Es war Salia, die als Erste reagierte. "Scheiße," stieß sie hervor, dann packte sie die wie versteinert herumstehende Zarifa und zerrte sie eilig von der Leiche Alvars fort. Fort, in Richtung der Pferde. Wo Cyneric stand und kaum fassen konnte, was geschehen war. Doch dann schalteten sich seine Instinkte ein und er hievte Zarifa hastig auf Rynescéads Rücken, den Kopf dabei gesenkt haltend. Alvars Selbstmord war so rasch und beinahe lautlos geschehen, dass selbst auf den belebten Straßen Holmgards nur wenige Menschen mitbekommen hatten, was geschehen war. Nur langsam begann sich eine Menschentraube aus Neugierigen und Schaulustigen um die Leiche zu bilden. Ein rascher Blick zeigte Cyneric, dass noch keine Wachen auf den Vorfall aufmerksam geworden waren. Salia war inzwischen ebenfalls beritten und ließ ihr Pferd im raschen Schritt gehen - immer die Straße zum Nordtor der Stadt entlang. Cyneric schwang sich hinter Zarifa in den Sattel. Kaum war er oben, setzte sich der gut trainierte Kriegshengst schon in Bewegung. Er schien genau zu wissen, wohin er gehen musste. Sie schlugen ein Tempo an, das zwar flott war, aber nicht allzu auffällig wirkte. Gerade als sie um die letzte Straßenecke vor dem Tor bogen, wurden hinter ihnen Schreie laut.
Cyneric sah zwei Möglichkeiten. Entweder setzten sie zum Galopp an und gaben sich damit als Verdächtige zu erkennen, oder sie gingen das Risiko ein, eingeholt und verhört zu werden, indem sie ihr unauffälliges Tempo beibehielten. Ein rascher Blick zu Salia hinüber, die nun an Cynerics linker Flanke ritt ließ ihn Zweiteres wählen, denn Salia machte mit der linken Hand eine beschwichtigende Geste. Also versuchte Cyneric ruhig zu bleiben und behielt das Tempo bei.
"Warum nur hat er das getan," wisperte Zarifa , deren Kopf gegen seinen ledernen Brustpanzer lehnte. Das Mädchen schien kaum wahrzunehmen, was um sie herum geschah. Immer wieder wiederholte sie Alvars Namen und redete davon, dass sie diejenige hätte sein sollen, die ihm das Leben nahm.
Cyneric legte ihr behutsam die linke Hand auf den Mund und begann, beruhigend auf Zarifa einzureden. "Wir können nicht mehr ändern, was geschehen ist. Aber was wir tun können, ist uns zu entscheiden wie wir damit umgehen. Und diese Entscheidung werden wir sorgfälig fällen, Zarifa. Aber jetzt ist nicht die Zeit dafür. Jetzt müssen wir zusehen, unbeschadet aus dieser Stadt herauszukommen."
Sie kamen ans Tor und verlangsamten ihren Ritt, als die Torwachen sie einzeln hindurchwinkten. Cyneric atmete auf, als niemand sie zum Absitzen zwang. Zu dritt durchqueren sie das Nordtor Holmgards. Vor ihnen lag eine ausgetretene Straße, die nach Nordwesten führte.
Sie ritten im raschen Tempo weiter, bis die Sonne unterging. Dann schlugen sie etwas abseits der Straße ein Nachtlager auf. Mehrere Patrouillien der Soldaten Rhûns waren ihnen unterwegs begegnet, doch nur eine davon hatte ihnen auch nur ihre Aufmerksamkeit geschenkt. Salia hatte dem Anführer der Soldaten etwas gezeigt, das Cyneric nicht richtig hatte sehen können. Nur für den Bruchteil einer Sekunde war sein Blick auf etwas Rundes, und wie Gold schimmerndes in Salias halb geschlossener Hand gefallen. Doch dann hatte Salia den Arm wieder zurückgezogen und man hatte sie ohne weitere Fragen passieren lassen.
Zarifa saß mit dem Rücken an einen großen Felsen gelehnt im weichen Gras, das nahezu überall auf den weiten Steppen Dorwinions wuchs. Die Südländerin starrte teilnahmslos ins Leere und ihre Finger schienen nach etwas Unsichtbarem greifen zu wollen. Nachdem Cyneric die Pferde versorgt hatte, setzte er sich neben das Mädchen und begann, ihr vorsichtig über den Kopf zu streichen. Bei der ersten Berührung zuckte Zarifa merklich zusammen, doch dann ließ sie es geschehen und wehrte sich nicht länger dagegen.
Eine lange Weile blieben sie so nebeneinander sitzen und schwiegen, während Salia in der Nähe nach etwas Essbarem suchte. Sie hatten in Holmgard ihre Vorräte aufgestockt, dennoch konnte es nicht schaden, diese um etwas Frisches aus der Natur zu ergänzen. Cyneric war das ganz recht. Er war der Ansicht, dass Salias Anwesenheit im Augenblick nur stören würde.
"Alvar hat dir schlimme Dinge angetan, Zarifa," sagte er behutsam. "Aber ich glaube, es war gut, dass nicht du es gewesen bist, die ihn getötet hat."
Zarifas Blick ging zum Boden, als sie leise antwortete. "Er hatte den Tod verdient. Und er wäre nicht der Erste gewesen, den ich getötet habe. Davor war es Radomir. Und davor sein Sklaventreiber, Kazimir."
Cyneric seufzte leise. Fern am Horizont ging langsam die Sonne unter. "Hast du schon einmal einen Ork gesehen, Zarifa?" fragte er.
Das Mädchen schüttelte langsam den Kopf. "Ich glaube, als man mich nach Rhûn brachte, habe ich unterwegs mal einen gehört. Aber gesehen habe ich noch keinen. Und ich glaube, das möchte ich auch nicht."
"Orks sind Kreaturen, die keine Gnade kennen. Ich habe schon so einige von ihnen getötet. Wenn ich das nicht getan hätte, hätten sie im Gegenzug nicht eine einzige Sekunde gezögert, mich umzubringen."
"Worauf willst du hinaus?" fragte Zarifa misstrauisch.
"Ich will damit sagen, dass es niemals leicht ist, ein Leben zu nehmen. Radomir, Alvar, Kazimir... sie mochten den Tod verdient haben. Aber sie waren immer noch Menschen. Sie sind nicht wie Orks, die nur für den Krieg und den Hass leben. Du solltest nicht so leichtfertig darüber urteilen, wer den Tod verdient hat, und wer nicht."
Zarifa wandte ihm den Blick zu, mit vor unterdrückter Wut funkelden Augen. Ihre dunklen Pupillen glühten wie zwei Kohlen in ihrem gebräunten Gesicht. "Du weißt, was er mir angetan hat. Ich kann diese Dinge niemals vergessen. Und sie niemals verzeihen."
"Das verstehe ich, Zarifa. Es ist schrecklich, was dir passiert ist. Und ich verspreche dir, dass du jetzt in Sicherheit bist. Ich bitte dich nur, dieses zu bedenken: Was uns von Orks und anderen Geschöpfen des Bösen unterscheidet, ist unsere Menschlichkeit. Wir Menschen haben die Wahl. Wir können sowohl gute Dinge tun, als auch böse. Orks haben diese Wahl nicht - sie dienen nur ihrer zerstörerischen Natur, oder dem Dunklen Herrscher, der sie in seinen Dienst zwingt."
"Aber wenn sich ein Mensch aus freien Stücken entscheidet, etwas Böses zu tun, ist es dann nicht schlimmer als bei einem Ork, der keine Wahl hat?"
"Das ist richtig, und dennoch ist es viel schwerer, einem Menschen das Leben zu nehmen, denn damit nimmst du ihm auch die Gelegenheit, seine Taten zu bereuen und sie mit Gutem auszugleichen."
"Als ob Radomir oder Kazimir jemals zu guten Menschen geworden wären." Zarifa spuckte aus.
"Das weißt du nicht, Zarifa. Es gibt viele Dinge, die einen Menschen verändern können. Ich weiß nicht, ob du in deinem kurzen Leben schon viele glückliche Momente hattest - aber ich hoffe es. Bitte lass nicht zu, dass Rachsucht und Verbitterung dich zu jemandem machen, der allzu schnell mit dem Todesurteil bei der Hand ist."
"Du verstehst das nicht," wehrte Zarifa ab. "Dir sind... diese Dinge nicht widerfahren."
"Ich habe meine Familie verloren, Zarifa. Und alle meine Freunde, bis auf einen. Ich fand die Liebe meines Lebens - die Frau, mit der ich den Rest meines Lebens verbringen wollte - in einer Lache ihres eigenen Blutes und einem orkischen Speer in der Brust auf der Schwelle des Hauses, in dem ich mit ihr meine Kinder großziehen wollte. Und dafür hasse ich die Orks und töte sie, wann immer ich kann."
"Und was, wenn ein Mensch deine Frau getötet hätte?" fragte Zarifa und brachte Cyneric damit aus dem Konzept. "Würdest du ihn nicht dafür töten wollen?"
"Ich... weiß es nicht. Ich würde... ich würde ihn aufspüren, und zur Rede stellen. Und herausfinden, warum er... es getan hat."
"Und dann würdest du ihn umbringen."
"Ich weiß es nicht."
Zarifa gab ein abschätziges Geräusch von sich. "Dann halte mir keine Predigt, Cyneric. Ich hätte Alvar getötet, wenn er mir nicht zuvorgekommen wäre. Für das, was er getan hat."
"Und das bedaure ich, Zarifa. Du bist noch jung, und hast noch dein ganzes Leben vor dir. Ich wünschte, du würdest es nicht mit Zorn und Hass füllen."
"Vielleicht ist es dafür zu spät."
"Vielleicht aber auch nicht."
"Jetzt hör schon damit auf. Für heute habe ich genug davon. Lass uns einfach deine Tochter finden..."
Am folgenden Tag kamen sie rasch voran. Dorwinion war von vielen sanften Hügel geprägt, auf denen Weinbau betrieben wurde, doch die Straße, der sie folgten, schlängelte sich dennoch mehr oder weniger ebenerdig dazwischen hindurch. Erneut begegneten ihnen vereinzelte rhûnische Soldaten, die sie jedoch allesamt passieren ließen. Zarifa war für gewöhnlich schweigsam, machte allerdings hin und wieder eine einsilbige Bemerkung, wenn sie etwas Interessantes entdeckte. Viel gab es nicht zu sehen in der relativ verlassen wirkenden Landschaft, in der nur hin und wieder eine Ansiedlung auftauchte. Zweimal kamen sie durch Dörfer, die direkt an der Straße lagen und konnten so sogar eine Nacht in einem Gasthaus verbringen. Dort hörten sie einige Gerüchter über den Krieg, der im Norden offenbar erneut ausgebrochen war. Eine große Schlacht war am Fuße des Erebor geschlagen worden, wie ihnen einige Soldaten berichteten. Noch hielten die Ostlinge den Berg und die beiden Städte der Seemenschen besetzt, doch niemand konnte sagen, wie lange das noch so bleiben würde.
Und so kamen sie nach drei Tagen an die Grenzen des Fürstentums Dorwinions. Dahinter lagen die von Rhûn besetzten ehemaligen Gebiete des Königreiches Thal, die zum Großteil unbewohnt waren. Sie beschleunigten ihren Ritt und erreichten drei weitere Tage später den Langen See, und die Stadt Esgaroth.
Cyneric, Salia und Zarifa nach Esgaroth