immerhin etwas.“
„Was soll das denn heißen?“
„Naja, Zwerge sind doch ziemlich klein. Die können doch nicht so gefährlich sein, oder?“
Noch während Ceyda diese Worte aussprach, merkte sie, wie dumm und naiv das klang. Jari und Nizar waren sich einen Blick zu und beide rollten mit den Augen. Ceyda lief leicht rosa an.
„Wenn der König zu den Waffen ruft, wird mein Sohn diesem Ruf folgen“, ergriff Nizar nun das Wort. „Wir haben dem König Treue geschworen und dazu gehört nun einmal auch der Kriegsdienst. Ich bin mir sicher, dass du mich stolz machen wirst, mein Sohn.“
„Ja Vater!“
„Nun, ich bin mir sicher, du und Ceyda habt noch ein wenig was zu besprechen, bevor du aufbrichst. Komm Tarina, wir lassen die beiden allein.“
Während die Eltern von Jari den Raum verließen, sah Ceyda ihren Ehemann traurig an. Sie fragte sich, mit wie vielen neuen Narben Jari wohl vom Erebor zurückkehren würde – falls er überhaupt zurückkehren würde. Als würde Jari genau wissen, was in Ceyda vorging, fragte er:
„Du machst dir Sorgen, nicht wahr?“ Tränen schossen in Ceydas Augen, während sie antwortete:
„Was ist, wenn du diesmal weniger Glück hast und die Klinge deiner Feinde nicht nur an deinem Gesicht entlang schrammt, sondern dir den Schädel spaltet?“
„Ich werde aufpassen, versprochen.“
„Das glaube ich dir. Ich weiß, dass du gut bist. Aber wie wir beide wissen...“ Ceyda fuhr mit ihrem Finger an Jaris Gesichtsnarbe entlang...„reicht ein kleiner Moment der Unachtsamkeit aus, und alles kann vorbei sein. Wie kannst du nur so zuversichtlich sein?“
Ceyda machte sich nun ernsthafte Sorgen. Und außerdem fühlte sie sich ein wenig schuldig, wegen dem, was sie heute in der Stadt so gedacht und getrieben hatte.
„Ganz ehrlich: Ich habe auch Angst. Von dir getrennt zu sein, war schon in Gondor schlimmer, als alles Andere, was ich jemals in meinem Leben durchgemacht habe. Und mir graut es davor, dass wir uns morgen früh erneut verabschieden müssen. Doch ich werde nicht zulassen, dass diese verdammten Zwerge uns für immer entzweien. Ich werde zurückkehren. Das verspreche ich dir.“
„Ich nehme dich beim Wort.“, brachte Ceyda gerade noch schluchzend heraus, bevor sie sich abwandte und leise in ein Taschentuch weinte. Jari kam auf sie zu und legte tröstend seine Hand auf ihre Schulter.
„Die Erinnerung an dich, wird mir in der Schlacht die nötige Kraft geben“, sagte er und gab Ceyda einen flüchtigen Kuss auf die Stirn.
„Danke, Frau Kontio. Ihr seid zu gutmütig zu mir.“
„Ich hab dir doch schon hundert mal gesagt, dass du mich Ceyda nennen sollst, Javed“, entgegnete Ceyda leicht errötend. Sie war wieder einmal dabei, Wasser und Essen an einige einfache Leute zu verteilen. Inzwischen hatte es sich offenbar herumgesprochen, wann und wo sie auftauchen würde, denn es wurden immer mehr Leute, die sich von ihr helfen lassen wollten. Ceyda freute sich darüber. Je mehr Leuten sie helfen konnte, desto besser fühlte sie sich.
„Verzeihung, Frau Ceyda“, antwortete der hübsche junge Mann namens Javed. Er hatte kurzes, stoppeliges, braunes Haar und einen erstaunlich gepflegten Vollbart. Seine braunen Augen erfüllten Ceydas Herz auch an einem solchen kalten Tag mit Wärme. Und im Gegensatz zur Wärme der Sonne, löste diese Wärme in Ceyda keinen Unmut, sondern etwas ganz anderes aus.
„Nun ähh“, stammelte Ceyda. „Sehen wir uns morgen wieder?“, rutschte ihr die Hoffnung raus, bevor sie sie zurückhalten konnte.
„Vermutlich nicht“, entgegnete Javed traurig. „Mein Meister erlaubt mir nur sehr wenige freie Stunden am Tag.“
„Oh äh, das tut mir Leid. Als Sklave hast du bestimmt wenig Freizeit, oder?“
„Ja, und wenn ich Glück habe liegt diese Freizeit um diese Tageszeit, denn dann kann ich hier herkommen und euch treffen. Ihr seid die einzige nicht-Sklavin, die freundlich zu mir ist.“
„Wann hast du denn das nächste mal frei“, fragte Ceyda behutsam.
„Morgen am späten Abend.“
Ceyda überlegte kurz, ob sie das folgende wirklich sagen wollte, doch schließlich folgte sie dem Impuls:
„Nun, was hältst du davon, wenn ich dich morgen in eine Kneipe einlade?“
Javed wirkte für einen Augenblick sprachlos. Dann stammelte er:
„Meint... Meint ihr das ernst?“
„Das meine ich durchaus“, begann Ceyda grinsend. „Allerdings werde ich mein Angebot wieder zurückziehen, wenn du nicht augenblicklich anfängst du zu mir zu sagen.“
„Äh ja gerne. Ihr seid... ähm ich meine... du bist zu freundlich zu mir Ceyda“, sagte er sanft und die beiden lächelten sich an. Sklave und Adelige und doch dachten in diesem Moment beide genau das gleiche....
„Also bis morgen dann“, sagte Ceyda, die erneut rot angelaufen war und verschwand.
„Ja, bis morgen“, erwiderte Javed schwach.
„Trau keinem, der nicht trinkt“, sagte der Barde und hob einige Sekunden später seinen Krug Bier an die Lippen.
„Hört Hört!“, erwiderte Ceyda und beobachtete wie der mittelgroße Mann mit kurzen braunen Haaren und blauen Augen seinen kompletten Humpen ohne abzusetzen leerte.
„Was meinst du, Javed?“, fragte Ceyda zu ihrer Begleitung gewandt. „Kriegst du das auch hin?“
„Ich weiß nicht... Ich trinke eigentlich nicht so häufig.“
„Ach komm schon, sei kein Spielverderber. Du hast doch gehört, was der Barde gesagt hat. 'Trau keinem der nicht trinkt!' Also los. Machen wir ein Wetttrinken! ZWEI GROßE BIER BITTE!“, rief Ceyda quer durch den Raum dem Wirt des humpelnden Säufers zu, während der Barde begann, eine angeblich wahre Geschichte von Olvir, einen früheren Prinzen von Rhûn zu erzählen. Ceyda mochte die Geschichte. Olvir erinnerte sie ein wenig an sich selbst, wie er sich selbst als Prinz unter das einfache Volk mischte, mit ihnen trank und mit ihnen...
Das Bier wurde geliefert. „Also dann, Prost!“, sagte Ceyda laut und stieß mit Javed an. Der erwiderte Ceydas Enthusiasmus nur widerwillig, doch genau wie Ceyda es sich gewünscht hatte, begann er den Krug in großen Schlücken zu leeren. Allerdings war er der jungen Frau lange nicht gewachsen. Ceyda hatte inzwischen auf genügend Festen gelernt, was es hieß, richtig zu trinken. Und auch wenn man es ihr nicht ansah, so konnte sie zumindest die weniger trinkfesten Männer locker unter den Tisch trinken. Noch bevor Jahved beim letzten Viertel seines Kruges angekommen war, hatte Ceyda schon längst zwei neue Krüge bestellt. Sie bemerkte gar nicht, das Javed immer noch trank.„Also Javed, erzähl doch mal ein bisschen mehr von... Oh, du bist ja immer noch nicht fertig.“
Der Abend plätscherte so vor sich hin, während Ceyda unbarmherzig ein Bier nach dem anderen bestellte. Javed war schon merklich betrunken und auch Ceyda bemerkte allmählich, wie der Alkohol anfing zu wirken. Abwechselnd lauschten die beiden der äußerst interessanten Geschichte des Barden und unterhielten sich. Bei letzterem verfielen sie mehr und mehr in belangloses und vor allem zusammenhangsloses Gelaber.
„Ihr seid zu freundlich zu mir, Ceyda.“
„Das heißt du!“, mahnte die junge Frau streng.
„Ihr seid zu du zu mir, Ceyda.“, entgegnete Javed voller Selbstbewusstsein.
„Es ist hoffnungslos!“, meinte Ceyda kopfschüttelnd. „ZWEI BIER, BITTE!“
„FICK DIE SONNE!“, brüllte Ceyda unvermittelt durch die Kneipe. Zuvor war es noch sehr still gewesen, weil alle gespannt dem Barden gelauscht hatten. Mehrere Köpfe drehten sich genervt zu ihr um, doch der Barde blieb komplett professionell und erzählte weiter seine Geschichte von Olvir. Ceyda gefiel das Bild, das er von den alten Königen zeichnete. Entsprach es wirklich der Wahrheit?
„Und das war die Geschichte von Olvir, ehemaliger König von Rhûn.“, beendete der Barde tief in der Nacht seine Geschichte. „Und nun stellt euch vor, was in der damaligen Zeit alles nach einem Abend wie heute hätte passieren können. Am Ende könntet ihr neben unserem König aufwachen! Doch leider erscheint es mir nicht sehr wahrscheinlich, dass jemandem von euch das passieren könnte… die Könige des alten Reiches waren anders. Und ich weiß nicht, ob ich neben unserem derzeitigen Herrscher, einem Nazgul aus Mordor, aufwachen will. Ich galube das Erlebnis wäre nicht sehr berauschend. Habt dank, dass ihr mir so lange gelauscht habt, obwohl es spät wurde. Zum Schluss bitte ich euch alle um eine kleine Spende.“
Er zog einen kleinen Sack aus einer Tasche und reichte ihn dem ihm am nächsten Stehenden. Während der Beutel sich langsam füllte, schwoll in der Kneipe ein immer lauter werdendes Gemurmel an. Ceyda schmiss dem Barden eine nicht zu verachtende Summe in den Beutel, während der Wirt des Humpelnden Säufers sich langsam seinen Weg in Richtung des Barden bahnte. „Ich muss zugeben, dass ich euch unterschätzt habe“, belauschte Ceyda, was der Wirt mit seiner kehligen Stimme zu dem Barden sagte. „Wollt ihr morgen Abend wieder kommen?“
„Ich weiß nicht.“, antwortete dieser. „Es freut mich aber dennoch, dass mein Auftritt euch gefallen hat, irgendwann werden wir uns bestimmt wieder sehen.“
„Gefallen?“, lachte der Wirt leise. „Ich bin kein Freund von großen Worten, jedoch haben deine es geschafft die Leute anzusprechen und ich hab so viel an einem Abend verdient, wie schon seit einer halben Ewigkeit nicht mehr. Auch wenn der letzte Kommentar wohl nicht hätte sein müssen. Ich bin kein Mann der Worte, aber das könnt’ man schon als Hetzerei gegen unsere Herrscher ansehen.“
„Jeder sieht das, was er sehen will, werter Herr. Ich habe nur die Wahrheit gesagt – so sehr mich der Sieg über den Westen erfreut und so glorreich die Zukunft Rhûns auch sein mag… Was ich über die damalige Zeit erfahren habe, war trotzdem in meinen Augen schöner, dort waren wir alle gleich, auch wenn die Herrscher noch geherrscht haben. Sie waren trotz allem deutlich näher am Volk.“
Ceyda überraschten diese Worte sehr. Die alten Könige, wie dieser Barde sie zeichnete, erinnerten sie deutlich mehr an sich selbst. Sollte sie vielleicht selber Königin werden? Eine gerechte und gutmütige Herrscherin, die dem Volke dient, anstatt zu verlangen, dass das Volk ihr dienen müsse? Ceyda schmunzelte bei diesem Gedanken glücklich in sich hinein.
„Euch hat *hicks* die Geschichte also gefallen?“, fragte Jahved lallend.
„Das heißt dir“, entgegnete Ceyda mahnend, doch auch belustigt über den Zustand ihres Freundes.
„Euch hat die Gedirte also gedirt?“, fragte Jahved.
Ceyda lachte laut auf. „Du bist süß“, sagte sie und bevor sie den Impuls unterdrücken konnte, küsste sie Jahved auf die Wange. Beide erröteten. Wie hatte der Barde noch gesagt? Ein König, der sich unter das einfache Volk mischte. Sich mit ihnen betrank und vergnügte? Der am nächsten morgen neben dem einfachen Volk aufwachte? Irgendwie war das hier doch so was ähnliches.
„ZWEI BIER BITTE!“
Ceyda erwachte früh am morgen. Einzelne Sonnenstrahlen schienen durch die Vorhänge. Verdammt! Sie hatte gerade davon geträumt, wie sie sich als Königin von Rhûn gemeinsam mit ihren Bediensteten – Sklaven besaß sie keine – bis in die frühen Morgenstunden betrank. Es war ein guter Traum gewesen. Sie war beim Volk aufgrund ihres gutmütigen und gerechten Herrschaftsstils sehr beliebt gewesen. Doch leider war das alles nur ein Traum.
Ceyda seufzte und stand auf. Sie war vielleicht nicht die Königin von Rhûn, doch sie hatte einen nicht zu verachtenden Einfluss in Gortharia. Und sie half dem einfachen Volk. Das war doch zumindest schonmal etwas.
Es klopfte an der Tür. „Ihr habt Besuch, Herrin Kontio.“ Besuch so früh am Morgen? „Ich komme sofort. Ich muss mich nur eben umziehen“
Zwanzig Minuten später betrat Ceyda die Eingangshalle ihres Anwesens. Tarina und Nizar waren auch bereits da. Und außerdem war da ein Mann, den Ceyda nicht kannte. Er war groß, hatte hellbraunes, mittellanges, ungepflegtes Haar und einen Vollbart.
„Ah, da bist du ja endlich, Ceyda“, ergriff Nizar das Wort. Er schaute ziemlich grimmig drein. „Alvar hier sagt, er habe eine wichtige Nachricht für uns drei. Er wollte warten, bis du auch da bist, bevor er es erzählt.“
Ceyda fiel auf, dass der Mann namens Alvar sehr nervös wirkte. Und auf einmal kam ihr ein schrecklicher Gedanke.
„Also, ähm...“, begann Alvar stammelnd. „Ich bin gerade zurück von der Schlacht am Erebor. Ich habe dort gemeinsam mit ihrem Sohn beziehungsweise ihrem Ehemann gedient. Nun ist es meine traurige Aufgabe ihnen mitteilen zu müssen, dass Jari in der Schlacht gefallen ist.“
Diese Worte trafen die gesamte Familie wie ein Schlag. Tarina begann heftig zu schluchzen und wurde von Nizar in den Arm genommen. Dessen grimmiger Gesichtsausdruck hatte sich nun in einen Ausdruck sprachloser Trauer verwandelt, während er Tarina tröstend den Rücken tätschelte. Ceyda dagegen brauchte einen Moment, um wirklich zu realisieren, was der Mann namens Alvar da gerade gesagt hatte. Jari war tot? Gefallen? Sie hatte sich zwar oft Sorgen gemacht, doch irgendwie hatte sie niemals wirklich daran geglaubt. Sie konnte es sich nicht vorstellen. Tränen schossen ihr in die Augen, während sie darüber nachdachte, dass sie nie wieder mit Jari sprechen würde. Dass sie nie wieder mit ihm lachen würde. Dass sie nie wieder neben ihm einschlafen und aufwachen würde. Der Mann, dem sie es zu verdanken hatte, dass sie nicht mehr in Armut lebte, war tatsächlich tot. Sie wollte es nicht glauben, doch der Gedanke speicherte sich mit jeder Sekunde mehr und mehr in ihrem Bewusstsein ab. Sie hatte ihn nie so geliebt, wie eine Ehefrau ihren Mann lieben sollte. Und doch war sie bestens mit ihm ausgekommen. Es war, als würde sie ihren besten Freund verlieren.
„Es... Es tut mir Leid“, schob Alvar hinterher.
„Auf Jari!“, sagte Ceyda zum gefühlt fünfhundertsten Mal am heutigen Tag und stieß mit Alvar an, der den Trinkspruch erwiderte: „Auf den besten Kampfgenossen, den ich jemals hatte.“
Sie befanden sich in einem Brauhaus und tranken bereits seit einer ganzen Weile auf Jari. Nizar und Tarina waren bereits gegangen. Sie müssten 'einige Dinge in die Wege leiten'. Dass alle wussten, dass es sich dabei um Jaris Beerdigung handelte, blieb ein offenes Geheimnis unter den Anwesenden. Jetzt saß Ceyda hier alleine mit dem Mann namens Alvar und die beiden betranken sich im Namen ihres verstorbenen Ehemanns. Sie würde es auch ihren Elten und ihrem Onkel ausrichten müssen, doch danach stand ihr heute überhaupt nicht der Sinn. Sie musste das Ganze erst einmal selber verarbeiten, bevor sie die Nachricht weiter verbreiten konnte.
Alvar hatte bereits erzählt, dass er sich auf dem Weg zum Erebor mit Jari angefreundet hatte. Er habe noch nie mit einem so witzigen, netten und gleichzeitig unfassbar fähigen Kameraden gedient. Er sei bereits Veteran vieler Schlachten, doch fallen zu sehen sei das schlimmste gewesen, was er jemals in seinem Leben durchgemacht hatte.
„Ich sehe es immer noch vor mir“, meinte Alvar erschüttert. „Wie Jari diesen einen Zwerg niederstreckt und dann...“ „NEIN!“, unterbrach Ceyda ihn lautstark und Alvar blickte verdutzt drein. „Bitte... ich will das nicht hören“, fuhr sie mit ruhigerer Stimme und Tränen in den Augen fort. Es war schlimm genug zu wissen, dass Jari Tod war. Da wollte sie nicht auch noch hören, wie es passiert war.
„Noch zwei Bier bitte“, meinte Alvar, als er merkte, dass der Inhalt der Gläser sich bei den Beiden schon wieder dem Ende neigte. „Verdammte Zwerge!“, schob er mehr zu sich selbst hinterher. „Verdammte Zwerge!“, bestätigte Ceyda und leerte ihren Krug.Und so tranken die beiden weiter bis spät in die Nacht, Erinnerungen an Jari austauschend.
„Kanscht du nicht aufpassen?“, pöbelte Alvar einen Passanten an, den er gerade umgerannt hatte, als er sich auf den Weg zur Toilette gemacht hatte
„Verzeihung“, murmelte der ärmlich aussehende Mann zerstreut.
„Ja, toll das hilft mir jetzt auch nicht weiter. Jetzt habe ich deinen Arme-Leute-Gestank an mir kleben.“
Ceyda, die bis eben noch darüber nachgedacht hatte, ob es gut schmecken würde, wenn man Kirschsaft und Bananensaft miteinander vermischte, horchte auf. Der ärmlich aussehende Mann wirkte eingeschüchtert aufgrund von Alvars kräftiger Gestalt.
„Beruhig doch doch Alvar“, versuchte Ceyda beschwichtigend einzugreifen. Sie bemühte sich dabei, ihren Zorn bezüglich Alvars Wortwahl zurückzuhalten, auch wenn es ihr aufgrund des Alkohols nicht so recht gelingen wollte.
„Halt dich da raus, Weib!“
„Der Mann hat doch überhaupt nischts getan! Du bist in ihn rein gerannt.“
„ICH SAGTE, DU SOLLST DICH DA RAUSHALTEN, DU DUMME SCHLAMPE!“, brüllte Alvar, der anscheinend komplett ausgerastet war. Ceyda war kurzzeitig verwirrt. Hatte sie sich verhört? Während sie beobachtete, wie sich auf Alvars Hose ein dunkler Fleck ausbreitete, wurde ihr angeekelt klar, dass sie sich nicht verhört hatte.
„Wie hast du mich genannt?“
„Selbscht Schuld, wenn du dich in meine Angelegenheiten einmischst.“
Während Ceyda beobachtete, wie die ärmlich aussehende Mann den Streit nutzte, um langsam wegzuschleichen, überlegte sie, was sie tun sollte. Sie hatte da eine Möglichkeit, von der sie sich nicht sicher war, ob sie sie nutzen sollte. Im Grunde war Alvar doch einfach nur in seiner Trunkenheit ausgerastet. Und doch trieb irgendetwas, vielleicht war es der Alkohol, vielleicht aber auch der Schmerz aufgrund des Todes ihres Ehemanns, trieb Ceyda dazu, die folgenden Worte zu sagen.
„Nun, ich fühle mich von die beleidigt und in meiner Ehre verletzt. Wenn meine Ehre verletzt wird, ist auch die Ehre meines Stiefvaters verletzt. Und der wird das ganz gewiss nicht auf sich sitzen lassen. Schon gar nicht jetzt, wo sein Sohn gestorben ist. Es wird zum Duell kommen. Du gegen Nizar, einen der besten Krieger, der jemals gelebt hat.“
Alvar erstarrte mit inzwischen fast komplett nasser Hose. Ihm schien erst jetzt so richtig klar zu werden was er angerichtet hatte. Und noch ehe Ceyda „HEY! WARTE!“, schreien konnte, war Alvar aus dem Brauhaus geflohen. Ceyda sprang auf, doch auf einmal merkte sie, wie die ganze Welt anfing zu schwanken. Anscheinend hatte Gott etwas dagegen, dass sie Alvar folgte, denn sonst hätte er die Welt nicht so schwanken lassen. Ceyda ließ sich zurück auf ihren Platz fallen.
„Ein Bier, bitte!“
„Hallo Rhiannon. Schön, dass wir uns mal wieder sehen“, begrüßte Ceyda eine alte Freundin von sich.
„Ja, freut mich auch“, antwortete Rhiannon, während sie ihr langes, goldblondes Haar zurückwarf.
„Zunächst mal mein herzliches Beileid zum Verlust deines Mannes. Es ist mit Sicherheit schwer für dich, dich heute mit mir zu treffen.“
„Nein nein, im Gegenteil“, antwortete Ceyda und wischte sich eine einzelne Träne aus dem Gesicht. „Ich bin doch froh, wenn ich etwas Gesellschaft habe und Abwechslung bekomme. Am schlimmsten sind die Stunden in denen ich allein bin.“
„Das kann ich gut verstehen. Und wie geht es Tarina und Nizar? Kommen die beiden zurecht? Ich muss die beiden unbedingt mal wieder besuchen. Sie waren ja immer so nett zu mir.“
„Die beiden sind immer noch schwer erschüttert. Sie haben ihren einzigen Erben verloren. Das Adelsgeschlecht Kontio wird innerhalb von einer Linie schon wieder aussterben.“
„Das muss wirklich hart sein. Es ist einfach schrecklich. Jari war ein netter junger Mann und ist viel zu früh gestorben.“
„Ja, das ist er. Aber lass uns doch bitte von etwas anderem sprechen. Wie ist es dir so ergangen?“
„Och, mir persönlich geht es eigentlich ganz gut. So wie immer. Allerdings mache ich mir Sorgen um meinen Bruder.“
„Deinen Bruder? Radomir? Ist der nicht seit kurzem Fürst von Gorak?“
„Ja nun... der Grund, warum ich dich heute hier herbestellt habe ist Folgender... Ich wollte eigentlich schon seit Ewigkeiten mit dir darüber sprechen, doch irgendetwas kam immer dazwischen und jetzt wo dein Mann gestorben ist, weiß ich nicht, ob ich überhaupt mit dir darüber sprechen sollte, doch andererseits bist du eine der wenigen Personen, die ich schon seit Ewigkeiten kenne und von der ich weiß, dass ich ihr vertrauen kann und mit irgendjemandem muss ich schließlich darüber sprechen und du sagst ja auch, dass du dir Abwechslung wünscht, aber...“
„Ganz ruhig, Rhiannon“, unterbrach Ceyda ihre alte Freundin, denn diese Worte waren in einer unfassbaren Geschwindigkeit aus Rhiannon herausgesprudelt. „Atme einmal tief durch und erzähl mir, was dich bedrückt. Ich halte das schon aus.“ Rhiannon tat wie ihr geraten und sagte dann mit klarer Stimme: „Mir ist zu Ohren gekommen, dass meinem Bruder seine Macht zu Kopfe gestiegen ist. Er war schon immer ein wichtigtuerisches Arschloch, doch seitdem ihm das Fürstentum gehört, hat er anscheinend jede Form von Menschlichkeit verloren. Er hält hunderte von Sklaven, misshandelt sie nach belieben und unterdrückt das eigene Volk mit astronomischen hohen Abgaben, die er nur nutzt, um seine eigene Eitelkeit zu befriedigen“, redete sich Rhiannon in Rage. Sie hatte offensichtlich schon lange darauf gewartet, mit jemandem darüber sprechen zu können.
„Ich kann nicht offen gegen ihn vorgehen. Es wäre ihm ohne weiteres zuzutrauen, dass er mich töten lässt, wenn er erfährt, was ich von seiner Herrschaft halte. Insbesondere jetzt, wo er als Gast in Gortharia ist. Daher muss auch alles, was ich dir gesagt habe und noch sagen werde, auf jeden Fall unter uns bleiben.“
„Meine Lippen sind versiegelt“, versprach Ceyda. „Allerdings weiß ich nicht, wie ich dir helfen kann, meine Liebe.“
„Ich brauche jemanden vor Ort in Gorak, dem ich vertrauen kann. Jemanden, der mir berichtet was los ist und mir erzählt, ob die Gerüchte wahr sind. Man hört so einiges, aber ich weiß nicht, wie viel ich wirklich glauben soll. Einerseits über die Herrschaft meines Bruders und andererseits über Anschlagspläne, die gegen ihn vorliegen sollen.“
„Du willst deinen Bruder tot sehen?“, fragte Ceyda schockiert.
„Nein! Aber ich will wissen, was vor sich geht. Ich habe mit keinem dieser Pläne irgendetwas zu tun. Und ich hasse es, einfach nur hier herumzusitzen und Gerüchte zu hören.“
„Also... du willst, das ich nach Gorak gehe und für dich spioniere?“
„Jetzt wo du es so formulierst, hört es sich bescheuert an“, stellte Rhiannon resigniert fest. „Natürlich wirst du nicht einfach so nach Gorak aufbrechen, nur um Hirngespinsten meinerseits nachzujagen. Immerhin ist dein Ehemann gerade gestorben. Ich habe viel zu egoistisch gedacht. Tut mir Leid“, meinte Rhiannon und schaute beschämt drein
„Nein nein, alles gut. Ich glaube, nach Gorak zu gehen, ist genau das Richtige für mich. Ich wollte schon immer mal das Gebirge sehen. Dort soll es ja so schön sein. Ich glaube, das könnte genau die Ablenkung sein, die ich gerade brauche.“
„Aber das Wetter soll dort doch immer so schlecht sein.“
„Umso besser!“
Sie näherten sich der Stadt Gorak. Kurz vor ihrer Abreise war anscheinend ein Anschlag auf Fürst Radomir fehlgeschlagen und dieser war daraufhin unmittelbar aus der Stadt geflohen. Dies hatte Rhiannon nur noch in dem Gedanken bestärkt, eine vertraute Person vor Ort zu haben und sie gleichzeitig dazu verleitet, Ceyda noch einige ihrer Wachen zum Schutz mitzuschicken. Diese waren allesamt nett und freundlich. Ceyda verstand sich gut mit jedem Einzelnen von ihnen. Sie waren jetzt seit knapp einer Woche mit einer Kutsche unterwegs und hatten dabei die schönsten gebiete durchquert, die Ceyda jemals gesehen hatte. Sie kannte bisher nur die trockene Wüstengegend Balanjars und die Großstadt Gortharia. Hier im Gebirge war die Vegetation einfach faszinierend. Außerdem regnete es sehr häufig, wie auch jetzt im Moment, weswegen Ceyda auch in so guter Stimmung war.
Plötzlich holperte die Kutsche heftig und sie hielten an. „Was ist da los?“, rief eine der Wachen, die gerade Pause hatte und gemeinsam mit Ceyda in der Kutsche saß und Karten gespielt hatte.
„Da war etwas auf dem Weg. Unsere Räder.“, erklang eine Stimme von Vorne.
„Verdammt!“; antwortete die Wache und verließ die Kutsche, um sich das anzusehen. Ceyda und die anderen Wachen, die gerade frei hatten, folgten ihr.
„Es wird einige Zeit dauern, bis wir das repariert haben“, stellte eine der Wachen frustriert fest.
„Wir sind fast angekommen. Wollen wir den restlichen Weg nicht einfach zu Fuß gehen?“
„Bei dem Regen? Und außerdem, willst du die Kutsche etwa hier zurücklassen? Du weißt doch, wie sehr Herrin Rhiannon an dieser Kutsche hängt.“
„Aber es ist doch schon so spät. Wenn wir erst noch die Kutsche reparieren, bekommen wir womöglich kein Zimmer mehr in Gorak.“
Die Diskussion drehte sich noch ein wenige weiter im Kreis, doch Ceyda hörte nur mit halben Ohr zu. Sie genoss es hier inmitten der Natur im Regen zu stehen. Es erinnerte sie daran, wie sie als kleines Kind immer in Pfützen gespielt hatte und dafür von ihrer Großmutter getadelt wurde, weil das doch viel zu schmutzig sei. Unvermittelt fing Ceyda an heftig zu grinsen.
„Wisst ihr was? Ich werde den restlichen Weg zur Stadt zu Fuß laufen und uns schon mal eine Unterkunft suchen. Währenddessen könnt ihr die Kutsche reparieren. Ich würde euch dabei sowieso nur im Weg stehen. So sparen wir Zeit und müssen gleichzeitig die Kutsche nicht hier zurücklassen.“
Die vier Wachen sahen die junge Frau fassungslos an.
„Aber... was ist, wenn euch etwas passiert? Wir sind doch hier, um euch zu beschützen.“
„Was soll mir schon passieren? Wir sind schon fast in der Stadt und da sind dann ja auch Wachen.“
„Aber ihr könnt doch nicht in eurem Aufzug alleine durch den Regen laufen.“
Ceyda trug mal wieder ihr Lieblingskleid: knielang, luftig, azurblau und schlicht.
„Wieso denn nicht? Wer würde bei diesem herrlichen Wetter denn nicht gerne einen Spaziergang durch diese wunderschöne Landschaft machen?“
Die Wachen wirkten allesamt fassungslos. Bevor jemand ihr noch weiter widersprechen konnte, machte Ceyda sich auf den Weg.
„Aber...“, rief ihr eine der Wachen hinterher.
„Kümmert euch um die Kutsche. Ich will nicht allzu lange in der Stadt auf euch warten müssen“, rief Ceyda fröhlich und lief federnden Schrittes den Gebirgspfad entlang, von dem sie aufgrund der Beschilderung wusste, dass er noch Gorak führte. Man konnte die Stadtmauern sogar schon erkennen. Ceyda pfiff ein Lied vor sich hin, während sie den Weg so entlang ging. Es war dieses Gefühl, einfach wieder ein unbeschwertes Kind zu sein. Ohne Sorgen bezüglich der Zukunft, weil der Regen ihrer Familie eine reichhaltige Ernte versprach.
Als Ceyda sich der Stadt näherte kam ihr ein junges Mädchen entgegen. Sie war sehr dünn, trug ein kurzer weißes Kleid und hatte zerzauste braune Haare. Ceyda grüßte das junge Mädchen freundlich, als sie sich auf halber Strecke begegneten. Das Leben konnte ja so schön sein.