Das Schicksal Mittelerdes (RPG) > Südöstliches Harad
Die Provinz Alodia
Fine:
Der kleine Raum, in den man sie gesperrt hatte, bot zu wenig Platz, als dass sie sich beide hätten hinlegen können. Narissa schien allerdings keine Probleme zu haben, in einer solchen Enge trotzdem einzuschlafen. Nur wenige Minuten zuvor hatte sie Aerien noch im Flüsterton erzählt, was sie dem Anführer der Kultisten Anlamanis gerne so alles mit ihren Dolchen antun würde, doch dann war sie verstummt. Und es hatte kaum mehr als einige wenige Augenblicke gedauert, bis Aerien die regelmäßigen Atemzüge ihrer schlafenden Freundin vernommen hatte. Sie gestattete sich ein kleines Lächeln und setzte sich neben Narissa, die in einer unbequem aussehenden Pose in sich zusammengesackt war. Behutsam legte Aerien ihre Hände an Narissas Wangen und bettete den weißhaarigen Kopf auf ihrem Schoß. Narissa gab dabei ein wohliges Geräusch von sich und rührte sich im Schlaf, doch sie erwachte nicht. Lächelnd und mit pochendem Herzen blickte Aerien auf sie hinab und streichelte ihr sanft durchs Haar.
Ich bin froh, dass wir zusammen sind, selbst hier, dachte sie. Mit dir könnte ich überall hingehen. Selbst nach... Mordor.
Der Gedanke ließ sie nachdenklich werden. Sie erinnerte sich daran, wie der alte Edrahil von der Wichtigkeit ihres Auftrags gesprochen hatte. Narissa würde nach Mordor gehen, um Aragorn zu retten, so viel stand fest. Sie würde den geheimen Pfad nehmen, den ihr Vorfahr Arandir vor so vielen Jahrhunderten beschritten hatte, und so auf verstecktem Wege ins Land der Schatten gelangen. Doch das Wissen der Turmherren würde sie nur so weit bringen. Dann würde sie sich den Gefahren Mordors selbst stellen müssen.
Aerien ballte die linke Hand zur Faust und erneuerte ihre Entschlossenheit. Ja. Sie würde Narissa begleiten und ihr den Weg durch Mordor hindurch weisen. Sie würde dafür sorgen, dass die Schwalbe auf der Spitze von Barad-dûr landen und ihre Aufgabe erfüllen würde. Natürlich war sich die Adûna des Risikos nur allzu gut bewusst. Der Dunkle Herrscher schlief nicht. Ganz im Gegenteil - er gewann mit jedem Tag, mit jeder Stunde und jeder Minute an Stärke, die er aus dem Ring der Macht bezog. Seit seiner Rückgewinnung waren nun drei Jahre vergangen, und Aerien fürchtete, dass es nun nicht mehr lange dauern würde, bis Sauron genügend Kraft erlang hatte, um wieder eine körperliche Form anzunehmen und seinen Schatten über Mittelerde zu werfen. Sie wusste nicht, was sie tun würde, wenn sie wieder vor den Toren des Dunklen Turms stand, den sie vor vielen Monaten verlassen hatte. Irgendwie würden sie einen Weg finden müssen, an Sauron und seinen Dienern vorbei zu kommen und Aragorn in Sicherheit zu bringen. Ein Scheitern war keine Option. Würde man sie entdecken, würde das nicht weniger als den Tod für Aerien und Narissa bedeuten.
Aerien seufzte leise und schob die Gedanken an die Zukunft beiseite. Ein dünner Strahl des Mondlichts drang durch einen Spalt in der hölzernen Tür herein, die ihre Zelle verschloss. Die Adûna hob die Hand und tauchte sie in das silbrige Licht, wie bezaubert von seiner Schönheit. Sie wusste nicht weshalb, aber obwohl sie und Narissa ziemlich in Schwierigkeiten steckten, hatte sie in diesem Augenblick das Gefühl, dass jemand über sie wachte. Und dass alles ein gutes Ende nehmen würde.
Etwas polterte heftig gegen die Türe, und Aerien schrak aus dem Schlaf hoch. Auf ihrem Schoß regte sich Narissa und blinzelte verschlafen. Die Tür blieb verschlossen. Vielleicht war einer der Wächter dagegen gestoßen, vermutete Aerien.
"Guten Morgen," murmelte Narissa undeutlich und schaute zu Aerien hoch. "Na sowas... hast du etwa im Sitzen geschlafen?"
"Ich... bin wohl beim Nachdenken eingenickt," erwiderte Aerien. Ihr Nacken schmerzte ein wenig, doch abgesehen davon schien ihr die Nacht nichts ausgemacht zu haben.
Narissa setzte sich auf und tätschelte Aeriens Oberschenkel. "Das ist wirklich schön weich, Sternchen. Das sollten wir öfters so machen."
Aerien errötete. Ihr fiel keine Antwort ein, was Narissas Grinsen noch verbreiterte.
Dann ging die hölzerne Türe nun doch auf und zwei Krieger mit gezogenen Speeren kamen herein. Sie bedeuteten den Mädchen, mit ihnen zu kommen. Man brachte sie zurück in die Kammer Anlamanis, der dort bereits auf sie wartete. Die Wachen stießen sie unsanft hinein und verschwanden sogleich wieder. Sie waren allein mit dem furchterregenden Anführer der Kultisten, dessen Gesicht und Hände blutverschmiert waren. Offenbar hatte er vor Kurzem ein weiteres Opfer vollzogen.
Anlamani - falls das wirklich sein Name war - stand neben dem einzigen Fenster des Raumes. Das Fenster reichte bis zum Boden herab und war so hoch und breit, dass drei Menschen problemlos nebeneinander hindurch gepasst hätten. Hinter dem Anführer der Kultisten konnte Aerien einen Blick auf die Wände der Schlucht werfen, in der die Höhlen der Kultisten lagen. Für einen Augnblick starrte Anlamani noch hinaus, dann wandte er sich den beiden jungen Frauen zu. In der linken Hand hielt er einen edel aussehenden Dolch, von dem rotes Blut tropfte.
"Kleine Schwalbe," zischte er. "Du steckst voller Geheimnisse, wie ich nun weiß."
"Das ist mein Dolch!" rief Narissa. "Nimm deine Finger davon!"
"So besitzergreifend. So hochmütig. Tsssk. Diese Waffe... stammt aus dem Alten Westen, nicht wahr? Ich erkenne die Machart. Die Tief-Elben haben sie gefertigt, in ihrer Verblendung." Wie fasziniert ließ er die Klinge durch seine Finger gleiten und wechselte sie von einer Hand in die andere. "Und doch war dies nicht deine einzige Klinge." Anlamani trat zu einem kleinen, steinernen Tisch, und Aerien sah, dass Narissas und ihre übrigen Waffen dort aufgereiht lagen. "Eine Waffe kann viel über ihren Besitzer aussagen. Hier, dieser Dolch beispielsweise..." er hob einen Dolch hervor, der in einer schwarzen Scheide steckte. "Er besteht aus einem Metall, dass Obsidian genannt wird. Es ist selten, doch in den Tiefen von Alodia kann man einiges davon finden. Ich weiß, wer ihn dir gegeben hat. Die Schwestern sind kein Hindernis für mich. Sie haben kein Interesse an Kerma oder an Anlamanis Thron. Sie werden sich mir nicht in den Weg stellen."
"Ich verstehe nicht..." begann Aerien, doch der Anführer der Kultisten brachte sie mit einem bedrohlichen Knurren zum Schweigen.
"Zu dir komme ich noch, Tochter Mordors. Unterbrichst du mich erneut, vergesse ich meine Zurückhaltung und beende dein wertloses Leben." Er starrte sie für einen langen Augenblick zornig an, dann legte er beide Dolche beiseite und hob das alte Erbstück auf, das Narissa von Anfang an, seit Aerien sie kannte, mit sich getragen hatte.
"Von Menschenhand gefertigt," murmelte Anlamani. "Die Machart ist númenorisch, kein Zweifel. Aber die Insignien darauf... Ah, natürlich. So ist das also. Du, kleine Schwalbe, stammst entweder selbst von der Weißen Insel, oder hast einen der Turmherren bestohlen."
"Ich würde niemals so etwas stehlen," hielt Narissa dagegen. "Ciryatans Dolch ist mein Erbe und mein Eigentum."
"Ist das so? Und wie gedenkst du, drei Dolche mit nur zwei Händen zu führen?" Er lachte grausam. "Jugendliche Torheit, nicht mehr als das. Hier habe ich nun also eine Edle aus dem Haus der Turmherren, von denen es heißt, dass ihr Einfluß seit dem Fall der Insel wieder wächst. Ich frage mich, was sie wohl dafür geben würden, um dich wohlbehalten nach Hause zu bringen? Ich denke, ich werde sie zwingen, ihre besten Attentäter auf Músab, den Thronräuber anzusetzen. Er vertraut euch, nicht wahr?" Etwas Hinterlistiges blitzte in Anlamanis Augen auf. "Vielleicht schicke ich sogar dich selbst, kleine Schwalbe. Du könntest ungehindert zu dem falschen König vordringen, nicht wahr? Und du würdest tun, was ich von dir verlange, denn wenn nicht..." Der Kultist bewegte sich mit einem Mal so schnell, dass Aerien und Narissa keine Zeit zum Reagieren blieb. Einem schwarzen Schatten gleich ragte er vor Aerien auf und sie spürte das kalte Metall von Ciryatans Dolch an ihrem Hals. Die Klinge ritzte die Haut leicht ein und ein roter Tropfen Blut quoll heraus.
"Aufhören!" rief Narissa. "Ich sagte, Aufhören!"
Anlamani lachte grausam. "Du wirst es tun, nicht wahr? Natürlich wirst du das. Und sieh doch nur, wen wir hier haben. Eine Tochter Mordors, doch nicht nur irgendeine." Er ließ Aerien los und nahm ihr Schwert in die Hand. "Númenorisch, wie ich es mir dachte, doch der Stahl stammt aus den Schmieden des Dunklen Herrschers. Und dennoch ist es keine minderwertige Waffe, wie sie ein Ork verwenden würde. Es ist eine Metallmischung, die den Privilegierten Saurons vorbehalten ist. Wie kommt jemand wie du an eine solche Klinge?"
"Sie war ein Geschenk," stieß Aerien leise hervor.
"Ein Geschenk also. Das Geschenk eines Geliebten vielleicht? Nein - deine Blicke verraten dich, Tochter Mordors. Du liebst eine Andere. Sag mir: Was würde dein Vater tun, wenn er von der Lage erfahren würde, in der du dich befindest? Würde er dafür sorgen, dass Mordor beiseite schaut, während ich mir nehme, was rechtmäßig mein ist - und zwar den Thron Kermas?"
Aerien presste die Lippen aufeinander und gab keine Antwort.
Anlamani legte Aeriens Schwert zurück zu den drei Dolchen und umrundete die Mädchen, die in der Mitte des Raumes standen. "Dein Schweigen sagt mehr, als dir bewusst ist. Hier habe ich euch nun also - und ihr habt mir den Schlüssel zum Sieg gebracht. Die kleine weiße Schwalbe wird den Usurpator zur Strecke bringen, und die schwarze Schattentochter wird mir den Rücken freihalten, wenn meine Diener Kerma einnehmen. Mordor wird sich nicht einmischen können und Kerma wird führerlos sein."
Anlamani stolzierte im Raum umher, lachend und begeistert von seiner eigenen Großartigkeit. Alles schien sich zu seinen Gunsten zu entwickeln.
In diesem Moment tauschte Aerien einen Blick mit Narissa aus. Sie hatten nun schon so viel gemeinsam erlebt, dass sie keiner Worte bedurften. Ein kaum merkliches Nicken von Narissa sagte Aerien, dass ihre Freundin verstanden hatte. Beide bewegten sie sich langsam auf den Tisch zu, auf dem ihre Waffen lagen. Und dort, in einer kleinen steinernen Nische direkt neben dem Fenster entdeckte sie etwas, das ihre Entschlossenheit noch verstärkte. Bei ihrem ersten Besuch in Anlamanis Kammer war diese Nische im Schatten gelegen, doch nun, am frühen Morgen, fiel das Sonnenlicht im richtigen Winkel durch das Fenster und beleuchtete den Inhalt: Ein weißer, spitzer Zahn, so groß wie Aeriens Hand, gerahmt in eine stählerne Fassung. Das Königssymbol von Kerma.
Aerien wusste, dass sie nur eine einzige Gelegenheit haben würden. Sie positionierte sich direkt vor dem Tisch und wählte ihre Worte sorgfältig. "Du bist ein Narr, wenn du glaubst, dass Mordor so einfach beiseite schauen wird," begann sie. "Schon jetzt sind die Diener des Dunklen Herrschers im Anmarsch. Gerüchte von Krieg haben uns auf dem Weg durch Alodia ereilt. Kerma wird vielleicht fallen, aber nicht an dich."
"Nein! Das ist zu früh!" zischte Anlamani. "Sie dürfen sich nicht einmischen!"
"Du wirst es nicht verhindern können," ergänzte Narissa. "Hast du überhaupt eine Armee? In diesen Höhlen können doch maximal einige hundert Menschen versteckt sein."
"Du hast keine Ahnung, kleine Schwalbe," grollte der Anführer der Kultisten und ging zornig im Raum auf und ab. "Meine Diener sind überall! Sie werden mich nicht enttäuschen, wenn der Augenblick gekommen ist. Und solange ich das Königssymbol habe, wird mir auch das einfache Volk Kermas in Scharen zugelaufen kommen. Sie werden ihren legendären König nicht vergessen haben. Das Königssymbol ist der entscheidende Faktor."
"Du sagst es," meinte Narissa. Ihre Zähne blitzten auf, als sie grinste und sich in Bewegung setzte, gerade in dem Moment, als Anlamani auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes stand. Blitzschnell packte sie die beiden Dolche, während Aerien erst ihr Schwert ergriff, dann Ciryatans Dolch in dieselbe Hand nahm und gleichzeitig die Linke um das Königssymbol schloss.
Anlamani wirkte zwar überrascht, aber nicht sonderlich besorgt oder erschrocken. "Diese Waffen werden euch nicht dabei helfen, gegen mich zu bestehen," sagte er bedrohlich. "Jetzt seid brav und legt das Symbol zurück, bevor ich euren Nutzen vergesse und euch den Tod bringe..."
Aerien schaute zu Narissa hinüber, die wild entschlossen zu sein schien, gegen Anlamani zu kämpfen. Sie hatte eine Kampfhaltung angenommen und beide Dolche zeigten auf ihren Feind. Aerien hängte Ciryatans Dolch an ihren Gürtel und ihr Schwert auf ihren Rücken. Sie umklammerte das Königssymbol fester und machte sich bereit.
"Letzte Chance," drohte Anlamani und kam langsam näher. "Weg mit den Waffen und her mit dem Symbol!"
"Rissa!"
"Ja?"
"Vertraust du mir?"
"Natürlich tue ich das!"
"Dann... halt dich fest!"
Aerien packte Narissa mit beiden Armen und zog sie mit aller Macht und mit Schwung rückwärts... durch das offene Fenster hinaus. Aufschreiend stürzten sie beide in die tosende Schlucht hinab.
Fine:
Aerien schlug die Augen auf... oder versuchte es zumindest. Etwas Weiches lag auf ihrem Gesicht und nahm ihr die Sicht, sodass sie nur ungefähr erkennen konnte, wie hell es war, aber weder Farben noch Formen wahrnehmen konnte. Ihr Körper fühlte sich an, als wäre er stundenlang verprügelt worden. Nicht eine einzige Faser war frei von Schmerz, auch wenn die Schmerzen nicht so stark waren, dass Aerien sie nicht ertragen konnte. Ihre Stirn und ihre Schläfen waren sehr heiß und sie konnte ihren Herzschlag pochen hören. Das zählte sie als gutes Zeichen.
Sie schloss die Augen wieder und konzentrierte sich auf ihre verbliebenen Sinne. Das Tuch, das auf ihrem Gesicht lag, roch hauptsächlich nach sauberem Stoff, doch ihm hing ein leichter Geruch von exotischen Kräutern an, den Aerien nicht kannte. Vorsichtig tastete sie mit der linken Hand über die Unterlage, auf der sie lag. Es schien sich um eine Liege aus Bambus oder ähnlichem dünnen Holz zu handeln, die zwar nicht weich, aber dennoch auf seltsame Art und Weise bequem war. Als Aerien ihre Hand von der Liege nach unten baumeln ließ, stellte sie fest, dass sie den Boden des Raumes in dem sie sich befand, nicht erreichen konnte. Sie führte Hand zurück und betastete behutsam ihren Körper. Beide Arme und Beine waren noch da, was sie aufatmen ließ. Sie stellte fest, dass sie zwar Kleidung trug, diese jedoch nur bis zu ihren Oberschenkeln reichte. Beine und Füße waren nackt, ebenso wie Arme und Schultern. Dennoch fror Aerien nicht. Der Raum, in dem sie lag, hatte eine angenehme Temperatur. Und bis auf ihren Kopf war ihr auch nicht zu heiß. Das Tuch, das auf ihrem Gesicht lag, spendete ihr immerhin etwas Kühlung
Sie spitzte die Ohren und lauschte auf neue Hinweise. Die meisten Geräusche kamen von links, wo sie eine Art Fenster vermutete. Fernes Plätschern wie von einem Wasserfall drang herein. Als sie die Augen erneut öffnete, erkannte sie, dass von dort auch das Licht kam, das in den Raum fiel. Als sie jedoch versuchte, sich das Tuch vom Gesicht zu ziehen, fuhr ein stechender Schmerz wie ein roter Blitz durch ihren gesamten Körper und sie driftete zurück in die Schwärze.
Sie sah sich selbst, wie sie erneut aus dem breiten Fenster in Anlamanis Gemach sprang, Narissa mit sich ziehend. Als entfernte Beobachterin konnte Aerien jetzt nur den Kopf darüber schütteln. Wie hatte sie nur denken können, dass dieser Plan auch nur ansatzweise zum Erfolg führen würde? Jenseits des Fensters lag eine tiefe Schlucht, auf deren Grund ein wilder Fluss dahin strömte. Niemand konnte einen solchen Sturz überleben. Es war eine Verzweiflungstat gewesen. Aerien wusste, dass sie vermutlich tot war - und Narissa ebenfalls.
Dennoch fragte sie sich, weshalb sie den letzten Augenblick ihres Lebens nun erneut durchlebte. Wieder und wieder sah sie sich fallen, tiefer und tiefer in die Schlucht von Alodia hinein, das Königssymbol von Kerma mit beiden Händen so fest gepackt, dass die Knöchel weiß hervortraten. Aerien konnte jedes Detail sehen, während sie unendlich langsam fiel und fiel. Unten auf den Grund der Schlucht war es finster. Nur wenig Licht drang dort herab, und dort wartete der Fluss auf sie. Narissa, die noch immer ihren beiden Dolche hielt, verschwand als Erste im eiskalten Wasser. Ihr weißes Haar blitzte noch einmal an der Oberfläche auf, dann war sie verschwunden. Und dann schlug auch Aerien auf. Sie durchdrang die Wasseroberfläche und wurde tief hinab geschleudert, wo sie eine eisige Finsternis erwartete. Betäubt von der Wucht des Aufpralls gelang es ihr nicht sofort, sich zurück nach oben zu arbeiten. Noch immer konnte sie nicht richtig schwimmen. Sie streckte die Hand hilflos nach oben aus, wo ein einzelner Lichtpunkt zu sehen war, doch es kam keine Rettung. Das Licht verblasste und Dunkelheit umfing sie.
Doch es war nicht das Ende. Inmitten der Dunkelheit flackerte ohne Vorwarnung eine Fackel auf. Und im Schein der lodernden Flamme wurde eine Gestalt sichtbar. Ein Mann, hochgewachsen und in voller Rüstung. In der Hand hielt er eine gezackte Klinge.
„Tochter,“ sagte Varakhôr, Fürst der schwarzen Númenorer und Herrscher von Durthang. „Komm zu mir.“ Seine Stimme war sanft, doch sein Tonfall fordernd - befehlend. Aerien stellte fest, dass sie ihm nicht widerstehen konnte. Sie trat aus der Finsternis in das rote Licht, auf ihn zu. Stellte sich vor ihn, ihr Schicksal - ihr Urteil - akzeptierend.
„Ich habe Euch enttäuscht, Hoher Vater,“ gestand sie.
Doch Varakhôr legte seine behandschuhte Hand unter ihr Kinn und hob ihren Blick zu seinen Augen herauf. „Nein, Azruphel. Du bist deinem Herzen gefolgt. Deiner Leidenschaft. Das bewundere ich.“
„Wieso?“ hauchte sie. „Ich habe den Dunklen Herrscher verraten.“
„Und doch tatest du es nicht für dich selbst, sondern für unser Volk. Für die Erben Númenors. Dein Anliegen ist nobel, Tochter. Du strebst nichts Geringeres als die Wiedervereinigung des höchsten Menschengeschlechtes an. Der Große Gebieter wird dir verzeihen.“
„Er kennt keine Gnade, Hoher Vater,“ wagte sie zu erwidern.
„Nicht gegenüber seinen wertlosen Dienern, nein,“ antwortete Varakhôr. „Orks und niedere Menschen sind es nicht wert, ihnen Fehler zu verzeihen. Jene, die über außergewöhnliches Potenzial verfügen, haben jedoch die Gelegenheit, sich weiterzuentwickeln und über sich hinaus zu wachsen, wenn man sie nur lässt. Der Herr von Mordor ist weise genug, um dies zu erkennen. Komm‘ nach Hause, Azruphel. Dann wird alles wieder so werden wie früher. Es wird dir an nichts mangeln... das verspreche ich dir.“
Aerien schwieg für einen Augenblick. Dann sah sie ihrem Vater direkt in die Augen und sagte: „Ich werde kommen. Und zwar schon bald.“
Jedoch werde ich nicht alleine sein, fügte sie in Gedanken hinzu. Und ich komme auch nicht aus dem Grund, aus dem du denkst.
Obwohl sie weder wusste, ob sie tot oder lebendig war, und auf welche wundersame Art und Weise sie gerade mit ihrem Vater gesprochen hatte, war sie dennoch ein klein wenig stolz auf sich selbst. Ein Lächeln legte sich auf ihr Gesicht, als das Licht der Fackel verlosch und sie im Finstern zurückließ.
Als Aerien wieder zu sich kam, fand sie die Lage kaum verändert vor. Noch immer lag ein Tuch auf ihrem Gesicht, und noch immer hatte sie Schmerzen am gesamten Körper. Bewegen konnte sie sich kaum. Doch eines war anders: Von jenseits des Raumes hörte sie gedämpfte Stimmen. Rasch hielt sie den Atem an und lauschte. Sie hörte eine Frauenstimme, die ihr vage bekannt vorkam, die sie jedoch nicht richtig zuordnen konnte.
„Was hast du dir nur dabei gedacht? Dieser Sprung hätte euch beide umbringen können - genau genommen hat er das sogar!“
Es war unverwechselbar Narissas Stimme, die darauf antwortete, was eine enorme Erleichterung für Aerien bedeutete. „Mal langsam, ja? Das Ganze war nicht meine Idee. Sie hat mich einfach überrumpelt.“
„Nein - du hast dich überrumpeln lassen. Und du siehst ja, wozu das geführt hat.“
„Das muss ich mir von dir nicht anhören. Außerdem ist es doch gar nicht so schlecht gelaufen. Wir haben das Königssymbol, oder nicht?“
„Deine kleine Freundin wird von Fieberkrämpfen geschüttelt und ringt mit dem Tod, Narissa. Wir wissen noch immer nicht, ob sie es überstehen wird.“
„Und warum macht ihr nicht mit ihr, was ihr mit mir gemacht habt? Gebt ihr das Mittel. Dann ist sie schneller wieder auf den Beinen, als man „Quafsah“ sagen kann.“
„Das Risiko ist zu hoch,“ hielt die Frau dagegen. „Bei dir konnten wir es eingehen, weil du vom Schicksal behaftet bist. Sie hingegen...“
Narissa gab ein verächtliches Geräusch von sich. „Nur weil ich dir gesagt habe, dass ich nach Mordor gehen werde, heißt das noch lange nicht, dass ich an dieses wirre Gerede vom Schicksal glaube. Jetzt gibt das Mittel schon her. Wenn du dich nicht traust, mache ich es eben selbst.“
„Überleg dir das gut. Wir wissen nicht, wie es bei einer wirkt, der der Makel des Schwarzen Landes anhängt.“
„Und du solltest dir gut überlegen, wie du über meine Freundin sprichst.“
Hastige Schritte näherten sich. Aerien versuchte, etwas zu sagen, doch ihre Lippen waren wie versteinert. Die Hitze an ihren Schläfen hatte zugenommen, während sie sich auf die Unterhaltung, die Narissa geführt hatte, konzentriert hatte. Sie hob die Hand, doch bereits nach wenigen Zentimetern sank ihr Arm wieder kraftlos herab. Da legten sich weiche, vertraute Finger darum und hielten sie innig fest.
„Ich weiß nicht, ob du mich hören kannst, Sternchen,“ wisperte Narissas Stimme ganz in der Nähe. „Aber du musst jetzt stark sein. Gib nicht auf! Kämpfe dagegen an, hörst du? Du... du darfst nicht sterben, hast du verstanden?“
Der Drang, ihr zu antworten, war jetzt so stark, dass Aerien mit aller Macht gegen die Lähmung anzukämpfen begann, die ihren Körper ergriffen hatte.
„Sie kollabiert,“ sagte die Frauenstimme, die nun ebenfalls näher gekommen war. „Wenn du es wirklich tun willst, musst du es jetzt tun.“
Rote Punkte tanzten vor Aeriens Augen. Das Tuch auf ihrem Gesicht wurde teilweise weggezogen, sodass ihr Mund frei lag. Narissas Finger teilten ihre Lippen und jemand schüttete ihr eine Flüssigkeit in den Mund. Sofort fühlte es sich an, als würde Aeriens Inneres in Flammen stehen. Sie bäumte sich mit unerwarteter Kraft auf und ein Schrei bahnte sich seinen Weg aus ihrem Hals. In diesem flüchtigen Moment sah sie Narissa mit vor den Mund geschlagenen Händen neben ihr stehen, ehe Feuer und Rauch ihr wieder die Sicht nahmen. Aeriens Körper wurde schier zerrissen, während die Flammen rings um sie herum tobten und alles verschlangen. Dann, mit einem Mal, erloschen die Flammen - erstickt wie von einer großen Woge kühlen, tröstenden Wassers. Aerien erschlaffte und schnappte nach Luft. Vorsichtig öffnete sie die Augen.
„Wo bin ich?“ gelang es ihr zu sagen.
„Zurück im Reich der Lebenden, mit mehr Glück als Verstand,“ antwortete ihr niemand anderes als Elyana, wie Aerien nun endlich erkannte. Die geheimnisvolle Frau stand zu ihrer Rechten, die eine sehr missbilligenden Miene machte. Doch das war Aerien egal. Denn neben Elyana stand Narissa, mit dem breitesten Grinsen auf dem Gesicht, das Aerien bei ihr je gesehen hatte.
„Ich wusste, dass du es schaffst,“ jubelte Narissa und umarmte Aerien stürmisch.
„Wie ist das denn möglich? Ich erinnere mich an den Sturz, und dann...“
„Dann ist mir beinahe zu spät eingefallen, dass du ja nicht sonderlich gut schwimmen kannst,“ erklärte Narissa und erzählte Aerien, wie sie sie mehr ertrunken als lebendig aus dem Fluss auf den Grund der Schlucht gezerrt hatte und dann vor Erschöpfung ohnmächtig geworden war. Dort hatten Elyanas Dienerinnen sie gefunden und in Sicherheit gebracht.
„Was habt ihr mir da bloß eingeflößt?“ fragte Aerien neugierig.
„Etwas, das nur in den dringendsten Notfällen verwendet werden sollte,“ sagte Elyana vage. „Am besten vergesst ihr es bald wieder. Ich rate euch beiden dringend, eure Herangehensweisen zu ändern, ehe ihr nach Mordor geht. Diesmal habt ihr noch Glück gehabt. Doch so kann es nicht weitergehen.“
Narissa winkte ab. „Was zählt ist, dass wir am Leben sind, und dass wir das Symbol haben. Sobald du aufbruchsbereit bist, gehen wir zu König Músab und geben es ihm.“
„Ich fühle mich, als hätte ich seit einer Woche nicht geschlafen,“ gab Aerien zu. „Können wir wenigstens eine Nacht hier verbringen?“ Sie blickte sich um und nahm zum ersten Mal den Raum wahr, in dem sie sich befand. Er ähnelte den Höhlen der Kultisten darin, dass er in den Felsen des Alodia-Plateaus hineingeschlagen worden war, doch seine Wände waren mit weißer Farbe bemalt und auf dem Boden lag ein dicker Teppich. Durch das Fenster konnte man einen Wasserfall sehen.
Narissa nickte. „Ruh dich einfach aus, Sternchen. Unser Weg liegt jetzt wieder klar vor uns. Morgen geht die Reise weiter.“
Eandril:
Narissa trat hinaus auf den schmalen Sims vor der Höhle, vor dem die Felsen steil zum Grund der Schlucht hinab fielen. Sie blickte hinunter, und erschauderte für einen Augenblick. Der Moment, in dem sie gefallen waren, dann der harte Aufschlag auf dem Wasser, der ihr den Atem genommen hatte... es war schieres Glück gewesen, dass sie die spitzen, aus dem Wasser ragenden Felsen verfehlt hatten. Elyana hätte es natürlich Schicksal genannt. Der schlimmste Augenblick war jedoch jener gewesen, nachdem Narissa Aerien aus dem Wasser gezogen hatte. Ihre Freundin war schrecklich bleich gewesen, und hatte wie tot gewirkt. Einen grauenvollen Moment lang hatte Narissa wirklich geglaubt, sie wäre tot und dies wäre das Ende ihre Weges gewesen. Doch dann hatte Aerien sich auf die Seite gedreht, gehustet, und Wasser erbrochen. Sie hatte ihr Bewusstsein noch immer nicht wiedererlangt, doch sie lebte - und dann war Elyana gekommen, kurz bevor Narissa selbst das Bewusstsein verloren hatte.
Und jetzt, während Narissa den Blick von der Schlucht vor ihr ab und den Sternen über ihr zu wandte, hörte sie wieder Elyanas leise Schritte hinter sich. "Du hattest gesagt, wir würden uns vermutlich nie wieder sehen", sagte sie leise. Ein Hauch von Belustigung lag in Elyanas Stimme, als sie antwortete: "Ich sagte vermutlich. Und ich denke, du kannst nicht behaupten, dieses Mal nicht glücklich darüber zu sein."
"Nein", erwiderte Narissa, und wandte sich ihr zu. "Ich war selten glücklich darüber, doch dieses Mal bin ich dir dankbar." Sie schüttelte den Kopf, und strich sich dann eine widerspenstige weiße Strähne aus dem Gesicht. "Ich weiß nach wie vor nicht, was ich von dir halten soll."
"Es ist eigentlich einfach", erwiderte Elyana. "Ich war immer bereit, alles zu tun, dich zu schützen und auf den Pfad zu lenken, der dir bestimmt ist. Auch, wenn einiges davon dir anders erscheinen mag."
"Du meinst den Pfad, den ihr für mich bestimmt habt", gab Narissa zurück. "Aber das lasse ich nicht mit mir machen." Elyana seufzte. "Nein, du wählst dir deinen Pfad selbst - den Pfad, den wir inzwischen für dich ausgewählt haben."
"Inzwischen? Hattet ihr vorher andere Pläne mit mir?"
"Allerdings. Wenn wir dich auf deiner Flucht aus Qafsah in die Hände bekommen hätten, hätten wir dich ausgebildet, um Suladân nach seinem Sturz zu ersetzen. Du hättest Qafsah in den Krieg gegen Mordor geführt." Narissa schnaubte verächtlich. "Dann bin ich umso glücklicher, dass euch das nicht gelungen ist. Ich bin nicht dazu geboren, über irgendjemanden zu herrschen - außer über mich selbst."
Für einige Augenblicke war nur das Rauschen des Flusses unten in der Schlucht zu hören.
"Was wirst du nun tun?", fragte Narissa schließlich. "Ich hoffe nicht, dass du vorhast, uns zu begleiten?"
Elyana schüttelte den Kopf, offensichtlich amüsiert. "Keineswegs, obwohl es vielleicht besser für euch wäre. Um genau zu sein, bin ich gekommen, um mich zu verabschieden."
Narissa wich ihrem Blick aus, unsicher, wie sie sich fühlen sollte. Elyana hatte ihr Leben zu einem gewissen Grad beeinflusst, und ihr, auch wenn sie sich das ungern eingestehen wollte, mehr als einmal das Leben gerettet. "Du musst dich nicht schuldig fühlen, wenn du darüber nicht traurig bist", fuhr Elyana fort. "Es würde mich vielleicht freuen, aber mir genügt zu wissen, dass du zu der Frau geworden bist, die ich schon von Anfang an in dir gesehen habe. Und ich freue mich, dass ich - neben deiner Mutter und deinem Großvater - vielleicht eine gewisse Rolle dabei gespielt habe."
"Wohin... wirst du gehen?", fragte Narissa, und ihre Stimme fühlte sich rau an. "Ich muss zugeben, mir wird etwas fehlen, wenn du nicht ständig auftauchst."
Dieses Mal lächelte Elyana richtig. "Mir auch, denke ich. Aber ich habe einen Bruder, der meine Hilfe braucht."
Bevor Narissa etwas erwidern konnte, war sie im Inneren der Höhle verschwunden, und als Narissa ihr folgte, war sie nirgendwo zu sehen. Dafür regte Aerien sich auf ihrem Lager, und richtete sich auf die Ellbogen gestützt auf.
"Was ist los?", fragte sie, und Narissa schüttelte den Kopf. "Elyana ist fortgegangen - dieses Mal glaube ich für immer."
"Und ich hatte nicht einmal Gelegenheit, mich zu bedanken", beschwerte Aerien sich, und Narissa musste lachen. "Ich glaube, das kann sie dir verzeihen." Sie bemerkte den fiebrigen Glanz in Aeriens Augen, und drückte sie sanft in eine liegende Position zurück. "Du solltest weiterschlafen. Einen Wasserfall hinunterstürzen und beinahe ertrinken ist nicht einmal für jemanden wie dich gesund."
"Was soll das heißen, für jemanden wie mich?", protestierte Aerien schwach, doch sie wehrte sich nicht, und schloss die Augen. "Warte", murmelte sie leise. "Da ist noch etwas, dass ich dir erzählen..." Bevor sie aussprechen konnte, war sie eingeschlafen, und Narissa strich ihr sanft die verschwitzten Haare aus der Stirn. "Ich bin mir sicher, das hat Zeit", flüsterte sie, um Aerien nicht erneut zu wecken, setzte sich auf die Liege neben ihr und betrachtete sorgsam ihr Gesicht. "Morgen ist auch noch ein Tag."
Fine:
Sie benötigten nur wenigen Stunden, um die Burg Qustul am Rande der Hochebene von Alodia zu erreichen. Dort hatten Aerien und Narissa vor Beginn ihres Abenteuers in der felsigen Wüste, die nun hinter ihnen lag, ihre Pferde zurückgelassen. Sie waren erleichtert, Grauwind und Karab wohlbehalten in den Stallungen Qustuls vorzufinden.
Während sie die Pferde an den Zügeln durch die engen Gassen der Burg führten, hörte Narissa aufmerksam zu, was die Kermer ringsherum sprachen. Beide Mädchen waren neugierig, was sich während ihrer Reise durch Alodia in der weiteren Welt ereignet hatte.
„Qusays Heer hat das Umland von Umbar erobert und rückt auf die Stadt selbst vor,“ murmelte Narissa mit unterdrückter Aufregung in der Stimme. „Die Leute sagen, dass die Mauern Umbars stark bemannt sind und die Stadt genügend Vorräte für mehrere Jahre hat.“
„Sofern Herr Qúsay nicht über eine Flotte verfügt, bleibt eine vollständige Umschließung Umbars doch sowieso unmöglich, oder?“ fragte Aerien. „In diesem Falle wäre eine erfolgreiche Erstürmung der Stadt die einzige Möglichkeit, Umbar zu Fall zu bringen. Was hohe Verluste für beide Seiten bedeuten könnte. Ich bin mir nicht sicher, ob Qúsay dieses Risiko so früh schon eingehen sollte. Der Krieg hat doch gerade erst begonnen, und mit seinem Marsch gegen Umbar entblößt Qúsay seine eigene Hauptstadt, Ain Séfra. Qafsah, Suladans Machtsitz, liegt doch beinahe genau südlich von dort. Damit hätte Suladan die perfekte Gelegenheit, um in das Herz von Qúsays Reich vorzustoßen.“
„Bist du etwa über Nacht zu Qúsays militärischen Beraterin geworden, Sternchen?“ lachte Narissa. „Außerdem ist das, was ich dir erzählt habe, noch gar nicht alles. Ein zweites Heer des Malikats Qúsays brach von Ain Séfra aus auf; er scheint also sein Reich nicht so unbewacht zu lassen, wie du denkst.“
Aerien beschloss, das Thema Krieg erst einmal ruhen zu lassen, während sie Narissa durch das Haupttor der Burg auf die Straße hinaus folgte, die nach Norden zurück zur Hauptstadt Kermas entlang eines breiten Flusses führte. Sie kletterten in ihre Sättel und setzten sich in rasche Bewegung.
Die fruchtbare Ebene im Zentrum Kermas tauchte am Horizont auf, als sich die beiden jungen Frauen der Grenze der Provinz Alodia näherten. Die Straße führte hier um einen gewaltigen, einsam in der Steppe aufragenden Felsen herum, dessen Spitze durch Wind und Wetter zu einer abstrakten Form geformt worden war. Sie ritten um die Biegung herum - und fanden die Straße zwischen Felsen und Fluss versperrt vor. Haradrim-Krieger mit Speeren oder gespannten Bögen in den Händen standen entlang der gesamten Breite der Straße und begegneten ihnen mit finsteren Blicken. Angeführt wurden sie von einer vertrauten Gestalt...
„So sehen wir uns wieder,“ sagte Mustqîm, der mit einem selbstgefälligen Grinsen im Gesicht im Sattel eines schwarzen Pferdes saß. Er hielt Aerien und Narissa die geöffnete linke Hand fordernd entgegen. „Das Königssymbol, wenn ich bitten darf.“
„Du darfst nicht, und bitten schon gar nicht,“ gab Narissa dreist zurück. „Wir sind nicht mit knapper Not den verrückten Fanatikern entkommen um uns jetzt mit einem erbärmlichen Widerling wie dir herumzuärgern.“
„Wo bleiben denn deine Manieren? Du bist doch eine Tochter aus hohem Hause, oder nicht?“ säuselte Mustqîm und sein Grinsen wurde noch eine Spur unerträglicher. „Zumindest erzählst du das überall. Dabei ist die Wahrheit eine völlig andere. Oh, du brauchst nicht zu erbleichen. Ich habe ein paar Nachforschungen über dich angestellt, während ich darauf wartete, dass ihr beiden mir das Königssymbol aus Alodia holt. Und dabei bin ich auf etwas wirklich interessantes gestoßen.“
„Halt den Mund,“ zischte Narissa.
„Ich denke nicht daran,“ erwiderte Mustqîm genüsslich. „Wer hätte gedacht, dass Suladan eine Tochter hat, die ihn nicht nur umbringen will, sondern auch eine der wenigen ist, die vermutlich tatsächlich dazu in der Lage dazu wäre? Die Ausbildung, die man auf der Weißen Insel erhält, kann sich sogar mit den Techniken der Assassinen messen, wie ich hörte. Warum hängst du so sehr am Volk deiner Mutter, dessen Blut schwach ist? Denkst du, dein Talent stammt einzig und allein von den Tumrherren, einer Linie, die im Schwinden begriffen ist? Du solltest die Gaben, die dir dein Vater gegeben hat, nicht länger verleugnen... kleine Schwester.“
Für einen Augenblick schien die Zeit stehen zu bleiben. Aerien hielt die Luft an. Sie wusste nicht, ob Mustqîm tatsächlich die Wahrheit sagte, doch welchen Sinn würde es für ihn ergeben, zu lügen? Außerdem war Narissas Mutter als Opfer von Suladans Vergewaltigungen sicherlich kein Einzelfall. Und dennoch... Aerien wusste nicht, wie sie reagieren sollte. Noch immer hielten Mustqîms Leute ihre Waffen auf die Mädchen gerichtet. Sie waren vom Regen in die Traufe geraten; gerade als sie gedacht hatten, das Abenteuer in Kerma endlich überstanden zu haben.
„Was sagst du da?“ fragte Narissa leise und tonlos.
„Du hast schon richtig gehört. Man mag mich den Bastard von Umbar nennen, aber das ist nichts mehr als eine nützliche Täuschung. Suladan ist nicht nur dein Vater, Narissa... er ist auch meiner. Und eines Tages werde ich sein Erbe antreten. Das habe ich mir vor langer Zeit geschworen.“
Nun war Aerien klar, weshalb Mustqîm in Kerma war und weshalb er das Königssymbol wollte. Er tat es nicht für Kashta und auch nicht für Suladan. Er tat es für sich selbst. Denn wenn Kerma an Kashta fiel und sich Suladan wieder anschloss, würde das Sultanat erstarken und im Krieg gegen Qúsay und sein Malikat vermutlich die Oberhand gewinnen. Und dann würde Suladan erneut zum unangefochtenen Herrscher von ganz Harad aufsteigen... bis Mustqîm ihn eines Tages beerbte. Aerien vermutete, dass er damit nicht warten würde, bis sein Vater im hohen Alter friedlich seinen letzten Atemzug nahm.
„Konzentrieren wir uns wieder auf das Wesentliche,“ sagte Mustqîm und hielt Narissa erneut die leere Hand entgegen. „Wenn du jetzt bitte so freundlich wärst... das Symbol. Her damit.“
„Ich habe es nicht,“ platzte Narissa heraus, womit sie recht hatte. Der Zahn des Schwarzdrachen lag gut versteckt in den Tiefen von Aeriens Satteltasche.
„Lüg mich nicht an, Schwesterchen,“ sagte Mustqîm drohend. „Ihr beiden wäret nicht auf dem Weg in dir Hauptstadt, wenn ihr es nicht dabei hättet. Rückt es jetzt endlich heraus, bevor es hier ganz schnell ungemütlich für euch wird.“
Ehe sie darauf antworten konnten, schrie einer der Haradrim schmerzhaft auf und brach tot zusammen. Aus seinem Rücken ragte ein rot gefiederter Pfeil.
„In Deckung!“ brüllte Mustqîm, während bereits weitere gut gezielte Geschosse zwischen seinen Handlangern niedergingen. Einer nach dem anderen gingen die Haradrim zu Boden. Auch Mustqîms Pferd wurde tödlich getroffen und stürzte. Mustqîm selbst rollte sich geschickt ab, schlug einen Haken und stieß dann einen seiner noch berittenen Krieger aus dem Sattel. „Das hier ist noch nicht vorbei!“ schrie er noch, ehe er im Galopp nach Süden davonpreschte.
Aus der entgegengesetzten Richtung näherte sich nun eine Kompanie berittener Bogenschützen, die das rote Banner Kermas mit sich führten. Unter ihnen ritten zwei Männer in königlichen Rüstungen. Aerien war für einen kurzen Augenblick versucht, die Augen zu verdrehen, als sie einen der beiden als Prinz Gatisen erkannte.
„Es sieht ganz danach aus, als wären wir gerade noch rechtzeitig eingetroffen,“ sagte der Prinz und hielt sein Pferd nur wenige Meter entfernt von ihnen an. „Ich hatte euch in Toba ja gesagt, dass ich euch nach Alodia folgen würde, um etwaige Verfolger aus dem Weg zu räumen.“ Er warf einen abschätzigen Blick auf die toten Haradrim, die in einer Blutlache im weißen Kies der Straße lagen. „Diese Schlangen hier sind bei Nacht über unsere Grenzen geschlüpft, doch selbst in Zeiten wie diesen bleiben die Kermer wachsam. Sie wurden erspäht und verfolgt. Hätte ich gewusst, dass sie euch auflauern würden, wäre ich früher von der Hauptstadt losgeritten, aber... nun, da der König nach Assuit aufgebrochen ist, haben wir im Palast viel Arbeit zu erledigen. Der Krieg, der sich so lange angebahnt hat, ist ausgebrochen. Eine unserer Hafenstädte im Osten wurde überfallen. Und offenbar steht Kashta mit einer Armee von Nordosten her bereit, Kerma direkt anzugreifen.“
„Vielen Dank für die Rettung,“ sagte Aerien, doch Narissa unterbrach sie, ehe sie weitersprechen konnte.
„Moment mal,“ sagte die Weißhaarige. „Der König ist fort?“
Der Reiter neben Gatisen nahm das Wort. Es handelte sich dabei um einen älteren Kermer mit dichtem schwarzen Bart. Aerien glaubte, ihn hin und wieder in Músabs Palast gesehen zu haben. „Mein Qore ist zur Insel Assuit unterwegs. Doch seid unbesorgt. Er wird bald zurückkehren. Dann könnt ihr ihm von euren Taten in Alodia berichten.“
„Dies ist Aspelta, oberster Kommandant des königlichen Heeres,“ erklärt Gatisen. „Er bestand darauf, mich hierher zu begleiten.“
„Und das aus gutem Grund,“ sagte Aspelta. „Habt ihr das Königssymbol?“
Aerien zögerte. „König Músab wies uns an, es an ihn persönlich zu übergeben.“
„Also habt ihr den Zahn des Arkhasias tatsächlich gefunden,“ murmelte der Kommandant, dessen Gesicht preisgab, dass er nicht damit gerechnet hatte, dass die Mädchen bei ihrer gefahrvollen Mission Erfolg haben würden.
„Ihr könnt ihm vertrauen,“ sagte Gatisen beruhigend. „Und wenn euch das wirklich nicht recht ist, gebt das Symbol eben mir. Sobald mein Onkel von Assuit zurückkehrt, werde ich es ihm mit euren besten Wünschen überreichen.“
„Hast du vergessen, weshalb wir das Symbol beschaffen sollten?“ fragte Narissa. „Es war Bedingung für das Bündnis Kermas mit meiner Heimat. Wenn wir Músab das Ding nicht persönlich geben, wer garantiert uns dann, dass er sich an die Abmachung hält?“
„Schätzt ihr den König denn so unzuverlässig ein? Das Misstrauen ist unbegründet. Sobald mein Onkel das Symbol erhalten hat, wird er einen Gesandten nach Tol Thelyn schicken und das Bündis offiziell bekräftigen, da bin ich mir sicher.“
Aerien tauschte einen Blick mit Narissa aus. Dann sagte sie: „Also gut. Wir reiten mit euch zur Hauptstadt und händigen dir dort das Symbol aus. Und dann werden wir Kerma verlassen und in unsere Heimat zurückkehren.“
„So sei es,“ antwortete Gatisen. Dann wendete er sein Pferd und gab seinen Begleitern ein Zeichen. Gemeinsam mit Aerien und Narissa machten sie sich auf den Weg zurück ins Zentrum Kermas.
Aerien, Narissa, Gatisen und Aspelta zur Hauptstadt Kermas
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