Das Schicksal Mittelerdes (RPG) > Weit-Harad
Arzâyan
Eandril:
Edrahil sah den Kriegern der Temne, der Limba und der Mende zu, wie sie über das von Leichen übersäte Schlachtfeld schritten - die eigenen Gefallenen davon trugen um sie zu beklagen und nach der Art ihres jeweiligen Stammes zu beklagen, und die Leichen von Raes Männern plünderten. Unter dem wasserfallartigen Regenguss, der zu Beginn der Schlacht losgebrochen war, hatten die Füße der Kämpfenden und die Hufe der Pferde das Schlachtfeld in eine einzige Schlammwüste verwandelt, doch niemand beklagte sich, hatte dieser Regen doch den großen Sieg, den die Stämme errungen hatten, erst möglich gemacht.
Nicht allzu viele Tage waren vergangen, seit Edrahil und Eayan von Artanis geführt bei den Temne eingetroffen waren, doch viel war seitdem geschehen. Die Versammlung der Stämme war eine laute und beinahe blutige Angelegenheit gewesen, zu der Edrahil dank Artanis' Übersetzungen einiges über die Gesellschaft und die Eigenarten der Stämme des tiefen Süden gelernt hatte. Schließlich war es Artanis gelungen, die Anführer der drei Stämme zu überzeugen, gemeinsam gegen Raes Herrschaft vorzugehen, obwohl sie schon kurz davor gewesen waren, stattdessen gegeneinander Krieg zu führen. Diese Wendung war auch dringend nötig gewesen, denn Rae war gleich mit einem ganzen Heer aus Zôrdakar ausgerückt, um ihre entflohenen Gefangenen und ihr verschwundenes Erbstück wieder zu erlangen. Dabei hatte sie ein Dorf der Mende passiert, deren Bewohner sich geweigert hatten, ihrem Heer ihre Getreidevorräte als Proviant zu verlassen. Rae hatte nicht lange gezögert, das Getreide gewaltsam zu nehmen, und zusätzlich jeden männlichen Bewohner, der älter als zehn Jahre gewesen war, hinrichten lassen. Wenn Edrahil im Nachhinein darüber nachdachte, hatte sie ihnen damit einen großen Gefallen getan, denn vorher waren die Mende bestenfalls wankelmütige Verbündete gewesen, trotz Artanis' Reden.
Die Heere waren am nördlichen Rand der Savanne aufeinander getroffen, und beim Anblick der feindlichen Streitmacht hatte Edrahil schwarz gesehen. Zwar führte Rae größtenteils Söldner ins Feld, auf deren Treue man sich normalerweise nicht allzu sehr verlassen konnte, doch sie waren gut gerüstet, kampferprobt und außerdem größtenteils beritten gewesen. Doch der Regen war ihre Rettung gewesen. Auf dem nassen, immer schlammiger werdenden Gelände waren die Pferde ausgerutscht und gestürzt, und der beständige Regen hatte die Bogensehnen von Raes Bogenschützen bereits nach kurzer Zeit unbrauchbar gemacht. Im Gegensatz dazu tanzten die leicht gerüsteten, meist nur mit Speer und einem länglichen, ovalen Schild bewaffneten Stammeskrieger geradezu virtuos durch den Regen, und obwohl die Heere sich zahlenmäßig geglichen hatten, war die Schlacht nach nicht einmal zwei Stunden entschieden gewesen. Rae hatte sich, obwohl ihre Verluste nicht allzu schwer gewesen waren, mit ihren Söldnern nach Zôrdakar zurückgezogen, doch Abrazîr war sehr zu Edrahils Befriedigung lebendig und unversehrt gefangen genommen worden, nachdem Artanis ihn im Zweikampf besiegt hatte.
Wie aus dem Boden gestampft stand plötzlich Eayan neben ihm, ein längliches Ledergefäß in den Händen. Edrahil lächelte. "Wie ich es gedacht hatte?" Eayan erwiderte das Lächeln ein wenig überlegen. "Genau so, wie ich es gedacht hatte." Noch vor der Schlacht war Eayan nach Zôrdakar aufgebrochen - sobald die Nachricht eingetroffen war, dass Rae und ihre Männer die Stadt verlassen hatten. Er hatte sich in den Palast schleichen sollen um nach Beweisen für Raes Bündnis mit Mordor zu suchen. Beweise, die Edrahil in Raes eigenem Gewahrsam vermutet hatte, Eayan aber eher in dem ihres treuen Gefolgsmannes Breyyad.
Edrahil zuckte mit den Schultern. "Nun, man kann nicht immer Recht haben. Über den Inhalt dieser Dokumente würde ich allerdings trotzdem gerne Recht behalten." Eayans Gesicht wurde ernst. "Ich konnte nicht alles entziffern, weil einiges verschlüsselt ist. Aber wie es aussieht, bekommt Rae Geld und Waffen aus Mordor, um ihr Reich zu errichten." Edrahil hatte die Lederröhre an sich genommen und darin befindlichen Dokumente überflogen. "Und als Gegenleistung sollte sie, sobald sie genug Männer gesammelt hätte, nach Norden marschieren und Qúsay in die Flanke fallen. Ah, dieses Dokument ist älter - noch bevor der Krieg offen ausgebrochen ist. Sie sollte ihre Söldner vor allem in Gondor und Rohan anheuern, um diese Länder zu schwächen." Er schüttelte den Kopf. "Ein ausgeklügelter Plan. Ich muss sagen, es ist mir ein wenig peinlich, das nicht bemerkt zu haben."
"Das sollte es auch sein", gab Eayan ohne das geringste Zeichen von Mitgefühl zurück. "Und jetzt? Ich hoffe, ihr habt diesen Abrazîr geschnappt, ohne ihm schon allzu viel in der Schlacht abzuhacken?"
Abrazîr war mit dem Rücken an einen der niedrigen Bäume, die in dieser Gegend vereinzelt wuchsen, gefesselt. Ihm gegenüber saß Artanis, die Beine im Schneidersitz verschränkt und betrachtete ihn unablässig, aber stumm, als wollte er etwas Verborgenes ergründen. Der goldene Schild und Speer, die er in der Schlacht so überlegen geführt hatte, lagen neben ihm. Beide, der Elb und sein Gefangener, blickten auf, als Edrahil und Eayan zu ihnen traten. Eayan spielte ein wenig gelangweilt mit einem hässlich gebogenen Dolch, und als Abrazîrs Blick darauf fiel, biss er sichtlich die Zähne zusammen und schien sich für das Kommende zu wappnen. Edrahil hob die Hand.
"Ihr habt nichts zu befürchten, Abrazîr. Ich denke, wir werden es nicht nötig haben, weiter Gewalt anzuwenden, um euch von der Wahrheit zu überzeugen." Abrazîrs Augen weiteten sich, denn er schien augenblicklich zu begreifen. "Das heißt... es ist wahr, was ihr behauptet habt. Taraezaphel hat ein Bündnis mit Mordor geschlossen." Seine Stimme zitterte kein bisschen, doch Edrahil sah ihm an den Augen an, wie sehr ihn diese Erkenntnis traf. Vorher mochte er an Rae gezweifelt haben, doch nicht so sehr, dass er tatsächlich damit gerechnet hatte, dass seine Zweifel sich als berechtigt erweisen könnten.
"Bindet ihn los", bat Edrahil Artanis, der die Fesseln ohne zu zögern durchschnitt. Offenbar hatte er keine Sorge, dass Abrazîr entkommen könnte, und Edrahil war geneigt, diese Ansicht zu teilen. Er reichte Abrazîr die Dokumente, die Eayan erbeutet hatte, und dieser nahm sie zögerlich entgegen.
"Deshalb habe ich euch während der Schlacht nicht gesehen", stellte er in Eayans Richtung fest, und dieser zuckte mit den Schultern. "Was soll ich sagen? Offene Feldschlachten sind nicht mein Stil. Ich fand es angenehmer, mich stattdessen einmal in Zôrdakar umzusehen, wo doch beinahe alle seine Bewohner ausgerückt waren, um mich und meine Freunde zu töten."
Abrazîr erwiderte nichts, und studierte stattdessen aufmerksam die Dokumente, die Edrahil ihm gegeben hatte. Ihm schien es deutlich weniger Schwierigkeiten zu bereiten als Edrahil oder Eayan, und schließlich zog er scharf die Luft ein - sichtlich schockiert. "Sie hat mich dazu benutzt, Männer in Gondor für ihre Sache zu gewinnen, um Gondor für Mordors Angriff zu schwächen. Das war nicht das, was ich wollte - und nicht das, was sie mir erzählt hat."
"Oh, ich nehme an, sie hat euch in den meisten Dingen durchaus die Wahrheit gesagt. Nur ein, zwei hässliche Dinge verschwiegen", erwiderte Edrahil. "Aber kommen wir zur Sache. Ich bin mir bereits seit längerer Zeit - beinahe seit unserer ersten Begegnung übrigens - sicher, dass ihr aus Gondor stammt, und zwar aus einem adligen Haus. Was ihr eben gesagt habt, bestätigt zumindest den ersten Teil dieser Vermutung, und was den zweiten Teil angeht..." Er legte den Zeigefinger der rechten Hand an die Nase, und dachte nach. Abrazîr blickte ihn mit einer Mischung aus Trotz, Spannung und Überlegenheit an, und auch Eayan und Artanis richteten ihre Blicke auf ihn. "Ihr seid vor dem Jahr 3018 aus Gondor verschwunden, da bin ich mir sicher. Eher noch drei oder vier Jahre eher, denn eurem Aussehen nach zu urteilen dürftet ihr mehr als vier Jahre fort sein. Einem allzu bedeutenden Adelshaus könnt ihr nicht angehören, sonst wäre euer Verschwinden in Gondor allgemein bekannt, und aus Belfalas dürftet ihr ebenfalls nicht stammen." Er strengte sein Gedächtnis noch etwas weiter an, und dann lächelte er. "Ah. Ich weiß jetzt, an wen ihr mich erinnert, Abrazîr. Und zwar an euren Neffen Valion - ihr habt die gleiche Nase, Tórdur Seren."
"Glückwunsch, Edrahil", gab dieser bitter zurück, und wedelte mit den verräterischen Papieren in seiner Hand. "Ihr habt nicht nur meinen Glauben in Taraezaphel und Arzâyan zerstört, sondern mich auch noch an Dinge erinnert, an die ich nicht gerne denke."
"Und jetzt erwarte ich auch noch, dass ihr mir dabei helft, Raes Herrschaft endgültig zu beenden", meinte Edrahil. "Ziemlich viel auf einmal, ich weiß."
Abrazîr - oder besser Tórdur - seufzte tief, bevor ein Anflug eines Lächelns über sein Gesicht huschte. "Sicher. Aber wie ihr sicherlich beabsichtigt habt, habt ihr mich daran erinnert, dass es noch einen Ort außer Arzâyan für mich geben kann. Selbst wenn mein Vater mir meine Worte bei unserem Abschied nicht verzeihen kann, ich glaube nicht, dass Fürst Imrahil in der aktuellen Lage deswegen auf meine Dienste verzichten würde."
"Ich möchte, dass ihr einen Schwur leistet", meldete sich Artanis leise, aber bestimmt zu Wort, und Tórdur war nicht der einzige, der zusammenzuckte, als der Elb nach langem Schweigen plötzlich das Wort ergriff. "Ich traue Edrahils Urteil, und muss ich darauf bestehen."
Tórdur zögerte keinen Augenblick. "Ich schwöre... bei der Ehre meines ganzen Hauses, dass ich alles tun werde, was in meiner Macht steht, um Taraezaphels Herrschaft über Arzâyan ein für alle mal zu beenden - denn wer mit Mordor im Bund steht, kann niemals mein Freund oder mein Herr sein, ganz gleich was vorher gewesen ist." Artanis nickte zufrieden, und wandte sich dann an Edrahil. "Also, Meister Edrahil. Der erste Schritt ist getan, aber Taraezaphel sitzt wieder in Zôrdakar und leckt ihre Wunden. Wie kommen wir an sie heran?"
Eandril:
Zu viert hatten sie einen Plan geschmiedet, der ihnen ermöglichen sollte, Rae selbst in ihrer Festung, die für die Stammeskrieger uneinnehmbar schien, zu erreichen. Den Anstoß dazu hatte Tórdur geliefert, der darauf hingewiesen hatte, dass ein nicht unbeträchtlicher Teil von Raes Söldnern wie er selbst aus Gondor oder Rohan stammte, und daher keinen Grund hatte, an ihrer Seite für Mordors Ziele zu kämpfen. So waren Eayan und Tórdur mitten in der Nacht aufgebrochen, um sich auf einem ähnlichen Weg nach Zôrdakar einzuschleichen wie bei ihrer Flucht. Inzwischen war der Tag angebrochen, und die Sonne strahlte erbarmungslos auf das Heer der Stämme herunter, das gerade außerhalb einer Bogenschussweite sein Lager aufgeschlagen hatte. Edrahil lehnte mit dem Rücken an einem der wenigen Bäume und genoss den Schatten, den die breite Krone spendete. Dennoch klopfte sein Finger ungeduldig auf den Boden, während sein Blick unverwandt auf das geschlossene, abweisende Tor von Zôrdakar gerichtet blieb.
"Ihr habt kein Vertrauen zu eurem Plan?", fragte Artanis, dem Edrahils finstere Miene offenbar aufgefallen war, und dieser schüttelte den Kopf. "Der Plan ist gut, schließlich stammt er zu großen Teilen von mir. Doch auch der beste Plan kann unvorhergesehen scheitern." Artanis strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, und ließ seinen goldenen Speer herumwirbeln. "Und wenn er scheitert, überlegen wir uns etwas anderes. Wir haben Zeit."
"Vielleicht habt ihr hier unten ein wenig das Gefühl für Zeit verloren", gab Edrahil zurück. "Oder es ist euch über die Jahrtausende eures Lebens abhanden gekommen. Doch mit jeder Minute die verstreicht, wächst die Gefahr, dass Mordor siegt. Mit jeder Minute, die ich hier verschwende." Die Verwunderung war Artanis deutlich anzuhören, als er fragte: "Aber war es nicht eure eigene Entscheidung, nach Arzâyan zu kommen?"
Edrahil seufzte, und malte gedankenverloren mit dem Finger Muster in den staubigen Boden. "Ja, es war meine eigene Entscheidung. Taraezaphel war daran beteiligt, Leuten zu schaden, die ich schätze. Die ich sogar ein wenig gern habe - und davon gibt es nicht besonders viele. Und dafür möchte ich Rache. Das ist der eine Grund, der Grund, warum ich persönlich nach Süden gesegelt bin."
"Und der andere Grund?"
"Ich denke an die Zukunft. Was, wenn es uns tatsächlich gelingt, gegen Sauron zu bestehen? Ich weiß nicht, ob er getötet werden kann, aber wenn nicht, wäre ein Arzâyan ein Ort, an den er sich zurückziehen und schon bald wieder nach der Herrschaft über Mittelerde greifen kann."
"Ihr denkt weit in die Zukunft", meinte Artanis nicht ohne eine Hauch von Spott. "Und ich dachte, Menschen würden immer nur für die nächsten paar Wochen leben."
"Diese Menschen leben in der Regel auch nur noch die nächsten paar Wochen", erwiderte Edrahil, und kam ein wenig mühsam auf die Füße. "Ich hoffe, die Krieger sind bereit?" Sofort richtete sich Artanis' Blick auf die Stadt, wo auf dem Tor plötzlich ein blaues Banner im schwachen Wind flackerte. Er zögerte keinen Augenblick, sondern rief einen Befehl den Edrahil nicht verstand, und augenblicklich setzten sich seine Krieger in Bewegung auf das Tor, dessen große Torflügel langsam aufschwangen.
Mit einer Mischung aus Überzeugungsarbeit und Bestechung hatte Tórdur genügend Söldner auf seine Seite gebracht, um das Tor von Zôrdakar ohne große Schwierigkeiten unter seine Kontrolle zu bringen. Der Rest von Raes Soldaten war davon so überrascht worden, dass Artanis' Stammeskrieger keine Mühe hatten, in einem einzigen Ansturm die hastig aufgestellte Verteidigungsformation zu durchbrechen und bis zum alten Königspalast vorzustoßen. Dessen großes Tor war zwar fest verschlossen, doch gerade als Edrahil mit den letzten Kriegern das obere Ende der mächtigen Treppe erreichte, erklangen dahinter erstickte Kampfgeräusche, und einer der Flügel schwang auf. Dahinter erwartete sie Eayan, der einen blutigen Kratzer an der Schläfe vorzuweisen hatte, aber hochzufrieden wirkte. "Willkommen im Königspalast von Arzânyan, hohe Herren. Einige der Wächter waren so unhöflich, euch nicht einlassen zu wollen, doch ich habe sie vom Gegenteil überzeugen können."
"Wo ist Rae?", fragte Edrahil knapp. Für Glückwünsche war später noch Zeit. Eayan deutete mit dem Daumen über seine Schulter. "Sie hat sich in einem der Türme verschanzt, mit den letzten Getreuen die sich gemeinsam mit ihr retten konnten. Ich habe sie ein wenig durch den Palast gejagt." Während er sprach glomm etwas seltsames in seinen Augen auf, und zum ersten Mal überhaupt hatte Edrahil das Gefühl, wirklich den Mann vor sich zu sehen, der Schattenfalke genannt wurde. Er wollte wirklich nicht mit Rae tauschen.
"Nun, dann ist jetzt der Zeitpunkt gekommen, um mit ihr zu sprechen", sagte er. "Tórdur, Artanis und Eayan, würdet ihr mich begleiten?"
"Ich habe keinen Bedarf, mit Verrätern und Intriganten zu sprechen." Die Stimme, die hinter der dicken Holztür hervordrang, war geradezu eisig.
"Dann solltet ihr diesen Bedarf dringend entwickeln", gab Edrahil durch die geschlossene Tür zurück. "Ihr seid auf ganzer Linie geschlagen, und dies ist die einzige Gelegenheit, zu der euch Gnade gewährt wird."
"Eure Gnade kümmert mich nicht!", erwiderte Rae. "Gondor wird schon bald ein Königreich der Asche sein, genau wie alle Lande, die sich widersetzen. Dann wird das goldene Königreich von Arzâyan auferstehen, und ich werde euch ganz sicher keine Gnade erweisen."
Edrahil hielt Tórdur, der empört den Mund geöffnet hatte, mit einer Geste zurück, und sagte selbst: "Ihr wisst, dass der Schattenfalke an meiner Seite kämpft. Was glaubt ihr, wie viel Mühe es ihn kosten wird, auf anderem Weg in eure Zuflucht einzudringen und euch zu töten?" Eayan lächelte bedrohlich. "Nicht allzu viel, denke ich. Das Gemach hat einen Balkon."
Dieses Mal dauerte das Schweigen auf der anderen Seite der Tür bedeutend länger, bevor Rae schließlich antwortete. "Ich werde die Tür öffnen, wenn ihr mir und jedem, der mit mir kommen will, freies Geleit zusichert." Gleichzeitig schüttelten Artanis und Tórdur die Köpfe, doch Edrahil achtete nicht auf sie.
"Das werde ich nicht tun, Taraezaphel. Wenn ihr diese Tür öffnet, seid ihr unsere Gefangene. Doch ihr werdet behandelt werden, wie es einer Fürstin angemessen ist, und der Truchsess von Gondor wird über euch richten." Er konnte beinahe vor sich sehen, wie sich in Raes Kopf bereits jetzt Ideen formten. Der Weg nach Gondor war weit und bot jede Menge Gelegenheit zur Flucht. Und selbst wenn sie Gondor erreichten - sie war ja davon überzeugt, dass Mordor dort früher oder später siegen würde, was ohne Zweifel eine gute Wendung der Ereignisse für sie darstellen würde. Dass Edrahil keinerlei Absichten hegte, diese Versprechen einzuhalten, konnte sie schlecht wissen.
"Also gut", kam nach längerem Zögern die Erwiderung. "Ich werde... werde eure Bedingungen annehmen und begebe mich in eure Gefangenschaft." Es war ihr deutlich anzuhören, wie schwer ihr diese Aussage fiel, und als sich die Tür langsam öffnete, gestatte Edrahil sich ein heimliches erleichtertes Aufatmen. Taraezaphel stand in der geöffneten Tür, und blickte mit steinerner Miene auf einen Punkt irgendwo in der Luft zwischen Edrahil und Tórdur. Sie löste ihren Waffengurt und ließ ihn mitsamt ihrem Schwert und Dolch achtlos auf den steinernen Fußboden fallen. Dann streckte sie die Hände vor sich aus und legte sie zusammen, sodass Tórdur, der entschieden vermied, sie anzusehen, sie fesseln konnte.
"Seid ihr zufrieden, Edrahil?", fragte die geschlagene Fürstin, und ihre Stimme klang verächtlich. "Ihr habt die einzige Chance verfehlt, dass das wahre Erbe Númenors weiterleben konnte."
Edrahil zuckte mit den Schultern. "Das wahre Erbe Númenors lebt in Gondor weiter, sagen viele. Ebenso behaupten das eure Verwandten in Mordor von sich, und lange Zeit waren die Fürsten von Umbar dieser Ansicht. Das Erbe Númenors bedeutet mir wenig, denn dieses Königreich existiert schon seit über dreitausend Jahren nicht mehr. Das einzige, was mir etwas bedeutet, sind die Sicherheit und Freiheit Gondors. Von daher betrachtet... Ja, ich bin durchaus zufrieden."
Artanis hob offenbar anerkennend eine Augenbraue. "Eine weise Art, die Dinge zu betrachten. Viele Elben und Menschen - ich schließe mich selbst nicht aus - hängen zu sehr an der Vergangenheit um die Gegenwart so zu sehen, wie sie ist." Er lächelte. "Aber wir wollen uns nicht in philosophischen Betrachtungen verlieren - was habt ihr nun vor?"
Eayan warf einen warnenden Blick in Richtung Rae, doch Edrahil achtete nicht auf ihn. "Ich werde mit unserer Gefangenen zunächst nach Tol Thelyn zurückkehren, wo bereits ein guter Bekannter auf sie wartet."
"Ich werde euch begleiten." Tórdurs Stimme klang ein wenig heiser. "Und ich werde jeden Mann mitnehmen, der mir folgen will und dem ich vertrauen kann. Ich denke, dass Gondor jedes Schwert gut gebrauchen kann." Edrahil nickte zufrieden, denn darauf hatte er gebaut. Mit Tórdur und seinen Männern als Begleitung musste er sich keine Gedanken darüber machen, dass jemand versuchen könnte, Taraezaphel zu befreien.
"Ich werde selbstverständlich hier bleiben", meinte Artanis. "Selbst ohne die Bedrohung durch Arzâyan", er schoss einen finsteren Blick in Richtung Rae ab, "können die Stämme meine Hilfe gut gebrauchen. Und wer weiß, vielleicht seht ihr mit eines Tages an der Spitze der Stammeskrieger nach Norden in den Krieg ziehen."
Edrahil wandte sich an Eayan, doch dieser schüttelte den Kopf. "Ich fürchte, unsere Wege trennen sich hier fürs Erste, Edrahil. Ich habe einige Dinge zu erledigen, die ich schon viel zu lange aufgeschoben habe - eine Familienangelegenheit, wenn man es so ausdrücken will."
Edrahil zuckte mit den Schultern. "In diesem Fall werde ich euch selbstverständlich nicht aufhalten. Ich nehme ohnehin an, dass ich euch nicht auf Dauer los sein werde." Eayan lächelte, sodass seine weißen Zähne aufblitzten. "Darauf könnt ihr euch verlassen. In eurer Nähe geschieht schließlich immer irgendetwas interessantes."
Edrahil zurück nach Tol Thelyn
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