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Autor Thema: Arzâyan  (Gelesen 3665 mal)

Eandril

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Arzâyan
« am: 26. Mai 2018, 12:12 »
Edrahil von der Küste

"Das Löwentor", verkündete Abrazîr, und aus seiner Stimme war ein gewisser Stolz herauszuhören. Nach dem Angriff waren sie den Rest des Tages trotz des Regens weitergefahren. Der Regen hatte gegen Abend aufgehört, doch Abrazîr hatte auch lange nach Sonnenuntergang keinen Halt befohlen - stattdessen hatte sich die Karawane die ganze Nacht hindurch weiter nach Osten bewegt. Irgendwann hatte der Weg begonnen, beinahe unmerklich anzusteigen, und mit dem ersten Morgenlicht hatte Edrahil festgestellt, dass beinahe sämtliche Pflanzen verschwunden waren. Sie hatten den dichten Urwald hinter sich gelassen, und befanden sich nun in einem beinahe völlig kahlen Hügelland. Lediglich zu ihrer linken, wo der Fluss noch immer langsam dahinströmte, wuchsen hohes Gras und vereinzelte Bäume. Zwischen den Pflanzen bewegten sich immer wieder Schemen von Tieren - ein gewaltiges Krokodil kroch mit einem Platschen ins Wasser, und ein noch viel gewaltigeres Wesen, mit grauer Haut und mächtigen Hauern fraß friedlich von dem dichten Gras und schenkte der Karawane keine Beachtung.
Nicht lange darauf, die Sonne war nur ein kleines Stück den Horizont hinaufgeklettert, erreichten sie das Löwentor. Zwischen zwei Hügeln erhob sich eine gewaltige Mauer aus gelbbraunem Stein, zu beiden Seiten des Flusses. Von diesen Mauern aus überspannte ein langer, kunstvoller Bogen mit einem Wehrgang den breiten Fluss. An beiden Enden dieses Bogens, und an den äußeren Enden der Mauer wurde sie von schlanken Türmen gekrönt, deren geschwungene Dächer in der Sonne glänzten.
"Nicht schlecht, was?", fragte Abrazîr. "Im Norden denkt man immer, dort wäre das Herz der Zivilisation in Mittelerde, und weit im Süden lebten nur Barbaren und Wilde. Ich frage mich, was die Menschen Gondors denken würden, könnten sie das hier sehen."
"Sie wären sicherlich erstaunt", erwiderte Edrahil unverbindlich. Natürlich hatte er gewusst, dass es aufgrund der Geschichte des Landes auch hier Spuren der Númenorer geben musste, doch er konnte nicht leugnen, dass der Anblick der Festungsanlage ihn beeindruckte. Die Straße führte entlang des Flusses weiter, auf ein breites Tor in der südlichen Mauer zu. Noch war das Tor verschlossen, doch als sie näher kamen, schwenkte Abrazîr eine Flagge, auf der ein Löwe auf rotem Grund abgebildet war, und die hölzernen Torflügel öffneten sich langsam. Als Edrahils Wagen hindurch fuhr, blickte er nach oben und konnte gerade noch einen Blick auf das Fallgitter erhaschen, dass sich weit über ihm in der Mauer verbarg.
"Erbaut von Relphazîr, dem gekrönten Löwen", erklärte Abrazîr, und seine Stimme hallte unter dem Torbogen. Zu Edrahils Überraschung kamen sie hinter dem Tor nicht erneut ins Freie, sondern in eine gewaltige Halle mit einer hohen, hölzernen Decke. "Er war..." "...der erste Königs von Arzâyan, der erste, der mehr sein wollte als nur ein Truchsess", beendete Edrahil Abrazîrs Satz. Auf der Schiffsreise hatte er mehr als genug Zeit gehabt, die Informationen über Arzâyan, die Bayyin ihm mitgegeben hatte, genau zu studieren. Er musterte aufmerksam ihre Umgebung.
Die Halle war breit, ebenso breit wie die südliche Hälfte der Mauer, schätzte Edrahil. Der Boden bestand aus gepflastertem Stein, und entlang der Wände erstreckte sich eine Reihe steinerner Gebäude, die hoch genug waren um einen hochgewachsenen Mann bequem stehen zu lassen, aber dabei höchstens halb so hoch wie die Decke der gesamten Halle. Eine Gruppe Soldaten war herangekommen und sprach mit Abrazîr, und auch sie beobachtete Edrahil genau. Obwohl sie sich sichtlich Mühe gegeben hatten, einheitlich und möglichst beeindruckend gerüstet zu sein, fielen Edrahil diverse Mängel auf. Einige Rüstungen waren von deutlich besserer Qualität als andere, und sie schienen ursprünglich verschiedener Machart gewesen und nur aneinander angepasst worden sein.
Keine Zeit, keine Rohstoffe, oder kein Wissen, um eigene Rüstungen zu schmieden, dachte er bei sich. Allmählich begann er zu ahnen, was sich in den verschlossenen Kisten auf seinem Wagen befand, die für Abrazîr das wichtigste an der gesamten Karawane zu sein schienen. Was wollte eine Kriegsherrin, die mit Waffengewalt ihr Erbe wieder aufbauen wollte, mit Tüchern? All die Waren, die Abrazîr gekauft hatte, waren nur Ablenkung für seine wahre Mission: Waffen. Edrahil gestattete sich ein unmerkliches Lächeln - die erste Schwachstelle Arzâyans war gefunden.
"Sind euch die Ketten an der Seite der Mauer aufgefallen?", fragte Eayan, der sein Pferd neben Edrahils Wagen gelenkt hatte. "Eingelassen in Nischen zu beiden Seiten des Flusses - und ich wette, oben auf den Wehrgängen würden wir große Winden für sie finden."
"Ein Gitter in den Grund des Flusses eingelassen", meinte Edrahil, der begriffen hatte, worauf Eayan hinauswollte. "König Relphazîr muss verflucht gute Baumeister gehabt haben."
"Die hatte er auf nötig. Welchen Nutzen hat all das hier, wenn man einfach so den Fluss hinauf segeln kann?"
"Und dennoch ist genau das geschehen...", meinte Edrahil nachdenklich. "In dem Krieg, in dem das Königreich endete, segelte eine Flotte aus Umbar den Fluss hinauf, und wurde erst kurz vor der Hauptstadt vernichtet." Eayan zuckte mit den Schultern. "Es war ein Bürgerkrieg, nicht wahr? Die haben es an sich, dass Chaos herrscht - vielleicht war das Tor nicht bemannt, oder jemand hat ihnen den Weg geöffnet."
Bevor Edrahil etwas erwidern konnte, holte ihn die Gegenwart in Gestalt von Abrazîr wieder ein. "Um euretwillen würde ich gerne etwas Zeit hier vollbringen, damit ihr euch dieses Wunder menschlicher Baukunst ansehen könnt", sagte er. "Doch ich habe Befehl, so schnell wie möglich nach Zôrdakar zurückzukehren, und solange ich euch Taraezaphel nicht vorgestellt habe, kann ich euch nicht alleine herumreisen lassen."
Edrahil neigte den Kopf. "Das verstehe ich vollkommen, und wir werden euch natürlich weiterhin begleiten." Ein kleiner Teil von ihm wünschte sich tatsächlich, diesen Ort in aller Ruhe zu erkunden, doch der Rest wusste genau, dass dies nicht der Grund seiner Anwesenheit war - diese lag in der Hauptstadt des Landes.
"Also dann", meinte Abrazîr. "Auf nach Hause."

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Eandril

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Re: Arzâyan
« Antwort #1 am: 9. Jun 2018, 12:27 »
Der Blick, den Eayan Edrahil im Gehen zuwarf, war eine eigenartige Mischung aus Besorgnis und Belustigung. Begeben wir uns wirklich gerade vollkommen ohne Plan in die Höhle des Löwen?, schien dieser Blick auszusagen, und mit dieser Frage würde Eayan nicht völlig daneben liegen - einen wirklichen Plan hatte Edrahil nicht, zumindest nichts, was dieser Bezeichnung gerecht werden würde. Eigentlich wären die drei Tage ereignisloser Reise vom Löwentor bis nach Zôrdakar Zeit genug gewesen sich einen Plan zurechtzulegen - doch dem hatten zwei Dinge im Weg gestanden: Erstens wusste Edrahil viel zu wenig über das, was ihn in Zôrdakar erwartete, und zweitens war er sich selbst noch nicht vollständig im Klaren darüber, was am Ende das Ziel seiner Mission sein würde.
Wenn er herausfand, dass Arzâyan durch Hilfe aus Mordor wiedererstarkte oder auf eine andere Art und Weise eine Gefahr für Gondor darstellen würde, würde er nicht zögern, alles zu tun um das Königreich ein für alle Mal zum Zusammenbruch zu bringen - doch andernfalls könnte Arzâyan auch ein durchaus nützlicher Verbündeter für Gondor sein, der Suladans Reich von Süden angreifen könnte. Die zweite Alternative würde sich allerdings als Wunschdenken herausstellen, da war sich Edrahil beinahe vollkommen sicher.
Die Hauptstadt selbst unterschied sich nicht groß von Edrahils Erwartungen. Sie hatten die Stadt von Südwesten aus erreicht, wo sie am Tor von Soldaten in Rüstungen mit dem Löwen auf der Brust empfangen worden waren. Den Wehranlagen sah man allerdings an, dass sie in einem Krieg zerstört worden und erst kürzlich wieder in Betrieb genommen waren - überall in den Mauern klafften noch Lücken oder waren hellere Stellen als Flicken erkennbar. Auch im inneren der Stadt zeigten sich nur allzu deutlich die Spuren des letzten Krieges und der Jahrhunderte, in denen Zôrdakar verlassen gewesen war. Viele Häuser waren lediglich Trümmerhaufen, und die die noch standen glichen eher unbewohnbaren Ruinen. Als sie sich dem Palast, der im Zentrum der Stadt über alles andere aufragte, näherten, waren jedoch immer mehr Häuser zumindest notdürftig in Stand gesetzt, und einige, an den Vorplatz des Palastes selbst angrenzend, wirkten beinahe wie neu.
Auch der Palast, dessen Stufen sie gerade hinaufstiegen zeigte noch immer deutliche Spuren der Kämpfe bei Arzâyans Untergang. Das Dach des Westflügels war eingestürzt, die Mauern des Ostflügels zeigten deutliche Risse und von den Statuen, die vermutlich die ganze Fassade des Bauwerks geziert hatten, blickten nur noch wenige auf sie herab. Das wuchtige Gebäude erhob sich auf einem vermutlich künstlich aufgeschütteten Hügel weit über die Stadt - die Mauern begannen erst auf einer Höhe über den höchsten Dächern der Stadt.
Edrahil ignorierte Eayans Blick, und sagte keuchend zu Abrazîr: "Die Gründer von Arzâyan wollten offenbar für alle Untertanen deutlich machen, wer hier der Herr ist."
"Will das nicht jeder Herrscher?", erwiderte Abrazîr. "Die Paläste Harads oder Gondors sind nicht so anders als dieser."
"Vielleicht nicht... aber mussten es wirklich so lange Treppen sein?" Abrazîr lachte. "Wir haben es gleich geschafft. Es tut mir Leid, aber wenn ihr die Frau sehen wollt, die diesem Reich seinen alten Glanz wiedergeben wird, müsst ihr Opfer bringen."
Sie erreichten ein mächtiges Podest, dass sich wie ein Schiffsbug erhob und die Treppe  in zwei Hälften teilte. "Jetzt haben wir es gleich geschafft", erklärte Abrazîr. "Von diesem Podest aus sprachen die Könige von Arzâyan zu ihrem Volk."
"Und hier wurde Taraezahil von seinen jüngeren Geschwistern öffentlich hingerichtet", erinnerte Edrahil sich an das, was er gelesen hatte. Abrazîr nickte langsam. "Das ist das Traurige an diesem Land - an beinahe jedem Ort ist in diesem verfluchten Krieg etwas grausames, schreckliches geschehen. Auch deshalb hat es so lange gedauert, bis jemand gekommen ist, der diese Geschichte überwinden kann. Doch Taraezaphel kann es."
"Dein Glaube ehrt mich", erklang eine weibliche Stimme. Sie hatten das obere Ende der Treppe erreicht, und standen nun vor dem großen Tor des Palastes - und im Torbogen, die dunkle Eingangshalle hinter sich, stand, von zwei Wächtern in ihren üblichen Rüstungen flankiert, die Frau, die gesprochen hatte. Sie war groß und schlank, und trug im Gegensatz zu ihren Wächtern ein einfaches Kettenhemd, dessen obere Hälfte teilweise von einem blauen Halstuch verdeckt wurde. Ihre braunen Haare fielen ihr lose bis auf die Schultern hinab, und ihre Augen waren dunkel, beinahe schwarz. Trotz ihres einfachen Auftretens, wusste Edrahil instinktiv, mit wem sie es hier zu tun hatten.
Abrazîr, der vorgetreten war, verneigte sich. "Herrin."
"Abrazîr, mein getreues Schwert", erwiderte Rae. "Ich hoffe, eure Reise ist ohne große Zwischenfälle verlaufen?"
"Ein Überfall der Verlorenen kurz vor dem Tor. Keine Verluste, und sie haben nichts von großem Wert gestohlen." Rae nickte zufrieden. "Und ich darf euch Maratar vorstellen, einen Gelehrten aus dem fernen Gondor, der sich für eure Taten interessiert."
Raes Blick fiel auf Edrahil, und als ihre Augen belustigt aufblitzten wusste Edrahil, dass sie, wie von ihm erwartet, sein Spiel durchschaut hatte. Er verneigte sich ebenfalls, und sagte: "Nun, ich denke es ist unnötig, dass ich mich vorstelle. Der Grund für mein Kommen entspricht allerdings tatsächlich der Wahrheit." Er wandte sich an Abrazîr, der die Hand an den Schwertgriff gelegt hatte. "Bitte verzeiht mir die Täuschung, doch ich wusste nicht, ob ich unter meinem wirklichen Namen hier willkommen sein würde."
"Oh, ihr seid nur allzu willkommen, Edrahil von Linhir", meinte Rae amüsiert, und wandte sich dann Eayan zu. "Und natürlich auch ihr... wer auch immer ihr seid." Eayan, der mit keiner Wimper gezuckt hatte, verneigte sich ebenfalls, ein wenig unbeholfen. "Ich bin nur ein bescheidener Krieger, der seinen Herrn begleitet - und es ist mir eine Ehre, einer so hohen Herrin wie euch gegenüber zu stehen."
Rae winkte ab. "Schmeicheleien sind schön und gut. Doch kommen wir zur Sache." Sie klatschte in die Hände, und noch mehr Wachen tauchten aus dem Dunkel hinter ihr auf. "Nehmt sie fest und werft sie ins Verlies - sie sind Feinde des Reiches." Edrahil spürte, wie Abrazîrs Schwertspitze durch den Stoff seines Gewandes gegen seinen Rücken drückte, und seufzte. So schnell war es vorbei mit der Freundschaft.
"Wir müssen keine Feinde sein", sagte er, während die Wächter näher kamen, und Rae lachte auf. "Nein? Nach allem, was ihr und eure Freunde in Umbar und in Harad getan habt?"
"Was wir getan haben, richtete sich allein gegen Suladân und Hasael - Diener Mordors", gab Edrahil zurück. "Sofern ihr Mordor nicht dient, haben wir keinen Grund, Feinde zu sein." Er spürte, wie die Schwertspitze in seinem Rücken für einen Augenblick zitterte, und lächelte. "Ist Mordor euer Herr, Taraezaphel?" Raes Augen verengten sich, und ließen Edrahil nicht aus den Augen. Dann sagte sie, ohne seine Frage zu beachten: "Na los, nehmt ihnen die Waffen ab und bringt sie ins Verlies - ich brauche Zeit, um zu entscheiden."

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Eandril

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Re: Arzâyan
« Antwort #2 am: 16. Jul 2018, 23:35 »
Die Kerkertür fiel mit einem Krachen zu, und ließ Edrahil und Eayan im Dunkel des Verlieses zurück. Nur einige wenige Sonnenstrahlen fielen durch ein winziges, vergittertes Fenster, sodass sie nicht vollkommen blind waren. Edrahil blickte sich in der Zelle um, die eine von vier Gitterzellen in diesem Raum war - jede von ihnen mit einem metallenen Gitter umgeben, dessen Gitterstäbe so eng zusammenstanden, dass höchstens ein sehr schmaler Arm hindurch passte. Auf jeder Seite des Raumes lagen zwei der Zellen nebeneinander. Die Zelle neben der ihren war leer, doch ihnen gegenüber saß eine dunkle Gestalt mit dem Rücken an die kalte Steinwand gelehnt, die nicht einmal den Kopf gehoben hatte, als Raes Wachen Edrahil und Eayan in ihre Zelle gebracht hatten. Und dennoch fühlte Edrahil sich von ihr auf seltsame Weise beobachtet.
Er ließ sich vorsichtig auf dem mit einer Art Stroh - vielleicht getrockneten Palmblättern - ausgelegtem Boden nieder, und lehnte sich an die Wand. "Zumindest gemütlicher als meine Zelle im Palast von Umbar." Eayan lachte trocken auf. "Das glaube ich gerne, ich habe auch einmal eine halbe Nacht dort verbracht. Hasaël hat wirklich einen miserablen Geschmack, was Unterkünfte für seine Gäste angeht."
Edrahil hob eine Augenbraue. "Eine halbe Nacht nur? War er euch so schnell leid?" "Nun... nicht direkt", erwiderte Eayan, ohne eine Miene zu verziehen. "Das Schloss klemmte allerdings etwas, sonst hätte ich seine Gastfreundschaft weniger lange in Anspruch genommen."
Edrahil streckte die Beine aus, und massierte dabei vorsichtig sein schmerzendes Knie. "Eines Tages müsst ihr mir die Geschichte dazu erzählen. Für jetzt denke ich auch, dass wir Raes Gastfreundschaft nicht allzu sehr strapazieren sollten." Eayan wandte sich zu ihm um. "Vermutlich nicht. Ich nehme an, wir warten auf einen Besuch von Abrazîr?"
"Sehr richtig", meinte Edrahil. "Ich bin es nicht gewohnt, dass andere mir auf diese Art folgen können." Zum ersten Mal seit längerer Zeit zeichnete sich ein Grinsen auf Eayans Gesicht ab. "Vorsicht, Edrahil. Man könnte meinen, ihr hättet keine besonders hohe Meinung von euren bisherigen Gefährten."
"So würde ich es nicht ausdrücken." Edrahil seufzte. "Valion hat das Herz am rechten Fleck und ist gut mit dem Schwert, ist aber nicht mit übermäßig viel Scharfsinn gesegnet. Seine Schwester ist vielleicht ein wenig klüger, ihm aber in vielen Dingen unglaublich ähnlich." Und verschwendet viel mehr Energie darauf, Männern das Herz zu brechen, als ihr gut tut, fügte er in Gedanken hinzu. "Thorongil ist ebenfalls ein guter Mann und besitzt einen raschen Verstand, ist aber zu sehr mit seinem Vermächtnis beschäftigt. Seine Nichte kommt ihm was den Verstand angeht nahe, ist aber viel zu ungestüm. Ihre Freundin Aerien gefällt mir was das angeht besser, ich hoffe, dass sie sich in Zukunft gut ergänzen und ihre Schwächen gegenseitig ausgleichen."
"Habt ihr sie deshalb nach Kerma geschickt?", fragte Eayan. "Als Übung für die Aufgabe, die ihr für sie geplant habt?" Edrahil nickte. "Sicherlich ist ihre Reise nach Kerma nicht ungefährlich, vor allem wenn König Músab, wie ich erwarte, einen Gefallen von ihnen fordert und ihnen irgendeine schwierige Aufgabe stellt. Wenn sie daran bereits scheitern, könnten sie eine Reise nach Mordors niemals überstehen, doch wenn sie es schaffen, werden sie Kerma gestärkt verlassen."
Eayan lehnte sich, noch immer stehend, an die Gitterstäbe hinter sich, verschränkte die Arme, und sagte unvermittelt: "Ta-er hat mir erzählt, dass ihr ihr in Umbar das Leben gerettet habt, obwohl ihr Kampf mit Salames Assassinen euch die Gelegenheit zu Hasaëls Beseitigung verdorben hat."
"Und ihr wundert euch darüber", meinte Edrahil, und seufzte. "Tatsächlich hätte ich sie einfach auf dem Kampfplatz zurückgelassen um vermutlich zu verbluten. Es war Valirë, die darauf bestanden hat, sie mitzunehmen. Und offenbar hatte in diesem Punkt tatsächlich ich Unrecht und sie Recht." Ein Eingeständnis dieser Art war selten genug für Edrahil, was ihm durchaus bewusst war. Doch er war nicht zu arrogant zu erkennen, wann er einen Fehler gemacht hatte - einer der Gründe, warum er noch lebte.
"Nun, dann bin ich froh, dass jene Valirë an diesem Tag dort war. Ta-er war eine gute Schülerin, und ist eine gute Freundin, und eines Tages wird sie nach meinem Tod den Silbernen Bogen anführen", sagte Eayan ruhig, und blickte zu dem winzigen Gitterfenster hinauf, hinter dem die Sonnenstrahlen langsam zu verblassen begannen. "Doch bis dahin vergeht hoffentlich noch ein wenig Zeit. Auch wenn ich große Stücke auf mich halte, kann ich eure Talente in diesem Land durchaus gut gebrauchen", meinte Edrahil, und Eayan lächelte. "Das denke ich auch."
Einige Augenblicke herrschte Schweigen, bis Edrahil sagte: "Ich erinnere mich an etwas, das Ta-er in Umbar sagte, und wonach ich euch seit längerem fragen wollte. Sie sprach von..." Er unterbrach sich, als die Tür zu ihrem Kerkerraum leise geöffnet wurde, und eine große Gestalt mit einer Fackel hindurch trat.

Edrahil kam ein wenig mühsam auf die Füße. "Abrazîr. Ich hatte mich gefragt, wann ihr wohl auftauchen würdet."
Abrazîr, dessen Gesicht im Fackelschein gespenstisch wirkte, lächelte ein wenig bitter. "Das gehört alles zu eurem Plan, nicht wahr? Ich kenne euren Ruf, Edrahil - ihr habt immer einen Plan, und immer kommen Menschen zu Schaden."
"Menschen, die es verdient haben", entgegnete Edrahil. "Seid ihr euch vollkommen sicher, dass Taraezaphel es nicht verdient hat? Könnt ihr mir wahrheitsgemäß sagen, dass ihr sicher seid, dass sie nicht mit Mordor im Bunde ist?"
Abrazîr schwieg, und seinem Gesicht war deutlich anzusehen, wie er mit sich kämpfte. "Nein", sagte er schließlich. "Ich will nicht glauben, dass es so ist, doch... ich kann mir nicht sicher sein."
"Dann nehme ich an, dass ich bei meinem Vorhaben auf eure Hilfe zählen kann?" Sofort verhärtete sich Abrazîrs Gesichtsausdruck. "Ihr meint, bei ihrer Ermordung." Edrahil schüttelte den Kopf. "Nein. Nicht ohne den Beweis, dass sie in Mordors Diensten steht und eine Bedrohung für die freien Völker darstellt. Wenn ihr meinen Ruf kennt, müsstet ihr ja auch wissen, dass ich nie handele, bevor ich einen Grund dazu habe."
"Ihr gebt mir euer Wort, dass ihr nichts gegen sie unternehmen werdet, bis ihr sicher wisst, dass sie mit Mordor im Bund ist?", fragte Abrazîr, und fixierte Edrahil dabei mit seinen dunklen Augen, in denen sich das Fackellicht spiegelte. Edrahil nickte. "Ihr habt mein Wort."
Ohne ein weiteres Wort zog Abrazîr ein längliches Bündel unter seinem Umhang hervor, und legte es vor ihrer Zelle auf den Boden. Dann warf er einen kleinen Gegenstand zwischen den Gitterstäben hindurch, wo dieser mit einem metallischen Geräusch gegen die Wand prallte und im Bodenstroh landete. "Die Wache kehrt in fünf Minuten wieder", sagte er, wandte sich ab, und verließ schweigend den Raum. Inzwischen hatte Eayan sich nach dem Gegenstand gebückt, und hielt ihn ins schwache Sonnenlicht unter dem Fenster. "Niedlich", kommentierte er. Es war ein schmaler, gebogener Metallstreifen. "Als ob ich nichts eigenes hätte, um dieses lächerliche Schloss zu knacken... Immerhin, der Gedanke zählt." Er warf den Metallstreifen achtlos beiseite, zog einen deutlich stabiler aussehenden Dietrich aus einer seiner Taschen, und machte sich an dem Schloss zu schaffen. Nur wenige Herzschläge waren vergangen, bevor das Schloss mit einem hörbaren Klicken aufsprang, und Eayan, die Tür aufstieß. "Auf in die Freiheit."
Das Bündel, das Abrazîr zurückgelassen hatte, stellte sich als Eayans Schwert und Edrahils Dolch heraus, die ihnen zuvor abgenommen worden waren. "Ihr scheint einen gewaltigen Eindruck auf Abrazîr gemacht zu haben", meinte Eayan, und schnallte sich seine Klinge um.
"Er ist ein vernünftiger Mann", entgegnete Edrahil. "Und seine Treue zu Rae macht ihn nicht blind für die Gefahr, die Mordor darstellt. Ich hatte gehofft, dass er so handelt."
"Aber gewusst habt ihr es nicht."
"Natürlich nicht. In dem Fall hätten wir improvisieren müssen." Eayan lächelte - er lächelte viel in letzter Zeit, stellte Edrahil fest. Die ganze Sache schien dem Schattenfalken mehr Freude zu bereiten, als er vermutlich zugeben würde. "Improvisieren müssen wir ohnehin. Oder habt ihr etwa auch einen Plan, wie wir aus diesem Palast entkommen, ohne uns darin auszukennen?"
"Den habe ich nicht", gab Edrahil zu. "Aber dies ist euer Teil des Spiels."
"Oder ihr könntet mich um Hilfe bitten", mischte sich eine dritte Stimme in das Gespräch ein. Die dunkle Gestalt in der anderen Zelle hatte sich erhoben und war an die Gitterstäbe herangetreten. "Ich kenne einen Weg hier heraus, der nicht bewacht wird." Eayan blickte Edrahil an, und dieser zuckte mit den Schultern. "Wer hier eingesperrt ist, wird kein Freund Arzâyans sein. Es wäre eine Möglichkeit."
Nur wenige Herzschläge später hatte Eayan auch dieses Schloss geknackt, und der Gefangene trat in den Gang hinaus. Er war groß und hielt sich aufrecht, doch sein Gesicht war im Schatten einer Kapuze verborgen. "Habt Dank." Seine Stimme war angenehm und hatte einen seltsamen Beiklang, der Edrahil unwillkürlich etwas wie Respekt empfinden ließ. "Hier." Der Gefangene drückte gegen einen der Steine in der Mauer, und zwischen den beiden Zellen glitt ein Stück der Wand beiseite und offenbarte einen Gang, gerade breit und hoch genug, dass ein großgewachsener Mann auf Händen und Füßen hindurch kriechen konnte. "Der Gang ist bald hoch genug, dass ihr aufrecht gehen könnt, und führt aus dem Palast hinaus zu einem Haus am Rand der Stadt, das noch immer verlassen sein dürfte. Wartet dort auf mich, ich werde den Gang hinter euch verschließen."
"Dann hoffe ich, dass ihr dort auftaucht - allein", erwiderte Edrahil. "Denn ich habe einige Fragen an euch." Unter der Kapuze glaubte er die Andeutung eines Lächelns zu sehen. "Das glaube ich. Jetzt geht, bevor die Wache zurückkommt."

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Re: Arzâyan
« Antwort #3 am: 23. Jul 2018, 22:24 »
Durch den Tunnel zu kriechen war keine besonders angenehme Angelegenheit. Erstens war er voller Spinnweben, auch wenn Eayan die meisten gezwungenermaßen vor Edrahil beseitigte, zweitens war er so eng, dass sie sich auf Händen und Füßen vorwärts bewegen mussten, was Edrahils Knie keineswegs gut tat, und drittens war es darin stockfinster, sobald ihr geheimnisvoller Helfer die Geheimtür hinter ihnen wieder verschlossen hatte. So war Edrahil froh, als er plötzlich keinen festen Stein, sondern Luft über seinem Scheitel spürte.
Er richtete sich vorsichtig und ein wenig mühsam auf, als vor ihm ein Licht aufflammte. Eayan, der vor ihm die erhöhte Stelle erreicht hatte, hielt ein kleines, glühendes Holzstück in der Hand und blickte den Tunnel, der mit gelben Steinen ausgekleidet war, entland. Vor ihnen machte der Gang eine scharfe Biegung, und bereits hier wurde der Grund abschüssig. Edrahil vermutete, dass ihr Weg sie wieder unter dem gesamten Palast hindurch abwärts führen würde, bis sie unter den Häusern der Stadt herauskamen.
"Was gibt es schöneres, als eine Flucht durch dunkle, enge Geheimgänge?", fragte Eayan, und Edrahil schüttelte insgeheim den Kopf. Er selbst ertrug all dies bereitwillig, doch dem Schattenfalken schien die ganze Angelegenheit geradezu Spaß zu machen.
"Vieles", entgegnete Edrahil. "Doch für den Augenblick würde es mir schon reichen, unbemerkt ans Tageslicht zu gelangen."
"Dann sollten wir uns auf den Weg machen - nur Tageslicht wird es vermutlich nicht mehr geben, wenn dieser Tunnel nicht kürzer ist, als ich denke."

Tatsächlich benötigten sie beinahe eine ganze Stunde, bevor sie das Ende des Tunnels erreichten. Vor Edrahil blieb Eayan plötzlich stehen, und begann, die Wand sorgfältig abzutasten. "Ich hoffe, hier gibt es einen Schalter auf der Innenseite", sagte er. "Ich würde mich ungern auf unseren geheimnisvollen Helfer verlassen."
"Unwahrscheinlich, dass er in Raes Auftrag ein Spielchen mit uns spielt", meinte Edrahil ächzend, und rieb sich das schmerzende Knie. "Aber ich stimme zu, wir sollten auf alles vorbereitet sein."
Eayan schien gefunden zu haben, was er suchte, denn mit einem Mal glitt mit einem schleifenden Geräusch die Wand vor ihnen zur Seite und offenbarte einen dunklen, mit Spinnweben übersäten Keller.
"Spinnen scheint es in diesem Land reichlich zu geben", kommentierte Edrahil, und rümpfte die Nase. Er war sich nicht zu fein dazu, sich selbst die Hände schmutzig zu machen, doch auf das Herumkriechen in dunklen, modrigen Kellern und Gängen voller Staub und Spinnweben hätte er gut verzichten können. "Nur voran", erwiderte Eayan, dessen neuentdeckte Fröhlichkeit ungebrochen schien. "Ihr habt euch ein wenig zu sehr an das gemütliche Leben gewöhnt, scheint mir."
"Das mag schon sein." Vorsichtig und langsam tasteten sie sich im schwachen Licht von Eayans glimmendem Holzspan durch den Keller voran, bis Edrahil auf eine Treppenstufe stieß - im wahrsten Sinne der Wortes. Leise fluchend rieb er sich das Scheinbein, und sagte dann: "Hier scheint es nach oben zu gehen."
Die Treppe führte hinauf in das untere Geschoss des Hauses - oder zumindest dem, was von dem Haus noch übrig war. Das obere Stockwerk und das Dach waren beinahe gänzlich zusammengebrochen und von Ranken überwuchert worden, und durch die Löcher schienen die Sterne auf Edrahil hinab. Eine Tür war nicht vorhanden, und auch große Teile der Außenmauer waren eingestürzt. Eayan spähte durch eine Lücke in der Mauer nach draußen, und sagte dann: "Wir scheinen nahe am Rand der Stadt zu sein. Zumindest in dieser Beziehung hat unser mysteriöser Freund nicht gelogen." Edrahil ließ sich in einem bröckelnden Fensterrahmen nieder, und streckte sein schmerzendes Bein aus. "Und die Gegend ist so verlassen, wie er sagte. Hoffen wir, dass es so bleibt."
Eayan nickte stumm, und löschte sein Licht. So warteten sie, während die Nacht langsam verging. Schließlich machte Eayan eine Bewegung, und Edrahil richtete sich auf. Durch ein Loch in der Mauer stieg vorsichtig eine dunkle, hochgewachsene Gestalt, die einen langen, schmalen Gegenstand mit sich trug. Eayan hatte die Hand an den Schwertgriff gelegt, doch Edrahil tat es ihm nicht gleich. Wenn sie wirklich in Gefahr waren, würde er sich eher mit Worten als Waffen daraus befreien können. Der Neuankömmling nickte anerkennend unter seiner Kapuze. "Ihr seid wachsam, gut. Es war klug von euch kein Licht anzuzünden, denn es wäre bemerkt worden."
"Und ich denke, hier ist nicht der richtige Ort, die Fragen zu stellen, die ich habe", erwiderte Edrahil. "Ich hoffe, ihr kennt einen solchen Ort?"
"Allerdings. Folgt mir."

Der sichere Ort stellte sich als eine im dichtesten Gebüsch am Ufer des Flusses versteckte, winzige Hütte heraus, unter der ein größerer Keller lag. Dort angekommen entzündete ihr Führer ein Feuer in einer Art Kamin, durch den der Rauch nach draußen abziehen konnte, und machte eine einladende Geste in Richtung einiger Sitzkissen, die entlang der steinernen Wände lagen. Während Edrahil sich setzte, kam das Feuer in Gang, und warf ein flackerndes Licht durch den Raum. Eine äußerst willkommene Wärme breitete sich aus, denn zum wiederholten Mal hatte Edrahil feststellen müssen, dass die Nächte auch so weit im Süden empfindlich kalt werden konnten.
Der Besitzer dieser verborgenen Unterkunft ließ sich Edrahil gegenüber auf einem Kissen nieder, den sorgsam verpackten Stab, den er mit sich getragen hatte, an die Wand gelehnt, und setzte die Kapuze ab. Darunter kam ein gut aussehendes, ebenmäßiges Gesicht mit heller Haut zum Vorschein, das von schulterlangen schwarzen Haaren eingerahmt wurde. "Zeit, mich vorzustellen", sagte er. "Man nennt mit Artanis und ich bin, wie ihr nehme ich an, ein Feind Azaryâns und aller die versuchen, es wieder zu errichten. Sind damit eure Fragen beantwortet?"
Edrahil lächelte, ohne die Augen von seinem Gegenüber abzuwenden. Hier war nach Abrazîr ein zweites Rätsel, das sich zu lösen lohnte. "Bei weitem nicht, aber ich bin auch ein besonders neugieriger Mensch."
"Meiner Erfahrung nach sind das die meisten Menschen", erwiderte Artanis, und ein Lächeln spielte um seine Mundwinkel. Zwei Dinge fielen Edrahil auf, die er für ungewöhnlich hielt: Einerseits Artanis' helle Hautfarbe, und andererseits der seltsame, singende Akzent, mit dem er die gemeinsame Sprache aussprach, und den Edrahil noch nirgends zuvor gehört hatte. "Und ich bin dabei keine Ausnahme - mich würde interessieren, wer ihr seid. Allerdings nur bei euch." Er wandte Eayan, der sich neben Edrahil gesetzt hatte, das eine Bein angewinkelt, das andere lässig ausgestreckt, das Gesicht zu. "Euren Begleiter kenne ich bereits." Auf Eayans Gesicht rührte sich kein Muskel, und auch Edrahil gelang es, seine Überraschung zu verbergen. "Es ist mir eine Ehre, euch in meinem bescheidenen Quartier willkommen zu heißen, Eayan al-Tayir, Schattenfalke."
"Ihr seid mir gegenüber im Vorteil", erwiderte Eayan ruhig. "Ich kann mich an keine Begegnung mit euch erinnern."
"Nun, das wundert mich nicht. Wir sind uns nicht im eigentlichen Sinne begegnet - ich habe euch beobachtet, als ihr das letzte Mal in Arzâyan wart." Edrahil hob eine Augenbraue. Darüber würde er sich mit Eayan noch einmal unterhalten müssen. Artanis wandte den Blick wieder von Eayan ab. "Ihr mache euch einen Vorschlag: Eine Frage für eine Frage. Ihr werdet eine meiner Fragen wahrheitsgemäß beantworten, und ich daraufhin eine der euren."
Edrahil wechselte einen raschen Blick mit Eayan, und nickte dann. "Also schön. Als unserem Gastgeber überlasse ich euch die Ehre."
Dieses Mal beschränkte sich das Lächeln nicht auf Artanis' Mundwinkel, und er legte die Fingerspitzen aneinander. "Wer schickt euch nach Arzâyan?" Das war nicht die Frage, die Edrahil als erstes erwartet hätte, doch die Antwort bereitete ihm keine Schwierigkeiten.
"Niemand. Weswegen habt ihr uns allein durch den Tunnel gehen lassen?"
"Ich hatte im Palast noch etwas zu erledigen. Was führt euch nach Arzâyan?"
"Taraezaphels Vorhaben, das alte Königreich wieder zu errichten. Was hattet ihr im Palast zu tun?"
"Ein altes Erbstück meines Hauses zu holen, das gestohlen wurde. Wollt ihr verhindern, dass Arzâyan wieder aufersteht?"
"Unter bestimmten Bedingungen. Um was für ein Erbstück handelt es sich?"
"Eine sehr alte Waffe. Wusstet ihr, dass euer Freund Eayan bereits in diesem Land gewesen ist?"
"Nein. Gehört ihr dem Haus Nardûkhôr an?" Zum ersten Mal zögerte Artanis mit der Antwort einen Herzschlag lang, und fixierte Edrahil aufmerksam.
"Nein. Unter welchen Bedingungen würdet ihr versuchen, Taraezaphel aufzuhalten?"
"Falls sie mit Mordor zusammenarbeitet und eine Gefahr für die freien Völker darstellt. Seid ihr ein Mensch?" Es war nur eine Vermutung, die Edrahil selbst relativ abwegig fand, doch Artanis' Gesichtsausdruck verriet ihm sofort, dass er tatsächlich auf der richtigen Spur gewesen war.
"Nein. Woher kommt ihr?"
"Mein Name ist Edrahil", erwiderte Edrahil, und unterbrach damit ihr Hin und Her. "Ich komme aus Dol Amroth in Gondor, einem Land der Elbenfreunde."
"Dass ihr nicht mein Feind seid, wusste ich bereits seit eurem Kommentar zu Mordor", meinte Artanis. " Doch ich wüsste gern genau, wie ihr zu Taraezaphel steht, und was eure Pläne in diesem Land sind."
"Nun, das gleiche würde ich euch auch fragen. Und außerdem wüsste ich gerne, wer genau ihr seid."
Artanis lächelte. "Für diese Geschichte ist jetzt keine Zeit, denn sobald die Sonne aufgeht, müssen wir weiter. Doch ich verspreche euch, dass ihr alles erfahren sollt."

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Eandril

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Re: Arzâyan
« Antwort #4 am: 25. Jul 2018, 23:28 »
Früh am nächsten Morgen brachen sie auf - Artanis hatte nicht übertrieben, denn die Sonne kroch gerade erst über den östlichen Horizont. Hinter der Hütte waren einige struppige, kleine Pferde im Unterholz versteckt gewesen, die sie für ihre kurzen Beine rasch nach Nordosten, den Fluss entlang durch die Savanne trugen. Edrahil war froh, dass Artanis kein allzu hohes Tempo anschlug und sie beinahe schnurgerade neben dem Fluss führte, denn je weniger er das Pferd mit seinem schmerzenden Knie lenken musste, desto besser.
Gegen Mittag verließen sie den Fluss in nördlicher Richtung, in einer geraden Linie durch die Savanne auf die Berge zu, die sich weit im Norden als bläulicher Schatten zeigten. Je weiter sie nach Norden kamen, desto hügeliger wurde das Land. Die Ebene in der Nähe des Flusses ging allmählich in sanfte Hügel, die immer höher und steiler wurden. Hin und wieder ragten einzelne Felsen aus dem hohen Gras, und in den Tälern, wo sich Regenwasser sammeln konnte, wuchsen seltsame, einzelnstehende Bäume mit breiten, flachen Kronen. Schließlich erreichten sie ein breites Tal zwischen zwei Hügeln, in dem eine Ansammlung runter Lehmhütten mit spitzen Dächern am Ufer eines kleinen Sees lag.
"Willkommen in Temne", sagte Artanis, der am Ufer des Sees, das mit Seerosen und Schilf bedeckt war, abgesessen war. "Eines der Dörfer des Stammes der Temne - ihre Hauptstadt, wenn man so will. Im Augenblick lebe ich hier."
Kaum hatte er ausgesprochen, näherte sich eine Gruppe kräftiger Männer mit dunkler Haut, die als einzige Kleidung einen Lendenschurz und Sandalen trugen. Sie alle waren mit einem Speer und einem ovalen, bunt verzierten Schild bewaffnet. Der Anführer verneigte sich vor Artanis, und sagte etwas in einer Sprache, die Edrahil vollkommen unbekannt war. Er wechselte einen Blick mit Eayan, der nur mit den Schultern zuckte. Einige Männer warfen ihnen feindselige Blicke zu, bis Artanis etwas in der gleichen Sprache antwortete. Der für Edrahil unverständliche Austausch ging noch einige Augenblicke weiter, bis die Krieger die rechte Faust an die linke Schulter schlugen, und sich wieder entfernen.
"Sie haben uns für Raes Gefolgsleute gehalten?", fragte Eayan, und Artanis nickte. "Allerdings, und für die haben sie wenig übrig. Die Temne habe eine lange, blutige Geschichte mit den Königen von Arzâyan und allen, die sie gern beerben wollen. Und seit Taraezaphel ihre Position in der alten Stadt gefestigt hat, gehen ihre Söldner und andere Gefolgsleute immer rücksichtsloser gegen jene vor, die ihnen im Weg stehen." Er band die Pferde an einem Pfosten im Schatten eines Baumes fest, und bedeutete Edrahil und Eayan dann, ihm zu folgen. Er führte sie quer durch das Dorf, wo Edrahil feststellen musste, dass die Frauen der Temne sich ebenso kleideten wie ihre Männer, nämlich lediglich mit einem knielangen Lendenschurz. Edrahils Überraschung darüber währte nicht lange, denn in dieser Hitze war es sicherlich angenehmer, so wenig Kleidung wie möglich zu tragen - und mit ihrer dunklen Haut verbrannten sie in der Sonne vermutlich langsamer als Menschen mit hellerer Haut.
Im Westen ging die Sonne allmählich unter und die Hütten warfen lange Schatten, als sie eine Hütte am Rand des Dorfes erreichten, die ein wenig erhöht den Hügel hinauf lag. Artanis zog den Vorhang aus gewebtem Stoff, der den Eingang verschloss, beiseite, und bedeutete seinen Begleitern, einzutreten. Im inneren herrschte Dämmerlicht, und es brauchte einige Augenblicke, bis Edrahils Augen sich daran gewöhnt hatten. Im hinteren Teil der Hütte war ein kleiner Bereich durch einen Wandschirm abgetrennt, und an den Wänden entlang zogen sich hölzerne Regale, in denen aus Lehm gefertigte Töpfe und Flaschen aller Art standen. Artanis entzündete zwei flache Talgkerzen, die vollkommen rauchlos brannten, und ließ sich dann auf einem Sitzkissen, ähnlich derer in seinem verborgenen Keller in der Nähe von Zôrkadar nieder. Edrahil und Eayan taten es ihm gleich. Nur kurze Zeit später trat ein junger Mann herein, der einen großen Topf und drei kleinere Schüsseln mit hölzernen Löffeln trug, und vor Artanis abstellte. Dann verschwand er ebenso wortlos wie er gekommen war.
Edrahil zog eine Augenbraue in die Höhe. "Die Leute dieses Dorfes scheinen euch sehr zu respektieren. Seid ihr ihr Häuptling, oder eine Art Ältester?"
"Das zweite trifft es besser", erwiderte Artanis, und füllte die Schüsseln mit einem Eintopf, der zum großen Teil aus Edrahil unbekannten, gelbbraunen Körnchen zu bestehen schien. "Hirse", erklärte Eayan, der seinen fragenden Gesichtsausdruck bemerkt hatte. "In diesen Gegenden so etwas wie das grundlegende Nahrungsmittel. Es ist eine Art Getreide."
Im Grunde war es Edrahil gleichgültig, worum es sich bei diesem Essen handelte, denn beim Geruch des Eintopfes war ihm klargeworden, dass es über einen Tag her war, dass er etwas gegessen hatte. Während er begann zu essen, sprach Artanis weiter: "Ich lebe hier jetzt bereits seit... nun, beinahe vierhundert Jahren hier. Die Temne betrachten mich als jemanden mit großer Weisheit und Wissen, aber ich würde mich nicht als ihren Anführer bezeichnen. Mir würde es nicht im Traum einfallen, ihnen Befehle zu geben - höchstens Ratschläge. Ob sie diese befolgen oder nicht ist ihnen überlassen."
"Nun, dann frage ich nicht weiter, wie ihr zu Taraezaphel steht", meinte Edrahil. "Sondern wie sie zu ihr und ihren Plänen stehen."
Artanis lächelte. "Die Temne würden am liebsten jede Spur von Arzâyan ausgelöscht sehen. Die meisten der alten Könige haben sie gnadenlos unterdrückt, und die meisten Kriegsherren aus dem Haus Nardûkhôr die seitdem in diesen Landen ihr Unwesen getrieben haben, waren wenig besser. Und sie sind nicht der einzige Stamm, der dieser Ansicht ist. Auch die Limba und die Mende, die anderen beiden großen Stämme im Norden stehen Taraezaphel feindlich gegenüber, doch sie sind auch untereinander zerstritten."
"Das dürfte der Grund sein, warum Rae überhaupt Fuß fassen konnte", vermute Eayan, und Artanis nickte. "Richtig. Nach dem Tod ihres Vaters und Großvaters war die Macht des Hauses Nardûkhôr beinahe vollständig erloschen. Doch die Stämme haben ihre erneut wachsende Macht zu spät bemerkt, weil sie zu sehr mit ihren eigenen Streitigkeiten beschäftigt waren."
"Und niemand weiß genau, wie diese Streitigkeiten begonnen haben, nicht wahr?", fragte Edrahil, und Artanis' dunkle Augen fixierten ihn. "Das ist richtig. Aber ihr glaubt nicht, dass Rae dafür verantwortlich war?"
"Nein, das glaube ich nicht", bestätigte Edrahil. "Jedenfalls nicht sie alleine. Auf die ein oder andere Art denke ich, dass Mordor bereits zu dieser Zeit seine Hand im Spiel hatte."
"Und Mordor ist der Grund für euer Kommen. Warum sonst sollte es euch aus dem Norden in dieses entfernte Land verschlagen?" Edrahil nickte. "Rae hat unsere Wege im Norden bereits gekreuzt - zumindest indirekt. Zu dieser Zeit hat sich mit jemandem zusammengearbeitet, dessen Angehörigkeit zu Mordor und seinen Verbündeten nicht angezweifelt werden konnte. Und auch wenn Arzâyan so weit im Süden liegt: Fällt es unter Saurons Einfluss, könnte er es dazu nutzen, seine Feinde in Harad aus einer unerwarteten Richtung anzugreifen."
"In diesem Fall könnte man euch beinahe dafür verantwortlich machen, Rae Mordor in die Arme getrieben zu haben, Schattenfalke", sagte Artanis an Eayan gerichtet. "Ich weiß nicht, ob ich so weit gehen würde", erwiderte dieser scheinbar entspannt, doch Edrahil entging nicht, dass sich sein Kiefer angespannt hatte. Eayan seufzte. "Ich glaube, ich schulde ich eine Erklärung, Edrahil. Unser... Gastgeber scheint die Geschichte bereits zu kennen, also könnt ihr euch darauf verlassen, dass ich euch nicht anlüge." Edrahil erwiderte nichts, sondern nickte nur stumm. Er hatte sich mit einem Urteil über Eayans Vertrauenswürdigkeit noch zurückgehalten, und würde dieses erst fällen, wenn er die Geschichte zur Gänze gehört hatte.

"Zu jener Zeit gehörte ich noch den Assassinen an", begann Eayan zu erzählen. "Saleme begann immer mehr Einfluss zu über den Orden zu gewinnen, und der Auftrag ging vornehmlich von ihr aus. Ich hatte damals keinen Grund, ihr zu misstrauen - ihr kennt unsere Vorgeschichte - und so führte ich ihn ohne zu Zögern aus. Das war ein Fehler in doppelter Hinsicht, doch ich war jung und ehrgeizig." Für einen Augenblick wirkte Eayan müde. "Der Auftrag lautete, nach Arzâyan zu reisen und die letzten Erben des Hauses Nardûkhôr auszulöschen. Angeblich, weil sie das Machtgefüge im tiefen Süden zu kippen drohten."
"Dieser Grund ist nicht völlig abwegig", warf Artanis ein. "Der Blutige Löwe war seit langer Zeit der erste, der einen ernsthaften Versuch unternahm, Arzâyan auferstehen zu lassen. Und er hatte keine schlechten Aussichten auf Erfolg."
"Das mag richtig sein", erwiderte Eayan. "Doch ich bezweifle im Nachhinein, dass das der wirkliche Grund für meinen Auftrag war. Die Assassinen haben eigentlich nie so weit im Süden operiert, sondern eher in den haradischen Reichen. Trotzdem brach ich bald nach Süden auf, und kam in ein Arzâyan, das von Mazhakars, Raes Großvater, Kriegeszügen zerrüttet war. Ich fand keine Gelegenheit, an ihn und seine Nachkommen heranzukommen, also begann ich mir Hilfe zu suchen. Ich fand sie in Gestalt einer anderen marodierenden Söldnertruppe, der ich mich anschloss, und die ich dazu brachte, Mazhakar eine Falle zu stellen. Mazhakars Gefolgsleute gewannen zwar die Schlacht trotz ihrer Überraschung, denn sie waren besser ausgerüstet und geführt als meine Verbündeten, doch mir gelang es, das Chaos der Schlacht auszunutzen. Nach dem Sieg mussten Mazhakars Gefolgsleute feststellen, dass er und sein Sohn inmitten ihrer Reihen ermordet worden waren."
"Nach Mazhakars Tod löste seine Truppe sich bald auf", ergänzte Artanis. "Gegnerische Söldnerhorden und die einheimischen Stämme setzten ihnen, führerlos wie sie waren, derart zu, dass die Überlebenden sich entweder anderen Horden anschlossen, oder Arzâyan verließen."
"Und ihr wurdet nachlässig, Eayan", sagte Edrahil. "Ihr konntet es nicht über euch bringen, ein junges Mädchen zu ermorden - wie alt war sie damals?"
"Zwölf", antwortete Eayan mit einem bitteren Lächeln. "Und ihr habt in gewisser Weise Recht. Ich wollte dieses Kind, dem ich die letzten Verwandten genommen hatte, nicht töten, und ich hielt sie für unschuldig und ungefährlich. Was im Nachhinein betrachtet recht naiv ist."
"Gnade ist niemals naiv oder falsch", meinte Artanis, doch Edrahil schüttelte den Kopf. "Manchmal ist sie das. Ein totes Mädchen gegen wie viele Tote, die durch ihr Handeln inzwischen verursacht wurden? Und die vielen mehr die sterben werden, wenn durch die Mordor die Macht über dieses Land bekommt?"
"Vielleicht habt ihr recht", erwiderte Artanis. "Vielleicht auch nicht. Selbst jene mit schlechten Absichten können letztendlich einem guten Zweck dienen, ohne dass sie es wissen." Edrahil bezweifelte das, sagte aber nur: "Also schön. Wie endet eure Geschichte?"
"Ich sorgte unauffällig dafür, dass das Mädchen nach Umbar gebracht wurde, wo sie entfernte Verwandte haben mochte - ich wusste es nicht mit Sicherheit, doch mehr konnte ich nicht für sie tun."
"So wiederholt sich die Geschichte", warf Artanis ein, doch auf Edrahils fragenden Blick hin winkte er ab. "Später. Zunächst wüsste ich gern, was der zweite Fehler war, von dem ihr gesprochen habt, Eayan."
"Als ich nach Harad zurückkehrte war über ein Jahr vergangen", erzählte Eayan weiter. "Irgendetwas hatte sich in der Zwischenzeit verändert, doch ich begriff erst später - zu spät - was geschehen war. Solange ich fort war, hatte Saleme immer mehr die Macht an sich gerissen, und es dauerte einige Monate, bis ich erkannte, wohin sie die Assassinen führen würde. Es kam zum offenen Bruch, und schließlich spaltete sich der Orden in Salemes Assassinen und meine Gefolgsleute, den Silbernen Bogen. Doch wäre ich nicht nach Azâryan gegangen... vielleicht hätte ich ihren Verrat früher bemerkt. Vielleicht hätte ich es verhindern können, oder zumindest den Schaden begrenzen."
"Oder sie hätte euch auf andere Weise aus dem Weg geräumt", meinte Edrahil. "Und zwar dauerhafter. Vielleicht hat sie euch auf diese Weise das Leben gerettet - ganz unabsichtlich."
"Mag sein. Also, nun kennt ihr die ganze Geschichte. Und vielleicht versteht ihr, warum ich sie euch verschwiegen habe."
Edrahil nickte. Für ihre Mission spielte die Geschichte kaum eine Rolle, also hatte Eayans Schweigen ihnen nicht geschadet.
"Es ist nicht die ganze Geschichte", widersprach Artanis. "Doch diesen Teil kennt vermutlich nicht einmal Eayan." Der angesprochene blickte den Elben überrascht an. "Rae weiß inzwischen, wer ihren Großvater und ihren Vater auf dem Gewissen hat", erklärte dieser. "Sie weiß nur nicht, wie genau ihr ausseht - ansonsten hätte sie euch, vermute ich, nicht in den Kerker geworfen, sondern an Ort und Stelle getötet."
"Sie wäre nicht die einzige, die dieses Bedürfnis hat", erwiderte Eayan unbeeindruckt. "Und dennoch kann uns dieser spezielle Fall vielleicht nützlich werden", meinte Edrahil nachdenklich. "Doch darüber werde ich später nachdenken. Zuerst würde ich gerne eure Geschichte hören, Artanis, selbst wenn sie für unsere jetzige Situation nicht allzu wichtig scheinen mag."

Artanis verschränkte die Beine zum Schneidersitz, und lächelte. "Nun, ich hoffe ihr seid nicht allzu erschöpft von der Reise - denn meine Geschichte ist lang." Vor der Tür, die genau in Richtung Sonnenuntergang blickte, verschwanden gerade die letzten Sonnenstrahlen hinter dem Horizont und die ersten Sterne leuchteten am Abendhimmel auf.
"Mein Großvater gehörte dem Stamm der Noldor an, und kam im Gefolge Finrods, den sie später Felagund nannten, nach Mittelerde. Ich nehme an, ihr kennt die Geschichte von Nargothrond und seinem Fall?" Sowohl Edrahil als auch Eayan nickten, was Edrahil ein wenig verwunderte. In Gondor wurden die Geschichten vom Kampf der Eldar und Edain des ersten Zeitalters gegen Morgoth von Angband viel erzählt, doch er hatte nicht erwartet, dass sie bis nach Harad vorgedrungen waren.
"Mein Großvater entkam der Katastrophe, und floh nach Süden an die Sirionmündungen, wo er meine Großmutter kennen lernte. Der Überfall von Feanors Söhnen auf die Flüchtlinge dort raubte ihm seinen Glauben an die Elben, und er verließ Beleriand, um die Menschen in den fernen Gegenden der Welt von Morgoths Einfluss zu befreien. Vielleicht ahnte er damals bereits, dass es mit Morgoths Fall, sollte dieser kommen, nicht vorüber sein würde.
Im Zweiten Zeitalter wurde er getötet, als sich Saurons Einfluss von Mordor her ausbreitete, und mein Vater sah seine Träume als gescheitert an. Er ging mit seiner Mutter nach Norden um Elben zu suchen, die den Weg nach Westen kannten, und nur mein Bruder und ich blieben im Süden zurück. Damals kamen wir auf der Flucht vor Saurons Schergen in dieses Land. Lange Jahre arbeiteten wir gegen Saurons Einfluss, der weit nach Süden kroch, an - bis dieser plötzlich verschwand. Und dann kamen die Númenorer. Zu Anfang kamen sie als Freunde, als Händler und als Lehrer. Doch je mehr Zeit verging, desto stolzer und hochfahrender wurden sie, und begannen ihre Herrschaft über dieses Land zu festigen, bis sie schließlich, am Ende des Zweiten Zeitalters wie Tyrannen über dieses Land herrschten. Nach dem Fall Númenors und dem Sturz Saurons durch den Letzten Bund, besserte sich die Lage. Mein Bruder und ich begannen Kontakte zum Truchsess zu knüpfen, und später mit den Königen von Arzâyan. Für einige Zeit herrschte Frieden und Wohlstand, und selbst die Stämme des Nordens hatten sich einigermaßen mit den Königin aus Zôrdakar abgefunden. Doch schließlich, während der Herrschaft von König Kalphazôr, dem letzten Löwen, kam es zu Aufständen, und zu Kämpfen zwischen den hiesigen Stämmen und den Soldaten Arzâyans. Kalphazôr entsandte seinen Sohn Taraezahil, um den Konflikt zu lösen, und dabei traf Taraezahil auf meinen Bruder."
Edrahil erinnerte sich an etwas, was Bayyin ihm gesagt hatte, und warf instinktiv ein: "Tassadar." Artanis' Augen verengten sich. "Ihr seid nicht direkt aus Dol Amroth hierher gekommen, nicht wahr?"
Edrahil schüttelte den Kopf. "Nein. Wir kommen von Tol Thelyn - ihr kennt diesen Namen?"
"Allerdings. Und ich weiß auch, was die letzten Besucher von dort in diesem Land getan haben. Doch ich will nicht vorgreifen." Artanis holte tief Luft. "Mein Bruder wurde tatsächlich Tassadar genannt. Es war nicht sein richtiger Name, sondern die Ehrenbezeichnung eines Stammes tief im Süden, doch er gefiel ihm, und so behielt er ihn bei. Er begegnete Taraezahil, als dieser kam um die Unruhen zu beenden, und schloss Freundschaft mit ihm. Dem Einfluss meines Bruder und Taraezahils Vernunft ist es zu verdanken, dass die Unruhen friedlich beigelegt werden konnten, und mein Bruder erkannte, dass Taraezahil in Zukunft einen großen und guten König abgeben könnte. Er schenkte ihm den goldenen Schild, den mein Vater einst getragen hatte, und der Taraezahil den Beinahmen Sonnenschild eintrug."
Dieses Mal unterbrach Eayan, dem offenbar ein Gedanke gekommen war, die Erzählung. "Die Waffe, die ihr aus dem Palast gestohlen habt..." "... ist das Gegenstück zu diesem Schild", beendete Artanis den Satz für ihn. "Der Speer von Adûn, wie die Temne und die anderen Stämme ihn nennen."
"Nach dem adûnaischen Wort für Westen", stellte Edrahil fest, und Artanis nickte. "Speer und Schild gehörten meinem Großvater und stammen aus Nargothrond. Mein Vater gab sie an meinen Bruder weiter, und dieser gab den Schild an Taraezahil und behielt den Speer. Er ging sogar soweit, mit Taraezahil in die Hauptstadt zurückzukehren, wo er sich als Soldat aus dem Gefolge des Prinzen ausgab." Der Elb seufzte. "Bei einer Schlägerei zwischen den Anhängern Taraezahils und denen seines älteren Bruders durchschaute ein wichtiger Adliger aus dessen Gefolge Tassadars Tarnung, und Tassadar tötete ihn. Die Angelegenheit führte zum Bruch zwischen Taraezahil und seinem Vater, und zu Taraezahils Verbannung aus dem Königreich. Mein Bruder kehrte nach Norden, wo ich zurückgeblieben war zurück, niedergeschlagen über die Verbannung seines Freundes und das scheinbare Scheitern all seiner Träume. Doch dann kommen eure Freunde von Tol Thelyn ins Spiel."
"Mardil, der damalige Turmherr, kam nach Zôrdakar und tötete König Kalphazôr, was den Krieg auslöste, in dem Arzâyan unterging", erinnerte Edrahil sich an die Lektüre von Mardils Bericht.
"Es ist in diesen Tagen noch einiges mehr geschehen", erwiderte Artanis. "Als Mardil nach der Tat aus Zôrdakar floh, wurde er von Tassadar und mir im nördlichen Gebirge aufgespürt, nachdem wir von Kalphazôrs Tod gehört hatten. Tassadar hatte seinen Traum nicht aufgegeben, ein Arzâyan zu dem Königreich zu machen, dass es sein sollte, und überzeugte Mardil, das Land zu verlassen, und nicht mehr zurückzukehren. Dann überschritt er selbst die östliche Grenze, um Taraezahil nach Arzâyan zurückzuholen." Die Kerzen flackerten, und warfen gespenstische Schatten auf Artanis' Gesicht, der mit einem Mal viel älter aussah als zuvor. "Es waren schreckliche Tage die folgten. Im ganzen Land bekriegten sich die vier Kinder Kalphazôrs, mal hatte dieser die Oberhand, mal jener. Gemeinsam mit Tassadar, der die Unterstützung der nördlichen Stämme mitbrachte, schlug Taraezahil seinen ältesten Bruder vernichtend in der Schlacht, doch der Sieg war nicht entscheidend, und sie verloren viel Zeit dabei, genug Kräfte für den entscheidenden Schlag zu sammeln."
"Wo wart ihr während jener Zeit?", fragte Eayan. "Hattet ihr kein Vertrauen in die Vision eures Bruders?" Artanis schien nicht verärgert. "Ich hätte meinem Bruder mein Leben anvertraut, und auch Taraezahil war ein guter Mann, den ich gerne als König gesehen hätte. Doch ich bin kein Krieger, und kein Intrigant - zumindest war ich das zu dieser Zeit nicht. Ich blieb im Norden, um die Verwundeten zu versorgen, die aus dem Süden heimkehrten, und um die Stämme vor Saerinzîl, Kalphazôrs einziger Tochter, die in dieser Gegend die Oberhand hatte, zu schützen.
Schließlich hatte Taraezahil genug Kräfte für den Sturm auf Zôrdakar gesammelt, schlug Saerinzîl, die die Stadt zu jener Zeit beherrschte, in der Schlacht, und belagerte  die Hauptstadt. Und dann kam Varnâk, der jüngste der Brüder, mit einem Heer von Süden, und bot Taraezahil ein Bündnis an. Seine Berater, darunter sein Onkel und mein Bruder rieten ihm von einem Treffen ab, doch Taraezahil hörte nicht auf ihn. Tassadar bestand darauf, ihn zu diesem Treffen zu begleiten, falls Varnâk Verrat plante - er hatte nicht ohne Grund den Beinahmen die Kobra. Tassadars Befürchtungen erwiesen sich als richtig, doch..." Artanis zögerte, als müsste er sich überwinden, weiterzusprechen. "Er konnte nicht verhindern, was geschah. Ich weiß nicht, was bei diesem Treffen geschah, doch hinterher war Taraezahil ein Gefangener, Tassadar war tot, ermordet von Varnâk, und Schild und Speer meiner Vorfahren waren in Varnâks Händen." Artanis verstummte für einen Augenblick, und beobachtete stumm die tanzenden Flammen der Kerzen.
"Die Jahre die folgten waren... die schlimmsten meines Lebens, und ich habe einiges erlebt. Es folgten der Triumph des dunklen Prinzen, Kalphazôrs ältestem Sohn, über seine jüngeren Geschwister, durch ein Bündnis mit Umbar, und dann wiederum seine Niederlage und Tod durch das Bündnis seiner Geschwister mit einer viel dunkleren Macht."
"Mordor?", fragte Edrahil leise. "Schon damals?"
"Zu dieser Zeit begann Sauron, allmählich seine Macht zurück zu erlangen, und die Macht seiner Feinde nach und nach zu schwächen. Einer seiner dunklen Boten kam nach Zôrdakar und ermordete Karazîr, den Onkel des dunklen Prinzen und seine größte Stütze. Bald darauf griffen Varnâk und Saerinzîl wieder nach der Macht, und dieses Mal siegten sie. Ihr Bruder fiel, und die Flotte Umbars wurde auf dem Sakalroth eingeschlossen und vernichtet. Damit begannen Arzâyans dunkelste Tage. Varnâk und Saerinzîl herrschten mit eiserner Faust, Menschenopfer waren an der Tagesordnung. Und zu dieser Zeit kam Galador, Mardils Sohn, von Tol Thelyn nach Arzâyan. Er half Relezôr, dem Großonkel der Geschwister, mit seiner Familie nach Norden zu fliehen - ähnlich wie ihr, Eayan, so lange Zeit nach ihm. Aus diesem Zweig des Hauses stammt Taraezaphel.
Der Krieg fand sein Ende in einem gewaltigen Aufstand, in dem Zôrdakar zerstört wurde und sich Saerinzîl und Varnâk gegenseitig erschlugen - dieser Aufstand wurde Relezôr nach dessen Rückkehr entzündet, und nur deshalb konnte ich Mardil, dessen Tat meinem Bruder letztendlich den Tod gebracht hatte, verzeihen. Denn hätte sein Sohn Relezôr nicht geholfen, hätte dieser nicht nach Arzâyan zurückkehren können, um die Herrschaft der Geschwister und das Königreich auszulöschen."

Nachdem Artanis seine Erzählung beendet hatte, herrschte Stille, in der nur die Geräusche der Nachtvögel von draußen zu hören waren. Schließlich brach Edrahil das Schweigen. "Ich verstehe, warum ihr Arzâyan am liebsten für immer vernichtet sehen würdet. Was werdet ihr unternehmen?"
In Artanis' Augen spiegelte sich das Licht der Kerzenflammen. "Ihr seid zu einem merkwürdigen Zeitpunkt gekommen. Morgen werden sich Vertreter der größten Stämme hier treffen, um ihre Streitigkeiten beizulegen - zumindest hoffe ich das, und ich werde mein Möglichstes tun, damit das geschieht. Wenn es so kommt, wird es Krieg geben - und dann werden der Sonnenschild und der Speer von Adûn in die Schlacht zurückkehren."

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Re: Arzâyan
« Antwort #5 am: 5. Okt 2018, 19:19 »
Edrahil sah den Kriegern der Temne, der Limba und der Mende zu, wie sie über das von Leichen übersäte Schlachtfeld schritten - die eigenen Gefallenen davon trugen um sie zu beklagen und nach der Art ihres jeweiligen Stammes zu beklagen, und die Leichen von Raes Männern plünderten. Unter dem wasserfallartigen Regenguss, der zu Beginn der Schlacht losgebrochen war, hatten die Füße der Kämpfenden und die Hufe der Pferde das Schlachtfeld in eine einzige Schlammwüste verwandelt, doch niemand beklagte sich, hatte dieser Regen doch den großen Sieg, den die Stämme errungen hatten, erst möglich gemacht.
Nicht allzu viele Tage waren vergangen, seit Edrahil und Eayan von Artanis geführt bei den Temne eingetroffen waren, doch viel war seitdem geschehen. Die Versammlung der Stämme war eine laute und beinahe blutige Angelegenheit gewesen, zu der Edrahil dank Artanis' Übersetzungen einiges über die Gesellschaft und die Eigenarten der Stämme des tiefen Süden gelernt hatte. Schließlich war es Artanis gelungen, die Anführer der drei Stämme zu überzeugen, gemeinsam gegen Raes Herrschaft vorzugehen, obwohl sie schon kurz davor gewesen waren, stattdessen gegeneinander Krieg zu führen. Diese Wendung war auch dringend nötig gewesen, denn Rae war gleich mit einem ganzen Heer aus Zôrdakar ausgerückt, um ihre entflohenen Gefangenen und ihr verschwundenes Erbstück wieder zu erlangen. Dabei hatte sie ein Dorf der Mende passiert, deren Bewohner sich geweigert hatten, ihrem Heer ihre Getreidevorräte als Proviant zu verlassen. Rae hatte nicht lange gezögert, das Getreide gewaltsam zu nehmen, und zusätzlich jeden männlichen Bewohner, der älter als zehn Jahre gewesen war, hinrichten lassen. Wenn Edrahil im Nachhinein darüber nachdachte, hatte sie ihnen damit einen großen Gefallen getan, denn vorher waren die Mende bestenfalls wankelmütige Verbündete gewesen, trotz Artanis' Reden.
Die Heere waren am nördlichen Rand der Savanne aufeinander getroffen, und beim Anblick der feindlichen Streitmacht hatte Edrahil schwarz gesehen. Zwar führte Rae größtenteils Söldner ins Feld, auf deren Treue man sich normalerweise nicht allzu sehr verlassen konnte, doch sie waren gut gerüstet, kampferprobt und außerdem größtenteils beritten gewesen. Doch der Regen war ihre Rettung gewesen. Auf dem nassen, immer schlammiger werdenden Gelände waren die Pferde ausgerutscht und gestürzt, und der beständige Regen hatte die Bogensehnen von Raes Bogenschützen bereits nach kurzer Zeit unbrauchbar gemacht. Im Gegensatz dazu tanzten die leicht gerüsteten, meist nur mit Speer und einem länglichen, ovalen Schild bewaffneten Stammeskrieger geradezu virtuos durch den Regen, und obwohl die Heere sich zahlenmäßig geglichen hatten, war die Schlacht nach nicht einmal zwei Stunden entschieden gewesen. Rae hatte sich, obwohl ihre Verluste nicht allzu schwer gewesen waren, mit ihren Söldnern nach Zôrdakar zurückgezogen, doch Abrazîr war sehr zu Edrahils Befriedigung lebendig und unversehrt gefangen genommen worden, nachdem Artanis ihn im Zweikampf besiegt hatte.

Wie aus dem Boden gestampft stand plötzlich Eayan neben ihm, ein längliches Ledergefäß in den Händen. Edrahil lächelte. "Wie ich es gedacht hatte?" Eayan erwiderte das Lächeln ein wenig überlegen. "Genau so, wie ich es gedacht hatte." Noch vor der Schlacht war Eayan nach Zôrdakar aufgebrochen - sobald die Nachricht eingetroffen war, dass Rae und ihre Männer die Stadt verlassen hatten. Er hatte sich in den Palast schleichen sollen um nach Beweisen für Raes Bündnis mit Mordor zu suchen. Beweise, die Edrahil in Raes eigenem Gewahrsam vermutet hatte, Eayan aber eher in dem ihres treuen Gefolgsmannes Breyyad.
Edrahil zuckte mit den Schultern. "Nun, man kann nicht immer Recht haben. Über den Inhalt dieser Dokumente würde ich allerdings trotzdem gerne Recht behalten." Eayans Gesicht wurde ernst. "Ich konnte nicht alles entziffern, weil einiges verschlüsselt ist. Aber wie es aussieht, bekommt Rae Geld und Waffen aus Mordor, um ihr Reich zu errichten." Edrahil hatte die Lederröhre an sich genommen und darin befindlichen Dokumente überflogen. "Und als Gegenleistung sollte sie, sobald sie genug Männer gesammelt hätte, nach Norden marschieren und Qúsay in die Flanke fallen. Ah, dieses Dokument ist älter - noch bevor der Krieg offen ausgebrochen ist. Sie sollte ihre Söldner vor allem in Gondor und Rohan anheuern, um diese Länder zu schwächen." Er schüttelte den Kopf. "Ein ausgeklügelter Plan. Ich muss sagen, es ist mir ein wenig peinlich, das nicht bemerkt zu haben."
"Das sollte es auch sein", gab Eayan ohne das geringste Zeichen von Mitgefühl zurück. "Und jetzt? Ich hoffe, ihr habt diesen Abrazîr geschnappt, ohne ihm schon allzu viel in der Schlacht abzuhacken?"

Abrazîr war mit dem Rücken an einen der niedrigen Bäume, die in dieser Gegend vereinzelt wuchsen, gefesselt. Ihm gegenüber saß Artanis, die Beine im Schneidersitz verschränkt und betrachtete ihn unablässig, aber stumm, als wollte er etwas Verborgenes ergründen. Der goldene Schild und Speer, die er in der Schlacht so überlegen geführt hatte, lagen neben ihm. Beide, der Elb und sein Gefangener, blickten auf, als Edrahil und Eayan zu ihnen traten. Eayan spielte ein wenig gelangweilt mit einem hässlich gebogenen Dolch, und als Abrazîrs Blick darauf fiel, biss er sichtlich die Zähne zusammen und schien sich für das Kommende zu wappnen. Edrahil hob die Hand.
"Ihr habt nichts zu befürchten, Abrazîr. Ich denke, wir werden es nicht nötig haben, weiter Gewalt anzuwenden, um euch von der Wahrheit zu überzeugen." Abrazîrs Augen weiteten sich, denn er schien augenblicklich zu begreifen. "Das heißt... es ist wahr, was ihr behauptet habt. Taraezaphel hat ein Bündnis mit Mordor geschlossen." Seine Stimme zitterte kein bisschen, doch Edrahil sah ihm an den Augen an, wie sehr ihn diese Erkenntnis traf. Vorher mochte er an Rae gezweifelt haben, doch nicht so sehr, dass er tatsächlich damit gerechnet hatte, dass seine Zweifel sich als berechtigt erweisen könnten.
"Bindet ihn los", bat Edrahil Artanis, der die Fesseln ohne zu zögern durchschnitt. Offenbar hatte er keine Sorge, dass Abrazîr entkommen könnte, und Edrahil war geneigt, diese Ansicht zu teilen. Er reichte Abrazîr die Dokumente, die Eayan erbeutet hatte, und dieser nahm sie zögerlich entgegen.
"Deshalb habe ich euch während der Schlacht nicht gesehen", stellte er in Eayans Richtung fest, und dieser zuckte mit den Schultern. "Was soll ich sagen? Offene Feldschlachten sind nicht mein Stil. Ich fand es angenehmer, mich stattdessen einmal in Zôrdakar umzusehen, wo doch beinahe alle seine Bewohner ausgerückt waren, um mich und meine Freunde zu töten."
Abrazîr erwiderte nichts, und studierte stattdessen aufmerksam die Dokumente, die Edrahil ihm gegeben hatte. Ihm schien es deutlich weniger Schwierigkeiten zu bereiten als Edrahil oder Eayan, und schließlich zog er scharf die Luft ein - sichtlich schockiert. "Sie hat mich dazu benutzt, Männer in Gondor für ihre Sache zu gewinnen, um Gondor für Mordors Angriff zu schwächen. Das war nicht das, was ich wollte - und nicht das, was sie mir erzählt hat."
"Oh, ich nehme an, sie hat euch in den meisten Dingen durchaus die Wahrheit gesagt. Nur ein, zwei hässliche Dinge verschwiegen", erwiderte Edrahil. "Aber kommen wir zur Sache. Ich bin mir bereits seit längerer Zeit - beinahe seit unserer ersten Begegnung übrigens - sicher, dass ihr aus Gondor stammt, und zwar aus einem adligen Haus. Was ihr eben gesagt habt, bestätigt zumindest den ersten Teil dieser Vermutung, und was den zweiten Teil angeht..." Er legte den Zeigefinger der rechten Hand an die Nase, und dachte nach. Abrazîr blickte ihn mit einer Mischung aus Trotz, Spannung und Überlegenheit an, und auch Eayan und Artanis richteten ihre Blicke auf ihn. "Ihr seid vor dem Jahr 3018 aus Gondor verschwunden, da bin ich mir sicher. Eher noch drei oder vier Jahre eher, denn eurem Aussehen nach zu urteilen dürftet ihr mehr als vier Jahre fort sein. Einem allzu bedeutenden Adelshaus könnt ihr nicht angehören, sonst wäre euer Verschwinden in Gondor allgemein bekannt, und aus Belfalas dürftet ihr ebenfalls nicht stammen." Er strengte sein Gedächtnis noch etwas weiter an, und dann lächelte er. "Ah. Ich weiß jetzt, an wen ihr mich erinnert, Abrazîr. Und zwar an euren Neffen Valion - ihr habt die gleiche Nase, Tórdur Seren."
"Glückwunsch, Edrahil", gab dieser bitter zurück, und wedelte mit den verräterischen Papieren in seiner Hand. "Ihr habt nicht nur meinen Glauben in Taraezaphel und Arzâyan zerstört, sondern mich auch noch an Dinge erinnert, an die ich nicht gerne denke."
"Und jetzt erwarte ich auch noch, dass ihr mir dabei helft, Raes Herrschaft endgültig zu beenden", meinte Edrahil. "Ziemlich viel auf einmal, ich weiß."
Abrazîr - oder besser Tórdur - seufzte tief, bevor ein Anflug eines Lächelns über sein Gesicht huschte. "Sicher. Aber wie ihr sicherlich beabsichtigt habt, habt ihr mich daran erinnert, dass es noch einen Ort außer Arzâyan für mich geben kann. Selbst wenn mein Vater mir meine Worte bei unserem Abschied nicht verzeihen kann, ich glaube nicht, dass Fürst Imrahil in der aktuellen Lage deswegen auf meine Dienste verzichten würde."
"Ich möchte, dass ihr einen Schwur leistet", meldete sich Artanis leise, aber bestimmt zu Wort, und Tórdur war nicht der einzige, der zusammenzuckte, als der Elb nach langem Schweigen plötzlich das Wort ergriff. "Ich traue Edrahils Urteil, und muss ich darauf bestehen."
Tórdur zögerte keinen Augenblick. "Ich schwöre... bei der Ehre meines ganzen Hauses, dass ich alles tun werde, was in meiner Macht steht, um Taraezaphels Herrschaft über Arzâyan ein für alle mal zu beenden - denn wer mit Mordor im Bund steht, kann niemals mein Freund oder mein Herr sein, ganz gleich was vorher gewesen ist." Artanis nickte zufrieden, und wandte sich dann an Edrahil. "Also, Meister Edrahil. Der erste Schritt ist getan, aber Taraezaphel sitzt wieder in Zôrdakar und leckt ihre Wunden. Wie kommen wir an sie heran?"

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Eandril

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Re: Arzâyan
« Antwort #6 am: 15. Dez 2018, 12:44 »
Zu viert hatten sie einen Plan geschmiedet, der ihnen ermöglichen sollte, Rae selbst in ihrer Festung, die für die Stammeskrieger uneinnehmbar schien, zu erreichen. Den Anstoß dazu hatte Tórdur geliefert, der darauf hingewiesen hatte, dass ein nicht unbeträchtlicher Teil von Raes Söldnern wie er selbst aus Gondor oder Rohan stammte, und daher keinen Grund hatte, an ihrer Seite für Mordors Ziele zu kämpfen. So waren Eayan und Tórdur mitten in der Nacht aufgebrochen, um sich auf einem ähnlichen Weg nach Zôrdakar einzuschleichen wie bei ihrer Flucht. Inzwischen war der Tag angebrochen, und die Sonne strahlte erbarmungslos auf das Heer der Stämme herunter, das gerade außerhalb einer Bogenschussweite sein Lager aufgeschlagen hatte. Edrahil lehnte mit dem Rücken an einem der wenigen Bäume und genoss den Schatten, den die breite Krone spendete. Dennoch klopfte sein Finger ungeduldig auf den Boden, während sein Blick unverwandt auf das geschlossene, abweisende Tor von Zôrdakar gerichtet blieb.
"Ihr habt kein Vertrauen zu eurem Plan?", fragte Artanis, dem Edrahils finstere Miene offenbar aufgefallen war, und dieser schüttelte den Kopf. "Der Plan ist gut, schließlich stammt er zu großen Teilen von mir. Doch auch der beste Plan kann unvorhergesehen scheitern." Artanis strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, und ließ seinen goldenen Speer herumwirbeln. "Und wenn er scheitert, überlegen wir uns etwas anderes. Wir haben Zeit."
"Vielleicht habt ihr hier unten ein wenig das Gefühl für Zeit verloren", gab Edrahil zurück. "Oder es ist euch über die Jahrtausende eures Lebens abhanden gekommen. Doch mit jeder Minute die verstreicht, wächst die Gefahr, dass Mordor siegt. Mit jeder Minute, die ich hier verschwende." Die Verwunderung war Artanis deutlich anzuhören, als er fragte: "Aber war es nicht eure eigene Entscheidung, nach Arzâyan zu kommen?"
Edrahil seufzte, und malte gedankenverloren mit dem Finger Muster in den staubigen Boden. "Ja, es war meine eigene Entscheidung. Taraezaphel war daran beteiligt, Leuten zu schaden, die ich schätze. Die ich sogar ein wenig gern habe - und davon gibt es nicht besonders viele. Und dafür möchte ich Rache. Das ist der eine Grund, der Grund, warum ich persönlich nach Süden gesegelt bin."
"Und der andere Grund?"
"Ich denke an die Zukunft. Was, wenn es uns tatsächlich gelingt, gegen Sauron zu bestehen? Ich weiß nicht, ob er getötet werden kann, aber wenn nicht, wäre ein Arzâyan ein Ort, an den er sich zurückziehen und schon bald wieder nach der Herrschaft über Mittelerde greifen kann."
"Ihr denkt weit in die Zukunft", meinte Artanis nicht ohne eine Hauch von Spott. "Und ich dachte, Menschen würden immer nur für die nächsten paar Wochen leben."
"Diese Menschen leben in der Regel auch nur noch die nächsten paar Wochen", erwiderte Edrahil, und kam ein wenig mühsam auf die Füße. "Ich hoffe, die Krieger sind bereit?" Sofort richtete sich Artanis' Blick auf die Stadt, wo auf dem Tor plötzlich ein blaues Banner im schwachen Wind flackerte. Er zögerte keinen Augenblick, sondern rief einen Befehl den Edrahil nicht verstand, und augenblicklich setzten sich seine Krieger in Bewegung auf das Tor, dessen große Torflügel langsam aufschwangen.

Mit einer Mischung aus Überzeugungsarbeit und Bestechung hatte Tórdur genügend Söldner auf seine Seite gebracht, um das Tor von Zôrdakar ohne große Schwierigkeiten unter seine Kontrolle zu bringen. Der Rest von Raes Soldaten war davon so überrascht worden, dass Artanis' Stammeskrieger keine Mühe hatten, in einem einzigen Ansturm die hastig aufgestellte Verteidigungsformation zu durchbrechen und bis zum alten Königspalast vorzustoßen. Dessen großes Tor war zwar fest verschlossen, doch gerade als Edrahil mit den letzten Kriegern das obere Ende der mächtigen Treppe erreichte, erklangen dahinter erstickte Kampfgeräusche, und einer der Flügel schwang auf. Dahinter erwartete sie Eayan, der einen blutigen Kratzer an der Schläfe vorzuweisen hatte, aber hochzufrieden wirkte. "Willkommen im Königspalast von Arzânyan, hohe Herren. Einige der Wächter waren so unhöflich, euch nicht einlassen zu wollen, doch ich habe sie vom Gegenteil überzeugen können."
"Wo ist Rae?", fragte Edrahil knapp. Für Glückwünsche war später noch Zeit. Eayan deutete mit dem Daumen über seine Schulter. "Sie hat sich in einem der Türme verschanzt, mit den letzten Getreuen die sich gemeinsam mit ihr retten konnten. Ich habe sie ein wenig durch den Palast gejagt." Während er sprach glomm etwas seltsames in seinen Augen auf, und zum ersten Mal überhaupt hatte Edrahil das Gefühl, wirklich den Mann vor sich zu sehen, der Schattenfalke genannt wurde. Er wollte wirklich nicht mit Rae tauschen.
"Nun, dann ist jetzt der Zeitpunkt gekommen, um mit ihr zu sprechen", sagte er. "Tórdur, Artanis und Eayan, würdet ihr mich begleiten?"

"Ich habe keinen Bedarf, mit Verrätern und Intriganten zu sprechen." Die Stimme, die hinter der dicken Holztür hervordrang, war geradezu eisig.
"Dann solltet ihr diesen Bedarf dringend entwickeln", gab Edrahil durch die geschlossene Tür zurück. "Ihr seid auf ganzer Linie geschlagen, und dies ist die einzige Gelegenheit, zu der euch Gnade gewährt wird."
"Eure Gnade kümmert mich nicht!", erwiderte Rae. "Gondor wird schon bald ein Königreich der Asche sein, genau wie alle Lande, die sich widersetzen. Dann wird das goldene Königreich von Arzâyan auferstehen, und ich werde euch ganz sicher keine Gnade erweisen."
Edrahil hielt Tórdur, der empört den Mund geöffnet hatte, mit einer Geste zurück, und sagte selbst: "Ihr wisst, dass der Schattenfalke an meiner Seite kämpft. Was glaubt ihr, wie viel Mühe es ihn kosten wird, auf anderem Weg in eure Zuflucht einzudringen und euch zu töten?" Eayan lächelte bedrohlich. "Nicht allzu viel, denke ich. Das Gemach hat einen Balkon."
Dieses Mal dauerte das Schweigen auf der anderen Seite der Tür bedeutend länger, bevor Rae schließlich antwortete. "Ich werde die Tür öffnen, wenn ihr mir und jedem, der mit mir kommen will, freies Geleit zusichert." Gleichzeitig schüttelten Artanis und Tórdur die Köpfe, doch Edrahil achtete nicht auf sie.
"Das werde ich nicht tun, Taraezaphel. Wenn ihr diese Tür öffnet, seid ihr unsere Gefangene. Doch ihr werdet behandelt werden, wie es einer Fürstin angemessen ist, und der Truchsess von Gondor wird über euch richten." Er konnte beinahe vor sich sehen, wie sich in Raes Kopf bereits jetzt Ideen formten. Der Weg nach Gondor war weit und bot jede Menge Gelegenheit zur Flucht. Und selbst wenn sie Gondor erreichten - sie war ja davon überzeugt, dass Mordor dort früher oder später siegen würde, was ohne Zweifel eine gute Wendung der Ereignisse für sie darstellen würde. Dass Edrahil keinerlei Absichten hegte, diese Versprechen einzuhalten, konnte sie schlecht wissen.
"Also gut", kam nach längerem Zögern die Erwiderung. "Ich werde... werde eure Bedingungen annehmen und begebe mich in eure Gefangenschaft." Es war ihr deutlich anzuhören, wie schwer ihr diese Aussage fiel, und als sich die Tür langsam öffnete, gestatte Edrahil sich ein heimliches erleichtertes Aufatmen. Taraezaphel stand in der geöffneten Tür, und blickte mit steinerner Miene auf einen Punkt irgendwo in der Luft zwischen Edrahil und Tórdur. Sie löste ihren Waffengurt und ließ ihn mitsamt ihrem Schwert und Dolch achtlos auf den steinernen Fußboden fallen. Dann streckte sie die Hände vor sich aus und legte sie zusammen, sodass Tórdur, der entschieden vermied, sie anzusehen, sie fesseln konnte.
"Seid ihr zufrieden, Edrahil?", fragte die geschlagene Fürstin, und ihre Stimme klang verächtlich. "Ihr habt die einzige Chance verfehlt, dass das wahre Erbe Númenors weiterleben konnte."
Edrahil zuckte mit den Schultern. "Das wahre Erbe Númenors lebt in Gondor weiter, sagen viele. Ebenso behaupten das eure Verwandten in Mordor von sich, und lange Zeit waren die Fürsten von Umbar dieser Ansicht. Das Erbe Númenors bedeutet mir wenig, denn dieses Königreich existiert schon seit über dreitausend Jahren nicht mehr. Das einzige, was mir etwas bedeutet, sind die Sicherheit und Freiheit Gondors. Von daher betrachtet... Ja, ich bin durchaus zufrieden."
Artanis hob offenbar anerkennend eine Augenbraue. "Eine weise Art, die Dinge zu betrachten. Viele Elben und Menschen - ich schließe mich selbst nicht aus - hängen zu sehr an der Vergangenheit um die Gegenwart so zu sehen, wie sie ist." Er lächelte. "Aber wir wollen uns nicht in philosophischen Betrachtungen verlieren - was habt ihr nun vor?"
Eayan warf einen warnenden Blick in Richtung Rae, doch Edrahil achtete nicht auf ihn. "Ich werde mit unserer Gefangenen zunächst nach Tol Thelyn zurückkehren, wo bereits ein guter Bekannter auf sie wartet."
"Ich werde euch begleiten." Tórdurs Stimme klang ein wenig heiser. "Und ich werde jeden Mann mitnehmen, der mir folgen will und dem ich vertrauen kann. Ich denke, dass Gondor jedes Schwert gut gebrauchen kann." Edrahil nickte zufrieden, denn darauf hatte er gebaut. Mit Tórdur und seinen Männern als Begleitung musste er sich keine Gedanken darüber machen, dass jemand versuchen könnte, Taraezaphel zu befreien.
"Ich werde selbstverständlich hier bleiben", meinte Artanis. "Selbst ohne die Bedrohung durch Arzâyan", er schoss einen finsteren Blick in Richtung Rae ab, "können die Stämme meine Hilfe gut gebrauchen. Und wer weiß, vielleicht seht ihr mit eines Tages an der Spitze der Stammeskrieger nach Norden in den Krieg ziehen."
Edrahil wandte sich an Eayan, doch dieser schüttelte den Kopf. "Ich fürchte, unsere Wege trennen sich hier fürs Erste, Edrahil. Ich habe einige Dinge zu erledigen, die ich schon viel zu lange aufgeschoben habe - eine Familienangelegenheit, wenn man es so ausdrücken will."
Edrahil zuckte mit den Schultern. "In diesem Fall werde ich euch selbstverständlich nicht aufhalten. Ich nehme ohnehin an, dass ich euch nicht auf Dauer los sein werde." Eayan lächelte, sodass seine weißen Zähne aufblitzten. "Darauf könnt ihr euch verlassen. In eurer Nähe geschieht schließlich immer irgendetwas interessantes."

Edrahil zurück nach Tol Thelyn
« Letzte Änderung: 9. Mai 2019, 08:17 von Fine »

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