Das Schicksal Mittelerdes (RPG) > Südöstliches Harad

Die Provinz Alodia

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Fine:
Narissa und Aerien aus Toba


Sie hatten nach einer kurzen Beratschlagung beschlossen, den direkten Weg zur Provinz Alodia im Südwesten Kermas zu nehmen. Das bedeutete, dass Narissa und Aerien auf die gut ausgebaute Straße in Richtung der Hauptstadt von König Músabs Reich zurückgekehrt waren und dieser bis zum großen Fluss Atbara gefolgt waren, nur wenige Meilen von seinem Zusammenfluss mit der zweiten Lebensader des Reiches, dem Sobat, entfernt. Dort hatten sie eine bewachte Furt überquert und den Süden Kermas betreten.

Nur wenige Meilen jenseits der Furt hatte sich Aerien ein Anblick geboten, der sie fasziniert hatte. Noch immer war das Land um sie herum flach und fruchtbar gewesen und bis auf eine einzige Erhebung in der Nähe waren keinerlei Hügel zu sehen gewesen. Umso größer war Aeriens Erstaunen gewesen, als die vermeintliche ferne Erhebung sich mit einem Mal zu bewegen begann und sich ihnen näherte.
“Oh, sieh nur,” hatte Narissa gesagt. “Ein Mûmak!”
Der Name war Aerien bekannt gewesen, denn in den Monaten vor dem großen Angriff Mordors auf den Westen hatte der Dunkle Herrscher innerhalb des Tals von Udûn eine große Streitmacht aus Orks und Menschen versammelt, zu denen auch einige Haradrim-Stämme gehört hatten. Und zu eben diesen Stämmen hatten auch mehrere Mûmakîl gehört. Aerien, der das Verlassen ihrer Heimat Durthang nicht gestattet gewesen war, hatte zwar von diesen mächtigen Kreaturen in den Berichten ihres Vaters gelesen, doch sie nun mit eigenen Augen zu sehen, ließ sie staunen. Damals, in Mordor, war sie noch Azruphel gewesen, die niemals Fragen stellen durfte, doch nun war sie Aerien und musste ihr Staunen nicht verbergen.
Das gewaltige Tier war ihnen auf der Straße entgegen gekommen, begleitet von einigen berittenen Führern. Auf seinen Rücken war eine hölzerne Plattform befestigt gewesen, auf der weitere Krieger ritten. Man hatte Narissa und Aerien angehalten, als sie den Mûmak passieren wollten, doch der Freibrief Músabs hatte ihnen schon wenige Minuten später die ungehinderte Weiterreise gewährt.
“Ich hätte nie gedacht, dass sie so groß sind,” hatte Aerien gesagt, als sie den Mûmak hinter sich gelassen hatten. Immer wieder warf sie Blicke über ihre Schulter zurück auf das massive Tier, das inzwischen die Furt des Atbara erreicht hatte und sie ohne Mühen durchquerte.
“Als ich noch ein Kind war, kam eines Tages einer von ihnen vor die Tore von Qafsah,” hatte Narissa erzählt. “Damals hatte ich Angst, dass er jemanden mit seinen riesigen Füßen zertreten könnte. Aber ich habe mich trotzdem an ihn herangeschlichen und ihn angefasst. Sein Zeh war damals größer als ich selbst.” Narissa hatte gelächelt, als sie die Erinnerung erneut durchlebt hatte. “Meine Eltern gaben mir dafür eine ganze Woche Hausarrest. Aber das war es definitiv wert.”
“Ich wünschte, ich hätte so eine glückliche Kindheit gehabt wie du,” hatte Aerien mit einem Anflug von Beneidung gesagt, den sie sofort zu unterdrücken versuchte. Viele Dinge waren für Aerien zwar leichter gewesen: sie hatte als Tochter des Fürsten der Schwarzen Númenorer viele Privilegien genossen und hatte im relativen Reichtum gelebt. Außerdem waren ihre Eltern beide noch am Leben, während Narissas Mutter tot und ihr Vater einer ihrer größten Feinde war. Doch in Narissas Kindheit hatte es unbeschwerte, fröhliche Momente wie die Begegnung mit dem Mûmak gegeben und sie hatte bis zu ihrem zehnten Lebensjahr ohne Verpflichtungen aufwachsen können. Und selbst nach ihrer Flucht aus Qafsah hatte sie auf der Weißen Insel eine neue Heimat und eine neue, liebende Familie gefunden. Die kleine Azruphel hingegen hatte schon sehr früh lernen müssen, was ihre Pflichten waren und was von ihr erwartet wurde. Die Strafen waren so grausam gewesen, dass sie jeden Fehler nur ein einziges Mal gemacht hatte. Und obwohl sie sich sicher war, dass ihre Eltern sie auf ihre eigene, verzerrte Art und Weise liebten, war diese Liebe doch kein Vergleich dazu, was Narissa von ihrer Mutter, ihrem Stiefvater und ihrem Großvater erfahren hatte.
Narissa hatte versucht, mit Aerien über das Thema zu sprechen, während sie der Straße weiter in Richtung der Stadt Soba gefolgt waren, doch Aerien hatte sich nicht weiter damit befassen wollen. So waren sie einige Zeit schweigend nebeneinander her geritten, bis es Narissa mit einem Witz gelungen war, Aerien aus ihren düsteren Gedanken zu reißen. Schon wenig später hatten sie beide wieder unbeschwert über dies und das geplaudert - nur nicht über ihre Vergangenheit.

Drei Tage nach ihrem Aufbruch von Toba erreichten sie die Provinz Alodia, gelegen im Südwesten Kermas. Die Straße, auf der sie noch immer ritten, war mit weißen Steinen gepflastert und ging für den Großteil ihres Verlaufes entlang des Flusses, der sich bei der Hauptstadt Kermas mit dem Atbara vereinte. An der Grenze Alodias wuchs ein dichter Wald, durch den die Straße mitten hindurch führte. Erneut bekam Aerien dort neue Tierarten zu sehen, denn in den Kronen der Bäume entdeckte sie pelzige Wesen, von denen Narissa behauptete, dass sie “Affen” genannt wurden. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Aerien dieses Wort nur als Schimpfwort der Orks gekannt.
Trotz des voranschreitenden Herbstes, der schon bald dem Winter weichen würde, war es hier im Süden Kermas sehr warm, geradezu heiß. Aerien trug an dem Tag, an dem sie die Grenze Alodias überquerten, die Kleidung, die ihr der Händler Sahír einst in Aín Séfra verkauft hatte: Ein weites, weißes Oberteil mit kurzen Ärmeln, das von zwei Gürteln um Aeriens Taille im Zaum gehalten wurde, und dazu eine luftige Hose aus hellem, dünnen Stoff. Ihr Haar wurde von einem roten Stirnband zurückgehalten und auf ihrer Brust prangte der Sternenanhänger, der die letzte Verbindung zu ihrer einstigen Heimat darstellte. Auch Narissa hatte ihre Handschuhe und den Schal abgelegt und ritt seit einigen Meilen sogar barfuß.

Sie ließen den Wald hinter sich und sahen nun in einigen Meilen Entfernung das Gebirge aufragen, in dem sich ihr derzeitiges Reiseziel befand: Die Burg Qustul. Doch noch waren sie zu weit entfernt davon, um die Burg noch am selben Tag zu erreichen. Daher übernachteten sie in der Provinzhauptstadt von Alodia, die am Ufer desselben Flusses lag, dem sie den ganzen Weg bis hierher gefolgt waren. Am Tor ließ man sie nach einer kurzen Kontrolle rasch ein und sie fanden schon bald ein Gasthaus, in dem sie sich ein Zimmer nahmen.
“Ist dir aufgefallen, dass viele Bewaffnete auf den Mauern der Stadt unterwegs waren?” fragte Narissa, kurz bevor sie sich schlafen legten.
Aerien stützte sich mit dem Ellbogen auf ihr Kissen und betrachtete Narissa, die neben ihr lag, für einen Augenblick, ehe sie antwortete. “Soweit ich weiß liegt diese Stadt im äußersten Südwesten Kermas, und damit nicht weit von der Grenze. Wenn also wirklich ein Krieg droht...”
“...könnte dieser Ort einer der ersten sein, die angegriffen werden. Natürlich,” beendete Narissa ihren Satz. “Auch wenn ich glaube, dass das nahe Gebirge für die Provinz Alodia einigen Schutz bieten könnte.”
“Wer weiß schon, was für Völker westlich und südlich der Grenzen Kermas leben?” überlegte Aerien. “Und ob sie Feinde Músabs sind, oder Verbündete?”
“Das muss uns nicht kümmern,” meinte Narissa, die auf dem Rücken lag und Aerien den Kopf zugewendet hatte. “Alles was für uns zählt, ist das Königssymbol. Und wenn wir es haben, können wir von hier verschwinden.”
Aerien dachte einen Augenblick darüber nach, und nickte dann. “Du hast Recht. Auch wenn es vermutlich besser für Mittelerde wäre, wenn Kerma den Krieg gewinnt und Herrn Qúsay im Kampf gegen Sûladan und seine Verbündeten unterstützen kann.”
“Ach, der,” sagte Narissa gedehnt. “Der soll sich erstmal um Umbar kümmern.”
Sie hatten auf ihrer Reise von Tol Thelyn bis hierher immer wieder Gerüchte gehört, dass Qúsay mit einem starken Heer in Richtung Umbar marschiert war, nachdem Suladans wichtigster Verbündeter, Fürst Hasaël, die Stadt wieder unter seine Kontrolle gebracht hatte. Doch mehr Informationen darüber waren bislang noch nicht bis zu Aerien und Narissa gedrungen.
“Morgen gehen wir nach Qustul und nehmen die Spur dieser Irren auf, die sich das Königssymbol geschnappt haben,” entschied Narissa.
Aerien nickte und löschte das Licht der kleinen Lampe, die über ihrem Bett hing. Sie war gespannt darauf, was der nächste Tag bringen würde.

Am folgenden Mittag standen sie vor einer imposanten Festung, die sich an der Quelle des Soba-Flusses zwischen zwei gewaltigen Bergflanken befand. Das Wasser strömte durch einen mit stählernen Gittern versperrten Durchfluss durch die Mauer hindurch, die das gesamte Tal versperrte und so einen Wasserfall schuf. Zwei Tore boten Einlass in die Burg Qustul, eines auf jedem Ufer des Flusses. Narissa ritt voraus, auf das linke Tor zu, wo sie von mehreren mit Speeren und Schilden bewaffneten Wachen empfangen wurde. Aerien folgte ihr und sie wurden gemeinsam hindurch gelassen.
“Ich fürchte, nun wird es wieder Zeit, zu Fuß weiterzureisen,” stellte Aerien mit einem abschätzenden Blick auf die sie umgebenden Berge fest.
“Sieht ganz danach aus,” antwortete Narissa. “Dort hinten scheint ein Pfad aus der Burg hinaus und weiter hinauf ins Gebirge zu führen. Auf mich wirkt er nicht für Karab und Grauwind geeignet. Ihr beiden werdet also wohl hier auf uns warten müssen,” erklärte sie den Tieren, die ihr Schicksal schweigend akzeptierten.
“Es könnte ihnen schlimmer ergehen, als in den gemütlichen Stallungen hier auf unsere Rückkehr zu warten,” meinte Aerien.
Und so ließen sie ihre Pferde in Qustul zurück. Die Burgbewohner hatten ihnen auf Nachfrage einige Anhaltspunkte dazu gegeben, wo sie nach den Fanatikern Anlamanis suchen könnten. Alles schien darauf hinzudeuten, dass die Gruppe, die das Königssymbol gestohlen hatte, irgendwo in den Bergen jenseits von Qustul einen versteckten Unterschlupf besaß. Diesen galt es nun zu finden. Narissa und Aerien schulterten ihr Gepäck und verließen die Burg durch das Hintertor, das sie auf den steilen und sich windenden Pfad ins Gebirge von Alodia hinein führte...

Fine:
Auf der Hochebene von Alodia war es unerträglich heiß. Der Gebirgspfad, dem Narissa und Aerien hierher gefolgt waren, hatte sich entlang steiler Felswände und tiefer Schluchten seit ihrem Aufbruch von der Burg Qustul stetig höher und höher gewunden und sie schließlich auf die felsige Hochebene geführt, die an der Spitze der trockenen, felsigen Region im Südwesten Kermas lag. Hier wuchs nichts, und nur hier und dort aufragende, vom Wind verwitterte Felsformationen spendeten ab und zu etwas Schatten. Der Wind selbst brachte keine Abkühlung, denn die Luft, die er von Süden heran brachte, war ebenfalls warm, erhitzt in den sonnenreichen Ländern jenseits der Grenzen Kermas.
Aerien wischte sich über die feuchte Stirn. Sie hatte ihren weißen, breiten Schal zu einer Kapuze geformt, um ihre schwarzen Haare vor der Sonne zu schützen, die sich ansonsten enorm erhitzt hätten. Narissa, die dank ihrer Haarfarbe dieses Problem nicht hatte, schien etwas weniger unter der Temperatur zu leiden. Aerien vermutete, dass es damit zu tun hatte, dass Narissa ihr gesamtes Leben in Harad verbracht hatte, und Hitze gewohnt war. In Mordor hingegen war es aufgrund der ständig von dunklen Wolken verdeckten Sonne meist eher kühl geblieben und die Winter waren eisig, selbst wenn es keinen Schneefall gab.

Die Ebene, die sie nun durchquerten, erstreckte sich über mehrere Meilen und war von tiefen Felsspalten durchzogen. An den Rändern des Gebirges endete das hellbraune Felsgestein jäh in steilen Klippen, und formte in seiner Gesamtheit einen gewaltigen lang gezogenen, aufrecht stehenden Block, der die südöstliche Grenze Kermas bildete. Wenn man sich hier gut auskannte, gab es viele Wege, die sich einem zur Durchquerung des Alodiagebirges boten, doch für Aerien und Narissa geriet die Jagd auf die Diebe des Königssymbol nun zur Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Sie waren dem Pfad von Qustul bis zur Hochebene gefolgt, doch nun hatten sie keinerlei Anhaltspunkte mehr und überquerten das riesige Plateau ohne wirkliches Ziel.
“Weit und breit nichts von irgend einer Ansiedlung zu sehen,” meinte Narissa, als sie im Schatten eines großen, aufrecht stehenden Felsen rasteten. Sie wirkte äußerlich unbekümmert, doch Aerien kannte ihre Freundin inzwischen gut genug, um die ersten Anzeichen von Frustration aus ihrer Stimme herauszuhören.
“Dieses Gebiet wirkt, als wäre es von jeglichem Leben verlassen. Nichts wächst hier, und nichts regt sich.” Aerien lehnte sich mit dem Rücken gegen den Felsen und genoss den Schutz vor der unbarmherzigen Sonne, der sich an diesem Tag keine einzige Wolke in den Weg stellte.
“Nicht ganz. Sieh mal nach oben,” meinte Narissa, nun eindeutig missmutig klingend. Aerien folgte ihrem Blick und entdeckte drei schwarze Schemen am Himmel über ihnen, die in großer Höhe über der Ebene kreisten. Sie wusste nichts über die Vogelarten des Südens, doch sie erkannte ein schlechtes Zeichen, wenn sie eines sah.
“Geier,” erklärte Narissa. “Aasfresser, die nur darauf warten, dass wir verdurstet sind. Und ich denke nicht, dass wir die Ersten wären, denen das passiert.”
Sie hatten sich mit so viel Trinkvorräten eingedeckt, wie sie hatten tragen können, doch da sie ihre Pferde in Qustul zurückgelassen hatten, war das nicht sonderlich viel gewesen. Für einen oder zwei Tage würde es vermutlich noch reichen, aber dann würden sie frisches Wasser finden müssen, oder es sähe schlecht für die beiden Abenteurerinnen aus.
“Der Fluss, dem wir durch Alodia bis nach Qustul gefolgt sind, entspringt irgendwo in den Schluchten dieser Hochebene,” überlegte Aerien. “Wenn es hier genügend Wasser für einen so großen Strom gibt, dann bin ich mir sicher, dass wir eine Quelle finden können, wenn wir lange genug danach suchen.”
“Und vielleicht finden wir ja dann auch die Kerle, die das Königssymbol gestohlen haben, wenn wir dem Wasser folgen,” setzte Narissa den Gedankengang fort. “Also gut. Ich bin noch nicht bereit dazu, als Mahlzeit für die Aasvögel zu enden. Suchen wir nach einer Quelle!”

Voller frischem Tatendrang machten sie sich an die Suche nach Wasser. Nun, da sie zumindest einen kleinen Anhaltspunkt hatten, irrten sie nicht mehr sinnlos durch die felsige Einöde, was ihre Laune ein wenig hob und ihre Schritte beschleunigte. Dennoch mussten sie sich am folgenden Abend schlafen legen, ohne Erfolg gehabt zu haben. Sie hatten in mehr Felsspalten hinab geblickt, als Aerien hatte zählen können und unter Steinen und entlang kleiner Verwerfungen des staubtrockenen Bodens nach Spuren von Wasser gesucht, doch bislang war ihre Suche ergebnislos geblieben.
“Wir machen morgen früh weiter, so bald es hell genug ist,” beschloss Narissa, die noch nicht aufgeben wollte. Sie lagen nebeneinander unter ihren dünnen Decken auf dem harten Felsboden und froren, denn nun, da die Sonne untergegangen war, war es überraschend kalt geworden. Narissa erklärte Aerien, dass die Temperaturunterschiede zu den vielen ärgerlichen Eigenschaften der Wüstengebiete Harads gehörten, und es dauerte gar nicht lange, bis sie sich darauf einigten, ihre Decken zu teilen und sich mit ihren Körpern gegenseitig zu wärmen. Dennoch brauchte Aerien lange, bis sie eingeschlafen war.

Sie erwachte davon, dass ein Sonnenstrahl ihre Nase kitzelte, und wie sie so dalag und Narissas Rücken an ihrem spürte, glaubte Aerien für einen Moment, sie wären wieder auf der Weißen Insel, in Narissas Zimmer an der Spitze des Turmes, und hätten keinerlei Sorgen. Sie lächelte bei diesem Gedanken und öffnete die Augen. Ernüchtert musste Aerien feststellen, dass sie sich keineswegs auf Tol Thelyn sondern noch immer inmitten der verödeten Hochebene von Alodia befand, und dass einer der Geier, die sie am Vortag entdeckt hatten, nun in weniger als hundert Metern Entfernung auf einem Stein gelandet war und sie mit einem Blick betrachtete, den Aerien als höhnischen Spott und hungrige Erwartung deutete.
Verärgert rappelte sie sich auf und machte eine Handbewegung, um den Vogel zu verscheuchen, doch der Geier blieb unbeeindruckt sitzen, und wandte nicht einmal den Blick von Aerien ab. Auch weitere Drohungen blieben erfolglos. Schließlich ging sie dazu über, Steine nach der Kreatur zu werfen, bis der Geier sich mit einem hämischen Krächzen endlich in die Lüfte schwang und zu seinen dort kreisenden Gefährten stieß.
“Es hat keinen Zweck, sich mit denen zu streiten. Die haben viel mehr Geduld als du oder ich,” sagte Narissa, die von dem Lärm aufgewacht war.
“Ich hatte das Gefühl, dass er mich ausgelacht hat,” entgegnete Aerien missmutig. “Das konnte ich doch nicht auf mir sitzen lassen.”
“Machen wir ihnen einen Strich durch die Rechnung, in dem wir Wasser finden. Dann werden wir es sein, die lachen, Sternchen.”
“Also gut. Du hast ja recht.”

Am Nachmittag wurden sie endlich fündig. Narissa entdeckte eine Senke in der bislang sehr gleichförmig wirkenden Hochebene, und als sie näher gekommen waren, stellten sie fest, dass am Rande der vermeintlichen Mulde ein ausgetretener Pfad hinab führte. Narissa kletterte unerschrocken hinab und fand einen Höhleneingang am tiefen Ende der Senke, wo die Oberfläche der Ebene bereits bis über ihren Kopf ragte. Der Eingang war beinahe vollständig von einem dunkelbraunen, aufrecht stehenden Felsen verdeckt, der an der hinteren Wand der Mulde lehnte. Rasch schlüpften die Mädchen hindurch und kamen durch einen kurzen, aber dunklen Tunnel, der sie um zwei Biegungen führte, in eine Schlucht, die nur wenige Meter tief war und sehr nahe an der Oberfläche gelegen war, aber die nach oben hin so eng wurde, dass das Sonnenlicht nur durch einen winzigen Spalt zu ihnen hinab drang. Und als sie neugierig die sich windende Schlucht hinab gingen (denn der Pfad, dem sie folgten, war leicht abschüssig) hörten sie schließlich etwas, worauf sie schon den ganzen Tag gehofft hatten: das ferne, unverwechselbare Plätschern von Wasser. Sie folgten dem schmalen Pfad um eine weitere Biegung und kamen über eine in den Felsen gehauene Treppe in eine beinahe kreisrunde, nach oben offene Felssenke, in der ein kleiner Wasserfall aus einem Spalt herausströmte und ein Becken kühlen Wassers bildete, ehe der Gebirgsbach über den Steinboden der Schlucht weiterfloss.
Narissa gab ein triumphierendes “Ha!” von sich, und es dauerte kaum fünf Minuten, da saßen sie beide im Becken und genossen das kühle Wasser, das ihnen bis zum Hals reichte.
“Genau das Richtige für eine Reise durch die heiße Einöde,” sagte Narissa zufrieden und streckte sich im Wasser aus.
“Und wenn wir Glück haben, führt uns das Wasser womöglich direkt zu jenen, nach denen wir suchen,” ergänzte Aerien.
“Im schlimmsten Fall landen wir wieder in Qustul, wenn der Bach sich als eine der Quellen des Atbara-Flusses herausstellen sollte. Dann beginnen wir von dort erneut mit der Suche.” Narissa schien nicht zu glauben, dass es wirklich dazu kommen würde.

Nachdem sie eine ausgedehnte Pause im Becken gemacht (und dabei einige Zärtlichkeiten ausgetauscht) hatten, füllten sie ihre Wasservorräte auf und setzten ihren Weg entlang der versteckten Schlucht fort. Ein Stück des Weges legten Aerien und Narissa sogar barfuß inmitten des Baches zurück, bis sie an einen weiteren Wasserfall kamen. Und sich ihnen ein noch größeres Hindernis in den Weg stellte.
“Oh,” machte Aerien und blieb am Rand des Baches stehen, der nur wenige Meter vor ihr weit, weit in die Tiefe rauschte. Eine gewaltiger Abgrund hatte sich vor ihnen geöffnet. Sie waren an eine der massiven Felsspalten gekommen, die die Hochebene von Alodia wie riesenhafte Risse durchzogen. Mehr als ein Dutzend Meter trennten die Abenteurerinnen von der anderen Seite, wo sich der Weg, dem sie bis hierher gefolgt waren, fortsetzte. Über die Schlucht spannte sich eine wackelige Hängebrücke, die bedrohlich knirschte, als Narissa den Fuß darauf setzte.
“Warte, ‘Rissa,” hielt Aerien sie auf. “Das sieht nicht sicher aus. Sollten wir nicht lieber nach einem anderen Weg suchen?“
„Siehst du etwa eine andere Möglichkeit, um auf die andere Seite zu kommen?“ erwiderte Narissa, die bereits unerschrocken ein Drittel der Brücke überquert hatte. Bei jedem Schritt knarzte und ächzte die Holzkonstruktion bedrohlich, und die Brücke schwankte über dem tiefen Abgrund hin und her. „Nun komm schon, Sternchen. Mach dir doch nicht wegen einer kleinen Schlucht so in die Hose.“
„Das hat nichts mit Angst zu tun, sondern mit gesundem Menschenverstand,“ entgegnete Aerien verärgert, die Hände in die Hüften gestemmt. „Komm runter von der Brücke, ehe sie noch einstürzt!“
In diesem Augenblick gab der Holzbalken, auf den Narissas linker Fuß gerade getreten war mit einem Krachen nach. Sie schrie auf und verlor beinahe das Gleichgewicht. Dann gab auch das Holz unter Narissas rechtem Bein nach und sie stürzte die Tiefe.
„Narissa!“ schrie Aerien und vergaß jegliche Vorsicht. Sie sprintete über die wild schaukelnde Brücke, in deren Mitte Narissa gerade noch eines der beiden dicken Taue zu packen bekommen hatte, die die Brücke trugen. Gerade in dem Moment als Narissas Finger von dem Seil abglitten, griff Aerien beherzt zu.
„Ich hab dich!“
Unter größter Anstrengung zog sie Narissa zu sich hoch. Ihnen blieb keine Zeit zum verschnaufen, denn die Brücke gab bedrohliche, ächzende Laute von sich und sackte um mehrere Zentimeter ab.
„Sie wird nicht mehr lange halten!“ rief Narissa. „Wir müssen jetzt auf die andere Seite, sonst ist es zu spät!“ Und mit einem beherzten Satz war sie über das von ihr geschaffene Loch hinweg und landete auf dem intakten Rest der Hängebrücke. Dabei brachen zwei weitere Balken ab und Narissa warf sich vorwärts, einem erneuten Sturz gerade noch entgehend.
„Spring!“ rief sie Aerien zu. „Spring, Sternchen!“
Und sie tat es. Aerien flog über den Abgrund hinweg, geradewegs in Narissas ausgestreckte Arme. Doch der Aufprall war schließlich zu viel für die alte Brücke. Mit einem Knall rissen beide tragenden Taue und die Brücke stürzte, in zwei Hälften geteilt, den beiden gegenüberliegenden Wänden der Schlucht entgegen. Narissa und Aerien schrieen während sie sich verzweifelt an dem Überrest der Hängebrücke und aneinander festklammerten. Wie durch ein Wunder wurden sie beim Aufprall auf die Felswand nicht abgeschüttelt, trugen allerdings einige Prellungen und blutende Schürfwunden davon.
Aerien wäre am liebsten, außer Atem und noch immer geschockt wie sie war, dort hängen geblieben, um einen Augenblick zu verschnaufen, doch die Gefahr war noch nicht gebannt. Erneut knirschte und knarzte es über ihren Köpfen, und Narissa setzte sich hastig in Bewegung.
“Nach oben! Los, klettere!” rief sie und zog Aerien so gut es ging mit sich. Mit vereinten Kräften gelang es ihnen, die Felskante, an der die Brücke befestigt gewesen war, zu erreichen und nach Luft japsend blieben sie dort nebeneinander liegen, während der Rest der Hängebrücke verhängnisvoll knackte und schließlich endgültig abstürzte.
“Ich schätze... jetzt gibt es... wohl kein Zurück mehr,” stieß Narissa angestrengt hervor. Aerien nickte, ohne ein Wort herauszubringen. Sie war in diesem Augenblick einfach nur froh, noch am Leben zu sein.

Eine Viertelstunde verging, ehe sie sich aufsetzten und zum erneuten Aufbruch bereit machten. Glücklicherweise hatten sie sämtliches Gepäck gut verzurrt und bis auf eine Wasserflasche bei dem Abenteuer an der Hängebrücke nichts verloren. Narissa betrachtete nachdenklich die Felswand, die vor ihnen aufragte und den Durchgang, der sich darin öffnete. Dort führte der Pfad weiter, dem sie bis hierher gefolgt waren. Und direkt neben dem Eingang waren Schriftzeichen in den Fels geritzt worden, die Aerien nicht lesen konnte.
“Ich bin mir nicht ganz sicher, was da steht,” meinte Narissa. “Gib mal das Tagebuch her. Vielleicht hilft es uns weiter.”
Und tatsächlich fanden sie mithilfe des Tagebuchs, das ihnen Músab gegeben hatte, heraus, was die Inschrift zu bedeuten hatte.
“Nur jene, loyal zu Anlamani stehen, dürfen diesen Weg beschreiten, denn er wurde angelegt von jenen, die treuen Herzens sind,” las Narissa langsam vor. “Na, wenn das mal nicht bedeutet, dass wir auf der richtigen Spur sind.”
“Wir sollten ab sofort besonders vorsichtig sein,” meinte Aerien. “Ich weiß nicht, was uns im Reich der Fanatiker Anlamanis erwarten könnte. Erfreut werden sie sicherlich nicht sein, wenn sie uns entdecken sollten.”
“Sie werden uns schon nicht sehen, Sternchen. Wir sind ja nicht irgendwelche dahergelaufenen Abenteurer, sondern die Besten, die Tol Thelyn zu bieten hat. Wir kriegen das schon hin.” Sie zwinkerte Aerien umbekümmert zu, als wäre sie nicht vor wenigen Minuten dem Tod gerade noch von der Schippe gesprungen. Doch ihr Lächeln wirkte ansteckend auf Aerien und sie spürte, wie sie mit Zuversicht erfüllt wurde. “Also gut. Gehen wir es an,” sagte sie, und folgte Narissa durch den Durchgang, hinter dem der Pfad der Fanatiker auf verschlungenen Wegen weiter durch ihnen unbekanntes Gebiet führte...

Eandril:
Jenseits der Hängebrücke führte der Weg weiter durch ein Gewirr schmaler Schluchten und Felsspalten. Ohne zu wissen wonach sie suchten, hätten Narissa und Aerien sich mit Sicherheit sehr bald verirrt, doch zum Glück war der richtige Weg an jeder Abzweigung durch einen in den hellen Sandstein geritzten Drachen gekennzeichnet. Hin und wieder führte der Weg am direkt am Rand der tiefen Schlucht entlang, an deren Grund tief unten der Bach rauschte. An der ersten dieser Stellen konnte Narissa als sie zurückblickte die Überreste der alten Hängebrücke, die sie zum Einsturz gebracht hatten, erkennen, doch später machte die Schlucht eine Biegung, und die Brücke war nicht mehr zu sehen.
Die Sonne sank rasch tiefer, während der Weg immer weiter durch die karge Felslandschaft, in der nur sehr vereinzelte Pflanzen wuchsen, führte. "Wie kommen Leute nur auf die Idee, in einer solchen Gegend leben zu wollen?", ächzte Narissa, als sie nach der ihrer Meinung nach tausendsten Biegung noch immer nur Stein vor sich hatten.
"Gatisen hatte vermutlich Recht, als er sie als Fanatiker bezeichnet hat", erwiderte Aerien mit matter Belustigung. "Man muss schon ziemlich fanatisch sein, um sich freiwillig hier anzusiedeln."
Narissa biss sich auf die Zunge, um einen Kommentar in Richtung von Aeriens Familie zu unterdrücken - dieses Thema schon wieder anzurühren wäre ungerecht Aerien gegenüber. "Und verzweifelt", sagte sie stattdessen. "Nachdem was wir über diese Kerle wissen, kann ich mir nicht vorstellen, dass sie bei den Königen von Kerma sonderlich beliebt waren."
"Wir sollten weitergehen", meinte Aerien mit einem Wink in Richtung Westen, wo die Sonne schon kurz über den Berggipfeln stand. Ihnen blieben nur noch wenige Augenblicke Sonne, bevor sich zuerst der Bergschatten und dann die Nacht über das Land legen würden. Wenn sie noch lange zögerten, würden sie das Lager der Kultisten auf keinen Fall vor dem nächsten Tag erreichen, denn in der Dunkelheit den Weg zu finden war unmöglich. Doch bevor Narissa einen Schritt machen konnte, glaubte sie ein Geräusch zu hören, das die Stille der Schluchten störte. Sie packte Aerien an der Schulter, um diese am Weitergehen zu hindern, und legte den Zeigefinger der anderen Hand warnend an die Lippen. Aerien schien sofort zu begreifen, denn sie erstarrte sofort und legte nur vorsichtig die Hand an den Schwertgriff.
Angestrengt lauschend verharrten sie eine Augenblicke, bis Narissa erneut das leise Klingen von Metall auf Stein hörte. An Aeriens Blick erkannte sie, dass ihre Freundin es ebenfalls gehört hatte, und suchten mit den Augen die Felsen vor sich nach dem kleinsten Anzeichen von Feinden ab.
Mit einem Mal durchbrach ein Ruf in einer Narissa unbekannten Sprache die Stille, und auf den Felsen vor und über ihnen tauchten mehrere Männer auf, die Speere und Schwerter in den rechten Händen hielten - und jedem von ihnen schien, sofern die weiten Gewänder es erkennen ließen, der linke Arm zu fehlen.
"Ich glaube, wir haben unsere Kultisten gefunden", flüsterte Narissa Aerien zu. Diese nickte ohne die Augen von den Männern zu wenden, und erwiderte ebenso leise: "Hast du verstanden, was sie gerufen haben?"
Narissa schüttelte den Kopf. "Nein. Ich finde, es klingt ähnlich wie die Sprache von Kerma, aber es muss irgendein anderer Dialekt sein, den ich nicht verstehe."
"Vielleicht sprechen sie noch die Art der Sprache, die vor hunderten von Jahren in Kerma gesprochen wurde", vermutete Aerien. "Was sollen wir zu ihnen sagen?"
"Gar nichts", meinte Narissa. "Wir warten ab, was sie tun."
Während sie sich im Flüsterton unterhalten hatten, hatten sich die Kultisten nicht vom Fleck gerührt. Inzwischen war die Sonne hinter den westlichen Bergen versunken, und ein kühler Luftzug begann zwischen den aufgeheizten Felsen zu wehen. Schon bald würde es kälter werden als ihnen lieb sein konnte, auch wenn sie hier zwischen den Felsen geschützter waren als in der Wüste.
Noch einige Augenblicke lang verharrten beide Parteien stumm auf ihren Positionen, und dann verschwanden die Kultisten wie auf ein unhörbares Kommando wieder zwischen den Felsen, und schon bald darauf war kein Geräusch mehr von ihnen zu hören.
"Das war... seltsam", meinte Narissa trocken. "Ob wir sie mit unserer Schönheit geblendet haben? Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie hier draußen oft Frauen zu Gesicht bekommen..."
Aeriens Gesicht blieb ernst. "Sie werden sicherlich ihre eigenen Frauen haben... Ich vermute, sie wollen uns beobachten. Sehen wie weit wir kommen."
"Also Fallen voraus?" Aerien nickte. "Ich denke auch. Wir sollten also vorsichtig weitergehen, solange wir noch genügend Licht haben."

Ihr Vorhaben wurde bereits bei der nächsten Abzweigung auf die Probe gestellt. Aerien, die voranging, hatte bereits den Weg gewählt, der durch den Drachen gekennzeichnet wurde, doch Narissas Blick war an einigen verwitterten Gravierungen auf der anderen Seite der Schlucht hängen geblieben.
"He Sternchen, warte mal", rief sie, während sie mit dem Ärmel über die Zeichen rieb, um sie von Steinstaub zu befreien.
"Was ist denn?", fragte Aerien, die wieder hinter der Biegung aufgetaucht war. "Der Drache ist auf dieser Seite."
"Ja ja... aber hier ist auch irgendetwas. Irgendetwas... wichtiges." Ohne selbst zu wissen warum, spürte Narissa ihre eigene Aufregung.
"Wichtiger als unsere Aufgabe?", fragte Aerien, und hob unverkennbar skeptisch eine Augenbraue. Narissa antwortete nicht, sondern betrachtete die Zeichen im Stein, die sie vom Staub befreit hatte, und spürte ihren Mund trocken werden. In den gelben Stein waren sorgfältig sieben Sterne und darunter ein kleiner Vogel, den sie nicht recht erkennen konnte, eingeritzt worden.
"Ich glaube, ich sollte diesen Weg gehen", sagte sie leise, und Aerien verschränkte die Arme. "Wir haben eine Aufgabe, Narissa. Und nur weil da zufällig jemand etwas anderes als einen Drachen in die Wand geritzt hat, heißt es nicht, dass das plötzlich der richtige Weg zu den Kultisten ist."
"Das hat nichts mit den Kultisten zu tun", meinte Narissa abwesend, und fuhr mit den Fingerspitzen über den kleinen Vogel, folgte den Rillen im Stein. "Sieben Sterne..."
"Sieben Sterne?", wiederholte Aerien, und ihre Stimme klang misstrauisch. "Du meinst, es könnte etwas mit dieser Elyana zu tun haben? Eayans Schwester?"
Narissa zögerte. Irgendetwas an diesem Ort fühlte sich seltsam an, aber gleichzeitig richtig. "Ich... weiß nicht. Könnte sein."
Aerien schüttelte den Kopf. "Dann solltest du erst recht nicht dort entlang gehen. Sie mag uns ja geholfen haben, aber irgendetwas an ihr ist verdächtig."
Narissa erinnerte sich, wie Elyana zwölf Jahre zuvor in einem Zelteingang gestanden hatte, die Sterne hinter sich und ein Schwert in der Hand. Hab keine Angst, kleines Kind der Zeit. Sie schüttelte den Kopf, dass ihr Haare flogen, versuchte, die Gedanken abzuschütteln, die sich ihrer bemächtigen wollten. Sie hatte mit diesem Unsinn vor Jahren abgeschlossen. Sie war keine Auserwählte, kein Kind der Zeit, dass Harad von allem Bösen befreien würde. Doch ein Rest Neugierde blieb...
"Ich werde nur ein kleines Stück gehen", hörte sie sich sagen. "Wahrscheinlich ist da gar nichts, ich schaue nur um die nächste Biegung."
Aerien hatte die Arme noch immer vor der Brust verschränkt, und antwortete: "Na schön, geh deine Neugierde befriedigen. Ich bleibe hier, und wenn du zurückkommst lachen wir beide darüber, dass du geglaubt hast, da wäre etwas."
Narissa hörte ihre Worte gar nicht richtig, sondern ging bereits entschlossen den linken Weg entlang. Für etwa dreißig Schritte ging es geradeaus, zwischen steilen Felswänden hindurch, die sich über ihrem Kopf einander immer mehr zuneigten. Dann machte der Gang einen Knick nach links, plötzlich trafen die Wände über ihr aufeinander, sodass sie nun in einem Tunnel stand. Hinter ihr blinkten die ersten Sterne am immer dunkler werdenden Himmel, und vor ihr gähnte ein rundes Loch im Felsen, in dem tiefste Finsternis herrschte. Vorsichtig näherte Narissa sich, beugte sich hinunter und spähte hinein, doch sie konnte in der Finsternis nichts erkennen. Trotzdem verharrte sie noch einen Augenblick, einen Augenblick zu lange.
Ein plötzlicher, kräftiger Schlag traf sie in die Kniekehlen und sie strauchelte, verlor das Gleichgewicht und stürzte kopfüber in das gähnende Loch hinein. Sie konnte gerade noch einen wortlosen Schrei ausstoßen, bevor hinter ihr ein Krachen ertönte und jegliches Licht verschwand.

Narissa fiel durch die Dunkelheit, oder rutschte vielmehr. Nach dem ersten Schrecken war es ihr gelungen, ihre Gedanken wieder einigermaßen zu sammeln, und so war ihr nun klar, dass sie eine glatte Röhre herunterrutschte, auf der es keinen Halt gab, und die geradewegs tief in den Felsen hineinführte. Irgendjemand musste sie gestoßen haben, dachte sie, während sie sich lang ausstreckte, um das Risiko von Stößen und noch mehr Prellungen zu verringern, und so wie es sich angehört hatte, war der Eingang danach mit einem Felsen verschlossen worden. Einen kurzen schuldbewussten Augenblick lang dachte sie an Aerien, und an die Sorgen, die sie sich machen würde, nur weil Narissa ihre Neugierde nicht bezähmen konnte, doch dann beschloss sie, sich zunächst auf ihre eigene Situation zu konzentrieren. Sie glaubte nicht, dass sie es mit den Fanatikern Anlamanis zu tun hatte, und wer immer sie in diese Lage gebracht hatte, konnte sie nicht töten wollen - denn dazu hätte er bereits die Gelegenheit gehabt.
Ihre Überlegungen wurden abrupt unterbrochen, als die Röhre sehr plötzlich endete. Trotz ihrer Überraschung gelang es Narissa, sich halbwegs elegant abzurollen und schwankend auf die Füße zu kommen, bevor sie sich umsah. Sie stand am Rand einer kreisförmigen Kammer mit einer kuppelförmigen Decke, die von einem merkwürdigen bläulichen Licht erhellt wurde. In der Mitte der Kammer befand sich ein ebenso runder Teich, dessen Wasser von sich selbst aus ein wenig zu leuchten schien. Das bläuliche Licht kam, wie Narissa jetzt bemerkte, von Adern, die die Wände der Kammer durchzogen. Auf der anderen Seite des Teiches standen sieben Gestalten in weißen Gewändern, die ihr entgegen blickten.
"Willkommen, Kind der Zeit", sagte die mittlere schließlich, und Narissa erkannte Elyanas Stimme.
"Elyana", erwiderte sie abweisend. Zu ihrer Erleichterung fühlte sie, dass das seltsame Gefühl, dass sie an der Oberfläche erfasst hatte, verschwunden war, und sie wieder sie selbst war. "Was soll das?"
"Es war dein Schicksal, an diesen Ort zu kommen." Elyana trat einen Schritt nach vorne, auf den Teich zu. "Jetzt, trinke das Wasser, und du wirst verstehen." Narissa schnaubte verächtlich, und warf dem Teich einen misstrauischen Blick zu. "Ganz bestimmt nicht. Wer weiß, was ihr damit angestellt habt."
"Du wirst trinken", sagte Elyana bestimmt. "Du wirst trinken, um deine Freundin zu retten."
Der Schreck durchfuhr Narissa, wie Elyana sicherlich beabsichtigt hatte, und sie fragte: "Was habt ihr mit ihr gemacht? Rede, sonst..."
"Wir haben gar nichts mit ihr gemacht", antwortete Elyana ruhig. "Aber die Bewohner dieser Berge sind nicht gut auf Eindringlinge zu sprechen, und uns mögen sie ebenfalls nicht. Wenn sie deine Freundin also an einem Ort sehen, der unser Zeichen trägt, werden sie sie früher oder später angreifen. Wenn du das Wasser trinkst, werden wir dir einen Weg zeigen, sie vor diesem Schicksal zu retten."
"Aerien kann auf sich aufpassen", meinte Narissa sicherer, als sie sich eigentlich fühlte, denn die Sorge um Aerien nagte nun an ihr. "Zuerst will ich wissen, was es mit diesem Wasser auf sich hat."
"Es ist das Geschenk, dass die Sieben Schwestern uns gemacht haben." Elyana lächelte nachsichtig. "Du glaubst, sie wären eine Lügengeschichte? Oh nein, das sind sie nicht. Sie sind real, wie du erfahren wirst - wenn du von dem Wasser trinkst." Narissa machte einen vorsichtigen Schritt auf das Wasser zu, dann noch einen. Neugierde und Sorge gewannen die Oberhand über die Vernunft, und sie kniete sich am Rand des Teiches nieder. "Was wird geschehen, wenn ich trinke?" Das Leuchten des Wassers schien stärker geworden zu sein, je näher sie ihm gekommen war - aber vielleicht bildete sie sich das nur ein.
"Du wirst verstehen", erwiderte Elyana ruhig, und lächelte dann wieder. "Vergiss nicht, Narissa. Die Schwestern werden dich vor allen beschützen, die dir Böses wollen. Und niemals werden wir dir selbst Schaden zufügen."
Narissa atmete tief durch, dann formte sie die Hände zu einer Schale, schöpfte und trank. Einen Augenblick geschah nichts, doch bevor sie etwas sagen konnte, umfing sie Schwärze.

Als Narissa die Augen aufschlug, leuchteten Sterne über ihr. Sie lag neben dem Teich am Boden, doch nicht länger auf Stein, sondern auf weichem Gras. Vor ihr stand eine Frau mit langen silbernen Haaren und in einem silbernen Gewand, die ebenso wie das Wasser von innen heraus zu leuchten schien. "Ah, Narissa. Da bist du ja endlich", sagte sie, während Narissa sich mühsam aufsetzte. In ihrem Kopf drehte sich alles, und für einen Augenblick verschwamm alles vor ihren Augen, bevor sich ihre Sicht wieder aufklarte. Sie sah sich um, und schluckte mühsam. Nur wenige Schritte weiter begann dichter Nebel, der die weitere Sicht verdeckte, doch der Himmel über ihr war klar und von Sternen übersät. "Wo... bin ich hier? Und wer bist du?"
Die Frau lächelte, und streckte ihr eine Hand entgegen. Narissa zögerte kurz, dann ergriff sie sie und wurde überraschend kräftig auf die Füße gezogen. "Diese Fragen sind einfach zu beantworten - und gleichzeitig auch wieder nicht. Dein Körper ist noch immer in der Höhle, unter der wachsamen Obhut Elyanas."
"Dann... ist das hier alles in meinem Geist?"
"So könnte man es sagen."
"Aha... und du bist...?"
"Die letzte der Sieben Schwestern." Die Frau lächelte über Narissas Gesichtsausdruck. "Du hast geglaubt, wir wären nur Geschichten, nicht wahr? Nun, ich kann es dir nicht verdenken, denn es sind Zeitalter vergangen, seit wir das letzte Mal in unserer wahren Form auf Arda gewandelt sind."
Narissa blickte ihr in die Augen - gütige, uralte, weise Augen, hinter denen ein verborgenes Feuer schlummerte. "Dann bist du eine der Maiar?"
Die Schwester lächelte erneut, und neigte den Kopf. "Ich sehe, man hat dich vieles gelehrt. Ja, meine Schwestern und ich gehören zum Volk der Maiar, zu Vardas Gefolge.  Wir wandelten viele Jahre in Mittelerde, denn wir liebten die offenen Weiten unter den Sternen. Doch als der alte Feind die Welt mit Schatten überzog, verließen meine Schwestern Mittelerde eine nach dem anderen, und kehrten in den Westen zurück. Nur ich blieb zurück - in gewisser Weise jedenfalls - und machte es mir zur Aufgabe, dem Bösen so gut wie möglich im Weg zu stehen."
Einen Augenblick herrschte Schweigen, während Narissa versuchte, das Gehörte zu verarbeiten. Sie sprach mit einer der Maiar - doch es stellten sich ihr jetzt mehr Fragen als zuvor. "Was heißt in gewisser Weise?", fragte sie, und Schmerz zuckte über das Gesicht der Schwester. "Das heißt, dass ich gestorben bin. Meine körperliche Gestalt wurde vernichtet, von dem Wesen, dass ihr als Sauron kennt, und nur ein blasser Schatten von mir blieb zurück. Ich bin nun an das Wasser dieses Teiches gebunden, und auf die Hilfe anderer angewiesen." Sie deutete mit einer blassen Hand auf das Wasser, das für einen Moment kräftiger leuchtete.
"Und... dieser Teich. Woher kommt er?" Das Licht, das von der Schwester ausging, verblasste, und Narissa fühlte Trauer und Bedauern über sich strömen. "Eine meiner Schwestern hat ihn geschaffen. Doch sie hat sich von uns abgewandt, und ist... einen anderen Weg gegangen. Einen dunkleren." Sie verstummte, und Narissa spürte, dass sie nicht weiter über das Thema sprechen würde. Also fragte sie: "Also... warum ich? Warum hast du mich ausgewählt?"
Zum ersten Mal hatte Narissa das Gefühl, dass die Schwester ihrem Blick auswich, beinahe als ob sie sich für etwas schämen würde. Nach Augenblicken zähen Schweigens antwortete sie schließlich: "Das habe ich nicht." Als Narissa den Mund öffnete, hob sie die Hand. "Lass mich erklären. Und bitte, höre bis zum Ende aufmerksam zu, bevor du urteilst.
Nachdem mein Körper vernichtet worden war, konnte ich nicht länger direkt in die Geschehnisse Mittelerdes eingreifen, ich brauchte also Hilfe. Zu diesem Zweck gründete ich die Sieben Schwestern, eine Religion, mit denen ich meinen Schwestern, die von Morgoths Dunkelheit aus den Landen die sie liebten, vertrieben worden waren, ein Denkmal setzte. Ihre Anhänger sollten mir helfen, den Einfluss den Sauron über Harad ausübte, zu schwächen, doch ich erkannte bald, dass das nicht genug sein würde. Also erschuf ich den Mythos vom Kind der Zeit."
"Den Mythos?", platzte Narissa heraus, und erntete einen strengen Blick von der Schwester. "Ja, den Mythos. Vielleicht haben höhere Mächte als ich ihre Hand im Spiel bei denjenigen, die nach dem Mythos den ich erschaffen hatte, auserwählt waren, doch es liegt nicht in meiner Macht, bestimmte Menschen für große Taten auszuwählen.  Ich hoffte nur, dass meine Anhänger dadurch eines Tages einen Menschen erschaffe würden, der in der Lage sein würde, Harad von Sauron zu befreien."
"Aber das bin ich nicht", widersprach Narissa. "Ich alleine kann so etwas niemals schaffen."
"Nein, das kannst du natürlich nicht. Und das erkannte ich auch, nachdem Elyana mir vor zwölf Jahren erzählt hat, was geschehen ist. Und dennoch... du bist die erste von allen Kindern der Zeit, die an diesem Ort mit mir spricht. Vielleicht lenkt ein größeres Schicksal deine Schritte, eine höhere Macht als ich. Und sieh dich an. Du bist wahrlich ein Kind deiner Zeit, Kind einer Zeit des Blutes und der Vernichtung, der Zeit des Endes. Du bist die Tochter eines der ältesten Häuser der Getreuen und des wahnsinnigen Herrschers der Harad im Dienste Saurons unterjocht, der Tod folgt dir auf dem Fuß und doch hat er seinen Schrecken für dich verloren."
Sie legte Narissa eine warme Hand auf die Schulter. "Ich spüre, wie sich die Wellen erheben, wie die Flut kommt und diese Welt fortspülen wird, und eine neue entsteht. Das Ende kommt, und auch wenn du nicht vom Schicksal auserwählt bist, vielleicht kannst du trotz allem die Schwalbe sein - der Vogel der die Hoffnung bringt." Narissa sog scharf die Luft ein. Tuilin, Schwalbe. So hatte sie sich in Qafsah nennen wollen, bevor Níthrar sie entdeckt hatte. Und jetzt ahnte sie auch, welcher Vogel unter den sieben Sternen eingemeißelt gewesen war...
Die Schwester lächelte, als hätte sie ihre Gedanken gelesen. "Ja, die Schwalbe. Glaubst du, es ist ein Zufall, dass du dich so nennen wolltest? Vielleicht, doch ich glaube nicht an Zufälle. Ich weiß, wer im Dunklen Turm gefangen sitzt, und ich weiß, was er den Menschen des Westens bedeutet. Ich weiß auch, wer deine Freundin ist, die dich begleitet, und ich weiß, was ihr tun wollt. Ein größeres Schicksal als ich dachte hat unser beider Schritte gelenkt, und ich habe den Irrtum erkannt, den meine Anhängerinnen und ich gemacht haben. Du musst Harad verlassen, Narissa, und ins Herz der Schatten gehen, um den Menschen die Hoffnung zu bringen."
Sie nahm die Hand wieder von Narissas Schulter, und trat einen Schritt zurück. "Dies ist alles, was ich dir zu sagen habe. Elyana wird dir eine Geschenk überreichen, das dir helfen wird deine Aufgabe zu erfüllen. Und nun leb wohl Narissa, Tochter Herlennas. Möge das Licht der Sterne über deinen Weg scheinen, selbst in den tiefsten Schatten."
Narissa wollte etwas sagen, irgendetwas um ihrer Verwirrung Ausdruck zu verleihen, doch sie brachte keinen Ton heraus. Das Bild der Schwester verschwamm vor ihren Augen, und erneut umfing sie Dunkelheit.

Narissa öffnete die Augen, und sah über sich erneut die kuppelförmige Decke der steinernen Kammer. "Hast du die Wahrheit gesehen, Narissa?", fragte Elyana, die nun neben ihr kniete, und half ihr sanft, sich aufzusetzen. "Ich... ja. Ich glaube..." Die Erinnerung begann bereits zu verschwimmen. "Ich weiß, was ich tun muss. Ich meine, ich wusste es vorher bereits, aber jetzt bin ich mir sicher."
"Das ist gut", erwiderte Elyana, stand auf und zog Narissa mit sich auf die Füße. "Und unsere Aufgabe ist getan." Eine tiefe Traurigkeit schwang in ihrer Stimme mit, als sie auf den Teich deutete, dessen sanftes Leuchten erloschen war. Dann zog sie zwei Dolche hervor, die in Scheiden aus schwarzem und weißem Leder steckten. "Nachtigall", sagte sie, als sie Narissa den schwarzen Dolch reichte. "Aus dem Metall geschmiedet, dass du hier in den Wänden siehst. Es ist beinahe so hart wie das Mithril der Zwerge des Nordens, und manche sagen, dass Magie darin lebt." Sie reichte Narissa den weißen Dolch. "Und Schwalbe. Geschmiedet im verlorenen Westen, bevor Sonne und Mond über der Welt aufgingen. Die Noldor brachten ihn mit nach Mittelerde, und auf verschlungenen Pfaden fand er seinen Weg hierher und nun zu seiner wahren Besitzerin." Sie trat einen Schritt zurück. "Mögen sie dir bei deiner Aufgabe nützlich sein."
Narissa befestigte die Waffen an ihrem Gürtel, sodass sie jetzt drei Dolche dort trug - Ciryatans Dolch und Schwalbe links, Nachtigall rechts.
"Ich bin dankbar", sagte sie langsam, während ihre Verwirrung gleichermaßen nachließ wie ihre Erinnerung an das erlebte, und sie selbst allmählich zurückkehrte. "Und noch viel dankbarer wäre ich, wenn ihr mir den Ausgang zeigen könntet."
Sie glaubte, ein Lächeln über Elyanas Gesicht zucken sehen. "Auf der anderen Seite des Teiches ist eine Tür, die zu einer Treppe führt, die an der Wand der gewaltigen Schlucht hinaufführt, in die ihr beinahe gestürzt wärt. Oben angekommen wende dich nach links, dieser Weg wird dich in gerader Linie zurückführen zu dem Ort, an dem du und deine Freundin getrennt wurdet."
Narissa nickte wortlos und wollte gehen, doch Elyana hielt sie zurück. "Seid vorsichtig auf eurer Mission. Derjenige, der die Kultisten anführt, ist nicht was er zu sein scheint - und er ist äußerst gefährlich."
"Wir werden aufpassen", erwiderte Narissa. "Immerhin haben wir noch eine wichtige Mission vor uns." Für einen Augenblick schwiegen sie, dann lächelte Elyana und wendete sich ab.
"Leb wohl, Narissa. Ich glaube nicht, dass wir uns wiedersehen."
Narissa zögerte, überlegte, ob sie etwas sagen sollte - doch dann entschied sie sich anders, durchquerte wortlos den Raum und trat durch die verborgene Tür in die Nacht hinaus.

Fine:
Aerien stand an der Wegkreuzung und wartete. Die Sonne war längst nicht mehr zu sehen und tiefe Schatten überzogen den Hohlweg zwischen den Felswänden, dem sie und Narissa bis hierher gefolgt waren. Es war still - so still, dass Aerien ihren eigenen Herzschlag zu hören glaubte. Sie lauschte angestrengt auf sich wieder nähernde Schritte, die auf Narissas Rückkehr hinweisen würden, doch Minute um Minute verging, ohne dass sich Aeriens Hoffnung erfüllte.
Bei den Toren der Nacht, 'Rissa, eines Tages wird uns deine Sturheit noch umbringen, dachte Aerien verärgert. Sie gab es auf, tatenlos dazustehen und marschierte den Weg, den Narissa genommen hatte, entlang, bis sie zu einer Biegung kam. Dahinter schien es nicht weiterzugehen, also musste Narissa irgendwo in der Nähe sein.
"Wenn das ein Witz sein soll, dann ist er gründlich schiefgegangen," sagte Aerien ärgerlich in die Stille hinein. Sie stand vor einer Sackgasse. Der Weg, dem sie gefolgt war, endete vor einer aufrecht ragenden Felswand. Eine glatte, mannshohe Felsplatte markierte das Ende des Weges. Darauf waren dieselben Zeichen zu sehen, die Narissa so fasziniert hatten: Sieben Sterne, und ein kleiner Vogel.
"Wo steckst du, 'Rissa? Du kannst rauskommen, hörst du?"
Absolute Stille antwortete ihr. Aerien trat langsam vor und tastete die Felsplatte vorsichtig ab. Sie schien nicht besonders dick zu sein, ließ sich aber um keinen Milimeter verschieben. Von Narissa fehlte noch immer jegliche Spur, und Besorgnis machte sich in Aerien breit und verdrägte ihre Verärgerung.
"Narissa?" rief sie. Und endlich hörte sie etwas. Es klang wie Schritte nackter Füße auf dem felsigen Boden, und es kam von der Wegkreuzung, die Aerien hinter sich gelassen hatte. Sie atmete auf. Narissa musste sich davon geschlichen haben und würde nun mit einem breiten Grinsen an der Kreuzung auf Aerien warten und sich über ihre Sorgen lustig machen. Aerien unterdrückte ein Lächeln und eilte den Weg zurück, den sie gekommen war.
"Das ist das letzte Mal, dass ich mir Sorgen um dich..."

Der Rest des Satzes blieb ihr im Hals stecken als sie die Kreuzung erreichte. Anstelle von Narissa fand sie zwei Fanatiker vor, deren Speere in ihre Richtung ragten. Sie wirkten noch wütender als bei ihrer vorherigen Begegnung mit den beiden Mädchen. Einer der beiden Männer deutete auf die Zeichen, die Narissas Neugier geweckt hatten und rief etwas in einer Sprache, die Aerien nicht verstand. Nur allzu gut verstand sie allerdings den Tonfall, den der Mann verwendet hatte. Seine Worte waren voller Wut gewesen, doch noch etwas anderes hatte darin mitgeklungen: Mordlust.
Ohne zu zögern riss Aerien ihr Schwert hervor und nahm eine kampfbereite Haltung an. Und keinen Augenblick zu spät, denn schon stürzten sich die beiden Fanatiker mit Gebrüll auf sie.
Erinnere dich an deine Ausbildung, schoss es ihr durch den Kopf, als sie den ersten Speerstich parierte und mit einem tänzelnden Ausfallschritt den Angriff des zweiten Kriegers ins Leere laufen ließ. Die Enge des Hohlwegs sorgte dafür, dass die zahlenmäßige Überlegenheit der Fanatiker weniger schwer wog, denn sie hatten kaum genügend Raum, um gleichzeitig anzugreifen. Auch ließ ihre Bewaffnung zu wünschen übrig. Sie trugen weite Gewänder, aber keinerlei Rüstung, und hielten den Speer nur mit einer Hand, was ihre Hiebe weniger kraftvoll machte. Aerien, die ihre Klinge beidhändig führen konnte, konnte daher die meisten Angriffe trotz ihrer geringeren Körpergröße mühelos abwehren. Sie duckte sich unter einem gegen ihren Kopf geführten Stich hinweg und verlor dabei ein Büschel Haare, als die angerostete Speerspitze knapp an ihrem Hinterkopf vorbeirauschte. In einer fließenden Bewegung richtete sie sich wieder auf und ließ ihr Schwert auf den Schaft des noch immer vorgestreckten Speeres niedergehen. Das trockene Holz barst und die Waffe war zerstört. Der Krieger stieß einen überraschten Schrei aus, doch Aerien ließ ihm keine Zeit, den Dolch an seinem Gürtel zu ziehen. Sie sprang vorwärts, versetzte dem zweiten Fanatiker einen Schulterstoß und wirbelte herum, die Klinge auf Bauchhöhe mit ganzer Kraft schwingend. Ein ekelerregendes Schmatzen erklang, als Lôminzagar durch Stoff, Haut und Knochen schnitt und den entwaffneten Krieger in zwei Hälften zerteilte.
Aerien hatte keine Gelegenheit, sich darüber zu freuen, denn wenn sie gehofft hatte, dass der Tod seines Gefährten den verbliebenen Fanatiker entmutigen würde, hatte sie sich getäuscht. Er brüllte und erwischte sie mit einem schnellen Speerstich am Unterarm, eine blutige Linie hinterlassend. Aerien biss die Zähne zusammen und fluchte. Sie war gezwungen, ihr Schwert nun einhändig zu führen. Die Wunde schwächte sie, machte sie aber auch wütend. Sie schlug den Speer des Fanatikers beiseite und täuschte einen Angriff auf seine Seite an, an der ihm der Arm zu fehlen schien. Als er wie sie es erwartet hatte, seitwärts auswich, wirbelte sie um die eigene Achse herum - und hieb ihm den noch immer seine Waffe umklammernden rechten Arm oberhalb des Ellbogens ab.
Kreischend ging der Krieger zu Boden. Ein dicker Schwall Blut schoss aus seinem Armstumpf. Rasch war Aerien über ihm und setzte ihm die Schwertspitze an die Kehle.
"Rede," zischte sie. "Warum habt ihr mich angegriffen?"
Er sprach, voller Schmerz und Hass, mit so starkem Akzent, dass Aerien ihn kaum verstand. "Dienerin der Verhassten!" Der Fanatiker spuckte aus.
"Was soll das bedeuten?"
"Anlamani... wird mich rächen!" Der Fanatiker warf sich vorwärts - mitten in Aeriens Klinge hinein, die nicht schnell genug reagierte um sie zurück zu ziehen. Gurgelnd starb der Mann.

Keuchend blieb Aerien stehen. Es waren keine weiteren Feinde zu sehen oder zu hören. Dennoch hielt sie Augen und Ohren offen. Vorsichtig riss sie ein Stück ihres langen Oberteils ab und verband die Wunde, die sie erlitten hatte. Der Schnitt blutete zwar noch ein wenig und schmerzte, schien aber nicht besonders tief zu sein. Als sie damit fertig geworden war, war es inzwischen so dunkel geworden, dass sie kaum noch die Hand vor Augen sehen konnte. Zwar hatten sie aus Qustul eine Fackel mitgebracht, doch Aerien war sich nicht sicher, ob sie sie entzünden sollte. Das Licht würde zweifelsohne weitere Fanatiker anlocken.
Während sie noch mit sich haderte, drang ein Geräusch an ihre Ohren. Wieder waren es leise Schritte auf dem Felsboden, doch sie kamen aus der Richtung, aus der Narissa und Aerien gekommen waren, als sie auf die Wegkreuzung gestoßen waren. Fluchend packte sie ihr Schwert mit beiden Händen und stellte sich auf einen erneuten Kampf ein, als sie eine schmale Gestalt im Hohlweg vor ihr erspähte.
"Aerien!"
"Narissa?"
"Ich bin's. Jetzt runter mit dem Schwert, bevor... Moment mal, der Boden hier ist ja ganz glitschig und... Ist das ein Toter?"
"Die Fanatiker haben mich angegriffen, und... WO bist du gewesen? Du warst über eine Stunde verschwunden!"
Narissas Gesicht nahm einen verwirrten Ausdruck an. "Ich... war in einer Höhle. Elyana war dort und... noch jemand. Ich kann mich nicht richtig erinnern, wer." Sie wirkte, als würde sie angestrengt nachdenken. "Es hatte irgendwas mit den Sieben Schwestern zu tun, und es ging darum, dass ich nicht auserwählt bin oder so... aber dass ich trotzdem eine wichtige Rolle spielen kann. Sie wussten alles über dich und mich, und was wir vorhaben, und..."
"Warte mal, 'Rissa. Ich bin dir gefolgt, aber der Weg endete in einer Sackgasse. Wie..."
"Sie haben den Weg hinter mir verschlossen, daran kann ich mich erinnern. Ich... es tut mir Leid, Sternchen. Ich hätte dich nicht allein lassen sollen, aber... es war wichtig, dass ich dort war und... was immer ich dort getan habe. Das spüre ich. Ich bin mir jetzt sicher, dass es die richtige Entscheidung ist, nach Mordor zu gehen."
Aerien schluckte. "Ich war in Sorge um dich," stieß sie hervor und schlang die Arme um Narissa.
"Ich weiß. Ich verspreche dir, dich beim nächsten Mal mitzunehmen, wenn das möglich ist. Aber... wer hat dich angegriffen? Bist du verletzt?"
"Zwei dieser Fanatiker haben mich überfallen. Sie sind tot. Einer der beiden hat mich am Arm erwischt, aber... es wird schon gehen."
"Lass mich mal sehen," meinte Narissa und tastete vorsichtig über Aeriens notdürftigen Verband. "Es blutet immerhin schon nicht mehr. Wahrscheinlich ist es besser, wenn wir von hier verschwinden."
"Es ist zu dunkel um weiterzugehen. Wir müssen entweder die Fackel entfachen, oder..."
Sie beendete den Satz nicht, den in diesem Moment flammten mehrere Lichter vor ihnen und über ihnen auf. Im Licht mehrerer Öllampen sahen sie eine große Gruppe Fanatiker, die ihnen den Weg versperrten. Weitere standen oberhalb des Hohlwegs auf den Felsen, und als Aerien sich umdrehte und Rücken an Rücken mit Narissa stand, sah sie, dass auch von hinten eine Gruppe der einarmigen Krieger auf sie zukam. Sie sah mehrere zum Wurf erhobene Wurfspeere, die auf sie zielten.
Ein Befehl in der ihnen unverständlichen Sprache erklang, und die Fanatiker rückten vor. Narissa und Aerien waren umzingelt und weit in der Unterzahl.
"Ergebt euch! Oder ihr sterbt!" rief ihnen einer der Männer zu.
"Also schön," murmelte Narissa. "Gegen die kommen wir nicht an." Langsam ging sie in die Hocke und legte ihre Dolche auf den Felsboden. Aerien fiel auf, dass Narissa nun drei Klingen besaß - zwei davon hatte Aerien noch nie gesehen. Rasch folgte sie Narissas Beispiel und legte ihr Schwert auf den Boden.
Ein weiterer Befehl ertönte, und sie wurden grob gepackt und gefesselt. Man knebelte sie und verband ihnen die Augen, dann stieß jemand Aerien unsanft vorwärts, und sie setzte unsicher einen Fuß vor den anderen, den Stimmen ihrer Häscher folgend.

Ungefähr eine halbe Stunde trieben die Fanatiker sie vor sich her und Aerien spürte, dass der Weg, den sie gingen, abschüssig war. Auf den letzten hundert Metern war sie sich sicher, eine Höhle betreten zu haben, denn ihre Schritte und die Stimmen der Krieger hallten lauter als zuvor. Dann stieß sie jemand grob zu Boden und sie blieb schmerzhaft liegen.
Vorsichtig rollte sie sich auf die Seite, da packte sie eine Hand am Unterarm. Aerien versuchte, sich aus dem Griff zu befreien, als ihre Fesseln sich plötzlich lösten. Jemand zog den Knebel aus ihrem Mund und sie riss sich die Binde vom Gesicht.
Narissa lag neben ihr und hielt ihr das durchgeschnittene Seil hin. "Pssst," machte sie und gab Aerien lautlos zu verstehen, dass sie ihre Hände mit dem Seil umwickeln sollte, damit es so aussah, als wäre sie weiterhin gefesselt. "Ich habe mich befreien können," wisperte Narissa beinahe unhörbar. "Hast du eine Ahnung, wo wir hier gelandet sind?"
Aerien blickte sich um. Sie befanden sich in einer großen Höhle, die von mehreren, von der Decke hängenden Öllampen erhellt wurde. Die Wände und Decke waren über und über mit Malereien bedeckt, die wieder und wieder das Motiv des schwarzen Drachen zeigten, und dazu den einarmigen Krieger, der die Bestie erschlug. Narissa und Aerien lagen etwas abseits, nahe einer der Felswände. Im hinteren Teil der Höhle, zu ihrer Linken, war ein steinerner Sitz in den Felsen gemeißelt worden. Dahinter lag ein Durchgang, der ins Dunkle führte. Die den Mädchen gegenüberliegende Wand der Höhle war an mehreren Stellen durchbrochen, und Aerien glaubte, dort eine tiefe Schlucht zu erkennen. Rechts von ihnen lag der Ausgang der Höhle, der streng bewacht wurde. Fanatiker gingen überall in der großen Grotte umher und unterhielten sich leise. Einigen fehlte der linke Arm vollständig, doch die meisten hatten ihn sich stattdessen nur auf den Rücken gebunden.
Aeriens Augen hatten sich inzwischen an das Licht gewöhnt. Sie stellte fest, dass Narissa und sie nicht alleine waren. Wenige Meter entfernt von ihnen lag eine junge Frau, die ebenso gefesselt und geknebelt war, wie Aerien es kurz zuvor noch gewesen war. Ihre Augen waren angsterfüllt aufgerissen.
"Das muss dann wohl das Versteck der Fanatiker sein," stellte Narissa unnötigerweise fest. Sie hatte erneut sehr leise gesprochen, doch mehrere der Fanatiker, die ganz in der Nähe Wache standen, drehten sich zu ihr um und blickten sie drohend an. Doch entweder fiel es ihnen nicht auf, dass Narissas und Aeriens Knebel verschwunden waren, oder es war ihnen egal. Für den Augenblick ließ man sie in Ruhe.
"Was machen wir jetzt?" wisperte Aerien so leise sie konnte. Vorsichtshalber hatte sie ins Sindarin gewechselt, und Narissa tat es ihr gleich.
"Wir schauen uns die Lage ganz genau an und machen dann einen Plan," antwortete Narissa. "Siehst du dort hinten neben dem Eingang die kleine Nische? Dort haben sie unsere Waffen abgelegt."
"Und dort, wenige Meter vor dem Steinsitz dort hinten ist eine Art... Altar? Könnte das der Ort sein, an den sie das Königssymbol von Kerma gebracht haben?" Aerien deutete mit dem Kinn in die Richtung.
Narissa kniff die Augen zusammen und sah genauer hin. "Da liegt tatsächlich etwas auf dem Altar. Es... es ist ein Messer. Kein Drachenzahn. Das Königssymbol muss woanders sein."
"Vielleicht hinter dem dunklen Durchgang jenseits des Steinsitzes," überlegte Aerien.
Weitere Spekulationen konnten sie nicht anstellen, denn ein Ruf erschallte vom Eingang der Höhle, wo ein in die Jahre gekommener Mann aufgetaucht war. Dabei schien es sich um eine Führungspersönlichkeit der Fanatiker zu handeln, denn die Krieger senkten respektvoll das Haupt, als der Mann an ihnen vorbeischritt. Dem Alten fehlte der linke Arm unterhalb des Ellbogens. Er deutete auf die Frau, die in der Nähe Aeriens lag, und zwei Krieger packten sie und zogen sie in Richtung der Mitte der Höhle.
Der Alte trat an den Altar und hob das Messer auf. Er begann, in derselben Sprache zu sprechen, die die Fanatiker verwendet hatten, doch der Alte sprach langsam und intoniert, als würde er ein Gebet sprechen.
"Das ist definitiv ein alter kermischer Dialekt," raunte Narissa Aerien zu. "Ich glaube, es ist eine Anrufung Anlamanis. Es geht um... Lebenskraft, und... Blut?"
Ein Raunen ging durch die versammelte Menge, als die sich sträubende Frau vor den Altar geschleppt wurde. Zwei Krieger hielten sie an Ort und Stelle fest und zwangen sie auf die Knie. Gleichzeitig tauchte eine Gestalt hinter dem steinernen Sitz auf, die geradewegs einem Albtraum zu entstammen schien. Dunkle Gewänder, die mit Runen beschriftet waren, bedeckten einen grausam entstellten Körper. Unterarme und Unterschenkel steckten in eisernen Stiefeln und Handschuhen, und die Schultern waren von schweren Metallpolstern mit Stacheln bedeckt. Der Oberkörper war größtenteils frei, und Aerien sah dort unzählige Narben und eine Metallplatte direkt über dem Herzen, die aussah, als wäre sie direkt in die Haut hineingebrannt worden. Auch das Gesicht sah aus, als wäre es mit großer Hitze in Berührung gekommen und es glänzte unnatürlich im Licht der Öllampen. Kopf und Haare waren von einem stählernen Helm bedeckt, der bis zum Nacken reichte und der Zacken besaß, die denen einer Krone ähnelten. In der Hand hielt die Gestalt einen langen Speer mit schwarzem Schaft.
"Anlamani," raunten die Fanatiker und fielen auf die Knie. Derweil hatte der Alte der Gefangenen das Messer an die Kehle gelegt - und schnitt sie ihr mit einer schnellen Bewegung durch. Das hervorströmende Blut sprudelte über den Altar und die finstere Gestalt nickte zufrieden, als sie sich auf dem Steinsitz niederließ.
"Ein Blutopfer für ihren finsteren Gott," wisperte Narissa und Aerien nickte verbissen. Solche Dinge hatte sie in Mordor immer wieder gesehen, weshalb sich ihr Schock in Grenzen hielt - bis sie einer der Wächter am Arm packte und auf die Beine riss, sie zum Altar zerrte.
"NEIN! Aerien!" Narissas Schrei sorgte dafür, dass sich sofort drei Fanatiker auf sie stürzten und sie niederrangen, auch wenn sie es ihnen nicht leicht machte. Sie kratzte und biss, doch es half ihr nichts. Hilflos musste sie mit ansehen, wie man Aerien in dieselbe Position zwang, die die gerade eben geopferte Gefangene zuvor eingenommen hatte. Schon legte sich das noch immer blutige Messer an ihre Kehle und sie sah, wie der Alte sie mit einem Blick voller Blutdurst bedachte. Er stieß einen triumphierenden Ruf aus, und...

"Halt. Diese nicht."
Die Stimme, die an Aeriens Ohr drang, konnte man beim besten Willen nicht als menschlich bezeichnen. Sie war furchterregend und tief; es klang, als würde sie von Stimmbändern aus Metall erzeugt. Alles daran war so unnatürlich, dass es Aerien einen eiskalten Schauer über den Rücken jagte. Sie fühlte sich schmerzlich an die Stimme des Ringgeists erinnert, der sie in Qafsah beinahe in seine Klauen bekommen hätte.
Die Gestalt - Anlamani - deutete auf Narissa und machte seinen Dienern klar, sie zu Aerien zu bringen. Schon knieten sie nebeneinander vor dem Altar, wo der Boden noch immer von Blut bedeckt war.
"Wirklich ein interessanter Fund," fuhr Anlamani mit seiner grausamen Stimme fort. "Die eine scheint mir aus Mordor zu stammen, und die zweite... weißes Haar ist heutzutage ein äußerst seltenes Merkmal. Wo habt ihr sie gefunden?"
Einer der Fanatiker antwortete in der uralten Sprache Kermas, und Anlamani nickte. "Wie ich es mir dachte. Die Schwestern glauben also tatsächlich, ihre Schwalbe gefunden zu haben. Zu schade, dass das Vögelchen direkt in das Nest einer Spinne geflogen ist."
"Wir haben euch nichts getan," wagte Aerien zu sagen. "Wir sind nur wegen des Königssymbols hier. Gebt es uns, und wir lassen euch in Frieden."
"Das also bringt euch her? Das kommt unerwartet. Nach all den Jahren wagen es die falschen Könige nun doch, danach zu suchen? Hier werden sie es niemals finden. Es ist bei mir in Sicherheit." Er warf einen beinahe unmerklichen Blick zu dem dunklen Durchang, aus dem er gekommen war. Aerien und Narissa tauschten einen schnellen Blick aus - sie wussten nun, wo sich das Königsymbol befinden musste.
Anlamani erhob sich von seinem Sitz und wandte sich an seine Diener. "Ein Opfer genügt für heute. Kehrt zu euren Aufgaben zurück. Was diese beiden betrifft.... bringt sie zu mir.

Eandril:
Das steinerne Gemach, in das man sie unsanft gebracht hatte, war düster und wurde nur von einer einzelnen Öllampe an der Wand erhellt. Für das Gemacht des verrückten Anführers eines geheimen Kultes, der ihn für einen unsterblichen Gottkönig hielt, war es überraschend einfach eingerichtet - ein Bett an der einen Wand, ein Schreibtisch mit einem hölzernen Stuhl davor an der anderen, ein kleines, mit Wasser gefülltes Steinbecken, und sonst nichts.
"Ich hätte doch etwas beeindruckenderes erwartet", raunte Narissa Aerien zu, nachdem die Wächter den Raum verlassen hatten und sie allein zurückgeblieben waren. "Ich auch", flüsterte Aerien ebenso leise zurück. "Allerdings finde ich die Frage viel wichtiger, wie wir hier herauskommen, bevor uns diese Irren ebenfalls opfern."
Bevor Narissa antworten konnte, sagte eine tiefe Stimme hinter ihnen: "Gar nicht, mein Vögelchen."
Beide wandten sich auf der Stelle um, die zum Schein gefesselten Hände noch immer auf dem Rücken, und sahen sich Anlamani gegenüber - oder zumindest demjenigen, der sich für ihn ausgab, denn keinen Augenblick lang glaubte Narissa, dass der Urvater Kermas über dreitausend Jahre lang überlebt haben könnte. Er hatte seinen schrecklichen Stachelhelm und die eisernen Rüstung abgelegt, doch er trug noch immer die schwarzen, runenbedeckten Gewänder, die er auch zuvor in der Opferkammer getragen hatte. Die Gewänder bedeckten seinen Oberkörpfer nun vollständig, doch Narissa hatte den Anblick der furchtbaren Narben und der Metallplatte direkt über dem Herzen nicht vergessen. Jetzt aus der Nähe konnte sie auch erkennen, dass sein Gesicht von Brandnarben beinahe völlig erstellt und verzogen war. Eines der Ohren fehlte ganz, das andere war wie durch große Hitze zu einem unförmigen Klumpen zusammengeschmolzen. Den linken Arm hielt er steif und leicht verkrümmt.
Anlamanis Mundwinkel verzogen sich zu einem Grinsen, als er ihre ausführliche Musterung bemerkte. "Gefällt dir, was du siehst, Schwalbe?" Narissa schüttelte unwillkürlich den Kopf, und Anlamani brach in ein heiseres Gelächter aus. "Das dachte ich mir." Seine Stimme klang noch immer metallisch und tief, doch längst nicht mehr so unnatürlich wie zuvor.
"Das hier..." Er hob den rechten Arm, und fuhr mit der Hand über sein Gesicht hinab bis zum linken Arm. "Das hier habe ich dem großen Drachen zu verdanken. Dunkelschwinge." Er lachte erneut auf unheimliche, heisere Weise. "Was für ein Gegner, was für ein Kampf. Und anstatt mir meinen gerechten Lohn - die ewige, gerechte Herrschaft über Kush - zuzugestehen, sitzen seit langem falsche Könige auf dem Thron. Doch eines Tages werde ich wiederkehren, und mir nehmen, was mir zugesteht."
"Das klingt doch nach einem hervorragenden Plan", erwiderte Narissa, während sie hinter ihrem Rücken angestrengt an ihren Fesseln, die drohten von ihren Handgelenken zu fallen, nestelte. "Bis es soweit ist, wäre es vielleicht möglich, dass wir uns euer Königssymbol borgen?" Eine kräftige Hand schloss sich plötzlich um ihre Kehle, und sie rang vergeblich nach Luft. "He!", hörte sie Aerien neben sich empört rufen, doch ihre eigene Aufmerksamkeit war ganz auf die Hand um ihren Hals gerichtet.
"Das Königssymbol", knurrte Anlamani, und seine Stimme klang wieder so unmenschlich, wie in der Opferkammer. "Der Zahn von Arkhasias. Er gehört mir, nicht den falschen Königen - wieso sollte ich ihn euch geben?" Zu ihrem Entsetzen spürte Narissa, wie ihre Füße den Kontakt zum Boden verloren, und sie hilflos an Anlamanis Arm in der Luft baumelte. Für einen kurzen Moment lockerte sich der Druck um ihre Kehle und sie konnte einen kurzen, quälenden Atemzug nehmen, als Aerien, durch ihre scheinbar gefesselten Hände behindert, Anlamani kurzerhand den Kopf in die Seite gestoßen hatte. Doch im nächsten Augenblick wurde Aerien von einem kräftigen Tritt beiseite geworfen, und die Hand schloss sich wieder fest.
"Wir... sonst wird... Mordor die Herrschaft... gewinnen", stieß Narissa mühsam hervor. Die Ränder ihres Gesichtsfeldes begannen bereits zu verschwimmen und vor ihren Augen tanzten Sterne. Dann verschwand der Druck, als Anlamani sie einfach fallen ließ, wobei sie gerade noch verhindern konnte, dass ihre Hände sich aus den Fesseln lösten. Auf dem kalten Steinboden liegend rang sie nach Luft, und spürte Aeriens Knie an ihrer Schulter. Anlamani stand über ihnen, die dunklen Augen, hinter denen ein schwaches Licht zu leuchten schien, in die Ferne gerichtet. "Mordor...", sagte er leise. "Der alte Feind der... Menschheit." Er beugte sich vor, und zog zuerst Aerien, dann Narissa ohne die geringste Mühe unsanft auf die Beine. Narissa wechselte einen raschen Blick mit Aerien, der ihr verriet, dass ihre Freundin ähnliches dachte wie sie. Wer auch immer dieser sogenannte Anlamani war, sie durften ihn keinesfalls unterschätzen. Er konnte ein äußerst gefährlicher Feind sein - nicht nur für sie, sondern für ganz Kerma - und doch schien die Erwähnung Mordors irgendetwas in ihm berührt zu haben.
"Mordor versucht, Kerma in seine Gewalt zu bekommen", erklärte Aerien rasch. "Músab mag für euch ein falscher König sein, doch er ist ein standhafter Feind Mordors, und er will verhindern, dass sein Bruder Kerma zu Sklaven Saurons macht."
"Und dabei könnte ihm das Königssymbol helfen", ergänzte Narissa. "Es würde dem Volk zeigen, dass er und nicht Kashta, der rechtmäßige Herrscher ist."
"Er ist nicht der rechtmäßige Herrscher", entgegnete Anlamani fest, doch seine Stimme klang wieder normal. "Wie alle seine Vorfahren seit Anlamani, seit mir, ist er ein Usurpator, der mir meinen rechtmäßigen Thron vorenthält."
"Das mag sein." Aeriens Stimme hatte den gleichen Tonfall angenommen, den sie auch im Gespräch mit Músab angeschlagen hatte. Narissa konnte nicht genau sagen, was den Unterschied ausmachte, doch sie wirkte ernsthafter, gleichzeitig bestimmt und respektvoll. Ein wenig beneidete Narissa sie darum, und war gleichzeitig erleichtert, dass die Rolle der Diplomatin so wenigstens nicht an ihr hängen blieb. "Aber eure Kräfte reichen im Augenblick eindeutig nicht aus, um euren Thron zu erobern. Sonst hättet ihr es, geschwächt wie Kerma im letzten Bürgerkrieg war, längst versucht." Soweit es durch die Brandnarben erkennbar war, verhärtete sich Anlamanis Gesicht bei dieser Aussage, doch er ließ Aerien weitersprechen.
"Ihr seid unsterblich, es kommt also nicht auf ein paar Jahre an - und das Symbol habt ihr bereits einmal erfolgreich gest... an euch gebracht, warum also nicht wieder? Doch wenn ihr es uns nicht gebt, Kashta siegt und Mordor die Herrschaft über Kerma erlangt... Wie wollt ihr es mit der Macht von Sauron aufnehmen, wenn er die ganze Welt unterjocht hat? Ihr habt sehr richtig erkannt, ich komme aus Mordor. Und ich weiß, wie es dort aussieht, ich weiß, welche macht Sauron ins Feld führen kann. Alleine könnt ihr niemals hoffen, euch gegen ihn durchzusetzen."
Anlamani schwieg für einen Augenblick, dann schlug er zweimal mit der Hand gegen die Wand. "Ich werde darüber nachdenken, Tochter Mordors." Zwei seiner Gefolgsleute erschienen in der Tür. "Bringt sie weg und sperrt sie ein, bis ich nach ihnen schicke."

Entgegen ihrer Instinkte ließ Narissa sich widerstandslos am Arm packen und wegführen. Die Wächter führten sie durch die nun dunkle und verlassene Opferkammer hindurch, zu einem engen Raum mit einer schweren Holztür. Sie stießen Aerien und Narissa unsanft hinein, und schlossen die Tür hinter ihnen mit einem dumpfen Schlag. Als das Klicken des Schlosses zu hören war, setzte sich Narissa auf der einen Seite des Raumes mit dem Rücken zur Wand auf den Boden. Aerien setzte sich ihr gegenüber, doch der Raum war so eng, dass sie mit den Knien aneinander stießen.
"Das war... fantastisch, Sternchen", stieß Narissa hervor, als die Schritte jenseits der Tür sich entfernt hatte. Aerien errötete und blickte zu Boden, und Narissa lachte. "Nein, wirklich. Du hast ihn ziemlich ins Grübeln gebracht, und vielleicht gibt er uns das Symbol einfach."
"Aber auch nur vielleicht", gab Aerien zu bedenken. "Er wirkte nicht wie jemand, der immer sonderlich klar denken kann. Und wenn er sich entscheidet, es uns doch nicht zu überlassen, sieht unsere Lage immer noch düster aus."
"Nicht ganz so düster wie sie sein könnte", meinte Narissa triumphierend, und zog erst die linke, dann die rechte Hand, an der noch immer die Schlaufen hingen, mit denen ihre Hände gefesselt gewesen waren, hinter dem Rücken hervor. "Oder hast du das vergessen?"
Aerien lächelte matt. "Natürlich nicht. Aber du solltest sie lieber wieder anlegen, bevor jemand kommt und feststellt, dass du ganz und gar nicht gefesselt bist. Und ich für meinen Teil hätte gern mein Schwert zurück, bevor das passiert." Narissa verzog missmutig das Gesicht, und legte die Hände erneut hinter dem Rücken zusammen, und schob sie in die Seilschlaufen.
"Wer, glaubst du, ist dieser Kerl?", fragte sie. "Jedenfalls sicher nicht Anlamani."
"Das glaube ich auch nicht", erwiderte Aerien nachdenklich. "Ich weiß, dass... die Männer des Königs unter den Númenorern oft genug versucht haben, ewiges Leben zu erlangen, doch es hat nie funktioniert. Vielleicht... er muss eine Fälschung sein. Vielleicht gibt es eine Reihe von Anlamanis, die sich alle für die gleiche, unsterbliche Person ausgeben. Und ihre Anhänger sind so fanatisch, dass sie die Wahrheit nicht sehen können."
"Oder... er könnte ein Elb sein." Aerien verzog skeptisch den Mund, doch Narissa sprach unbeirrt weiter. "Nein, hör zu. Denk an Níthrar - er ist der lebende Beweis, dass es Elben auch weit im Süden gibt. Also warum nicht auch hier? Das würde die Unsterblichkeit erklären."
"Ja...", meinte Aerien zögerlich. "Aber das hier ist ein Monster. Elben sind... sie sind edel, und gut, und weise, und..."
Narissa berührte unwillkürlich die Narbe auf ihrer Wange. "Du und ich, wir haben beide sehr früh erfahren, dass nicht nur jene Monster sind, die auch so aussehen. Unter den Menschen gibt es genug von ihnen, warum also nicht auch unter den Elben? Nach allem was ich weiß, sind sie lebendige Wesen wie wir, also warum sollte es nicht unter ihnen auch Böses geben?"
"Ich... weiß nicht." Aerien zog die Schultern hoch, und Narissa verspürte das plötzliche Bedürfnis, sie zu umarmen. "Der Gedanke an Elben ist für mich vielleicht einfach der Gedanke an etwas durch und durch gutes. Etwas, das im Gegensatz zu den Menschen nicht dem Bösen anheim fällt. Ich will diesen Glauben behalten."
"Das verstehe ich", sagte Narissa sanft. "Wir alle brauchen irgendetwas, an das wir glauben." Aerien hob den Kopf, und blickte sie direkt an. "Und was ist mit dir? Woran glaubst du?"
Narissa wich ihrem Blick aus, und zögerte. "Ich dachte, ich hätte meinen Glauben an das Gute verloren - nachdem Suladân meine Heimat zerstören und meinen Großvater ermorden ließ. Als Abel mich gefangen hatte. Als Saleme den Silbernen Bogen angriff. Doch dann war da jemand, der mir den Glauben an die Menschheit zurückgegeben hat. Ich dachte mir, wenn vom finstersten Ort Mittelerdes, jemand wie Aerien kommen kann, dann besteht vielleicht doch Hofffnung für uns alle."
Einen Moment herrschte Stille in dem engen, dunklen Raum. Dann blickte Narissa Aerien, deren Augen verdächtig glänzten, an, und lächelte verlegen. "Das war ein bisschen viel, oder?"
Aerien erwiderte das Lächeln. "Ein bisschen vielleicht. Aber ich habe es gerne gehört." Ungeachtet ihrer eigenen mahnenden Worte von vorher zog sie die Hände hinter dem Rücken hervor und streckte sie Narissa entgegen, und Narissa ergriff sie ohne zögern. "Ganz gleich, was hier noch passiert, 'Rissa - ich bin mir sicher, dass wir es schaffen."

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