Unweit des Steinernen Wächters stand ein kleines, kaum hundert Schritte langes Wäldchen aus alten Eichen, die bereits den Großteil ihrer Blätter verloren hatten. Pallando entschied, dass sie dort ihr Lager für die Nacht aufschlagen würden, denn die Sonne stand bereits tief am westlichen Horizont, wo das dunkelgrüne Band des Saums des Düsterwaldes selbst für Córiels Elbenaugen in der weiten Entfernung kaum noch zu sehen war.
Jarbeorn sammelte etwas von dem vielen herumliegenden trockenen Kleinholz auf, doch ehe er ein Feuer entfachen konnte, hielt Pallando ihn auf.
“Auf der Ebene wäre der Rauch meilenweit zu sehen. Und wir sind längst innerhalb der Grenzen des Reiches von Rhûn, und können es uns nicht leisten, entdeckt zu werden. Auch wenn es unwahrscheinlich ist, dass Ostlinge hier vorbei kommen, dürfen wir die Möglichkeit dennoch nicht außer Acht lassen.”
Sie nahmen also ein trockenes, kaltes Abendbrot zu sich, was Jarbeorn unter einigen gebrummten Beschwerden schließlich hinnahm. Und während es dunkel wurde, erzählte Pallando ihnen eine Geschichte.
“Im Alten Westen war es während des Mittags von Valinor Sitte, die Vermischung der Lichter der beiden Bäume nicht einfach nur hinzunehmen, sondern dieser, unserer glücklichsten Stunde, Respekt zu zollen,” begann er. Córiel wurde aufmerksam. Bislang hatte Pallando ihnen stets nur von seinen Reisen durch die wilden Lande des Ostens erzählt. Doch nun sprach er zum ersten Mal über die Zeit vor seiner Ankunft in Mittelerde.
“Jeder Bewohner Amans tat dies auf seine eigene Art und Weise. Manche verharrten für einen Augenblick und legten ihr Werkzeug oder ihr Instrument nieder, beugten das Haupt oder hoben eine Hand in Richtung des Lichtes. Andere stimmten Lobgesänge an oder brachen in spontanen Jubel aus. Und wieder andere schlossen die Augen und opferten somit einige kostbare Augenblicke des wunderbaren Zwielichts, aus Respekt vor dem großen Geschenk, das die Herrin von allem, was wächst und lebt, dem Segensreich gemacht hatte. Ah, meine Freunde, es war jedesmal ein ganz besondere Augenblick.”
“Was meinst du damit? Was hat es mit dieser Vermischung der Lichter auf sich?” fragte Jarbeorn wissbegierig nach.
“Er spricht von Laurelin und Telperion, den Zwei Bäumen von Valimar, die vor Anbeginn des Ersten Zeitalters den Westen erleuchteten,” erklärte Córiel. Sie selbst hatte die Bäume nie gesehen - weder als Melvendë noch in ihrem Leben als Córiel - doch Córiels Großeltern hatten ihr oft davon erzählt. “Sie erstrahlten und erloschen in einem zweigeteilten Rhythmus, der sie miteinander wie in einem ewigen Tanz verflocht. Telperion erwachte eine Stunde bevor Laurelin verlosch, und einige Stunden später geschah das Gegenteil, wenn Telperion sich seinem Schlummer näherte. Zweimal am Tag gab es jeweils eine Stunde, in der beide Bäume erstrahlten - die Vermischung der Lichter, silbern und golden.”
“Ich selbst hielt zu diesen Stunden inne und kniete mich auf den warmen, mit Laub bedeckten Boden in den Wäldern der Jagd, und ließ meine Beute ziehen,” fuhr Pallando mit leiser Stimme fort. “Ich wusste, dass ich bald schon neue Spuren finden würde. In den Wäldern meines Herrn Oromë gab es stets genügend Wild für all seine Diener und Gefährten. Drang die Vermischung der Lichter durch das helle Blätterdach, wendete ich mich ihr zu und zollte ihr meinen Respekt. Ich verspürte jedesmal eine so große Dankbarkeit darüber, sie erleben zu dürfen, dass ich gar nicht anders konnte, als ihr in jenen Momenten allergrößte Wichtigkeit einzuräumen und alles andere stehen und liegen zu lassen, zumindest für einen Augenblick. Und so wäre es wohl auf ewig geblieben. Stets war es nur ein kurzer Augenblick - doch selbst ein Augenblick kann so manches Mal entscheidend sein.”
Pallandos Stimme hatte einen traurigen Klang angenommen. “Die Wälder Oromës grenzen an die Pelóri, das gewaltige Gebirge, das Aman im Osten begrenzt. Nur zwei Wege führen hindurch: der Calacircya, durch den das Licht der Bäume auf die Küste der Teleri fiel, und den Úmëaruhta, den Abgrund des Schreckens. Selbst in den Landen des Lichts gibt es Orte, die nicht sicher sind, und die bewacht werden müssen. An jenem schicksalhaften Tag war es meine Aufgabe, den westlichen Ausgang des Úmëaruhta im Auge zu behalten. Oft schon während der ungezählten Tageswechsel des Mittags von Valinor war diese Pflicht an mich gefallen, und nie war die Finsternis daraus hervorgedrungen. Doch Nachrichten verbreiteten sich nur langsam in den wilden Wäldern des Herrn der Jagd, und so kam es, dass ich noch nicht von der Begnadigung und Flucht des verfluchten Feindes der Welt erfahren hatte. Ich gab meine Wacht auf, als das Zwielicht durch das Blätterdach des Waldes drang, nur für einen kurzen Moment. Und so gelang es dem Schatten, mich zu überraschen, just in diesem schicksalhaften Moment. Selbstverstängdlich hätte ich nicht gegen ihn bestehen können, selbst wenn ich ihn kommen gesehen hätte. Doch vielleicht wäre es mir gelungen, zu fliehen und Valimar zu warnen. Viel Leid wäre abgewendet worden. Doch so wurde ich ergriffen und in ein unzerbrechliches Netz gesponnen. Weshalb sie mich am Leben ließen, der Herr der Schatten und seine gewaltige Begleiterin, kann ich nicht sagen. Sie zogen rasch nach Norden davon, um ihr größtes Verbrechen zu begehen, denn sie kamen nach Valimar und ermordeten die beiden Bäume des Lichts. Und so lernte ich die kostspielige Lektion, meine Wachsamkeit niemals ruhen zu lassen, egal aus welchem Anlass. Lasst es euch eine Lehre sein, meine Freunde.”
Sie bedrängten Pallando nicht mit Fragen zu seiner Geschichte, denn Córiel und Jarbeorn konnten deutlich sehen, wie viel es den Zauberer gekostet hatte, sie ihnen zu erzählen. Stattdessen richteten sie ihr Nachtlager ein und teilten die Wachen ein. Córiel bekam die dritte Schicht zugewiesen, von den Tiefen der Nacht bis zum Aufgang der Sonne. Und so zog sie sich zurück, während Pallando die erste Wache übernahm, und fiel rasch in einen traumähnlichen Zustand, während sie mit dem Rücken an eine der Eichen gelehnt dasaß. Erinnerungen überkamen sie erneut.
Melvendë kletterte geschickt eine steile Felswand hinauf. Über ihr, auf einem flachen Plateau, stand Vaicenya und streckte ihr die Hand entgegen. Melvendë ergriff sie und ließ sich das letzte Stück hinauf ziehen. Sie bewunderte die Stärke ihrer Gefährtin, doch noch mehr bewunderte sie den Ausblick, der sich ihr bot. Bis über die Wipfel des dichten Daches aus Baumkronen waren sie geklettert und sie konnten im Westen das blaue Band der Wasser von Cúivienen sehen, an denen sie einst erwacht waren. Die Sterne funkelten am Himmel und glitzerten auf der fernen Reflektion des Wassers.
Sie waren nicht alleine. Hinter ihnen wurden Stimmen laut. Melvendë drehte sich um und sah auf dem steinigen Pfad, der auf der Rückseite des großen Felsens, auf dem sie standen hinaufführte, drei Gestalten zu ihnen herankommen. Voran ging Istoron, ein gutmütiger Tatya-Elb aus Vaicenyas Sippe und ein weit gereister Abenteurer, der sich bereits bis in die Lande jenseits des großen Gebirges gewagt hatte, das sich am Ostende des wilden Walds erhob, in dem die Elben lebten. In der Hand hielt er eine kleine Lampe, deren blaues Licht ihm den Weg erleuchtete. Die Tatyar hatten schon einige Zeit auf seine Rückkehr gewartet. Der Felsen, den Melvendë und Vaicenya erklettert hatten, war der angesprochene Treffpunkt gewesen. Wie durch eine günstige Laune des Schicksals waren sie offenbar genau rechtzeitig zu Istorons Rückkehr dort eingetroffen.
Begleitet wurde Istoron von zwei in ungewöhnliche, aus grauem Stoff gefertigte Reisekleidung gehüllten Elben. Ein Mann und eine Frau waren es, die dem Wanderer folgten und nun zu ihm aufschlossen.
“Also bist du noch am Leben,” grüßte Vaicenya Istoron mit einem trockenen Lachen. Dann umarmte sie ihn.
“Nun, ich schätze, es wäre mir aufgefallen, wenn dem nicht so wäre,” gab Istoron schmunzelnd zurück. Er löste sich von Vaicenya, nickte Melvendë fröhlich zu und trat dann beiseite, um seine Begleiter vorzustellen. “Dies sind Cúwen und Tyelpion, von den Stämmen, die an den gewaltigen Wassern jenseits des Gebirges leben.”
Cúwen und Tyelpion verbeugten sich tief. Beide besaßen sie langes, dunkelbraunes Haar, hatten silberne Augen, und waren außerordentlich hochgewachsen. Insbesondere Cúwen war beinahe zwei Köpfe größer als Melvendë, die allerdings als klein bei ihrem Volk galt. Als die Neuankömmlinge sprachen, waren sie trotz einiger für Melvendë merkwürdig klingender Töne und Aussprachen dennoch gut zu verstehen.
“Welch eine Freude, unsere Verwandten unter den Sternen des Westens zu erblicken,” sagte Tyelpion, dessen Stimme melodisch und nachdenklich klang.
“Ich habe schon so viel von Istoron über eure Lande gehört, doch sie endlich zu sehen lässt mein Herz freudige Luftsprünge machen,” meinte Cúwen überschwänglich.
“Zügele deine Neugierde,” bremste Tyelpion sie mit einem Lachen. “Du wirst noch genügend Zeit haben, das Land der Tatyar zu erforschen.”
“In der Tat,” sagte Vaicenya. “Gerne bringen wir euch zu unseren Anführern, denn sie warten bereits begierig auf Istorons Reisebericht.”
Tyelpion und Cúwen nickten. Zu fünft machte sich die Gruppe auf den Weg ins Herz des Elbenreiches unter dem Licht der ersten Sterne.Die Erinnerung verblasste und Córiel tauchte für einige kurze Momente aus ihrem Schlummer auf. Undeutlich sah sie die breitschultrige Gestalt Jarbeorns, der sich ihr gegenüber gesetzt hatte, um seine Wachschicht anzutreten. Von Pallando war nichts zu sehen. Córiel schloss die Augen und driftete wieder davon.
”Cúwen?”
Melvendë umrundete den Stamm des breiten Baumes, hinter dem sie die Elbin vermutete. Und tatsächlich fand sie dort diejenige, die sie gesucht hatte. Cúwen saß zusammengekauert auf dem Boden und hatte die Arme fest um ihre Knie geschlungen, die sie gegen ihren Oberkörper presste.
“Lass mich in Frieden. Verschwinde.”
Ihre Stimme klang schneidend und abweisend. Sie hatte kaum noch etwas mit der neugierigen und kontaktfreudigen Person zu tun, die Melvendë einst kennengelernt hatte.
“Ich... wollte dir nur etwas sagen,” begann sie vorsichtig.
“Nein. Ich möchte nichts hören.” Cúwen starrte zu Boden, versunken und verloren in ihrer Trauer. Auch wenn Melvendë sie gut verstehen konnte, musste sie dennoch versuchen, zu Cúwen durchzudringen. Es war wichtig.
“Sie haben im Norden eine Spur von Tyelpion entdeckt,” sagte sie schlicht und geradeheraus.
Das genügte, um Cùwen aus ihrer Starre zu reißen. Sie sprang auf und packte Melvendë an den Schultern. “Wo?” stieß sie hervor.
“Nahe der Singenden Quellen. Man vermutet, dass der dortige Überfall mit dem Angriff auf die Kristallbucht zu tun hatte, bei dem.... bei dem Tyelpion verschwand.”
“Und was werden die Tatyar nun tun?” Cúwen sprach fordernd, geradezu aggressiv und in ihren silbernen Augen loderte ein bedrohliches Feuer.
“Die Schmiede fertigen Waffen an, auf Geheiß Finwës.”
“Endlich nehmen sie Vernunft an. Endlich setzen wir uns zur Wehr gegen die Schatten.”
Cúwen hatte erst vor Kurzem gemeinsam mit Tyelpion erneut das Reich der Tatyar bereist und dabei ihren langjährigen Gefährten an die Schatten verloren. Melvendë machte sich Vorwürfe, weil sie Cúwen zuvor einen Brief geschrieben hatte und sie gebeten hatte, sie bei Cúivienen zu besuchen. Indirekt war sie Schuld daran, was mit Tyelpion geschehen war.
“Der Meinung bin ich ebenfalls,” ertönte Vaicenyas Stimme. Als Melvendë sie erblickte, weiteten sich ihre Augen vor Erstaunen. Vaicenya trug eine im Sternenlicht silbern schimmernde Kleidung, wie Melvendë sie noch nie gesehen hatte. Fasziniert strich sie mit dem Finger darüber und stellte fest, dass die Kleidung ganz aus Metall zu bestehen schien und außerordentlich hart war - härter als es Leder je sein könnte. Darunter trug Vaicenya einen Rock aus eisernen Ringen, und auch ihre Arme waren von ähnlicher Art bekleidet. Ihr Kopf war durch einen silbernen Helm geschützt und in jeder Hand hielt sie etwas, das wie ein übergroßes Messer aussah.
“Dies sind Schwerter,” sagte Vaicenya stolz und hielt die langen Klingen empor. “Sie werden jeden Schatten durchdringen und Tod und Rache ernten.”
Begeisterung stieg in Melvendë auf, und sie konnte sehen, dass es Cúwen ähnlich ging. Endlich würden sie sich gegen die Schatten wehren und etwas unternehmen. Endlich würde der Schrecken ein Ende nehmen.
Melvendë begegnete Vaicenyas Blick. “Wo bekomme ich ein... Schwert?”Córiel schrak hoch, als Jarbeorn sie sanft anstupste. Die Erinnerung war noch nicht vorbei gewesen, weshalb sie einen Augenblick benötigte, um sich zu orientieren. Ringsum sie herum standen die alten Eichen des Wäldchens im Ostteil Rhovanions, umgeben von den Schatten der Nacht. Córiel atmete tief durch. Sie wusste wieder, wo sie war.
“Leise, Stikke,” wisperte Jarbeorn. “Eldsten... ich meine
Pallando hat im Süden mehrere Lichter entdeckt. Er glaubt, sie stammen von Fackeln.”
Pallando tauchte neben dem Beorninger auf. “Ich glaube es nicht nur, ich bin mir inzwischen sicher. Es ist eine Patrouille. Unser Glück scheint aufgebraucht zu sein, denn es besteht kein Zweifel mehr, dass sie hier her kommen.”
“Sie sind schon zu nahe für eine Flucht,” sagte Jarbeorn. “Sie würden uns sofort sehen, wenn wir den Wald verlassen.”
“Dann verstecken wir uns. Die Baumkronen sollten genügend Platz bieten.” Córiel stand auf und tastete vorsichtig den Baum ab, an den sie sich gelehnt hatte.
“Nein, dafür tragen sie zu wenige Blätter,” widersprach der Beorninger.
“Steigt hinauf, Freunde,” meinte Pallando. “Lasst den Rest meine Sorge sein.”
Rasch kletterte Córiel den breiten Stamm hinauf, gefolgt von Jarbeorn. Pallando hingegen ließ sich an ihrem Nachtlager nieder und zog die Kapuze seines dunkelblauen Umhangs über seinen Kopf. Vorsichtig tastete der Zauberer nach seinem Stab, während das Licht der Fackeln immer näher kam und bereits den Rand des Wäldchens erreicht hatte. Für den Bruchteil eines Moments glitzerte die Spitze des Stabes auf, und ein kaum spürbarer Windstoß zerzauste Córiels Haare. Sie stand bewegungslos auf einem der obersten Äste, während Jarbeorn unter ihr in der Baumkrone saß. Pallando hatte einen Zauber gewirkt, da war sie sich sicher, doch was er genau getan hatte, konnte sie nicht sagen.
Das Licht der Fackeln erreichte das Lager der drei Gefährten. Inzwischen konnten sie sehen, dass es sich bei den Fackelträgern um Ostling-Soldaten in golden schimmernder Rüstung handelte. Córiel schätzte sie auf etwas mehr als ein Dutzend.
“Der Späher hat Recht gehabt,” sagte einer der Soldaten. “Hier ist tatsächlich jemand.”
“Nur ein alter Gevatter, der das Wäldchen für die Nacht bezogen hat,” sagte ein anderer. Dann trat er zu Pallando und sprach den Zauberer direkt an. “Grüß Euch, bärtiger Geselle! Was tut Ihr hier, ganz alleine inmitten dieser Ödnis?”
Pallando erwiderte den Gruß und sagte zwei Worte in einer Sprache, die Córiel und Jarbeorn nicht verstanden. Es musste sich um eine der Sprachen des Ostens handeln und schien eine bekannte Grußformel zu sein. “Die Grüße erwidere ich,” fuhr Pallando fort, ohne sich zu erheben. “Kann ein alter Mann nicht mehr in Frieden durch diese leeren Lande reisen? Sagt, warum stört ihr meine verdiente Ruhe?”
“Es sind gefahrvolle Zeiten, Gevatter,” sagte der zweite Ostling, der nun ebenfalls herangekommen war. Der Rest der Soldaten hielt noch etwas Abstand, nur die beiden Anführer der Patrouille sprachen direkt mit Pallando. “Dieses Gebiet steht noch nicht lange unter der glorreichen Herrschaft Gortharias. Immer wieder gibt es hier in der Gegend Angriffe auf unsere Soldaten. Wir müssen wachsam bleiben. Daher sind wir den Spuren, die wir gestern fanden, bis hierher gefolgt.”
“Nun, ihr habt denjenigen gefunden, dessen Spuren ihr folgtet,” erwiderte Pallando. “Habe ich etwa ein Verbrechen begangen, indem ich die weite Ebene überquert habe?”
“Nein, gewiss nicht,” sagte der erste Ostling. “Doch es herrscht Krieg. Und der Feind im Norden schläft nicht. Wir haben gehört, dass der Herr der Weißen Hand listenreich ist, und seine Spione überall sein könnten.”
“Ihr haltet mich doch wohl nicht für einen Spion?”
Die Ostlinge blickten einander an, dann sagte der Zweite: “Wohl kaum. Ein einzelner, alter Mann ist keine Bedrohung.”
Pallando entspannte sich und lächelte zufrieden.
“Doch wir fanden die Spuren
dreier, nicht die eines Einzelnen,” fügte der erste Ostling hinzu.
“Wo sind die anderen beiden?”
“Ich weiß nicht, wovon ihr sprecht,” sagte Pallando. “Ich bin alleine unterwegs.”
“Er lügt,” sagte der zweite Ostling. “Durchsucht das Wäldchen!”
Die Soldaten schwärmten aus und entzündeten zusätzliche Fackeln. Sie waren gründlich und überprüften jeden Busch und jeden Baum. Und so kamen sie schließlich auch zu dem Baum, in dem Córiel und Jarbeorn saßen. Ein Ostling-Bogenschütze leuchtete mit seiner Fackel in die Baumkrone hinauf. Er blickte Córiel genau ins Auge und sie hätte beinahe laut aufgekeucht.
Doch wie durch ein Wunder schlug der Bogenschütze nicht Alarm sondern wandte sich ab, als hätte er den Baum leer vorgefunden.
“Hier ist niemand, Kommandant,” berichteten die Soldaten schließlich ihren Anführern.
“Aber die Spuren deuteten auf drei hin...”
“Womöglich haben wir sie falsch gedeutet. Vielleicht ist der Alte so sehr geschlurft, dass es so aussah, als wären mehrere Reisende an seiner Stelle gegangen...”
“Es war ein weiter Weg bis hierhin. Meine Füße schmerzen noch immer, und ich fürchte, meine besten Jahre liegen hinter mir,” warf Pallando ein.
Der zweite Ostling warf ihm einen misstrauischen Blick zu, dann schnaubte er und gab schließlich den Befehl zum Weiterziehen. Die Soldaten nahmen Marschformation ein und zogen in nordwestlicher Richtung davon.
Erst als die Fackeln am Horizont nicht mehr zu sehen waren, verließen Córiel und Jarbeorn die Baumkrone.
“Warum haben sie uns nicht entdeckt?” wollte der Beorninger wissen. “Einer von ihnen war mir so nahe, dass ich schon dachte, er kann meinen Atem spüren.”
“Meine lieben Freunde,” erwiderte Pallando gut gelaunt. “Ihr habt wohl vergessen, dass ihr mit einem echten Zauberer unterwegs seid. Ich habe schon vor Zeitaltern gelernt, mich vor den Augen meiner Beute zu verbergen. Und es funktioniert natürlich auch anders herum, wenn ich selbst zur Beute zu werden drohte. Doch nun sollten wir keinerlei Zeit mehr verlieren und rasch aufbrechen. Es ist nicht mehr weit, aber dennoch fürchte ich, dass unsere Gelegenheit bald verstreichen wird. Es werden mehr Soldaten kommen und sie werden gründlicher sein. Wir müssen Taur-en-Elenath binnen weniger Tage erreichen, oder der Weg wird versperrt sein. Auf mit euch! Der Endspurt steht uns bevor!
In aller Eile packten sie ihre Sachen und zogen los, angeführt von Pallando, der nun ein äußerst scharfes Marschtempo anschlug. Sie verließen das Wäldchen und hasteten direkt nach Osten, über die offenen Ebenen hinweg.
Córiel, Jarbeorn und Pallando nach Taur-en-Elenath