Das Schicksal Mittelerdes (RPG) > Rhun

Taur-en-Elenath

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Córiel, Jarbeorn und Pallando aus Ost-Rhovanion


Trotz Pallandos Aussage, dass es nicht mehr sonderlich weit bis zu ihrem Ziel sei, brauchte die Reisegruppe noch drei Tage, bis sie an den Rand des Waldes kamen, der sich am Ostufer des Carnen erhob. Sie hatten den Celduin, der vom Langen See und Esgaroth quer durch Rhovanions und Rhûn bis zum Binnenmeer floss, am späten Abend des dritten Tages ein kleines Stück unterhalb der Stelle überquert, an der er mit dem Carnen zusammenfloss, der aus den fernen Eisenbergen stammte. Die Furt über das Eilende Wasser war bewacht gewesen und sie hatten einen nicht gerade billigen Wegzoll zahlen müssen, um sie zu passieren. Die Soldaten Rhûns, die dort Wache standen, hatten im Dämmerlicht keinen genaueren Blick auf Córiel oder Jarbeorn geworfen, die beide kein Wort gesagt hatten und Pallando reden gelassen hatten. Der Zauberer kannte die wichtigsten Sprachen Rhûns gut genug, um mühelos als Einheimischer durchzugehen. So verließen sie Rhovanion endgültig und kamen ins Kernland Rhûns.
Die Länder beidseitig des Carnens hatten einst unter der losen Kontrolle des Königreiches von Dorwinion gestanden. Heute gehörten sie zum Reich von Gortharia, dessen Herrscher Dorwinion erobert und seine Bevölkerung eingegliedert hatten. Pallando erzählte ihnen, als sie ihr Nachtlager unweit des Waldrandes aufschlugen, dass diese Gegend von den meisten Menschen gemieden wurde, da der Wald einen üblen Ruf hatte.

Am Tag darauf standen sie bei Sonnenaufgang auf und kamen zum Waldrand. Die Bäume waren weniger dicht als die des Düsterwaldes, doch dafür umso höher und älter. Dennoch wuchs kaum Unterholz und Dickicht zwischen ihnen. Alles machte einen recht ordentlichen Eindruck auf Córiel, als sie zwischen den ersten Stämmen hindurch trat. Und es erinnerte sie an den Wald, in dem Melvendë einst gelebt hatte. Doch der Wald längst vergangener Zeitalter war meist vom Klang lieblicher Elbenstimmen erfüllt gewesen, denn Melvendës Volk war zahlreich und lebensfroh gewesen, ehe die Schatten zum ersten Mal ihr Land bedeckt hatten. Der Wald, zu dem Pallando sie nun geführt hatte, war still und wirkte gepflegt, aber leer.
„Was gibt es hier für uns, Eldsten?“ fragte Jarbeorn. Er hatte seine Axt gezogen und hielt den langen Schaft der Waffe locker in der linken Hand.
„Einen Weg, Vaicenya aufzuhalten... hoffe ich,“ antwortete der Zauberer, der neben Córiel ging und tiefer und tiefer in den Wald vordrang.
„Dieser Ort... er gleicht dem aus meinen Erinnerungen,“ murmelte Córiel, und Pallando nickte.
„Dafür gibt es einen einfachen Grund. Die ersten Elben, die hier her kamen, waren von deinem Volk.“
„Aber es heißt, dass alle Noldor geschlossen nach Valinor gingen,“ erwiderte Córiel. So hatten es ihr zumindest ihre Eltern einst beigebracht, als sie die Geschichte ihres Volkes während ihrer Zeit in Lindon studiert hatte.
„So ist es. Jene, die Finwë folgten, folgten ihm als eine, ungeteilte Menge. Doch ich sprach nicht von den Noldor. Ich sprach von den Tatyar.“
Córiel blieb stehen. „Ich dachte, sie wären im Osten geblieben, als Oromë kam, um die Quendi in Richtung Valinor zu führen.“
Pallando nickte. „Als mein Herr nach Cuivienen kam, spalteten sich die drei Völker der Quendi auf. Von den Tatyar, dem zweiten Volk, ging die Hälfte mit Finwë nach Valinor, und wurde dort als Noldor bekannt. Doch jene, die blieben, verweilten nicht ewiglich an den Wassern des Erwachens. Als das Meer zu schrumpfen begann, zog eine kleine Gruppe an seinem Nordufer westwärts, bis sie an den Carnen kamen - jener Fluss, der unweit von hier in das Eilende Wasser mündet. Dort nun fanden sie den Wald, den wir gerade betreten, und einige von ihnen blieben dort. So hat es mir jene erzählt, die als die Herrin dieser kleinen Zuflucht bekannt wurde.“
Córiel schwieg. Sie war nachdenklich geworden, da sie noch immer nicht recht wusste, weshalb Pallando sie an diesen Ort gebracht hatte, und wie sein Plan bezüglich Vaicenya aussah. Sie blickte sich um, während sie dem Zauberer folgte, tiefer und tiefer in den Wald hinein. Die Bäume standen nun etwas näher beieinander. Eine wachsame Stille hing zwischen den schlanken, hohen Stämmen, die Córiel den Atem anhalten ließ. Ihr Blick huschte hin und her, doch nichts wies auf die Anwesenheit von Elben hin. Sie atmete tief durch und schloss für einen kurzen Moment die Augen. Als sich Jarbeorns Hand sanft auf ihre Schulter legte, öffneten sich Coriels Lider und sie sah, dass die Gegenwart der Reisegruppe bemerkt worden war.
Zwischen den Bäumen zu ihrer Linken waren zwei gerüstete Elben aufgetaucht, die sich rasch näherten. Beide waren sie mit Bögen und Schwertern bewaffnet, doch ihre Waffen waren nicht gezogen worden. Geradewegs auf Pallando kamen sie zu, und der Zauberer schenkte ihnen ein gewinnendes Lächeln.
„Rómestamo,“ grüßten sie ihn. Es waren zwei, ein Mann und eine Frau, die Lederrüstung und Umhänge aus grauem Stoff trugen, die zu der Bekleidung passten, an die Melvendë sich erinnerte. Es war, als wäre sie um viele Jahrtausende in die Vergangenheit gereist und stünde nun erneut unter den jungen Bäumen des wilden Waldes, der die erste Heimat der Tatyar gewesen war.
„Erneut dringt Ihr ungefragt und unerlaubt in unseren Wald ein,“ sagte die Elbenfrau  vorwurfsvoll, doch ihr Lächeln strafte ihre Worte Lügen.
„Und länger als beim letzten Mal habt Ihr Euch der Entdeckung entzogen,“ ergänzte ihr Gefährte, der ebenfalls nicht sonderlich verärgert darüber zu sein schien.
„Ich tue euch damit einen Gefallen, wie ihr beiden nur allzu gut wisst,“ gab Pallando zurück. „Ihr seid jung, nach dem Maßstäben eures Volkes, und könnt noch die eine oder andere Lektion darüber vertragen, verborgene Eindringlinge aufzuspüren. Denn es wird ein Tag kommen, an dem die Könige Rhûns mehr als nur einfache Soldaten hierher entsenden werden. Dank mir werdet ihr bereit sein.“
„Wir wissen die Hilfe zu schätzen, alter Freund,“ sagte der Elbenwächter spöttisch.
„Die Betonung liegt hierbei eindeutig auf alt,“ fügte seine Begleiterin neckisch hinzu. Dann wandte sie sich Córiel und Jarbeorn zu. „Doch sagt, wen habt Ihr uns da mitgebracht? Sind dies Eurer Schüler?“
Der Beorninger trat vor. „Ich bin Jarbeorn, Grimbeorns Sohn - zu Euren Diensten.“
Alle Augen richteten sich auf Córiel, die für einen Moment zögerte. Wie sollte sie sich vorstellen? Die beiden Elben waren vermutlich zu jung, um sich an Melvendë zu erinnern. Córiel vermutete, dass sie hier geboren waren und die alte Heimat der Tatyar nie selbst gesehen hatten. Sie gab sich einen Ruck und sagte: „Mein Name ist Córiel.“ Dabei beließ sie es.
Die beiden Elben stellten sich als Faryon und Tórdris vor. „Seid Ihr gekommen, um mit der Herrin der Quelle zu sprechen?“ fragte Faryon, an Pallando gewandt.
„Du hast es erfasst, junger Freund,“ antwortete der Zauberer. „Würdet ihr beiden so freundlich sein, uns zu ihr zu geleiten?“
„Sofern Ihr für Eure beiden Gefährten bürgt,“ sagte Tórdris und warf einen prüfenden Blick zu Córiel und Jarbeorn hinüber. Córiel nahm es der Elbin nicht übel. Sie tat nur das, was ihre Herrin ihr aufgetragen hatte: dafür zu sorgen, dass niemand Unbefugtes den Wald betrat. Zumindest erschien es Córiel so.
„Ihr solltet wirklich lernen, mir zu vertrauen, meine lieben Elben,“ meinte Pallando kopfschüttelnd. „Dass Taur-en-Elenath noch immer frei vom Schatten Gortharias ist, habt ihr immerhin mir zu verdanken.“
„Diese alte Leier schon wieder?“ sagte Faryon lachend. „Das ist viele hunderte von Jahren her, und das wisst Ihr ganz genau, Zauberer.“
„Das macht es nicht weniger gewichtig,“ hielt Pallando dagegen, während sich die Gruppe langsam in Bewegung setzte. „Die Menschen von Rhûn hätten diesen Wald ganz gewiss abgeholzt, und wir stünden nun in einer brachen Einöde.“
„Das hätte die Herrin niemals zugelassen,“ mischte Tórdris ein, deren hellbraunes Haar bei jedem Schritt auf- und ab wippte, da sie einen besonders federnden Gang hatte. „Ihr müsst wissen, dass Ihr nicht der einzige Freund des Sternenwaldes seid. Es gibt andere, die unsere Grenzen ebenso schützen wie Ihr und wie wir es tun.“
Pallando nickte zufrieden. „Das macht mir das Herz etwas leichter. Es wäre ein trauriger Tag, an dem dieser Ort von der Landkarte getilgt würde.“

Sie kamen nach einiger Zeit an einen ungefähr vier Meter breiten Fluss, der sich seinen Weg durch den Wald bahnte, und bogen nach Norden ab, am diesseitigen Ufer des Gewässers entlang. Córiel sah nun eindeutige Anzeichen dafür, dass tatsächlich Elben in diesem Wald lebten. Hier und da waren hölzerne Behausungen zwischen den Bäumen zu sehen, und die Gruppe begegnete immer wieder einzelnen Waldbewohnern, von denen die meisten Pallando einen Gruß zuriefen oder ihn anderweitig begrüßten. Aus den Baumwipfeln hingen kunstvolle Ziersterne herab, die aus dünnen, miteinander verflochtenen Zweigen bestanden und die jeweils sieben Zacken besaßen. Und als es zu dämmern begann, erstrahlte vielerorts unter den Baumkronen das bläuliche Licht vieler Elbenlampen, die dafür sorgten, dass sich Córiel mehr und mehr fühlte, als wandelte sie durch eine Erinnerung Melvendës, die durch den Wald ihrer ersten Heimat streifte.
Sie kamen auf eine große Lichtung, an deren Rand mehrere gewaltige Eichen standen. Der Fluss war zu einem kleinen Bach geworden und verschwand auf der anderen Seite der Lichtung zwischen einigen großen Felsen. Elben streiften auf der freien Fläche umher und schienen nicht im Geringsten davon überrascht zu sein, dass Fremde das Herz ihres Waldes betreten hatten. Die Nachricht ihrer Ankunft musste ihnen bereits vorausgeeilt sein.
Pallando, flankiert von Tórdris und Faryon, schritt zügig über die Lichtung, auf die höchsten der Eichen zu. Dort wartete jemand auf ihn. Als Córiel und Jarbeorn nahe genug herangekommen waren, sahen sie, dass es sich dabei eindeutig um die Herrin der Quelle handeln musste. Sie war eine Elbin mit silbrigem, langem Haar, gehüllt in weite, tiefblaue Gewänder. In ihrem Haar lag ein silberner Reif und um ihren Hals eine schmale Zierkette.
Als die Gefährten vor ihr standen, erkannte Córiel sie. Und obwohl die Herrin ihnen keinen Namen nannte, wusste sie - wusste Melvendë, wie er lautete.
„Tarásanë?“
Silbern schimmernde Augen weiteten sich und spiegelten zu gleichen Teilen Schock, Überraschung und Ergriffenheit wider. Die Reaktion der Herrin der Quelle schien vollkommen untypisch für sie zu sein, denn sowohl Faryon als auch Tórdris starrten sie sprachlos an.
„Diesen Name habe ich... seit den Ältesten Tagen nicht mehr gehört,“ sagte die Herrin der Quelle, nach Fassung ringend.
Córiel wusste nicht recht, was sie sagen sollte. Ehe sie weiter reagieren konnte, kam eine Erinnerung ohne Vorwarnung über sie.

Vaicenya saß auf einem flachen Felsen und reinigte ihr Schwert, methodisch und mit grimmigem Gesichtsausdruck. Schwarz tropfte das Blut ihrer Feinde von der Klinge, als sie es mit den weichen Blättern der nahen Bäume abwischte. Rings um sie herum: eine Schneise der Verwüstung, geschlagen von den Schrecken aus dem Norden. Eine schwarze Wunde im Wilden Wald, deren Vertiefung gerade verhindert worden war.
Melvendës Klinge war in diesem Kampf sauber geblieben. Sie hatte sich auf ihren Bogen verlassen. Geschickt sprang sie von der erhöhten Position herab, von der sie Tod und Verderben auf die Eindringlinge hatte herab regnen lassen. Traurig stellte sie fest, dass es sich dabei um die Überreste einer zerstörten Elbenbehausung handelte. Sie standen in den Ruinen einer kleinen Elbensiedlung am Nordrand des Waldes. Nicht mehr als zwanzig Tatyar hatten hier gewohnt, um dem Licht der Sterne näher zu sein, die unter freiem Himmel außerhalb des Waldes besser zu sehen waren. Sie waren noch immer Elben, weshalb sie es vorzogen, unter dem schützenden Dach der Baumkronen zu leben, doch ebenso gerne verließen sie den Wald und richteten den Blick nach oben, auf das Geschenk der Sternenentzünderin, das von dort auf sie herab strahlte. Zumindest war das bis vor Kurzem noch so gewesen.
Jetzt war das Dorf ausgelöscht worden; seine Bewohner erschlagen oder verschleppt. Schweren Herzens streifte Melvendë durch die rauchenden Überreste des Dorfes, auf der Suche nach Hinweisen. Diese Tragödie war schon lange kein Einzelfall mehr. Und obwohl die Nordgrenze des Waldes inzwischen scharf bewacht wurde, gab es einfach zu viele Feinde, die aus den eisigen Gebieten jenseits des Waldes drangen.
Schon wurden unter den Tatyar Stimmen laut, die forderten, dieses Übel an der Wurzel zu packen und endgültig auszurotten. Sie wollten jeden verfügbaren Elben bewaffnen, nach Norden ziehen und den Ort zu finden, von dem die Angreifer stammten, und ihn zerstören oder versiegeln. Doch Melvendë wusste, dass die Gefahr zu groß war. Niemand kannte sich in den Landen im Norden aus, und niemand wusste, welche Schrecken dort lauerten. Melvendë war sich sicher, dass jeder, der nach Norden ginge, nicht mehr zurückkehren würde. Doch sie fürchtete, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis auch Vaicenya zu jenen gehören würde, die den Kampf zur Quelle des Bösen tragen wollten.
Ein Geräusch riss sie aus ihren düsteren Gedanken. Sie stand vor den Überresten eines hölzernen Gebäudes, in dem sich die Elben des Dorfes einst versammelt hatten. Nun war es ebenfalls eine rauchende Ruine. Doch einer der beiden Türflügel war beinahe unversehrt erhalten geblieben und lag auf dem verkohlten Waldboden - und bewegte sich. Rasch packte Melvendë das mit Schnitzereien verzierte Holzstück und zog es unter einiger Anstrengung beiseite. Eine schlanke Gestalt kam zum Vorschein. Dort, versteckt oder unfreiwillig begraben unter dem gestürzten Türflügel, hatte eine junge Elbin als einzige Überlebende den Untergang ihres Dorfes überstanden. Vorsichtig ging Melvendë neben ihr in die Knie und half der verschreckten jungen Frau auf. Sie hatte noch nicht vollständig das Alter erreicht, in dem die Tatyar als ausgewachsen galten, doch ihre Haare besaßen einen ungewöhnlichen, silbrigen Schimmer. In ihren weit aufgerissenen Augen stand noch immer der Schock, doch auch eine Spur von Erleichterung glaubte Melvendë zu entdecken.
„Du bist in Sicherheit,“ sagte sie vorsichtig. „Ich bin Melvendë von den Tatyar. Wie lautet dein Name?“
„T-Tarásanë,“ stieß sie kaum hörbar hervor. Und das war alles, was sie für eine lange Zeit sagte.
Vaicenya und Melvendë nahmen die junge Überlebende mit sich und sie lebte einige Jahre in dem Haus, das die beiden Elben sich teilten. Doch als die Tage dunkler wurden und Vaicenya immer verbitterter und kriegerischer wurde, zog sich Tarásanë mehr und mehr zurück. An dem Abend, an dem Melvendë zu dem Feldzug auszog, in dem sie ihr Ende finden würde, hatte Tarásanë ihr im Geheimen anvertraut, dass sie sich vor Vaicenya zu fürchten begonnen hatte. Melvendë hatte ihr versprochen, dass nach ihrer Rückkehr alles anders werden würde. Doch dazu war es nie gekommen... denn Melvendë kehrte niemals nach Cúivienen zurück.

Mehrere Minuten des Schweigens waren vergangen, als Córiels Erinnerung endlich verblasste. Und dennoch war es Pallando, der die Stille beendete.
„Solch ein Anblick bot sich mir bislang nur selten. Meine gute Freundin, dich sprachlos zu sehen ist etwas, das ich wohl nie vergessen werde.“
Die Herrin der Quelle hatte sich inzwischen gefasst, doch ihr Blick war hart geworden. „Was hat das zu bedeuten, Rómestamo? Soll das ein Scherz sein?“
„Mitnichten, meine Liebe,“ beschwichtigte der Zauberer. „Urteile nicht vorschnell! Das ist doch sonst auch nicht deine Art. Du siehst viel, und noch mehr kannst du deuten, dank der Gabe dieses Waldes. Und doch gibt es Dinge in dieser Welt, die dich überraschen können. Daran ist nichts Falsches.“
Tarásanës Miene wurde undeutbar. Sie hatte nichts mit der jungen Elbin gemeinsam, an die Melvendë sich erinnerte. Stattdessen strahlte sie Weisheit aus - und Vorsicht.
„Ich weiß, dass es schwer zu glauben ist,“ begann Córiel. „Aber ich erinnere mich an dich, Tarásanë. Ich...“ Es fiel ihr noch immer schwer, von den Dingen, die Melvendë getan und gesehen hatte, Besitz zu ergreifen, und sie als ihre eigenen Taten anzusehen. Daher stockte sie. Ein langer Moment verging, ehe Córiel weitersprach. „Du scheinst... jetzt einen anderen Namen zu verwenden.“ Das war alles, was ihr im Augenblick einfiel. Betreten schwieg sie.
„Man kennt mich als die Herrin der Quelle. Das hat genügt - für Jahrtausende.“
„Und es ist ein passender Titel,“ mischte sich Pallando wieder ein. „Kommt, es gibt vieles, worüber wir sprechen sollten. Jedoch nicht hier.“
„Nicht, ehe nicht die Sterne über der Quelle stehen,“ sagte Tarásanë fest. „Ja. Wir werden sprechen. Und alle Unstimmigkeiten beseitigen. Ihr werdet mir erklären, weshalb ihr hierher gekommen seid, und weshalb eine von euch Gesicht und Gestalt einer Heldin aus den Ersten Tagen trägt. Und ich werde wissen, welche Wahrheit hinter all dem, und hinter all den Zeichen, die ich in letzter Zeit gesehen habe steckt. So kommt! Es ist nicht weit von hier.“
Sie setzte sich in Bewegung, gefolgt von Faryon und Tórdris. Jarbeorn und Pallando eilten ihr nach, und schließlich lief auch Córiel los. Sie spürte, dass ein wichtiger Augenblick bevorstand und versuchte, mit aller Kraft, sich auf die Gegenwart zu konzentrieren, denn am Rande ihrer Wahrnehmung lauerten Erinnerungen Melvendës, die nur darauf warteten, sich in den Vordergrund zu drängen. Tarásanë wiederzusehen hatte vieles in ihrem Inneren losgetreten, und nur mit Mühe gelang es Córiel, im Hier und Jetzt zu bleiben, während sie am Ende der kleinen Gruppe ans andere Ende der Lichtung inmitten des Sternenwaldes hastete...

Fine:
Ihr Weg führte sie zurück an die Ufer des kleinen Baches, der am Ende der Lichtung zwischen zwei großen Felsen hindurchfloss. Er war kaum einen Zentimeter tief. Die Herrin der Quelle, die barfuß war, ging anmutig durch das Wasser, und der Rest der Gruppe folgte ihr durch den steinernen Durchgang. Sie kamen in eine Art Halle, die durch dicht beieinander stehende Bäume und deren überlappende Kronen gebildet wurde. Nur in der Mitte war eine beinahe kreisrunde Öffnung zu sehen, durch die noch ganz schwach einige ferne Sonnenstrahlen drangen. Direkt unter der Öffnung endete der Bach, der hier nur noch ein winziges Rinnsal war, in einer ungefähr zwei Meter breiten Quelle. Córiel konnte nicht sagen, woher das Wasser kam, das sich am unteren Ende der Quelle sammelte und in den Bach hinunter tropfte. Die Oberfläche des Quellbeckens, das ein perfektes Oval bildete, war komplett regungslos.
Die Gruppe versammelte sich um das Becken herum. Die Herrin des Waldes - Tarásanë - gebot ihnen mit einem Fingerzeig an ihren Lippen zu schweigen. Die beiden jungen Elben, Faryon und Tórdris, hielten bei dem Felsentor stumm Wache.
Eine Viertelstunde verging, in der das Sonnenlicht schwand und einer nach dem anderen die Sterne über der Quelle erschienen. Schließlich breitete Tarásanë die Hände aus und sagte: „Es ist Zeit.“
Jarbeorn war der Erste, der sein Schweigen brach. „Was ist das für ein Ort, Herrin?“ fragte der Beorninger andächtig.
„Ein Ort der Wahrheit,“ erklärte die Herrin der Quelle. „Er wurde vor Anbeginn von den Dienern der Sternenentzünderin geschaffen.“
„Varda,“ wisperte Córiel.
„So ist es. Es scheint insgesamt sieben solcher Quellen zu geben, verstreut über ganz Mittelerde. Ich selbst habe nur diese eine jemals gesehen, und kenne den ungefähren Ort von vier weiteren. Die Quelle gewährt mir Einblick in Dinge, die in der Ferne liegen.“
„Wie Galadriels Spiegel?“ fragte Córiel interessiert nach.
„Der Spiegel selbst ist nur ein Werkzeug, das die Macht der Quelle, die unter den Wurzeln des Goldenen Waldes schlummert, bündelt und einfacher zu lenken macht“, erklärte Tarásanë. „Ich sehe, dass ihr bereits Erfahrungen mit solcherlei Dingen gemacht habt.“
Córiel und Jarbeorn tauschten einen raschen Blick aus, ohne jedoch eine Antwort auf die Feststellung der Herrin der Quelle zu geben.
Sie fuhr fort, zu sprechen. „Galadriels Spiegel, die Sternenquelle, das Becken der Weitsicht, das Heiligtum der Sieben Schwestern und der Feurige Wasserfall. Sie alle bedienen sich ein und derselben Kraft, die letzten Endes nicht von dem Wasser, sondern von den Sternen stammt. Zwei weitere solcher Orte gibt es, doch ich habe sie in all den Jahrtausenden nicht aufspüren können. Darüber hinaus gibt es eine Abstraktion im Gefüge der Sieben, eine Verderbtheit der ursprünglichen Macht der Quellen, geschaffen von jener, die sich von ihren Schwestern abwandte. Doch dies ist weder der Ort noch die Zeit, um davon zu sprechen. Zu viel Dunkelheit liegt in jener Geschichte. Ich habe euch hierher gebracht, um die Wahrheit in euren Worten zu prüfen, denn ich zweifle an dem, was mir meine Augen sagen. Romestamó, erkläre dich. Weshalb bringst du das Abbild jener in mein Heim, die mir einst unter großen Schmerzen genommen wurde?“
Pallando hatte eine ernste Miene aufgesetzt und stützte sich schwer auf seinen Stab. „Es war nicht meine Absicht, dir Kummer zu bereiten. Und doch nahm ich diese Bürde auf mich, denn ich brauche deine Hilfe, alte Freundin. Dies ist Córiel von den Noldor, wie du gewiß bereits von deinem Volk gehört hast. Doch das ist noch nicht alles.“
„Du nennst einen Namen, der mir unbekannt ist,“ erwiderte Tarásanë und ihre silbrigen Augen fixierten Córiel. „Was also ist die Lösung dieses Rätsels? Ist die Macht deiner Illusionen nun so überzeugend geworden, dass du selbst nicht mehr unterscheiden kannst, was real ist, und was nicht, Zauberer?“
„Mitnichten. Córiel ist real - genau so real, wie die Bedrohung, wegen derer wir hier sind. Das wird dir das Sternenlicht auf der Quelle bestätigen. Du fragst dich, weshalb sie dich an eine Erscheinung aus den Altvorderen Tagen erinnert? Die Antwort darauf ist einfacher, als man annehmen würde. Am besten sagt sie es dir selbst.“
Córiel wählte ihre Worte sorgfältig. Es war mehr als nur eine Erklärung, bestimmt für mehr als nur Tarásanës Ohren. Es war, in jenem Augenblick unter dem wachsamen Auge der Lichter Vardas, eine Annahme ihres Schicksals und eine Akzeptanz dessen, was ihr widerfahren war. Sie sprach einfache Worte mit tiefer, schwerwiegender Bedeutung. Córiel und Melvendë wurden in jener Stunde wieder eins.
„Ich bin Melvendë von den Tatyar, gefallen im Kampf gegen die Kreaturen von Melkor, die ausharrte in den Hallen des Mandos, bis es dem Schicksal gefiel, mich zurück auf diese Mittelerde zu senden, und ich somit als Córiel von den Noldor eine zweite Chance bekam.“
Tarásanës Blicke gingen voller Anspannung zwischen Córiel und der noch immer regungslosen Oberfläche der Quelle hin und her, als würde sie dort nach weiteren Antworten oder Reaktionen suchen. Doch als sich nichts tat, atmete die Herrin der Quelle einmal tief aus, und wieder ein. Dann sagte sie: „Du sprichst die Wahrheit, Melvendë... doch was ist dir in den Schatten widerfahren?“

~~~
Je weiter die Streitmacht der Quendi nach Norden vordrang, desto weniger Bäume sahen sie. Das Land jenseits des Wilden Waldes war karg und felsig. Ein  unangenehmer, kalter Wind brauste über die Einöde und trug unheilvolle Klänge an ihre Ohren. Jeglicher Friede, den sie in ihrer Heimat verspürt hatten, war nun durch eine angespannte Wachsamkeit ersetzt worden.
Melvendë ging dicht hinter Vaicenya an der Spitze des Trupps. Ungefähr fünftausend kampfbereite Eldar von den unterschiedlichsten Stämmen hatten sich dem großen Wagnis angeschlossen, dessen Urheber endlich Gehör bei den Ersten gefunden hatten. Es war an der Zeit, den Ursprung der stetig schlimmer werdenden Angriffe aus dem Norden zu finden, und ihn zu beseitigen. Dieser Meinung war jedenfalls Vaicenya, die in den letzten Jahren immer verbitterter und blutrünstiger geworden war. Es gab Tage, an denen Melvendë ihre langjährige Freundin kaum noch wiedererkannte.
Kurz vor dem Aufbruch nach Norden hatte Tarásanë ihr anvertraut, dass sie sich vor Vaicenya zu fürchten begonnen hatte. Melvendë hatte der jungen Elbin versprochen, dass nach ihrer Rückkehr alles anders werden würde. Wenn die Quelle des Bösen versiegt wäre, gäbe es keinen Grund mehr für Vaicenyas Zorn und Melvendë hoffte, dass die Kriegerin dann wieder zu der lebensfrohen Tatya werden würde, die sie zu Beginn ihrer Tage gewesen war.
Sie waren bereits viele Meilen nach Norden vorgedrungen, ohne auf die Schatten zu treffen. Eine wachsame Stille schien über der Einöde zu hängen. Melvendë war sich inzwischen sicher, dass ihr Feind den Vorstoß der Elben von Anfang an beobachtet hatte und sie mit voller Absicht so weit hatte kommen lassen. Ihr war bei dem Gedanken mulmig zumute. Rasch prüfte sie ihren Köcher, der voll gefüllt war. An ihrer Seite hing ein langes Schwert und in der linken Hand hielt sie einen hölzernen, mit Stahl beschlagenen Schild. Die Waffen gaben ihr ein gewisses Gefühl der Sicherheit, doch gänzlich beruhigen konnten sie sie nicht.
Zwei Tage später passierten sie die Schneegrenze. Ein breites, langsam aufsteigendes Tal öffnete sich vor ihnen, gekrönt von eisigen, scharfen Berggipfeln, die im Norden über der Einöde thronten. Und hier endlich ließ der Feind die Falle zuschnappen. Ein misstönender Ruf hallte unnatürlich laut durch das Tal, und der Boden unter den Füßen der Elben erzitterte. Sofort zogen die Quendi ihre Waffen, denn sie alle wussten, was das zu bedeuten hatte.
Es war eine der ersten großen Schlachten unter dem Himmel der jungen Welt. Noch brannte das Licht der Sterne hell und kraftvoll in den Augen der Erstgeborenen, und obwohl ihre Feinde von drei Seiten auf sie eindrangen, warfen sie den Angriff zurück. Vaicenya kämpfte wie eine Wahnsinnige, wie ein Wirbelwind aus Klingen, der kleinere Schattenkreaturen einfach zerstückelte und selbst größere Feinde schier mühelos zurückdrängte. Melvendë hielt ihr mit ihren Pfeilen den Rücken frei, bis ihr Köcher leer geschossen war. Dann nahm sie ihren Mut zusammen, und stürzte sich ins Getümmel. Der rechtschaffene Zorn, der alle Elben in diesen Tagen erfüllte, hatte auch Melvendë erfasst, und sie schrie ihren Hass gegen den Schatten heraus, während sie mit blitzender Klinge um sich hieb. Schwarzes Blut spritzte tausendfach in den frischen Schnee. Und Schritt für Schritt drängte die Macht der Elben den Schatten zurück.
Da brach in ihrem Rücken die Erde auf, und zu tausenden sprangen neue Feinde aus verborgenen Tunneln hervor. Die Quendi waren eingeschlossen. Mit neuer Entschlossenheit und mit frischen Kämpfern stürzten sich die Diener des Schattens auf die Elben, die sich in ihrem Hochmut bis an die Türschwelle des Herrn der Finsternis gewagt hatten. Jetzt entfesselte der Schatten seine ganze Schlagkraft. Riesenhafte Kreaturen donnerten das Tal hinab, deren Leiber in Flammen zu stehen schienen. Und von allen Seiten drangen die zahllos wirkenden Feinde auf die Elben ein.
Vaicenya und Melvendë, die an der östlichen Flanke standen, sahen mit Schrecken an, wie mehr und mehr Elben fielen. „Wir müssen durchbrechen!“ rief Vaicenya, die aus einem tiefen Schnitt an der Stirn blutete. Und ehe Melvendë sie aufhalten konnte, sprang Vaicenya vorwärts und begann, eine blutige Schneise nach Südosten hin zu schlagen. Ermutigt von diesem Anblick drängten weitere Elben in die Lücke und verbreiterten sie. Jedem war inzwischen klar, dass ihr Angriff auf den Schatten gescheitert war, und dass ein geordneter Rückzug jetzt ihre beste Gelegenheit darstellte. Schulter an Schulter bildeten sie einen Halbkreis, in dessen Schutz der Großteil des Heeres durch die Schneise entkommen konnte.
Melvendë und Vaicenya kämpften ohne Unterlass am Rand der Lücke, damit diese nicht wieder geschlossen werden konnte. Das von schwarzem Blut verschmierte Schwert schlug einem gedrungenen Feind die Waffe aus der Hand und durchtrennte den Arm der Kreatur, die vor Melvendë zu Boden ging. Ein Schmerzensschrei entfuhr Melvendës Gegner, der sie innehalten ließ, als sie zum tödlichen Schlag ausholte. Der Laut hatte beinahe... elbisch geklungen. Mit weit aufgerissenen Augen nahm sie die Kreatur zu ihren Füßen genauer ins Auge - und stellte entsetzt fest, dass es sich um das groteske Zerrbild eines Elben handelte, mit scharfen Zähnen und verunstaltetem Gesicht, doch die spitzen Ohren waren unverkennbar.
Ist dies... ist dies etwa das Schicksal jener, die von den Schatten verschleppt worden sind? dachte Melvendë fassungslos.
Heißer, glühender Schmerz schoss ihr ohne Vorwarnung durch den Rücken. Die Klinge fiel ihr aus der Hand, als eine blutige Speerspitze aus ihrer Brust hervorbrach. Wie in Trance versuchte Melvendë noch, danach zu greifen, dann ging sie in die Knie.
Vaicenyas verzweifelter Schrei drang wie von Ferne an ihr Ohr. Schwarzes Blut spritzte über ihr Gesicht, als ihre langjährige Gefährtin den Feind in Stücke riss, der Melvendë erwischt hatte. Dann fand sie sich mit dem Kopf auf Vaicenyas Schoß gebettet wieder. Alles kam ihr mehr und mehr wie ein Traum vor.
„Bleib bei mir,“ stieß Vaicenya zwischen den Tränen hervor, die ihr über das von Wut und Verzweiflung gezeichnete Gesicht liefen. „Geh nicht fort! Bleib bei mir, hörst du?“
Melvendë versuchte zu sprechen, doch stattdessen hustete sie. Blut lief aus ihrem Mundwinkel. Über sich sah sie die Sterne, die sich langsam rot verfärbten, während der Wahnsinn der Schlacht ringsumher in den Hintergrund zu treten schien. Es gab nur noch Vaicenya und sie.
„Geh nicht,“ weinte Vaicenya. „Ich weiß nicht, wie ich ohne dich weitermachen soll...“
Sie nahm alle Kraft zusammen, die noch in ihr war. „Tarásanë...“ wisperte sie. „Kümmere dich... um sie...“
In Vaicenyas Augen las sie weder Verstehen noch Akzeptanz. Dort brannte ein Feuer, das Melvendë Angst eingejagt hätte, wenn sie noch dazu imstande gewesen wäre, klare Gedanken zu fassen. Ihre Finger tasteten schwach nach Vaicenyas Hand und fanden die Handfläche, die sich sofort zu einer Faust ballte und um Melvendës Hand schlossen.
„Dafür werden sie bezahlen,“ presste Vaicenya zwischen den Zähnen hervor. Ihre Tränen versiegten. „Meine Rache wird die Zeitalter überdauern und niemals zur Ruhe kommen, das schwöre ich bei den blutigen Sternen an diesem verfluchten Tag.“
Melvendë wollte Einwände erheben, wollte Vaicenya von diesem unheilvollen Eid abhalten, wollte irgendetwas sagen, doch ihre Zunge rührte sich nicht. Ihre Augen fanden ein letztes Mal Vaicenyas Blick, dann glitten sie daran ab und richteten sich auf die Sterne. Heller und heller erstrahlte deren Licht, bis es Melvendë vollkommen umgab. Und dann war sie fort und erinnerte sich an nichts mehr.

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„Es ist also tatsächlich wahr,“ sagte Tarásanë mit einigermaßen gefasster Stimme, doch Córiel konnte ihr anhören, dass sie die Erzählung erschüttert hatte.
„Ich hatte alle Erinnerungen an die Altvorderen Tage verloren,“ sagte Córiel. „Erst vor Kurzem habe ich mich wieder daran erinnert. Doch was geschah nach meinem.... nach meinem Tod in jener verhängnisvollen Schlacht?“
Tarásanë blickte einen Augenblick zur Quelle hinüber, ehe sie sprach. „Kurz nach dem Aufbruch des Heeres kehrte Romestamós Meister nach Cuívienen zurück und die Drei Völker traten ihre Wanderung nach Westen an. Derweil entfesselten die Herren des Westens ihren Zorn gegen den Schatten, und stürmten seine Machtsitz. Sie taten es um der Elben Willen, doch sie taten es zu spät. So viele von unserem Volk waren bereits dem Schatten anheim gefallen und waren unwiederbringlich verloren. So sah es Vaicenya, die an der Spitze der Überlebenden aus dem Norden zurückkehrte. Sie trug... nun, deinen Leichnam mit sich und bahrte ihn in ihrem Haus auf, um ihn wie einen Schatz zu hüten. Der Hass auf den Schatten brannte noch immer wie ein zerstörerisches Feuer in ihrem Herzen. Und nun, da der Schatten vergangen war, suchte sie sich ein neues Ziel für ihre Wut. Immer neue Schuldige für deinen Tod fand sie, und Streit und Missgunst erwuchsen aus ihren Taten. Ich hielt es nur wenige Monate aus. Schweren Herzens verliess ich meine Heimat, mit einer kleinen Gruppe von Gefährten, und folgte den Spuren der Noldor nach Westen. Und so kam ich schließlich hierher, wo ich eine der Dienerinnen Vardas an den Wassern dieser Quelle traf, an der wir nun stehen. Sie gab mir eine Aufgabe und einen Sinn. So wurde ich zur Herrin der Quelle, die ich all die Zeitalter die seither vergingen, treu gehütet habe.“
„Ich... verstehe,“ sagte Córiel langsam.
„Ein weiteres Rätsel, das sich auflöst,“ sagte Pallando zufrieden. „Nun, da das ja geklärt ist, sollten wir uns dem Grund unseres Kommen widmen.“
„In der Tat,“ stimmte Tarásanë zu. Zweifel und Überraschung fielen von ihr ab, und sie wirkte wieder wie die weise und weitsichtige Elbin, die sie seit Jahrtausenden gewesen war. „Also sagt mir: Weshalb seid ihr hier?“
Córiel sah keinen Sinn darin, lange drum herum zu reden. Sie kam direkt zum Punkt und sagte: „Vaicenya ist zurück. Wir brauchen deine Hilfe, um sie aufzuhalten.“

Fine:
„Komm schon! Ist das alles, was du kannst?“
Córiel knurrte und presste die Lippen aufeinander. Sie umkreiste ihren Gegner langsam und lauernd, einen sorgfältig platzierten Schritt nach dem anderen machend. Ihre Muskeln waren angespannt und bereit für den Angriff. Sie wartete auf die richtige Gelegenheit und hielt ihre eigene Deckung aufrecht, indem sie die Arme leicht angewinkelt erhoben und die Hände zu Fäusten geballt hatte. Jeden Vorstoß gegen Kopf und Oberkörper würde sie so leicht abwehren können, sobald sie ihrem Gegner zugewendet war.
Das trockene Laub unter ihren nackten Füßen knisterte und ein kühler Wind zerzauste die blonden Haare der Hochelbin. Der Spätherbst war bereits im Schwinden begriffen, und der Winter würde nicht mehr viele Wochen auf sich warten lassen. Córiel studierte die Bewegungen ihres Gegners genau. Er war breit gebaut, mit muskulöser Brust und Oberarmen, und beinahe zwei Köpfe größer als sie. Und er blickte sie aus seinen tiefbraunen Augen an, ohne beiseite zu schauen.
Doch dann erregte etwas Anderes für einen Bruchteil einer Sekunde seine Aufmerksamkeit. Ein abgestorbener Ast fiel aus den Baumkronen über ihnen zu Boden und wirbelte das Laub auf, als er landete. Der Blick ihres Gegners huschte zur Quelle der unerwarteten Bewegung hinüber, nur für einen kurzen Augenblick. Das war alles, was Córiel benötigt hatte. Blitzschnell setzte sie sich in Bewegung und ihre Sprunggelenke katapultierten sie vorwärts. Drei schnelle, federnde Schritte brachten sie auf Nahkampfdistanz an ihren Gegner heran und mit einem beherzten Sprung stieg sie vor ihm in die Höhe, mit der rechten Hand zum Schlag ausholend.
Die Faust sauste vorwärts, direkt auf sein Gesicht zu. Als sie es beinahe erreicht hatte, stellte sich ihr allerdings ein Unterarm in den Weg, der hart wie Stahl zu sein schien. Córiels Schlag glitt daran ab und ihr Sprung trug sie an ihrem Gegner vorbei. Mit einer geschickten Rolle landete sie auf dem Waldboden hinter ihm und kam sofort wieder auf die Beine.
„Du bist schnell, aber es fehlt dir an Kraft,“ spottete er. „So wird das nicht funktionieren.“
Das war bereits der dritte Angriff, der fehlgeschlagen war. Córiel unterdrückte ihren Frust und nahm wieder ihre abwartende Haltung ein. Doch sie spürte mehr und mehr, wie sie die Geduld verlor. Sie wollte diesen Kampf jetzt beenden. Also stürmte sie erneut los. Mit einer Körpertäuschung nach links überwand sie die Deckung ihres Gegners und ging von rechts auf ihn los. Wieder schoss ihre Faust auf sein Gesicht zu, und wieder prallte sie an seinem erhobenen Unterarm ab. Diesmal jedoch war Córiels Faust nur zur Ablenkung da gewesen. Sie wirbelte um die eigene Achse und trat ihm mit aller Kraft gegen die Brust. Sie hatte ihre ganze Wut und ihren Frust in den Angriff gelegt und war sich sicher, diesmal endlich erfolgreich gewesen zu sein.
Stattdessen fühlte es sich an, als hätte sie gegen eine massive Felswand getreten. Der Rückstoß schleuderte die Hochelbin von ihrem Gegner weg. Benommen landete sie im weichen Laub. Ehe sie sich aufrappeln konnte, ragte er bereits über ihr auf.
Da stolperte er über eine Wurzel und stürzte vorwärts, direkt auf Córiel drauf, und begrub sie mit seinem breiten Körper unter sich.
Erschrocken stützte er sich mit den Armen wieder hoch und blickte verlegen zur Seite. „Tut mir Leid, Stikke,“ stieß er hervor.
„Runter von mir, du riesiges Trampeltier,“ verlangte sie von Jarbeorn, mit dem sie sich einen Übungskampf ohne Waffen geliefert hatte.
„Erst, wenn du deine Niederlage zugibst,“ erwiderte er, nun mit einem breiten Grinsen.
Sie blickte ihn verärgert an, doch dann musste sie ebenfalls lachen - für einen kurzen Augenblick. Seine Augen verweilten auf ihrem Gesicht, und obwohl er sein typisches breites Lächeln zeigte, erschien es ihr, als wäre da noch etwas anderes in seinem Blick aufgetaucht. Etwas, das zuvor nicht da gewesen war.
„Also gut, ich gebe mich geschlagen,“ sagte sie und drückte mit ihren Händen gegen seine Brust. Er war zu schwer, um ihn aus eigener Kraft wegzuschieben, doch der Beorninger nickte zufrieden und stand auf. Er bot der Hochelbin die Hand an und zog sie auf die Beine, als sie danach griff.
„Deine Angriffe waren zwar schnell und präzise, aber es lag kaum Kraft dahinter,“ sagte er, während sie sich auf den Rückweg zum Dorf der Elben des Sternenwaldes machten. „Du bist noch immer nicht wieder in Form, Stikke.“
„Wärst du nicht so ein gewaltiges Schwergewicht, hätte ich deutlich mehr ausrichten können,“ hielt sie dagegen.
Jarbeorn schüttelte den Kopf. „Ich habe ungerüstet gegen dich gekämpft. Ein Feind in voller Rüstung hätte ungefähr dasselbe Gewicht gehabt wie ich.“
„Wenn ich meine Waffen gehabt hätte, dann...“
Der Beorninger ließ sie nicht ausreden. „Darauf wirst du dich nicht verlassen können. Du musst auch ohne Waffen jederzeit in der Lage sein, dich zu verteidigen.“
„Erteile du mir keine Lektion, der du nur einen Bruchteil der Zeit in dieser Welt verbracht hast im Vergleich zu den Jahrtausenden, die ich gesehen habe.“ Córiel hatte die Arme vor der Brust verschränkt und blickte Jarbeorn herausfordernd an.
„Stikke... ich mache mir nun einmal Sorgen um dich. Seit dieser Sache in Lothlórien bist du nicht mehr die Selbe gewesen. Und gerade jetzt, wo wir auf Vaicenya warten, ist es so wichtig, dass du körperlich und geistig in Höchstform bist.“
Sie ließ die Arme sinken. Er hatte recht, doch ein Teil von ihr wollte ihm das nicht eingestehen. Córiel seufzte und beschloss, nichts zu sagen.
„Wir wissen nicht, wann und ob dieses Miststück uns hier aufspüren wird,“ sprach Jarbeorn weiter. „Aber wenn der Augenblick gekommen ist, müssen wir die Falle zuschnappen lassen, damit sie uns nicht wieder entkommt, und wir sie endgültig aufhalten können. Und du bist nun einmal das Herzstück des Plans, den Eldsten und die Herrin der Quelle ausgeheckt haben.“
„Ich bin es leid, wie eine Fliege im Netz darauf zu warten, bis die Spinne kommt, um mich zu fangen,“ redete sich Córiel sich ihren Frust von der Seele. Seit drei Tagen waren sie nun schon im Sternenwald. Drei Tagen des Abwartens und der Übungen mit Jarbeorn, die Córiels Laune nicht sonderlich zuträglich gewesen waren. Nach ihrem klärenden Gespräch mit Tarásanë hatte diese mit Pallando einen Plan geschmiedet, um Vaicenya gefangen zu nehmen. Dieser bestand darin, die Dunkelelbin zum Sternenwald zu locken, indem sie Córiel als Köder verwendeten. Doch bislang hatte es keine Anzeichen dafür gegeben, dass Vaicenya Wind von Córiels Aufenthaltshort bekommen hatte.

Tarásanë und Pallando waren in den Tagen seit ihrer Ankunft im Sternenwald kaum zu sehen gewesen. Sie verbrachten ihre Zeit mit langen Gesprächen und Spaziergängen, zu denen Córiel und Jarbeorn nicht eingeladen worden waren. So blieb ihnen nur wenig übrig, als sich selbst zu beschäftigten. Die Elben von Taur-en-Elenath waren höflich und freundlich ihnen gegenüber, aber gleichzeitig zurückhaltend und reserviert. Meistens sprachen sie nur wenige Sätze mit ihren Besuchern. Untereinander verwendeten die Waldbewohner einen Quenya-Dialekt, den selbst Córiel kaum verstand, auch wenn er der Sprache der Tatyar, die Melvendë einst gesprochen hatte, noch immer so sehr ähnelte, dass eine nahe Verwandtschaft zwischen den beiden Sprachen bestehen musste. Córiel schätze die Anzahl der Elben im Sternenwald auf wenige hunderte, von denen die meisten im Dorf in den Baumkronen nahe der Quelle ihrer Herrin lebten. Ein Teil der Waldbewohner durchkämmte den Wald an seinen Grenzen und hielt ständig ein wachsames Auge nach Eindringlingen offen, während sich der Rest um den Lebensunterhalt kümmerte. Es gab mehrere kleinere Lichtungen im Sternenwald, auf denen Feldfrüchte und Getreide angebaut wurde, und sowohl in dem kleinen Fluss, der den Wald durchströmte, sowie im nahen Carnen gab es reichlich Fisch. Außerdem lebten mehrere Herden von Wildtieren im Wald, die ebenfalls Nahrung lieferten. Dabei verhielten sich die Elben selbst beinahe wie ein Teil des Waldes, der nur so viel nahm, wie er zum Überleben benötigte, und den Wald mit Pflege und Schutz für seine Gaben bezahlte.

Am vierten Tag stieß Córiel in einer der Elbenhütten auf einen Menschen, was ihr sehr ungewöhnlich vorkam. Es war ein junger Mann, dessen Alter sie ungefähr auf Jarbeorns Alter schätzte. Er ging aufrecht, stützte sich dabei jedoch auf einen hölzernen Stab, der im Gegenzug zu Pallandos Gehhilfe kein Instrument der Zauberkunst war. Sie war nicht etwa auf ein weiteres Mitglied des Ordens der Istari gestoßen, sondern auf jemanden, der eine lebensbedrohliche Verletzung erlitten hatte und sich nur langsam davon erholte.
„Wir fanden ihn dem Tode nahe am gegenüberliegenden Ufer des Carnen,“ erklärte die Elbin Tórdris auf Córiels Nachfrage. „Neben ihm am Wasserrand lagen die Überreste eines kleinen Bootes, mit dem er wohl an jenen Ort gelangt war. Normalerweise hätten wir ihn niemals in unsere Heimat gebracht, doch... nun, jene, die ihn fand, hatte Mitleid mit ihm und trug ihn zu unserer Herrin. Einige sagen, dass sie mit dieser Tat einen Fehler beging, doch dies ist müßiges Reden. Sie weilt nicht mehr hier.“
„Sie ist gestorben?“ fragte Córiel?
„Gestorben? Nein, sie ging im Auftrag der Herrin fort, und ist noch nicht wieder zurückgekehrt.“
„Und er?“ Córiel deutete auf den Mensch, der im Hintergrund über die Lichtung stapfte.
Tórdris schüttelte den Kopf. „Ich weiß nichts über ihn. Er spricht nur sehr wenig.“
Córiel beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen. Seit ihrer Ankunft im Sternenwald war nichts Aufregendes mehr geschehen und die Eintönigkeit der täglichen Übungen mit Jarbeorn machten ihr zu schaffen. Also lief sie dem Mann nach, bis sie ihn an den Ufern des Baches eingeholt hatte, der die Lichtung im Zentrum des Waldes durchfloss. An der großen Eiche gab es zwischen den riesigen Wurzeln des Baumes einen Eingang, der in eine Höhle führte. Und dorthin zog sich der Mensch nun zurück, und Córiel folgte ihm.
Es dauerte einen Augenblick, bis er sie bemerkt hatte. Dann richteten sich seine trüben Augen auf die Hochelbin, doch es kam ihr vor, als würden sie direkt durch sie hindurch blicken.
„Was wollt Ihr?“ murmelte er.
„Entschuldigt meine Aufdringlichkeit,“ sagte sie und kam sich in ihrer Neugierde sehr unhöflich vor. „Ich bin keine der Elben des Sternenwaldes, sondern stamme aus dem Westen. Mich bringt die Frage hierher, was einen Menschen an einen Ort wie diesen verschlagen hat.“
„Ich... erinnere mich nicht,“ erwiderte er leise. „Ist sie hier?“
„Wen meint Ihr?“
„Die, die mich aus dem Wasser zog. Daran erinnere ich mich noch gut. Blonde Haare, so wie Eure. Braune Augen, wie die eines jungen Rehs. Meine... meine Retterin.“
Córiel setzte sich vorsichtig neben ihn auf den weichen Erdboden, der überraschend warm war. „Man sagte mir, dass sie fortging, um einen Auftrag der Herrin auszuführen.“
„Die Herrin... Ich glaube, ich bat sie... ich bat sie, sich nach meiner Familie zu erkundigen. Entschuldigt... es ist alles ein wenig verschwommen. Manchmal habe ich alles klar und deutlich im Kopf, und manchmal... nichts.“
„Woran erinnert Ihr Euch?“
„Meine Heimat wurde angegriffen,“ erzählte er leise. „Da war ein... schwarzer Reiter auf schwarzem Ross, der dem Feindesheer voran ritt. Als die Stadt fiel... nein, als ihre Verteidiger einen närrischen Ausfall wagten, da sagte ich zu meinem Bruder... ich sagte zu ihm... er soll sich verstecken, bis ich ihn holen komme. Doch dann trieb uns die Schlacht auseinander und ich fand mich am Hafen wieder, wo... wo ein Boot lag. Und dort fand mich der Schwarze Reiter. Ich erinnere mich, ihm Widerstand geleistet zu haben, doch er überwältigte mich. Die Elben nennen es den Schwarzen Anhauch, wenn sie von meiner Krankheit sprechen. Jemand warf mich in das Boot und schnitt die Taue los, doch ich war schwer verwundet und verlor viel Blut. Der Strom nahm mich mit sich... zu ihr. Maranyá nennt die Herrin sie. Wird sie hierher zurückkehren?“
„Ich weiß es nicht,“ erwiderte Córiel, die der wirren Geschichte des Mannes nur schwer hatte folgen können. Sie fragte sich, ob er ihr nicht gerade einen Fiebertraum erzählt hatte. „Wie ist Euer Name?“ fragte sie.
„Ich bin Baldr,“ sagte er nach einem langen Moment des Schweigens. Und mehr wollte er nicht sagen, egal was sie auch versuchte. Also gab sie es schließlich auf und ließ Baldr in seiner Höhle ruhen.

Am nächsten Morgen erwachte Córiel in dem Baumhaus, das sie sich mit Jarbeorn hätte teilen sollen, doch der Beorninger hatte von Anfang an darauf bestanden, draußen zu schlafen. Córiel hatte nicht verstanden weshalb.
Sie stand auf und fand das Elbendorf in ungewöhnlichem Aufruhr. Mehr Elben als sonst liefen auf der großen Lichtung durcheinander, und schon bald fand Córiel den Grund für die Aufregung heraus. Neben der Sternenquelle war ein mächtiger Adler gelandet. Es handelte sich um einen alten Bekannten.
„Róvallír,“ sagte Córiel grüßend, als sie herangekommen war.
„Ich sehe, du befindest dich wieder in besserer Gesellschaft,“ erwiderte der Adler freundlich. „Ich fürchte jedoch, dass es nicht mehr lange so bleiben wird.“
Vom anderen Ende der Lichtung näherten sich Pallando und Tarásanë, die Herrin der Quelle. Sie wirkten nicht überrascht bei Róvallírs Anblick.
„Sei gegrüßt, gefiederter Gefährte und treuer Vasall des Windfürsten,“ sagte Pallando gut gelaunt. „Bringst du die erwarteten Nachrichten?“
„So ist es,“ antwortete der Adler. „Jene, in deren Schuld ich einst stand, ist auf dem Weg hierher und wird in wenigen Tagen eintreffen.“
„Ist sie alleine?“ fragte Tarásanë.
„Meine Augen haben keine Begleiter erspähen können.“
„Das sind gute Neuigkeiten,“ meinte Pallando. „Kommt, wir müssen alles für den Empfang vorbereiten.“
„Den Empfang?“ wiederholte Córiel verwundert.
„Sie kehrt nach Jahrtausenden endlich nach Hause zurück,“ sagte Tarásanë. „Und wir werden sie gebührend willkommen heißen.“
Córiel hatte das Gefühl, dass sie gar nichts mehr verstand. Sie fragte sich, was für einen seltsamen Plan Pallando mit der Herrin der Quelle da ausgeheckt hatte. Als sich alle Augen auf sie richteten, wurde ihr langsam klar, dass sie mehr als nur den Köder für Vaicenya spielen müssen würde...

Fine:
Am Rande des Elbenwaldes brandete ein Meer aus kniehohem Grasland gegen die uralten Baumstämme, das sich über den Großteil der umliegenden Gebiete erstreckte und sowohl Ebenen als auch Hügelland bedeckte. Ein sanfter Wind, der von Westen zu kommen schien, bewegte die Grashalme und erzeugte Wellen, die über das grüne Meer tanzten, das von der Mittagssonne in besonders lebhafte und kräftige Farben getaucht wurde. Es war ungewöhnlich warm für einen Novembertag, und die Trägheit des Mittags schien sich über die Natur gelegt zu haben. Es waren kaum Vögel zu hören und nur selten war eine Bewegung jenseits der begrasten Ebene zu sehen. Es war beinahe so, als würde der Wald selbst ein Mittagsschläfchen halten.
Melvendë stand am Ufer des Grasmeeres, unter den Schatten spendenden Baumkronen und genoss die angenehme Brise, die ihr über das Gesicht strich. Sie war barfuß und trug ein einfaches Gewand aus hellbraunem Stoff, das bei ihrem Volk keine Seltenheit war. Schultern, Unterarme und Unterschenkel ließ das Kleid frei. An Ort und Stelle gehalten wurde es von mehreren Ledergürteln, die um Melvendës Hüften gewickelt waren. Sie betrachtete die Wellen, die an ihr vorbeigeweht wurden und war froh über den Augenblick der Stille. So viel war in den letzten Wochen geschehen. Es tat gut, zumindest für einen Moment Ruhe und Frieden zu verspüren. Sie atmete bewusst langsam ein, und wieder aus. Schloss für mehrere Sekunden die Augen und lauschte auf das sanfte Rauschen der Brise, die die Grashalme bewegte. Atmete den würzigen Duft des Waldes ein, der hinter ihr aufragte. Und ihre Füße, die auf dem weichen Erboden ruhten, nahmen die leichten Erschütterungen wahr, die von fernen Fußstapfen verursacht wurden.
Sie kommt, dachte sie und öffnete langsam die Augen. Im Westen, inmitten der grünen Weite, die nur vom blauen Band des Flusses geteilt wurde, war eine Gestalt aufgetaucht, die sich ihren Weg durch das Grasmeer bahnte. Zielstrebig schritt sie voran, näher und näher kommend. Als sie Melvendë erkannte, verlangsamte sich ihr Schritt. Der silberne Stirnreif und die Halskette aus demselben Material blitzten im Sonnenlicht auf, als Vaicenya die letzten Meter zurücklegte; einen Ausdruck des Staunens im alterlosen Gesicht. Sie trug Reisekleidung aus schwarzem Stoff und darunter ein leichtes Kettenhemd, das an den Armen hervorlugte. Ihre Zwillingsschwerter hingen an beiden Seiten ihrer Taille und ihre Stiefel gingen bis zu den Knien. Sie hatte viele Meilen hinter sich und das sah man ihr auch an. Und doch erstrahlte sie trotz des Schmutzes der Straßen, als sie einen Schritt vor Melvendë stehen blieb.
Ehe Vaicenya etwas sagen konnte, trat Melvendë vor und umarmte die Heimkehrerin innig. „Willkommen zuhause,“ wisperte sie freudig. „Ich habe deine Ankunft erwartet.“ Sie verwendete das Tatyarin, wie sie es von Anbeginn der Zeit an getan hatte, und das ihr noch immer wunderbar leicht von der Zunge ging.
Vaicenya löste sich von ihr und musterte Melvendë mit einem Blick, in dem sich Freude mit Ungläubigkeit mischten. „Zuhause?“ wiederholte sie. „Dies ist nicht...“
„Unser Volk lebt hier, Vaicenya,“ erwiderte Melvendë freundlich. „Und jetzt, wo du hier bist, ist es wieder vollzählig.“
„Ich verstehe nicht,“ sagte Vaicenya verwirrt. „Was ist mit dir geschehen? Erinnerst du dich wieder an das, was einst war?“
Nun war es an Melvendë, Verwunderung zu zeigen. „Wovon sprichst du? Selbstverständlich erinnere ich mich. Ich weiß noch genau, wie du mich einst an den Wassern des Erwachen fandest, und wie unser gemeinsames Leben seinen Anfang nahm. Wie wir unser Volk fanden, und wie wir unser Leben in unserer Heimat begannen. Was ist dir zugestoßen auf deiner Fahrt gen Westen? Hast du herausgefunden, wohin die Drei Völker unter Leitung des Jägers des Westens gezogen sind?“
„Wie? Ich - die Drei Völker?“
„Vanyar, Noldor und Teleri nannte man sie, ehe sie aufbrachen. Du warst dabei, erinnerst du dich?“
„Natürlich erinnere ich mich, aber das war - das war vor vielen Zeitaltern!“
Verständnisvoll legte Melvendë ihre Hand an Vaicenyas Wange. „Die Reise muss dich mehr mitgenommen haben, als dir klar ist. Ich glaube, du brauchst jetzt Ruhe und Rast. Komm mit mir, ich werde gut für dich sorgen.“
Sie nahm Vaicenyas Hand und zog daran, doch die Heimgekehrte bewegte sich nicht. „Ich kenne diesen Ort nicht. Zwar erscheint mir alles vertraut, aber... etwas stimmt nicht. Du hast dich offensichtlich an alles erinnert, und doch tust du so, als wären wir nie getrennt worden. Als wärst du mir nie genommen worden.“
„Genommen worden?“ wiederholte Melvendë. „Ich war stets an deiner Seite, Vaicenya.“ Sie ließ Vaicenyas Hand los und dreht sich zu ihr um. „Hattest du erneut den Traum, in dem du meinen Tod mitansehen musstest? Der dich zu dieser Irrfahrt nach Westen bewegt hat?“
„Ein... Traum?“ fragte Vaicenya langsam.
„Hast du etwa jene Nacht vergessen, in der du schreiend erwachtest und so verstört warst, dass du für viele Stunden kein verständliches Wort von dir geben konntest? Als es dir schließlich gelang, zu sprechen, sagtest du, du hättest von meinem Ende geträumt. Und dass du alles tun würdest, um zu verhindern, dass dein Traum in Erfüllung gehen würde? Und dass du deswegen nach Westen gehen müsstest? Es ist nicht mehr als fünf Monate her, Vaicenya.“
„Fünf... Monate...“ wiederholte die Heimkehrerin.
Behutsam legte Melvendë einen Arm um Vaicenyas Hüfte und führte sie sanft in den Wald hinein. „Ich weiß wirklich nicht, was dir auf deiner Fahrt widerfahren ist, aber es scheint, als wüsstest du nicht mehr, was Wahrheit und was Traum ist,“ sagte sie. „Sieh dich um, Vaicenya. Und sieh mich an. Dieser Ort - unsere Heimat - ist real. Ich bin real. Du träumst nicht länger. Ich bin am Leben und alles ist gut.“
„Dieser Ort... vertraut, und wieder nicht vertraut... Und doch hatte ich gar nicht die Absicht, heimzukehren,“ murmelte Vaicenya. „Ich war auf der Suche nach dir, nachdem ich dich erneut verloren glaubte... geraubt von Verrätern und Schurken in der Stunde meines Triumphes, als ich gerade deine Erinnerungen wiederhergestellt hatte...“
„Ich habe meine Erinnerungen nie verloren,“ stellte Melvendë klar. „Ich war immer hier, und habe auf deine Rückkehr gewartet. Höre nicht länger auf die Lügen des Traumes. Konzentriere dich auf das, was wahr ist.“
„Ich will dir ja glauben, meine Liebe,“ erwiderte Vaicenya. „Und doch sind Jahrtausende vergangen seitdem ich mich so daheim gefühlt habe wie jetzt.“
„Für mich waren es nur wenige Monate.“
„Kann es wirklich wahr sein? Waren all die Zeitalter des Schmerzes nur ein Traum?“
„So scheint es zumindest... es sei denn, du hast vor, erneut aufzuwachen und eine ganz andere Realität vorzufinden. Glaubst du mir immer noch nicht? Ich bin hier, und ich bin bei dir.“
Vaicenya drückte Melvendës Arm, während sie tiefer in den Elbenwald vordrangen. Sie gelangten in die bewohnten Bereiche, und trafen auf andere Tatyar, die ganz ähnliche Bekleidung wie Melvendë trugen. Die Elben grüßten sie freundlich, gaben ihnen jedoch den Freiraum, ungestört miteinander zu sprechen. Niemand mischte sich in ihre Unterhaltung ein.
„Es wirkt alles genau wie damals,“ staunte Vaicenya. „Unser Volk... unsere Heimat...“
„Wie ich bereits sagte - du bist zuhause.“
Vaicenya schien einen Gedanken zu haben und blieb stehen. „Aber... mein Sohn... wo ist Níthrar?“
„Du hast keinen Sohn, das ist vollkommen unmöglich. Du warst nie schwanger, Vaicenya. Dieser... Níthrar... ist ein Produkt deiner Einbildung, so schmerzhaft das auch für dich sein muss.“
„Ich... weiß nicht mehr, was ich glauben soll,“ wisperte Vaicenya. „Ich erinnere mich an seinen Vater, an seine Geburt... an seine Flucht nach Süden. Ich habe ihn verloren, so wie ich dich einst verlor.“ Eine tiefe Traurigkeit huschte über ihr Gesicht und sie blickte zu Boden.
„Aber du hast mich nicht verloren. Ich bin hier, und du bist zuhause. Sieh nur - Tarásanë ist hier, um dich zu begrüßen.“
Als Melvendë diesen Namen nannte, blickte Vaicenya auf. Nur wenige Schritte entfernt wartete Tarásanë auf sie, einen schüchternen Blick im Gesicht.
„Kann es wirklich wahr sein?“
„Geh schon zu ihr. Sie hat dich ebenso sehr vermisst, wie ich.“
Vorsichtig stolperte Vaicenya auf Tarásanë zu und blieb einen Schritt von ihr entfernt stehen. Das schüchterne Lächeln auf dem Gesicht der jüngeren Elbin strahlte vor Wärme und Wiedersehensfreude. „Du bist zurückgekehrt,“ sagte Tarásanë leise.
„Ich... dachte nicht, dich jemals wiederzusehen, Kleine,“ brachte Vaicenya hervor. Melvendë strahlte als sie den Spitznamen hörte, den Vaicenya der Elbin, die sie damals bei sich aufgenommen hatte, gegeben hatte. Es war ein sehr gutes Zeichen, dass sie sich daran erinnerte.
„Willkommen zuhause,“ sagte Tarásanë fröhlich und machte einen Schritt auf Vaicenya zu. Sie umarmten einander und Melvendë hörte Vaicenya sagen: „Ich glaube... du hast recht. Ihr beide habt recht. Ich bin... zuhause.“
Die Zeit schien für einen Augenblick still zu stehen. Dann verschwand Tarásanës Lächeln und ihre Miene wurde hart. „Du bist genau dort, wo wir dich haben wollten,“ sagte sie noch, während ihre Hand bereits empor schoss. Einen präzisen Schlag gegen Vaicenyas Schläfe führte sie, und die Dunkelelbin brach bewusstlos auf dem weichen Boden der Waldlichtung zusammen.

Pallando trat zwischen zwei Baumstämmen hervor und ließ seinen Stab sinken. Der Zauber, den er über den gesamten Wald gelegt hatte, verblasste. Córiel fühlte sich, als wäre der Nebel, der an den Rändern ihres Sichtfelds gedräut hatte, von einem starken Wind davongeweht worden und sie konnte endlich wieder klar sehen. Sie war wieder ganz sie selbst.
Hinter dem Zauberer betrat Jarbeorn die Lichtung und klatschte langsam in die Hände. „Eine meisterhafte Vorstellung, meine Damen,“ lobte er frech. „Ihr habt sie wirklich glauben lassen, dass sie in die Wälder ihrer urzeitlichen Heimat zu ihrem Volk zurückgekehrt ist.“
„Bis zu einem gewissen Grad entspricht dies ja auch der Wahrheit,“ sagte die Herrin der Quelle, die gerade Vaicenyas Puls prüfte. „Dies ist die Heimat der Tatyar, die jenseits des Meeres verblieben sind, und Vaicenya war einst eine von uns.“
„Ich bin froh, dass euer Plan aufgegangen ist,“ atmete Córiel auf. Während der gesamten Scharade hatte sie keine Unsicherheit verspürt - dank der Zauber, die Pallando gewirkt hatte - doch in den Stunden davor war sie beinahe wahnsinnig vor Anspannung geworden. Sie wusste genau, wie gefährlich Vaicenya war. Und sie wusste, welches Risiko sie eingegangen war. Die Dunkelelbin einzulullen war zwar brilliant, doch wenn auch nur ein winziger Teil des Plans fehlgeschlagen wäre, hätte Vaicenya vermutlich ein Blutbad unter den Elben des Sternenwaldes angerichtet.
„Was wird nun mit ihr geschehen?“ fragte Jarbeorn.
„Sie wird schlafen - viele Stunden lang. Und wenn wir Glück haben, wird sie dabei ihren Hass vergessen. Solange Melvendë am Leben ist, hat sie keinen Grund mehr dafür,“ erklärte Tarásanë. „Wir werden sie dazu bringen, sich uns anzuschließen, wenn dies möglich ist.“
„Und wenn nicht?“ fragte Pallando.
Die Herrin der Quelle musterte den Zauberer mit einem strengen Blick. „Du weißt, dass ich alles für den Schutz und die Sicherheit meines Volkes tun würde. Wenn sie sich entschließt, weiterhin eine Bedrohung für uns zu sein, werde ich nicht zögern, dafür zu sorgen, dass sie niemals mehr jemanden verletzen kann.“
Córiel hatte eine ziemlich genaue Vorstellung davon, was Tarásanë tun würde. Und trotz allem, was Vaicenya getan hatte, stellte sie fest, dass sie der Dunkelelbin nicht den Tod wünschte. Daher hoffte sie, dass alles gut werden würde, wenn Vaicenya erwachte.
„Ich werde heute Nacht über unseren Gast wachen,“ erklärte Tarásanë. „Morgen werden wir sehen, wie ihre Entscheidung aussieht. Sorgt euch nicht darum. Jetzt, wo Vaicenya in meiner Obhut ist, ist die Gefahr vorüber. Geht, und seid unbeschwert an diesem Tag und Abend.“
Sie gab ihren Leuten ein Zeichen, und zwei junge Elben hoben die bewusstlose Vaicenya auf und trugen sie in Richtung der Quelle, an der Tarásanë ihre Unterkunft hatte. Sie ließen Córiel und Jarbeorn auf der Lichtung stehen.
„Tja, was sagt man dazu,“ meinte der Beorninger. „Ich will ehrlich mit dir sein, Stikke - ich hätte nicht gedacht, dass es so glatt laufen würde. Ich hatte die gesamte Zeit über meine Axt griffbereit neben mir liegen, während ich euch aus dem Gebüsch beobachtet habe.“
„Nicht sehr schicklich für einen Mann in deinem Alter,“ erwiderte Córiel mit einem leichten Grinsen.
„Ach bitte, Stikke. Du weißt genau, wie ich es gemeint habe.“
„Ist das so? Ich bin mir meiner äußerlichen Anziehungskraft durchaus bewusst, Freund Jarbeorn.“
Jarbeorn lachte schallend. „Mach dir bloß keine Hoffnungen, Blondchen. Ich werde mich schon nicht in dich verlieben, dazu bist du viel zu dürr, und gibst zu viele Widerworte.“
Und das erste Mal seit langer Zeit konnte Córiel unbeschwert mit ihm lachen.

Fine:
Der Nachmittag verging ohne weitere besondere Vorkommnisse. Vaicenya schlief friedlich in der Obhut der Herrin der Quelle, während Pallando mit den Elben des Sternenwaldes sprach und Geschichten von seinen Fahrten in Ost und West zum Besten gab. Eine Zeit lang hörte Córiel ihm aufmerksam zu, doch als die Sonne zu sinken begann, merkte sie, dass sie hungrig wurde. Also machte sie sich auf die Suche nach Jarbeorn, der einige Stunden zuvor verkündet hatte, er wolle an den Ufern des Carnen nach Fischen jagen gehen.

Die Spur des Beorningers war leicht zu finden gewesen. Einem großen Trampeltier gleich bahnte er sich seinen Weg durch Wald und Unterholz, ohne große Rücksicht auf die Pflanzen zu geben, die sich ihm in den Weg stellten. Das hohe Gras jenseits des Sternenwaldes war geprägt von einer breiten Spur aus plattgetretenem Grün, der Córiel in einer geraden Linie bis zum Carnen-Fluss folgen konnte. Und dort fand sie Jarbeorn vor, der breitbeinig auf einem großen Felsen stand, einen langen, angespitzten Stock in der Hand. Der Beorninger spähte aufmerksam in das klare, rötlich schimmernde Wasser des Flusses, geduldig auf Bewegungen auf dem Grund des Gewässers wartend. Offensichtlich hatte er bereits einigen Jagderfolg gehabt, denn hinter ihm lagen ein Dutzend Fische in der schwindenden Abendsonne auf dem aufgewärmten Stein des Felsens.
Noch ehe Córiel ganz herangekommen war, schoss der Arm des Beorningers vor und die Spitze seines provisorischen Jagdspeeres durchdrang das Wasser mit Wucht, dass es nur so spritzte. Triumphierend riss Jarbeorn die Waffe wieder in die Höhe, einen zappelnden Fisch daran baumelnd.
Córiel pfiff anerkennend und stellte sich neben den Felsen, von dem Jarbeorn nun heruntersprang.
„Eine recht ansehnliche Ausbeute,“ lobte die Hochelbin.
„Ach, das war kein Kunstwerk, Stikke. Sieh nur - der Fluss wimmelt nur so von diesen trägen Gesellen. Diese Fische haben rein gar nichts mit den flinken Burschen gemein, die in den Gewässern meiner Heimat rings um den Carrock leben. Um Fische aus dem Anduin zu fangen, muss man schnell und geschickt sein. Diese hier hingegen... die machen es einem geradezu leicht.“
Córiel sah hin und erkannte, dass Jarbeorn Recht hatte. Unter der Wasseroberfläche des Carnen tummelten sich eine große Zahl silbrig geschuppter Fische, die es nicht sonderlich eilig zu haben schienen. Selbst ein hektisches Winken mit der Hand konnte die Flussbewohner nicht in Aufruhr versetzen. Sie schwammen in aller Ruhe weiter dahin, ließen sich teilweise sogar einfach von der gemächlichen Strömung des Flusses dahin tragen.
„Was glaubst du, woran das liegt?“ fragte Córiel interessiert.
„Hm,“ brummte Jarbeorn, während er sich daran machte, seine Beute in einen einfachen Leinensack zu verstauen. „Vermutlich kommt es daher, dass in dieser Gegend keine oder nur sehr wenige Leute leben. Die Fische sind es wohl einfach nicht gewöhnt, dass jemand Jagd auf sie macht.“
Córiel kletterte auf den großen Felsen, auf dem Jarbeorn gestanden hatte und ließ die Beine in Richtung des Carnen herab baumeln. Einige Momente später gesellte sich der Beorninger zu ihr, den Sack mit dem frisch gefangenen Fischen lässig über die breite Schulter geworfen. Gemeinsam sahen sie dabei zu, wie die Sonne über den Ebenen westlich des Flusses tiefer und tiefer sank, die Wolken und den Himmel in faszinierende Gelb- und Rottöne einfärbend.
Eine ganze Weile schwiegen sie, dann ergriff Jarbeorn erneut das Wort.
„Weißt du, Stikke, ein wenig erinnerst du mich an meine Schwester,“ sagte er mit einem seltsamen Unterton.
„Wie meinst du das?“ fragte die Hochelbin.
„Du und Jekka seid euch ähnlich darin, dass ihr immer wieder behauptet, ihr kämet ohne meine Hilfe zurecht, nur um dann stets festzustellen, dass ich euch schon wieder den Tag gerettet habe.“
Ehe sie darauf antworten konnte, war der Beorninger bereits in schallendes Gelächter ausgebrochen, wie es seine unverwechselbare Art war.
„Ich glaube, ich würde Jekka sehr gerne einmal kennenlernen,“ hielt Córiel dagegen, nachdem Jarbeorn sich wieder etwas beruhigt hatte. „Mir scheint, sie ist ein sehr aufgewecktes Mädchen, wenn sie schon ihr ganzes Leben lang mit jemandem wie dir fertig geworden ist.“
„Ha! Aufgeweckt, na das kannst du laut sagen!“ prustete Jarbeorn. „Sie würde dir gefallen, das weiß ich genau. Wenn wir nach Rohan zurückkehren, stelle ich sie dir vor... wenn mein Vater seine Erlaubnis gibt.“
Córiel legte den Kopf leicht schief und fragte: „Dein Vater muss seine Erlaubnis dafür geben?“
„Er ist der Häuptling meines Volkes, und seine einzige Tochter ist für ihn natürlich etwas ganz Besonderes,“ meinte Jarbeorn, der mit diesem Fakt nicht sonderlich zufrieden zu sein schien. „Nur den wenigsten Fremden ist es gestattet, mit Jekka zu sprechen. Seitdem wir unsere Heimat verlassen haben, lässt er sie kaum noch aus den Augen.“
„Nun, dann hoffe ich, einen guten ersten Eindruck bei ihm zu hinterlassen, wenn es soweit ist,“ sagte Córiel.
Jarbeorn blieb für mehrere Minuten still, ehe er erneut zu sprechen begann.
„Von meiner Familie zu sprechen hat mich nachdenklich gemacht, Stikke. Denkst du, wir könnten tatsächlich bald nach Rohan zurückkehren?“
„Ich weiß es nicht, Jarbeorn. Vaicenya mag für den Moment außer Gefecht sein, aber solange wir nicht wissen, was sie tun wird, wenn sie erwacht, denke ich nicht, dass es klug wäre, einfach zu gehen. Sie würde uns nur nach Rohan folgen und dort ihr Unheil anrichten. Nein, solange wir nicht sicher wissen, was mit ihr geschehen ist, müssen wir uns in Geduld üben.“
„Geduld! Erneut sucht sie mich heim, mein ältester und grausamster Feind!“ rief Jarbeorn und reckte theatralisch eine Faust gen Himmel.
Córiel kicherte bei dem Anblick. „Komm schon, du übergroßer Bettvorleger. Lass uns die Fische braten, ehe sie noch schlecht werden.“

Nach einem ausgedehnten Abendessen, während dessen Verlauf die Sonne untergegangen und Mond und Sterne aufgegangen waren, machten sich Elbin und Beorninger auf den Rückweg zum Sternenwald. Auf der Lichtung der Quelle trafen sie auf Pallando und Tarásanë, die sich leise unterhielten. Als die beiden Córiel und Jarbeorn erblickten, kamen sie rasch herüber.
„Vaicenya schläft noch immer, doch ihr Zustand hat sich seit dem Untergang der Sonne verändert,“ erklärte die Herrin der Quelle. „Sie wirft sich im Schlafe unruhig hin und her und gibt immer wieder einzelne Worte in einer mir unverständlichen Sprache von sich. Eines davon wiederholte sie öfter als alle anderen...“
„Níthrar,“ ergänzte Pallando. „Es klingt für mich wie ein Name. Könnt ihr damit vielleicht etwas anfangen?“
Córiel und Jarbeorn tauschten einen Blick aus. „Níthrar ist Vaicenyas Sohn,“ erklärte die Hochelbin rasch. „Wir befreiten ihn einst aus der Gefangenschaft jener Orks, die unter dem Befehl seiner Mutter standen und die inzwischen nach Eregion marschiert sind. Er ging mit uns bis nach Imladris, wo er sich meines Wissens noch immer aufhält.“
„Also hatte sie tatsächlich ein Kind bekommen,“ murmelte Tarásanë mehr zu sich selbst als zu ihren Gesprächspartnern. „Interessant. Ich frage mich, ob unser guter Freund Pallando vielleicht etwas damit zu tun hat, dass sich ihr Schlafverhalten so rapide geändert hat.“
Pallando legte betroffen die linke Hand auf sein Herz und sagte: „Deine Anschuldigungen verletzen mich, Tarásanë. Ich würde mich niemals in deine Angelegenheiten einmischen oder gar jemanden, der sich in deiner Obhut befindet, mit einem Zauberbann belegen.“
Anstatt einer Antwort zog die Herrin der Quelle nur eine Augenbraue in die Höhe, einen zweifelnden Ausdruck im Gesicht. Es war offensichtlich, dass in der Vergangenheit bereits Dinge geschehen waren, die Pallandos Aussagen Lügen straften.
„Wie dem auch sein,“ sagte Tarásanë, nachdem der Moment verstrichen war. „Ihr sagtet, dieser Níthrar hält sich in Imladris auf?“
Jarbeorn nickte. „Er hatte vor, Meister Elronds Bibliothek für Nachforschungen zu nutzen.“
„Gut. Dann werden wir mit ihm sprechen. Kommt mit mir.“ Sie ging in Richtung der Quelle davon, gefolgt von Pallando, Córiel und Jarbeorn.
An den von Sternen beschienenen Wassern der geheimnisvollen Quelle warteten bereits zwei bekannte Gesichter auf die Gruppe. Faryon und Tórdris, die beiden jungen Elben, die sie bei ihrer Ankunft im Sternenwald in Empfang genommen hatten, standen regungslos zu beiden Seiten der Quelle und trugen lange graue Umhänge, die jeweils von einer Spange in der Form eines Sterns zusammengehalten wurden.
„Ich benötige hierfür deine Hilfe, alter Freund,“ sagte Tarásanë zu Pallando, der gemeinsam mit ihr ans Ufer des Wassers trat. „Wie auch Córiel und Jarbeorn warst du kürzlich in Imladris und kennst den Herrn jener Zuflucht. Hilf mir dabei, die Sicht der Quelle auf ihn auszurichten. Beschreibe ihn mir.“
„Du suchst Meister Elrond, der auch der Halbelb genannt wird. Schwarz wie die Flügel eines Raben ist sein Haar, und alterlos ist sein Antlitz. Seine Augen blicken zurück zu den Sternen des Ersten Zeitalters und sein Körper ist sowohl der eines Kriegers als auch der eines Gelehrten. Als ich ihn zuletzt sah, trug er eine edle Robe aus hellbraunem Elbenstoff sowie einen silbernen Reif, der sein Haupt zierte. Und an seinem Finger ruht stets einer der großen Drei: Vilya, der Ring der Luft.“
Tarásanë blickte auf das Wasser der Quelle herab. „Dieser Ring von dem du sprichst. Wie ist er beschaffen?“ bat sie den Zauberer.
„Vilya ist gefertigt aus reinem Gold, in den ein prachtvoller Saphir eingefasst ist. Seine Form ist filigran und anmutig, besitzt dabei jedoch große Kraft. Vor den Augen der meisten bleibt der Ring verborgen. Nur jene, die vom Schicksal behaftet sind, können den Luftigen erspähen.“
„Nicht leichtfertig vertraute ich dir diese Geheimnisse an, o Jäger Oromës,“ erklang eine körperlose, ferne Stimme. Erst nach und nach erkannte Córiel, dass es tatsächlich Meister Elrond selbst war, den sie hörte. Die Quelle zeigte noch immer nur die Sterne des Himmels über ihr, und das Wasser blieb dunkel. Und doch bestand kein Zweifel - der Herr von Imladris hatte Pallandos Worte gehört und dem Zauberer geantwortet.
Pallandos Erwiderung bestand aus einem amüsierten Lächeln. „Nun, Herr des letzten heimeligen Hauses - sei dir gewiss, dass dies der erste Anlass ist, zu dem ich das Kleinod an deinem Finger beschrieben und seine wahre Natur enthüllt habe. Und dies aus gutem Grund.“
„Dies sind ungewöhnliche Zeiten, und es sind bereits ungewöhnlichere Dinge geschehen. Ich bin mir sicher, du würdest mich nicht auf diese Art und Weise kontaktieren, wenn es nicht wichtig wäre.“
„Wie wichtig es ist, wird sich noch zeigen,“ antwortete Pallando. „Ich habe nur eine einzige Frage. Befindet sich der Avarin-Elb Níthrar noch unter deinen Gästen, der einst mit Córiel und Jarbeorn in dein Haus kam?“
Elrond schwieg für einen langen Augenblick. „Ich verstehe zwar weder die Umstände dieser Frage noch die Art und Weise, auf die wir uns hier unterhalten, doch ich vertraue darauf, dass du mir bei unserer nächsten Begegnung alles erklären wirst. Zu deiner Frage sei nur dieses gesagt: Níthrar brach nur wenige Tage nach Córiels Abreise gen Osten auf, nachdem er in meiner Bibliothek einen verborgenen Hinweis auf den Verbleib des Volkes seiner Mutter gefunden hatte. Sein Abschied von Imladris war kühl und er wirkte auf mich wie von einem innerem Konflikt zerfressen. Ich konnte nicht sehen, wohin ihn sein Weg jenseits der Hithaeglir führte.“
„Das war alles, was ich wissen wollte, mein Freund,“ bedankte Pallando sich. „Ich kehre zu dir zurück, sobald ich kann. Es steht noch ein Bericht über Angmar, den eisigen Norden, das Tal des Anduin und den Goldenen Wald aus. Erwarte mein Eintreffen in wenigen Wochen.“
„Sichere Wege, Freund Zauberer.“

Tarásanë und Pallando traten einige Schritte von der Quelle weg. Beide blickten nachdenklich drein.
„Ich hatte erwartet, dass Níthrar noch immer in Bruchtal sei,“ sagte Jarbeorn und sprach damit Córiels Gedanken aus.
„Irgendetwas scheinen wir noch zu übersehen,“ überlegte Pallando. „Ich habe das starke Gefühl, dass seine hastige Abreise aus Imladris in Verbindung zu den Ereignissen steht, die Vaicenya hierher gebracht haben.“
„Herrin,“ sagte ein Elb, der ungesehen hinzugetreten war. „Euer Gast ist erwacht.“
Raschen Schrittes ging Tarásanë über die Lichtung, gefolgt von Jarbeorn, Córiel und Pallando. Vaicenya war in einer der wenigen hölzernen Hütten untergebracht worden, die nicht in den Baumkronen erbaut worden waren. Als die Gruppe eilig herein trat, blickte die Dunkelelbin auf, die sich auf ihrem Schlaflager gerade halb aufgerichtet hatte.
„Melvendë!“ rief sie und Córiel trat vor, vorsichtig und mit fragendem Blick im Gesicht.
„Was ist geschehen, Vaicenya? Wie...“
„Ich habe Níthrar gesehen,“ stieß die Dunkelelbin hervor, und in ihrem Antlitz blitzte zum ersten Mail, seit Córiel sie kannte, echte Angst auf. „Er ist in Gefahr!“
„Wie meinst du das? Was hast du gesehen?“
Vaicenya blickte betroffen beiseite. „Spar dir dein falsches Mitleid, Córiel. Ich habe deine Täuschung durchschaut. Es kümmert dich nicht, ob mein Sohn zu Schaden kommt.“
„Das ist nicht wahr. Ich habe ihn vor den Orks gerettet, die unter deinem Kommando standen.“
Vaicenya schien - so untypisch für sie das auch sein mochte - den Tränen nahe zu sein. „Ich habe ihn im Stich gelassen,“ brachte sie beinahe unhörbar hervor. „Und jetzt ist er an einen gefahrvollen Ort gegangen, weil er nach all den Jahren beschlossen hat, sich der Vergangenheit zu stellen.“
Córiel kniete sich neben die Dunkelelbin, während sich ihre Begleiter im Hintergrund hielten. „Ich habe dich nicht angelogen als ich sagte, dass ich mich an alles erinnere,“ sagte sie. „Ich erinnere mich an dich, Vaicenya. Ich weiß, wer du einst warst. Die Frau, die ich damals kannte, würde ihren Sohn nicht im Stich lassen. Hilf mir, ihn zu finden, und wir retten ihn gemeinsam.“
Vaicenya blickte auf, einen feinen Glanz in den Augen. „Nach allem, was geschehen ist... siehst du mich noch immer so?“
Vorsichtig, zaghaft, und doch entschlossen nickte Córiel. „Komm. Was geschehen ist, kann nicht ungeschehen gemacht werden. Doch Níthrar ist dein Sohn, und er braucht dich jetzt. Sag mir, was du gesehen hast.“
Die Dunkelelbin seufzte tief, dann setzte sie sich vollständig auf. „Ich sah in den finsteren Träumen, die ich seit meiner Ankunft hier hatte, wie er nach Osten ging. Er kehrt an den Ort zurück, an dem er sich einst von mir lossagte. Meine alte Heimat... unsere alte Heimat. Böses geht dort nun vor sich, und ein namenloser Schrecken liegt über dem Land. Er geriet in den Schatten und ich konnte ihn nicht mehr sehen.“
„Dann weißt du, was du zu tun hast,“ sagte Córiel.
„Ich... muss ihn finden.“
„Und ich komme mit dir.“
Jarbeorn mischte sich ein und sagte: „Und ich ebenfalls, um euch beiden im Auge zu behalten.“
„So einfach werde ich dich wohl nicht los, hm?“ hielt Córiel dagegen.
„Entweder wir kehren gemeinsam nach Rohan zurück, oder gar nicht,“ erwiderte der Beorninger mit einem schiefen Lächeln.
„Ich wünsche euch viel Freude und natürlich nichts als Erfolg auf dieser Fahrt,“ sagte Pallando geradezu fröhlich. „Das wird sehr gut für euch sein. Vaicenya wird vielleicht etwas Manieren lernen, und ihr werdet einem der großen Geheimnisse der vergangenen Zeitalter auf die Spur kommen.“
„Und welches wäre das?“ fragte Jarbeorn.
„Es gab einst einen Ort namens Cuívienen,“ erklärte der Zauberer. „Dort erwachten die ersten Elben. Doch nach dem Aufbruch der drei Völker verschwand er von sämtlichen Karten. Ich bin mir sicher, dass Níthrar dorthin unterwegs ist. Also geht, und seht zu, dass ihr ihn rechtzeitig einholt!“
Sie verließen die Hütte. Tarásanë, die bislang noch kein Wort gesagt hatte, bedachte Vaicenya nur mit einem unheilvollen Blick, ehe sie schweigend davon ging. Rasch suchten sie also ihr Gepäck zusammen und machten sich abreisefertig... ohne dabei die Dunkelelbin aus den Augen zu lassen. Noch immer war nicht ganz klar, wie Vaicenya sich nun verhalten würde. Die Täuschung der Tatyar hatte sie eindeutig durchschaut, doch hatte sie bislang keine feindlichen Absichten gezeigt. Ihr Fokus lag nun auf ihrem Sohn, so wie es Córiel erschien.
Zu dritt verließen sie den Sternenwald, nachdem sie sich von Pallando verabschiedet hatten. Vaicenya ging voraus, den direkten Weg nach Osten einschlagend.


Córiel, Jarbeorn und Vaicenya nach Osten

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