Das Schicksal Mittelerdes (RPG) > Rhun

Dorwinion

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Fine:
Cyneric, Zarifa und Salia aus Gortharia


Die Überfahrt über das Meer von Rhûn war ohne Zwischenfälle verlaufen und hatte etwas weniger als einen Tag gedauert. Zarifa und Cyneric war es zwischendurch etwas übel geworden, was Salia ungemein belustigt hatte, jedoch ohne weitere Folgen geblieben war. Von etwaigen Verfolgern war nichts zu sehen gewesen, doch Cyneric war dennoch unruhig. Er hatte die Macht der Schattenläufer mit eigenen Augen gesehen und befürchtete das Schlimmste, nun da sich Salia zumindest teilweise von ihren finsteren Gefährtinnen abgewandt hatte.
Zarifa war schweigsam gewesen und hatte den Bauch des Schiffes während der Überfahrt kaum verlassen. Etwas schien sie zu beschäftigen, doch sie schien noch nicht bereit zu sein, mit Cyneric oder Salia darüber zu sprechen. Cyneric wusste nicht recht, wie er damit umgehen sollte. Seine eigene Tochter war deutlich mitteilsamer gewesen und hatte sich oft und lautstark ihre Probleme von der Seele geredet. Zarifa hingegen war sehr verschlossen und schien ihm noch immer nicht vollständig zu vertrauen.

Am Mittag des Tages nach ihrer Abreise aus Gortharia lief das Ostling-Schiff in den Hafen von Holmgard ein. Zur Linken der Mündung des Celduins in das Binnenmeer gelegen war die Stadt nur die Hälfte des einstigen Machtsitzes der Könige von Dorwinion, denn ihr gegenüber, auf dem Ostufer des Flusses lag Könugard, die zweite der als Zwillingsstädte bezeichneten Orte, die nun das Herz des rhûnischen Fürstentums Dorwinion bildeten. In Könugard stand der einstige Palast Bladorthins, des letzten freien Herrschers von Dorwinion, der nun Sitz des von König Goran eingesetzten Fürsten Yalcin war. Holmgard hingegen war mit seinem großen Hafen auch in diesen Tagen ein wichtiges Handelszentrum. Menschen aus den unterschiedlichsten Ländern kamen hier zusammen, sowohl aus dem Norden, dem Osten und dem Westen. Cyneric, Salia und Zarifa würden hier kaum auffallen, wie sie hofften.

Sie gingen von Bord und kamen auf die sehr belebten Straßen Holmgards. Cyneric hatte vor, mit seinem angesparten Sold zwei Pferde zu kaufen oder zu leihen. Sein eigenes Ross, Rynescéad, hatte er glücklicherweise an Bord des Handelsschiffs mitbringen können. Nun trottete der Hengst schweigsam hinter der Reisegruppe her und schien keine Einwände zu seiner Situation zu haben.
„Salia, wo kann man hier Pferde kaufen?“ fragte Cyneric die Schattenläuferin, die mit federnden Schritten neben ihm her ging.
„Vermutlich am Nordtor,“ antwortete sie kurz angebunden. Die gute Laune, die Salia während der Überfahrt an den Tag gelegt hatte, schien seit ihrer Ankunft in Holmgard einen Dämpfer erhalten zu haben. Sie blickte Cyneric einen langen Moment an, dann sagte sie: „Das hier könnte Thal sein.“
„Wie meinst du das?“
„Die Menschen von Thal und die Bewohner Dorwinions sind verwandt. Aber hier in Dorwinion herrschen die Ostlinge schon seit einigen Jahrhunderten. Wenn ich mich hier umsehe, sehe ich keine Menschen, die nach Freiheit streben. Sie haben die Hoffnung, das Joch Rhûns zu zerbrechen aufgegeben und sich an die Ketten gewöhnt. Wer sich gegen das Gesetz stellt, wird versklavt und sieht seine Familie nie wieder. Ich fürchte, in Thal wird es bald genauso laufen.“
Cyneric erinnerte sich daran, dass Salia aus Thal stammte und er nickte verständnisvoll. „Wir wissen nicht, wie die momentane Lage in Thal ist. Der Brunnen hat mir gezeigt, dass Saruman am Erebor angekommen ist, und soweit ich weiß, hat der König von Thal ein Bündnis mit dem Zauberer geschlossen. Vielleicht ist Thal ja schon wieder von den Ostlingen befreit worden.“
„Nach allem was ich über diesen Saruman gehört habe, bin ich mir nicht sicher, ob mein Volk unter seiner Herrschaft besser dran wäre,“ murmelte Salia, doch immerhin hellte sich ihre Miene ein klein wenig auf. Cyneric beschloss, dies als Erfolg zu verbuchen.

„Müssen wir wirklich reiten?“ fragte Zarifa, die sich mit dem Rücken gegen die Innenseite der steinernen Mauer gelehnt hatte, die Holmgard umschloss. Sie hatten die Stallungen am Nordtor erreicht und Cyneric war es gelungen, ein ausdauerndes Pferd für einen vernünftigen Preis zu erstehen. Für zwei hatte sein Geld jedoch nicht gereicht; Zarifa und Salia würden sich also einen Sattel teilen müssen. Zum Glück waren beide Mädchen nicht sonderlich schwer und würden das kräftige nordische Pferd nicht verlangsamen.
„Es fahren keine Schiffe den Fluss hinauf, wenn der Hafenmeister uns keine Lügen erzählt hat,“ hielt Salia dagegen. „Zu Pferde zu reisen ist also die schnellste Variante, die uns offen steht.“
„Und je schneller wir nach Thal kommen, desto sicherer werden wir sein,“ ergänzte Cyneric.
Zarifa schnaubte. Sie hatte ihren ersten Ritt von Gorak nach Gortharia offensichtlich noch nicht vergessen. „Ich mag diese Tiere einfach nicht. Sie sind zu groß und ungestüm.“
„Halt dich einfach an Salia fest und überlass ihr den Rest,“ meinte Cyneric lächelnd. „Solange du nicht herunterfällst, wirst du keinerlei Probleme haben.“
„Sehr witzig, Cyneric,“ ärgerte sich Zarifa, doch sie gab ihre Einwände auf - jedoch nicht, ohne dem neu gekauften Pferd einen sehr misstrauischen Blick zuzuwerfen. Sie ging auf das Tier zu und blieb direkt vor seinem Kopf stehen. „Hör mir mal zu, Gaul. Du magst mich nicht, und ich mag dich nicht. Aber wir werden jetzt für ein Weilchen aufeinander angewiesen sein. Also sei brav und lass mich auf dir reiten. Dann werde ich ebenfalls brav sein und dir in Thal einen Apfel oder so stehlen.“
Das Pferd - eine schwarzbraun gescheckte Stute - schlug mit dem Schweif und sagte nichts. Zarifa schien das als Zustimmung aufzufassen und nickte zufrieden.
„Nun, da diese Angelegenheit geklärt ist, sollten wir wohl aufbrechen,“ sagte Cyneric. „Seid ihr bereit, Mädchen?“
„Ich bin startklar,“ antwortete Salia und schwang sich in den Sattel. „Was ist mit dir, Zarifa?“
Doch Zarifa antwortete nicht. Sie stand noch immer an Ort und Stelle und starrte wie vom Blitz getroffen die Straße hinab, wo der Weg zurück zum Hafen führte. Dort war eine Gestalt aufgetaucht, die sich ihnen langsam näherte.
Cyneric biss die Zähne zusammen, um nicht zu fluchen. Er hatte die Gestalt ebenfalls erkannt. Langsam tasteten seine Finger nach dem Griff seines Schwertes.
„Was ist los?“ rief Salia. „Was habt ihr denn... oh, das ist doch wohl nicht...“
Die Gestalt war nun beinahe herangekommen. Sie hob den Blick und blieb stehen, nur wenige Meter von ihnen entfernt.
„Z-Zarifa?“
Zarifas Stimme war nicht mehr als ein hasserfülltes Wispern. Sie zog einen Dolch hervor. „Alvar...“
Ehe Cyneric reagieren konnte, war sie schon losgestürzt.

Rohirrim:
Zarifa fühlte sich, als hätte ihr jemand mit einem Backstein ins Gesicht geschlagen. Sie konnte nicht mehr klar denken. Ihre Gefühle wechselten so schnell zwischen Trauer und Wut hin und her, dass ihr beinahe schlecht davon wurde. Wie konnte das sein? Sie war zusammen mit Cyneric aus Gorak und Gortharia geflohen um aus der Umgebung herauszukommen, die sie so sehr an ihr Leid und ihren Schmerz erinnerte. Sie hatte all das vergessen wollen. Die Finger, die sie berührten, obwohl sie es nicht wollte. Die Hände, die langsam ihr Kleid hochzogen. Die gierigen Blicke. Die körperlichen und seelischen Schmerzen. Und jetzt stand er vor ihr. Der Mann, der all das verkörperte, was in den letzten Monaten schief gelaufen war. Der Mann, den sie kennengelernt hatte als eine einfache Wache des tyrannischen Fürsten, die Befehle ausführte und nebenbei versuchte seine kranken Gelüste zu befriedigen. Der Mann, der ihr dann überraschenderweise eine helfende Hand gereicht hatte, um sie aus den Fängen eben jenes Fürsten zu befreien. Und der Mann, der sie schließlich als „Bezahlung“ für seine Dienste missbraucht und fast in den Freitod getrieben hätte. Wie war er hier hergekommen? Verfolgte er sie etwa? Beobachtete er sie heimlich? Plante er bereits seine nächste „Bezahlung“ und wartete nur auf eine Gelegenheit, in der Zarifa sich von Cyneric und Salia entfernte? Und warum tauchte er ausgerechnet jetzt auf? Ausgerechnet jetzt, wo sie sich doch in den letzten Tagen in der Gesellschaft von Cyneric und Salia einigermaßen wohlgefühlt hatte?
Vollkommen unbewusst hatte Zarifa bereits ihr Messer gezogen und war nun selber ein wenig überrascht, es in der Hand zu halten. Sie hatte dieses Messer vom Haus der Stahlblüten bekommen, um den Einbruch im Hause Kontio durchführen zu können. Und jetzt stand sie mit eben diesem Messer Alvar gegenüber. So hatte ihr Aufenthalt in diesem schrecklichen Haus also doch noch sein Gutes gehabt.
Noch immer viel es Zarifa schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Doch während die Sekunden verstrichen, drehten sich ihre Gedanken immer mehr um ein festes Zentrum: Sie würde Alvar töten. Hier und jetzt. So wie sie bereits Kasimir und Radomir getötet hatte. Sie würde das lose Ende beseitigen und damit hoffentlich dem Schmerz ein Ende bereiten können. Zarifa erinnerte sich, wie glücklich sie gemeinsam mit Tekin nach dem Tod von Kasimir gewesen war. Es erschien ihr wie in einem anderen Leben. Jetzt lief ihr beim Gedanken an Tekin ein eiskalter Schauer über den Rücken, während das Bild von ihrem letzten „Kuss“ an ihrem geistigen Auge vorbeizog. „Schluss damit!“, sagte Zarifa zu sich selbst. Sie ging einen Schritt auf Alvar zu und als ihr der Geruch seiner Fahne in die Nase stieg, musste sie sich fast übergeben. Sie konnte sich jedoch beherrschen. Auf einmal fiel der jungen Frau auf, wie heftig sie schwitzte. Instinktiv griff sie den Dolch in ihrer rechten Hand noch fester, um zu verhindern, dass er ihr aus der Hand glitt.
Alvar war unbewaffnet und schien wie vom Blitz getroffen. Er rührte sich nicht von der Stelle. Die perfekte Gelegenheit...

„HALT!“
Zarifa erschrak. Sie hatte vollkommen vergessen, dass Cyneric und Salia auch noch hier waren. Letztere hatte soeben laut geschrien und sie am Arm gepackt, während Cyneric unentschlossen an sein Pferd gelehnt dastand.
„WAS IST?“, schrie Zarifa Salia etwas lauter an, als sie eigentlich vorgehabt hatte. Doch im Moment konnte sie einfach nicht anders. Salia senkte ihre Stimme und versuchte offensichtlich Zarifa zu beruhigen. Dabei hielt sie ihren rechten Arm jedoch weiterhin kräftig fest.
„Du kannst diesen Mann doch nicht einfach am helllichten Tag und auf offener Straße ermorden. Wir haben es eilig und können es nicht gebrauchen, dass man uns wegen Mordes nachstellt.“
Vielleicht erkannte ein kleiner Teil von Zarifa die Vernunft in diesen Worten. Wenn ja, dann versteckte dieser Teil sich jedoch äußerst gut. Zarifa war außer sich vor Zorn. Verstand Salia denn nicht? Sie hatte in den letzten Tagen ein recht gutes Verhältnis zu der jungen Frau aus Thal aufgebaut. Doch jetzt stand sie hier und wollte verhindern, dass Alvar seine gerechte Strafe bekam und Zarifas seelisches Leid ein wenig gelindert wurde. Was wusste sie schon? Sie hatte nicht durchgemacht, was Zarifa durchgemacht hatte. Sie interessierte sich nur dafür, möglichst schnell nach Thal zu gelangen. Wie Zarifa sich dabei fühlte, war ihr völlig egal. Wen interessierte es denn, ob ein paar Wachen ihnen nachstellten? Das einzige was hier zählte war die Gerechtigkeit.
Zarifa versuchte verzweifelt sich aus Salias Griff zu befreien, doch die ehemalige Schattenläuferin war wesentlich stärker und geschickter im Kampf als sie. Völlig verzweifelt und mit einem von Tränen überströmten Gesicht blickte Zarifa zu Cyneric, der nach wie vor unentschlossen an sein Pferd gelehnt dastand. Zarifa erinnerte sich, wie er ihr in Gorak erklärt hatte, er würde Alvar töten, sobald er ihn sah. Er hatte es versprochen. Und er schien es in dem Moment auch so zu meinen. Doch jetzt stand er hier und konnte sich nicht dazu durchringen einzugreifen. Er schien sich ebenfalls an sein Versprechen zu erinnern. Doch andererseits, wollte er vermutlich die Spur seiner Tochter nicht verlieren. Zarifa konnte förmlich sehen, wie Cyneric diesen Kampf mit sich selber austrug.

Zarifa fing jetzt richtig an zu weinen. „Cyneric... bitte...“, schluchzte sie und blickte ihn flehend an. Und gerade schien es, als würde er endlich einschreiten, da packte plötzlich eine andere Hand Zarifas Arm und befreite diesen von Salias Griff. Zarifa blickte sich um, was jedoch eigentlich unnötig war, da sie anhand der Alkoholfahne schon genau wusste, wer es war.
„Ich denke, ich habe eine Lösung für euer Dilemma.“ Mit diesen Worten entriss Alvar Zarifa den Dolch. Salia und Cyneric waren nun augenblicklich in Alarmbereitschaft und versuchten Zarifa zu schützen. Sie selbst brauchte jedoch einige Sekunden, um überhaupt zu realisieren, was gerade passiert war. Ihr Kopf war zu voll mit Gedanken und ihr Herz zu voll von Schmerz, um schnell reagieren zu können. Wie in Trance hörte sie nur noch die Worte. „Es tut mir Leid.“ Und noch ehe Zarifa einen weiteren klaren Gedanken fassen konnte, lag Alvar in einer Lache seines eigenen Blutes vor ihr. Mit ihrem Dolch im Hals.

Fine:
Es war Salia, die als Erste reagierte. "Scheiße," stieß sie hervor, dann packte sie die wie versteinert herumstehende Zarifa und zerrte sie eilig von der Leiche Alvars fort. Fort, in Richtung der Pferde. Wo Cyneric stand und kaum fassen konnte, was geschehen war. Doch dann schalteten sich seine Instinkte ein und er hievte Zarifa hastig auf Rynescéads Rücken, den Kopf dabei gesenkt haltend. Alvars Selbstmord war so rasch und beinahe lautlos geschehen, dass selbst auf den belebten Straßen Holmgards nur wenige Menschen mitbekommen hatten, was geschehen war. Nur langsam begann sich eine Menschentraube aus Neugierigen und Schaulustigen um die Leiche zu bilden. Ein rascher Blick zeigte Cyneric, dass noch keine Wachen auf den Vorfall aufmerksam geworden waren. Salia war inzwischen ebenfalls beritten und ließ ihr Pferd im raschen Schritt gehen - immer die Straße zum Nordtor der Stadt entlang. Cyneric schwang sich hinter Zarifa in den Sattel. Kaum war er oben, setzte sich der gut trainierte Kriegshengst schon in Bewegung. Er schien genau zu wissen, wohin er gehen musste. Sie schlugen ein Tempo an, das zwar flott war, aber nicht allzu auffällig wirkte. Gerade als sie um die letzte Straßenecke vor dem Tor bogen, wurden hinter ihnen Schreie laut.

Cyneric sah zwei Möglichkeiten. Entweder setzten sie zum Galopp an und gaben sich damit als Verdächtige zu erkennen, oder sie gingen das Risiko ein, eingeholt und verhört zu werden, indem sie ihr unauffälliges Tempo beibehielten. Ein rascher Blick zu Salia hinüber, die nun an Cynerics linker Flanke ritt ließ ihn Zweiteres wählen, denn Salia machte mit der linken Hand eine beschwichtigende Geste. Also versuchte Cyneric ruhig zu bleiben und behielt das Tempo bei.
"Warum nur hat er das getan," wisperte Zarifa , deren Kopf gegen seinen ledernen Brustpanzer lehnte. Das Mädchen schien kaum wahrzunehmen, was um sie herum geschah. Immer wieder wiederholte sie Alvars Namen und redete davon, dass sie diejenige hätte sein sollen, die ihm das Leben nahm.
Cyneric legte ihr behutsam die linke Hand auf den Mund und begann, beruhigend auf Zarifa einzureden. "Wir können nicht mehr ändern, was geschehen ist. Aber was wir tun können, ist uns zu entscheiden wie wir damit umgehen. Und diese Entscheidung werden wir sorgfälig fällen, Zarifa. Aber jetzt ist nicht die Zeit dafür. Jetzt müssen wir zusehen, unbeschadet aus dieser Stadt herauszukommen."
Sie kamen ans Tor und verlangsamten ihren Ritt, als die Torwachen sie einzeln hindurchwinkten. Cyneric atmete auf, als niemand sie zum Absitzen zwang. Zu dritt durchqueren sie das Nordtor Holmgards. Vor ihnen lag eine ausgetretene Straße, die nach Nordwesten führte.

Sie ritten im raschen Tempo weiter, bis die Sonne unterging. Dann schlugen sie etwas abseits der Straße ein Nachtlager auf. Mehrere Patrouillien der Soldaten Rhûns waren ihnen unterwegs begegnet, doch nur eine davon hatte ihnen auch nur ihre Aufmerksamkeit geschenkt. Salia hatte dem Anführer der Soldaten etwas gezeigt, das Cyneric nicht richtig hatte sehen können. Nur für den Bruchteil einer Sekunde war sein Blick auf etwas Rundes, und wie Gold schimmerndes in Salias halb geschlossener Hand gefallen. Doch dann hatte Salia den Arm wieder zurückgezogen und man hatte sie ohne weitere Fragen passieren lassen.
Zarifa saß mit dem Rücken an einen großen Felsen gelehnt im weichen Gras, das nahezu überall auf den weiten Steppen Dorwinions wuchs. Die Südländerin starrte teilnahmslos ins Leere und ihre Finger schienen nach etwas Unsichtbarem greifen zu wollen. Nachdem Cyneric die Pferde versorgt hatte, setzte er sich neben das Mädchen und begann, ihr vorsichtig über den Kopf zu streichen. Bei der ersten Berührung zuckte Zarifa merklich zusammen, doch dann ließ sie es geschehen und wehrte sich nicht länger dagegen.
Eine lange Weile blieben sie so nebeneinander sitzen und schwiegen, während Salia in der Nähe nach etwas Essbarem suchte. Sie hatten in Holmgard ihre Vorräte aufgestockt, dennoch konnte es nicht schaden, diese um etwas Frisches aus der Natur zu ergänzen. Cyneric war das ganz recht. Er war der Ansicht, dass Salias Anwesenheit im Augenblick nur stören würde.
"Alvar hat dir schlimme Dinge angetan, Zarifa," sagte er behutsam. "Aber ich glaube, es war gut, dass nicht du es gewesen bist, die ihn getötet hat."
Zarifas Blick ging zum Boden, als sie leise antwortete. "Er hatte den Tod verdient. Und er wäre nicht der Erste gewesen, den ich getötet habe. Davor war es Radomir. Und davor sein Sklaventreiber, Kazimir."
Cyneric seufzte leise. Fern am Horizont ging langsam die Sonne unter. "Hast du schon einmal einen Ork gesehen, Zarifa?" fragte er.
Das Mädchen schüttelte langsam den Kopf. "Ich glaube, als man mich nach Rhûn brachte, habe ich unterwegs mal einen gehört. Aber gesehen habe ich noch keinen. Und ich glaube, das möchte ich auch nicht."
"Orks sind Kreaturen, die keine Gnade kennen. Ich habe schon so einige von ihnen getötet. Wenn ich das nicht getan hätte, hätten sie im Gegenzug nicht eine einzige Sekunde gezögert, mich umzubringen."
"Worauf willst du hinaus?" fragte Zarifa misstrauisch.
"Ich will damit sagen, dass es niemals leicht ist, ein Leben zu nehmen. Radomir, Alvar, Kazimir... sie mochten den Tod verdient haben. Aber sie waren immer noch Menschen. Sie sind nicht wie Orks, die nur für den Krieg und den Hass leben. Du solltest nicht so leichtfertig darüber urteilen, wer den Tod verdient hat, und wer nicht."
Zarifa wandte ihm den Blick zu, mit vor unterdrückter Wut funkelden Augen. Ihre dunklen Pupillen glühten wie zwei Kohlen in ihrem gebräunten Gesicht. "Du weißt, was er mir angetan hat. Ich kann diese Dinge niemals vergessen. Und sie niemals verzeihen."
"Das verstehe ich, Zarifa. Es ist schrecklich, was dir passiert ist. Und ich verspreche dir, dass du jetzt in Sicherheit bist. Ich bitte dich nur, dieses zu bedenken: Was uns von Orks und anderen Geschöpfen des Bösen unterscheidet, ist unsere Menschlichkeit. Wir Menschen haben die Wahl. Wir können sowohl gute Dinge tun, als auch böse. Orks haben diese Wahl nicht - sie dienen nur ihrer zerstörerischen Natur, oder dem Dunklen Herrscher, der sie in seinen Dienst zwingt."
"Aber wenn sich ein Mensch aus freien Stücken entscheidet, etwas Böses zu tun, ist es dann nicht schlimmer als bei einem Ork, der keine Wahl hat?"
"Das ist richtig, und dennoch ist es viel schwerer, einem Menschen das Leben zu nehmen, denn damit nimmst du ihm auch die Gelegenheit, seine Taten zu bereuen und sie mit Gutem auszugleichen."
"Als ob Radomir oder Kazimir jemals zu guten Menschen geworden wären." Zarifa spuckte aus.
"Das weißt du nicht, Zarifa. Es gibt viele Dinge, die einen Menschen verändern können. Ich weiß nicht, ob du in deinem kurzen Leben schon viele glückliche Momente hattest - aber ich hoffe es. Bitte lass nicht zu, dass Rachsucht und Verbitterung dich zu jemandem machen, der allzu schnell mit dem Todesurteil bei der Hand ist."
"Du verstehst das nicht," wehrte Zarifa ab. "Dir sind... diese Dinge nicht widerfahren."
"Ich habe meine Familie verloren, Zarifa. Und alle meine Freunde, bis auf einen. Ich fand die Liebe meines Lebens - die Frau, mit der ich den Rest meines Lebens verbringen wollte - in einer Lache ihres eigenen Blutes und einem orkischen Speer in der Brust auf der Schwelle des Hauses, in dem ich mit ihr meine Kinder großziehen wollte. Und dafür hasse ich die Orks und töte sie, wann immer ich kann."
"Und was, wenn ein Mensch deine Frau getötet hätte?" fragte Zarifa und brachte Cyneric damit aus dem Konzept. "Würdest du ihn nicht dafür töten wollen?"
"Ich... weiß es nicht. Ich würde... ich würde ihn aufspüren, und zur Rede stellen. Und herausfinden, warum er... es getan hat."
"Und dann würdest du ihn umbringen."
"Ich weiß es nicht."
Zarifa gab ein abschätziges Geräusch von sich. "Dann halte mir keine Predigt, Cyneric. Ich hätte Alvar getötet, wenn er mir nicht zuvorgekommen wäre. Für das, was er getan hat."
"Und das bedaure ich, Zarifa. Du bist noch jung, und hast noch dein ganzes Leben vor dir. Ich wünschte, du würdest es nicht mit Zorn und Hass füllen."
"Vielleicht ist es dafür zu spät."
"Vielleicht aber auch nicht."
"Jetzt hör schon damit auf. Für heute habe ich genug davon. Lass uns einfach deine Tochter finden..."

Am folgenden Tag kamen sie rasch voran. Dorwinion war von vielen sanften Hügel geprägt, auf denen Weinbau betrieben wurde, doch die Straße, der sie folgten, schlängelte sich dennoch mehr oder weniger ebenerdig dazwischen hindurch. Erneut begegneten ihnen vereinzelte rhûnische Soldaten, die sie jedoch allesamt passieren ließen. Zarifa war für gewöhnlich schweigsam, machte allerdings hin und wieder eine einsilbige Bemerkung, wenn sie etwas Interessantes entdeckte. Viel gab es nicht zu sehen in der relativ verlassen wirkenden Landschaft, in der nur hin und wieder eine Ansiedlung auftauchte. Zweimal kamen sie durch Dörfer, die direkt an der Straße lagen und konnten so sogar eine Nacht in einem Gasthaus verbringen. Dort hörten sie einige Gerüchter über den Krieg, der im Norden offenbar erneut ausgebrochen war. Eine große Schlacht war am Fuße des Erebor geschlagen worden, wie ihnen einige Soldaten berichteten. Noch hielten die Ostlinge den Berg und die beiden Städte der Seemenschen besetzt, doch niemand konnte sagen, wie lange das noch so bleiben würde.
Und so kamen sie nach drei Tagen an die Grenzen des Fürstentums Dorwinions. Dahinter lagen die von Rhûn besetzten ehemaligen Gebiete des Königreiches Thal, die zum Großteil unbewohnt waren. Sie beschleunigten ihren Ritt und erreichten drei weitere Tage später den Langen See, und die Stadt Esgaroth.


Cyneric, Salia und Zarifa nach Esgaroth

Fine:
Cyneric und Milva vom Meer von Rhûn


Als sie tropfnass ans südliche Tor von Holmgard gestolpert kamen, staunten die Wachen dort nicht schlecht. "Ihr seht als als hätte euch dieser Sturm von gestern Nacht geradewegs an unsere Ufer gespült," scherzten sie und waren sich dabei nicht bewusst, wie nahe sie der Wahrheit damit kamen. Man ließ sie schließlich ein und sie betraten die belebten Straßen der Stadt. Obwohl es bereits Abend war, waren noch immer sehr viele Menschen unterwegs - und vor allem viele Soldaten. Man sah die charakteristischen bronzefarbenen Schuppenrüstungen der Krieger der Ostlingsarmee, aber auch hier und da ehemalige Stadtwächter von Gortharia, die die unterschiedlichsten Adeligen aus der Hauptstadt Rhûns hierher eskortiert hatten, und auch die dorwinische Garde mit ihrem schlichteren Rüstungen aus Leder und Eisen, die Cyneric an seine Heimat Rohan erinnerten.
"Ganz schön was los," murmelte Milva. "Irgendwie befürchte ich, dass alle Gasthäuser restlos ausgebucht sein werden."
"Oh, du vergisst unseren Auftraggeber," antwortete Cyneric. "Meister Branimir hat doch erwähnt, dass er hier in den Zwillingsstädten ein Anwesen besitzt."
"Dann sind wir aber in der falschen der beiden Städte," hielt Milva dagegen. "Die Reichen haben ihre Häuser alle drüben in Könugard..."
"Wirklich? Und wie weit ist es bis dahin?"
"Wir müssen einmal quer durch die Stadt, entlang des Hafens," sagte Milva, die sich hier offenbar ein wenig auskannte. "In Holmgard leben die Arbeiter, Händler und das einfache Volk, und hier wird vor allem Handel betrieben und Lieferungen über das Binnenmeer, entlang der Straßen und den Celduin hinauf verschifft," erklärte sie und lief voraus. "In Könugard steht die protzige Fürstenresidenz, und dort lebt der Adel. Auch die Garnison ist dort stationiert. Vermutlich ist es dort deshalb mindestens genauso voll wie hier. Was meinst du, wo die ganzen Leute alle herkommen?"
"Na, aus Gortharia," antwortete Cyneric. "Du weißt doch, dass die Stadt evakuiert werden sollte. Und alle die es sich leisten konnten per Schiff zu fliehen, sind wohl bereits hier..."
Wie um seine Worte zu bestätigen kam in diesem Moment die gewaltige Silhouette eines großen rhûnischen Kriegsschiffs in ihr Blickfeld, von dessen Deck eine ganze Kompanie Ostlingssoldaten zur Anlegestelle herübermarschiert kam. Dahinter kam ein einzelnes Paar von Adeligen, deren Gesichter Cyneric flüchtig vertraut vorkamen, wahrscheinlich hatte er sie ein- oder zweimal im Königspalast zuvor gesehen.

Es vergingen noch drei lange Stunden, doch dann saßen sie schließlich trocken und in frischer Kleidung im dorwinischen Anwesen der Familie Castav. Man hatte Milva und Cyneric ein kleines Zimmer im Erdgeschoss gegeben, das wohl üblicherweise für Botschafter oder andere rangniedrige Würdenträger vorgesehen war. Eine junge Frau namens Viara brachte ihnen etwas Verpflegung zum Abendessen, doch ansonsten ließ man die beiden alleine. Endlich hatten sie Zeit, sich über ihre Erlebnisse während der Überfahrt von Gortharia auszutauschen.
"Ich habe mehr und mehr das Gefühl, dass das alles... nur eine Art Traum war," sagte Cyneric kopfschüttelnd.
"War es nicht," erwiderte Milva. "Die Leute vom Carnen erzählen sich Geschichten vom Geist der Wasser, der in den Tiefen des Rhûnenmeeres ruht und dessen Augen und Ohren die Flüsse und Bäche sind, die ins Binnenmeer münden."
"Und du denkst wirklich..."
"Ich weiß nicht, was ich denken soll, Cyneric," antwortete Milva. "Seitdem ich die Herrin der Quelle getroffen habe, sind viele Dinge geschehen, die ich zuvor nicht für möglich gehalten hatte. Denk nur an die Sache mit dem Brunnen der Schattenläufer und die geheimnisvollen Rituale, die sie an ihm durchführen. Oder die Magie, die der Zauberer Alatar gewirkt hat."
"Trotzdem ist es schwer zu glauben, dass... Rúnaeluin eine Art Wassergeist sein soll, und wir in seinen Hallen unter dem Meer gewesen sind. Es wirkt so... unwirklich," sagte er nachdenklich. "Und dann war da diese Kugel..."
"Auch über sie gibt es bei meinem Volk eine Geschichte," sagte Milva. "Menschen aus dem Westen haben sie einst nach Dorwinion gebracht... noch bevor die Vorväter der heutigen Dorwinier dem Untergang des Reiches von Rhovanion entflohen und ihr neues Königreich hier an den Celduinmündungen schufen. Man sagt, der grüne Stern - so heißt die Kugel im Volksmund - hätte nur wenige Jahrzehnte an seinem Platz an der Spitze einer Säule geruht, bis die Diener des Dunklen Herrschers kamen und das Bauwerk umstürzten. Der Stern sei damals in den Tiefen des Binnenmeeres versunken, doch hier und da könnte man ihn noch von dort unten leuchten sehen."
"Gesehen haben wir das Ding zweifellos," murmelte Cyneric. "Wie hat Rúnaeluin es genannt? Sagte er nicht, es gäbe noch mehr von ihnen?"
"Ich weiß es nicht," antwortete Milva. "Ich bin keine Gelehrte. Und eigentlich haben wir gerade ganz andere Sorgen. Schon vergessen weshalb wir hier sind?"
Cyneric winkte ab. "Ich weiß nicht was Meister Branimir nun mit uns vorhat... streng genommen haben wir den Auftrag den er uns gab ausgeführt, denn seine Enkelin und der Rest der Familie sind wohlbehalten hier angekommen. Ist es zu fassen, dass wir die Einzigen waren, die über Bord gespült worden?"
"Kommt mir fast wie Absicht vor," brummte Milva verdrossen.
"Was ich damit sagen will: Branimir hat versprochen, uns bei der Suche nach Salia zu helfen. Aber ehe er nicht hier in Könugard eingetroffen ist, kann er uns keine Hilfe leisten. Er reist mit dem König auf dem Landweg hierher..."
"Dann müssen wir eben selbst aktiv werden," sagte Milva kurzentschlossen und stand auf. "Komm schon. Klappern wir ein paar Tavernen und Schänken ab und hören uns um. Irgendwer muss sie ja gesehen haben..."

Spät nach Mitternacht kehrten sie zum Anwesen der Castavs zurück, ohne einen Schritt weitergekommen zu sein.
"Natürlich hat sie niemand gesehen," meinte Cyneric niedergeschlagen. "Immerhin ist sie ein Schatten..."
"Schlechter Zeitpunkt für schlechte Witze," erwiderte Milva. "Aber ich kann heute nicht noch weiter suchen. Ich bin hundemüde..."
"Geht mir genauso," antwortete Cyneric. "Vielleicht... bringt der morgige Tag neue Antworten.

Das tat er. Kurz vor Sonnenaufgang schreckte Cyneric aus einem wirren Traum hoch. Er hatte sich erneut unter Wasser befunden und war tiefer und tiefer gesunken, ohne jedoch zu ertrinken. Eine auf seltsame Weise tröstliche Musik war ihm dabei in den Ohren geklungen, die jedoch wieder und wieder von einem fern verhallenden Schrei unterbrochen wurde... eine Stimme, die von der Cyneric sich sicher war, dass er sie kannte, aber er kam einfach nicht darauf, um wen es sich handelte, egal wie sehr er sich auch in dem Traum anstrengte.
Etwas polterte heftig gegen die Tür des Gästezimmers, das er sich mit Milva teilte. Als er jedoch aufsprang um nachzusehen, fand er den dunklen Flur auf der anderen Seite der Türe verlassen vor. Mit Vorsicht warf er sich etwas über und packte sein Schwert, das nun wieder an seinem Gürtel hin. Von den Bewohnern oder Wachen des Anwesens war nichts zu sehen.
Hinter Cyneric knarrte eine Diele und er fuhr herum. "Milva!" flüsterte er erschrocken. Auch sie war mehr oder weniger angezogen und hielt ihren Bogen griffbereit. Gemeinsam pirschten sie weiter durch den Gang, der sie auf einen kleinen Innenhof hinaus führte. Und dort erhaschten sie einen flüchtigen Blick auf zwei Schatten: Eine Gestalt lag auf dem gepflasterten Steinboden, die andere beugte sich über sie.
"Wer ist da?" rief Cyneric. Sofort sprang der zweite Schatten auf und lief los, zur gegenüberliegenden Ecke des Innenhofes. Cyneric und Milva rannten ebenfalls los, doch als sie an der liegenden Gestalt vorbeikamen klärte sich über ihnen der verhangene Nachthimmel, und Mondlicht erhellte das blasse Gesicht der Gestalt.
Es war Salia. In ihrer Brust steckte ein langes Messer.
"Verdammt!" fluchte Cyneric. "Sieh nach ihr," bat er Milva hastig, dann stürmte er los. "Ich verfolge den anderen!"
Der Schatten hatte die Rückseite des Hofes erreicht und kletterte eine Leiter hinauf aufs Dach des Anwesens. So eilig er konnte folgte Cyneric dem Fliehenden. Als er oben auf dem Dach angekommen war, blickte er sich gehetzt um. Dort! Nach Süden hin, wo das Meer auf der jenseitigen Flanke des Anwesens in vielen Metern Tiefe angrenzte, zeichnete sich ein Schatten gegen das Mondlicht ab. Doch als Cyneric einen Schritt auf die Gestalt zu machte, ließ sie sich über den Rand hinweg fallen und war verschwunden.
Cyneric fluchte und wagte sich vorsichtig an den Rand des Abgrundes. Es ging mindestens dreißig Meter steil nach unten, denn dieser Teil von Könugard lag direkt oberhalb des militärischen Hafens der Zwillingsstädte und war durch eine hohe Mauer davon abgegrenzt. Unter Cyneric blinkten die Lichter der Kriegsschiffe zu ihm hinauf. Er sah noch, wie etwas mit einem Knall unten ins dunkle Wasser eintauchte, dann war alles still.

Fine:
Als Cyneric in den Innenhof zurückgekehrt war, fand er Salia lebendig vor, was ihm eine Welle der Erleichterung durch alle Glieder sandte. Milva hatte das Messer aus Salias Oberkörper entfernt und die Wunde verbunden. Der Einstich war zwar tief gewesen, doch die Klinge war an einer Rippe abgeglitten und hatte die inneren Organe verfehlt.
"Das war Merîl," keuchte Salia angestrengt auf. "Sie wollte mir ihr Mal in den Leib schneiden, eine Hand mit sieben Fingern, dann wäre ich nicht nur gestorben, sondern... sie hätte auch meine Seele versklavt, wenn man den alten Texten glauben kann. Ich habe vielerlei Nachforschungen über die lange Geschichte der Schattenläufer angestellt, und-"
"Langsam, langsam," sagte Cyneric. "Du bist gerade so dem Tod entkommen und dieses Miststück ist noch immer dort draußen. Wir bringen dich erstmal ins Haus, und alarmieren die Wachen. Danach, wenn es sicher ist, kannst du uns erzählen, was du herausgefunden hast."

Milva lief los, um die Wachen von Haus Castav über den Einbruch zu informieren, während Cyneric Salia hochhob und in ihre Unterkunft trug. Wieder einmal war er erstaunt darüber, wie leicht die ehemalige Schattenläuferin war. Im Zimmer angekommen legte Cyneric Salia auf dem Bett ab und füllte ihr einen Krug voll Wasser auf, denn hier im dorwinischen Anwesen der Familie Castav gab es in jedem Gästezimmer einen eigenen, kleinen Brunnen, was Cyneric sehr praktisch fand. Salia trank das Gefäß gierig leer, dann seufzte sie und verzog das Gesicht. "Tut verdammt weh," presste sie hervor, doch sie wirkte nicht, als schwebte sie noch in Lebensgefahr.
Milva kam herein und nickte ihnen ernst zu. "Sie sind in absoluter Alarmbereitschaft," erklärte sie. "Ich glaube, heute wird niemand mehr das Anwesen ungesehen betreten können."
"Sehr gut," befand Cyneric und wandte sich dann Salia zu. "Also los, erzähl uns was geschehen ist."
Salia setzte sich im Bett auf und seufzte lautstark. "Ich war so nahe dran... ich verfolgte Merîls Spur bis zu einem großen höfischen Anwesen, gleich hier in der Nähe. Der Adelige, dem es gehört, ist wohl einer ihrer vielen Diener. Jetzt, wo Morrandir und Ryltha fort sind, verlässt sie sich auf ihr Netzwerk aus Untergebenen - die Drecksarbeit muss sie aber selbst erledigen. Ihre Zielgenauigkeit mit der Klinge scheint mit den Jahren allerdings etwas eingerostet zu sein..."
"Dein Glück," sagte Milva. "Sonst wärest du jetzt nicht hier."
Salia nickte. "Ich hoffe, sie hält mich für tot. In diesem Fall wird sie nämlich ihr Quartier nicht gleich wieder verlassen, und wir können gegen sie vorgehen."
"Erzähl uns erst einmal, wovon du da vorhin gesprochen hast. Was meintest du damit, dass deine Seele versklavt werden würde?" hakte Cyneric nach.
"Ich fand bei meiner Suche in Rylthas Haus, in Gortharia, ein uraltes Buch - ich habe bereits in meiner Zeit bei den Schatten einmal darin gelesen. Es ist eine Art... Chronik, die sich "Manifest der vereinigten Schatten" nennt."
"Was für ein Titel," murmelte Milva.
"Darin fand ich einiges an Informationen, als ich es mir genauer ansah," fuhr Salia fort. "Erinnert ihr euch an das, was uns der Zauberer Alatar in Gortharia erzählte, über Merîls Ursprung? Dass sie einst die Maia Merendë gewesen und vom Dunklen Herrscher ihrer Lebenskraft beraubt worden war? Dieses Buch bestätigt es, und ich weiß nun auch, wie wir sie töten können. Ich habe es gestern Nacht selbst versucht, aber ich bin gescheitert. Wir müssen sie von allen ihren Dienern isolieren, und es darf kein Wasser in der Nähe sein, dann wird ein Dolchstoß ins Herz ihr endlich ein Ende setzen."
"Aber wie sollen wir das anstellen?" wollte Milva wissen.
"Wir müssen ihr eine Falle stellen. Und ich werde der Köder sein, dem sie nicht widerstehen kann. Ich bin der letzte verbliebene ihrer Schatten."
"Könnte sie nicht auch von einer anderen Frau Besitz ergreifen?" fragte Cyneric.
"Ja, aber das würde sehr viel von ihrer Kraft verbrauchen," erklärte Salia. "Ich habe schon viele Male von dem verfluchten Trank getrunken, den Morrandir mir andauernd verabreichte. Dadurch bin ich viel anfälliger dafür, und außerdem sind meine Fähigkeiten genau das, was Merîl braucht."
"Vorhin sagtest du noch, es wäre gut, wenn sie nicht weiß dass du am Leben bist..." wunderte sich Milva.
"Noch ist es gut. Bis ich mich erholt habe, soll sie das ruhig denken. Aber dann werden wir dieses Anwesen in dem sie sich versteckt stürmen und ich werde sie versuchen zu isolieren. Diesmal bin ich nicht alleine, ich bin mir sicher dass es funktionieren wird."

Salia schlief bald darauf ein. Cyneric und Milva hingegen waren beide noch viel zu aufgekratzt um sich gleich wieder aufs Ohr zu hauen. Sie sprachen noch eine lange Zeit über die Geschehnisse des Abends, ehe sich ihr Gespräch anderen Themen zuwandte.
"Wenn das alles vorbei ist..." begann Milva.
"Hoffen wir, dass es das diesmal auch wirklich ist, sobald Salia sich ihrer einstigen Meisterin entledigt hat," sagte Cyneric.
"Ja, hoffen wir es. Aber wie geht es danach weiter?"
"Rohan ist einigermaßen sicher. Ich könnte dir meine Heimat zeigen... dich meiner Tochter vorstellen... aber wenn es dich weiter nach Westen zieht, dann werde ich dir auch dorthin folgen, Milva. Ich möchte nicht, dass wir noch einmal getrennt werden."
Milva warf ihm einen etwas seltsamen Blick zu, dann wurde sie rot und senkte die Augen. "So ist das also..." murmelte sie vor sich hin. "Ich... würde gerne mit dir nach Rohan kommen, Cyneric. Aber zuerst... muss ich noch etwas erledigen. Weißt du eigentlich, wer mich überhaupt in dieses ganze, furchtbar lange Abenteuer erst hineingezogen hat?"
Cyneric dachte nach. "War es diese geheimnisvolle Herrin der Quelle, die der Zauberer Alatar erwähnt hatte? Ich glaube, du hast einmal von ihr gesprochen."
"Eben diese," bestätigte Milva. "Ich glaube, ich kann Rhûn nicht verlassen, ohne nicht noch einmal mit ihr gesprochen zu haben. Du würdest sie bestimmt mögen, sie ist sehr... hmm... wie könnte man sie beschreiben... eigenartig trifft es nicht ganz. Sie hat eine gewisse Aura an sich... ach, am besten machst du dir selbst ein Bild. Der Wald in dem sie mit ihrem Volk lebt, liegt nördlich von hier, am Ostufer des Carnenflusses, und... ich glaube, ich sollte dort bald hin gehen."
"Dann gehe ich mit dir, Milva," sagte Cyneric und ergriff ihre Hände. Sie waren warm - wärmer als er sie in Erinnerung hatte.
Milva nickte sachte. "So wird mir der Weg einfacher fallen, wenn wir ihn gemeinsam gehen."
"Gemeinsam," wiederholte Cyneric. "So soll es sein."
Er küsste sie sanft auf die Lippen, und lächelte, als er spürte, wie sie die liebevolle Geste erwiderte.

Am folgenden Tag glich das Anwesen der Castavs einem aufgestochenen Ameisenhaufen. Die Nachrichten über den nächtlichen Angriff hatten sich schnell herumgesprochen, und die Familie des Meister Branimir war in hellem Aufruhr darüber, dass es jemand gewagt hatte, Gewalt in ihren eigenen Mauern zu verüben. Cyneric und Milva wurden eigehend befragt, während man Salia gnädigerweise schlafen ließ. Am Ende beschlossen die Castavs, für teueres Geld eine ganze Kompanie hartgesottener Söldner anzuwerben, die ihr Aufgebot an Wachen dauerhaft verstärken sollten. Es dauerte keine drei Stunden, da glich das Anwesen schon einer kriegsbereiten Festung. Der Großteil der Fenster war verbarrikadiert worden und verlassen durfte man das Anwesen nur durch die scharf bewachte Vordertür. Milva und Cyneric machten sich nichts daraus, denn solange Salia nicht wieder auf den Beinen war, konnten sie ohnehin nichts tun. Sie vertrieben sich daher die Zeit damit, einander Geschichten aus ihrer Vergangenheit zu erzählen und genossen beide die gewisse Ruhe, die sie dabei hatten. Endlich hatten sie die Zeit - wenn auch notgedrungen - sich besser kennenzulernen.
So verging der Tag, ohne dass noch etwas geschah, doch mit dem Sonnenuntergang kam ein reitender Bote von Süden her nach Könugard. Er kündigte die morgige Ankunft es Hausherren Branimir an, der die Armee des Königs auf dem Marsch von Gortharia nach Dorwinion begleitet hatte und die beim Anbruch des nächsten Tages vor den Zwillingsstädten eintreffen würde.
"Der Zauberer Alatar ging doch ebenfalls mit dem König," sagte Cyneric beim Frühstück zu Milva. "Er weiß mehr über Merîl als alle anderen. Vielleicht kann er uns bei Salias Vorhaben behilflich sein."
Milva wirkte etwas skeptisch - sie war vorsichtig was den Zauberer betraf, aus gutem Grunde - doch dann nickte sie. "Kann nicht schaden mit ihm zu reden. Und du könntest ihm ja sein Schwert zurückgeben, bei der Gelegenheit."
Cyneric erinnerte sich daran, dass er - tief vergraben unter seinen Habseligkeiten - noch immer das seltsame Schwert bei sich trug, das ursprünglich ein Geschenk von Alatar an Silan gewesen war. Irgendetwas hielt ihn davon ab, es hervorzuholen. Er hatte das Gefühl, dass das Schwert nach Rohan gehörte, auch wenn er sich nicht erklären konnte, weshalb...

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