Das Schicksal Mittelerdes (RPG) > Rhun

Dorwinion

<< < (2/2)

Fine:
Zu Cynerics Unglück ergab sich keine Gelegenheit mit dem Zauberer zu sprechen, denn Alatar war offenbar sogleich mit dem König Rhûns in den ehemaligen Fürstenpalast gegangen, wo die beiden die Überlebenden des Rates um sich versammelten und Kriegspläne schmiedeten. Was an Gerüchten aus dem Palast hervordrang, klang vielversprechend, auch wenn Cyneric ahnte, dass der König den Großteil dieser Gerüchte selbst streute, um die Moral seiner Soldaten hoch zu halten. Die Evakuierung Gortharias war zum Großteil gut verlaufen und der Abzug der Streitkräfte war geglückt, ehe die Heere Mordors die nun unbemannten Mauern überrannt hatten. König Silan plante, den Engpass zwischen dem Hochgebirge von Gorak und dem Binnenmeer gegen den Feind zu sperren, und der Großteil der Armee Rhûns war bereits zum Bau von Befestigungsanlagen entlang des südlichen Grenzflusses Dorwinions, der aus Gorak herabfloss, abkommandiert worden. Dieser Fluss konnte nur an einer einzigen Stelle von großen Gruppen überquert werden, und genau dort plante Silan, die Orks Mordors aufzuhalten, denn dort würden sie ihre zahlenmäßige Überlegenheit nicht ausspielen können.

Salias Wunden verheilten gut, und nach einer knappen Woche war sie wieder auf den Beinen. Sie rief Milva und Cyneric zu sich in das kleine Zimmer, in dem sie sich auskuriert hatte.
"Wir können nicht länger warten," sagte die ehemalige Schattenläuferin. "Heute Nacht müssen wir Merîl stellen und ein für alle Mal vernichten."
Cyneric nickte. "Wie lautet der Plan?"
"Ich habe mit Meister Castav gesprochen. Er hat uns Kleidung der Diener des Adeligen beschafft, bei dem Merîl sich einquartiert hat. Wir gehen rein und stöbern sie auf, und dann töte ich sie. Wenn ich schon nicht den Köder spielen muss, würde ich dieses Ass gerne unausgespielt lassen...
"Gut," sagte Milva. "Wann schlagen wir los?"
"Bei Sonnenuntergang. Wir werden Lebensmittel ins Anwesen bringen, die wir vorher auf dem Markt etwas weiter unten am Hafen gekauft haben..."

Gesagt, getan. Zu dritt begaben sie sich auf den Markt und gaben Cynerics verbliebenes Gold aus. Dann, als die Sonne schon beinahe hinter den Hausdächern im Westen verschwunden war, schlugen sie den Weg zum Anwesen des Adeligen ein, bei dem Merîl Unterschlupf gesucht hatte. Am Nebeneingang des großen Gebäudekomplexes gingen vielerlei Diener ein und aus, und es war Milva, Cyneric und Salia ein Leichtes, sich unter sie zu mischen, denn sie trugen genau dieselben grauen Roben wie der Rest der Bediensteten. Auf Branimir Castav war Verlass gewesen.
Sie gelangten in einen Innenhof und wollten gerade die Nahrungsmittel, die sie hergeschleppt hatten, vorsichtig abstellen und sich umsehen, als auf einmal ein großes Getöse vom Haupthaus aufstieg. Türen flogen auf, und sowohl Diener als auch Wachen des Anwesens stürzten heraus, allesamt mit Waffen in den Händen. Zu Cynerics großem Erstaunen griffen die Bediensteten ihre eigenen Wachen an, die sich mit aller Kraft wehrten. Und obwohl die Diener oft nur improvisierte Waffen trugen und anstelle einer Rüstung in die bekannten grauen Roben gehüllt war, sah es so aus, als könnten beide Parteien einander das Wasser reichen, denn die Bediensteten kämpften mit einer Wildheit, die Cyneric selten zuvor gesehen hatte. Der Innenhof versank in einem heillosen Chaos, und nun gerieten Salia und ihre Gefährten zwischen die Fronten, denn die Wachen sahen sie als Diener an, die es zu erschlagen galt, und die Diener schienen zu spüren, dass die drei nicht hierher gehörten.
"Kämpft!" schrie Salia. "Jetzt ist nicht die Zeit für Heimlichkeit, vergesst den Plan! Wir schlagen uns zu Merîl durch, nutzen wir das Chaos!" Sie entriss einer der Wachen kurzerhand dessen Speer, rammte ihm dem Mann durch den ungeschützten Hals zwischen Helm und Brustpanzer, und warf die Waffe dann Cyneric zu, der sie auffing und mit beiden Händen packte. Er sah, wie Salia der toten Wache ein Kurzschwert und einen Bogen abnahm, und beides an Milva reichte, um ihr dann auch einen prall gefüllten Köcher zu geben. Salia selbst hatte aus ihrer Robe einen langen Dolch hervorgezaubert und ließ ihn abwartend in der Hand kreisen, während sie das Chaos zu analysieren versuchte.
"Hier entlang!" rief sie und stürmte in Richtung einer der vielen Türen zu, die auf den Innenhof hinaus führten.
Sie mussten sich ihren Weg im wahrsten Sinne des Wortes freikämpfen. Die Roben warfen sie rasch ab, denn die langen Gewänder behinderten sie in der Bewegung. Außerdem sahen sie nun nicht mehr wie Bedienstete aus, und wurden nicht mehr von sämtlichen Wachen angegriffen. Die übrigen Diener stellten sich ihnen jedoch weiterhin wütend entgegen. Cyneric sah einen unnatürlichen Hass in ihren Augen brennen, und bekam mehr und mehr das Gefühl, dass sie Menschen, die aus dem Inneren des Gebäudes hervorströmten, die eigentlichen Angreifer waren, und die Wachen sich nur gegen sie wehrten. Dennoch war es ein harter Kampf. Cyneric gelang es, den Rundschild einer gefallenen Wache aufzuheben und den Speer dann einhändig zu führen, ein Kampfstil mit dem er besser vertraut war. Während Salia flink und blitzschnell zustach und ihnen so einen Weg bahnte, folgte Milva ihr auf dem Fuße und hielt die Feide mit ihrem Bogen auf Distanz. Mehr als einmal war Cyneric beeindruckt von den Schießkünsten der Frau, die zielsicher ihre Pfeile fliegen ließ. Er selbst hielt seinen beiden Gefährtinnen den Rücken frei, denn er ging an dritter Stelle und setze Speer und Schild eher defensiv ein.
Sie kamen vom Hof durch den Durchang, den Salia anvisiert hatte, in ein großes Treppenhaus, das zu den oberen Stockwerken führte. Hier herrschte genau das gleiche Chaos wie draußen, doch die Wachen waren hier weit in der Unterzahl. Mehr als einmal gelang es den Dreien, einen in die Enge gedrängten Wachmann vor dem Tod zu bewahren und sich somit einen zusätzlichen Verbündeten zu verschaffen, doch meistens währte diese Allianz nicht lange und die Wege trennten sich wieder. Alle Wächter waren bestrebt, sich in Richtung Innenhof zu retten, während Salia tiefer und tiefer in das Anwesen vordrang. Das Treppenhaus befand sich in einer Art Turm, der sehr breit gebaut, aber dennoch sechs Stockwerke hoch war. Die Treppenstufen waren übersät mit Leichen und Blutlachen. Je weiter nach oben sie kamen, desto mehr legte sich allerdings der Kampflärm, und sie stießen nicht mehr auf viele Feinde.
Kurz vor dem sechsten Stockwerk kam ihnen von oben noch einmal eine ganze Horde wild brüllender Robenträger entgegengestürmt. Zwei fielen durch Milvas gezielte Pfeile, dann musste sie den Bogen fallen lassen und ihr Schwert ziehen. Cyneric überquerte die letzten drei Treppenstufen vor sich mit einem Sprung, der ihn vor Milva landen ließ, und stieß seinen Speer auf Bauchhöhe vorwärts. Da die Bediensteten keine Rüstung trugen, war beinahe jeder Treffer tödlich. Dennoch hatten die drei jeder eine Menge an kleineren Schnitten und Aufschürfungen hinnehen müssen, und Cyneric blutete aus einem länglichen Schnitt an der Schulter. Er sah, wie Salia zwei Gegner in kurzer Zeit nacheinander zu Boden schickte und hieb seinen Schild mit der Kante gegen einen dritten Feind, der sich auf ihn stürzen wollte. Kurz darauf war alles vorbei, und eine unheimliche Stille trat ein.

"Wir sind ganz nahe," sagte Salia keuchend. "Ich kann ihre Präsenz spüren. Hier, in diesem Stockwerk..." Sie verließen das Treppenhaus und kamen in einen langen Gang, der auf beiden Seiten viele Türen hatte, doch Salia beachtete diese nicht. Sie ging langsamen Schrittes auf das Ende des Ganges zu, der direkt unter dem Dachgiebel zu liegen schien, denn die Decke lief über ihren Köpfen in der Mitte spitz zu. Dort lag eine Türe, die halb offen stand und durch die ein bläuliches Licht fiel. Als sie die Hälfte des Weges zurückgelegt hatten, blieb Salia ohne Vorwarnung stehen, und Cyneric hörte hinter sich ein Geräusch wie von einer Klinge, die durch Stoff und Körper dringt. Erschrocken fuhr er herum und sah im Zwielicht nur eine schattenhafte Gestalt, keine zwei Meter entfernt stehen, gehüllt in die ihnen nun allzu verhassten grauen Roben. In der Hand hielt der Bedienstete, der sich ihnen lautlos genähert hatte, ein langes Schwert. Doch die Waffe war frei von Blut. Und in diesem Moment kippte der Robenträger leblos zur Seite weg und enthüllte das, was das Geräusch verursacht hatte: eine Frau, mit dunkelblondem Haar, die einen Dolch führte.
"Hallo, Cyneric," sagte sie. "Wolltest du diese Aufgabe etwa ohne mich angehen...?"
Cyneric konnte seinen Ohren kaum trauen. "Ryltha...?" fragte er ungläubig. "Wie kann das sein? Ich sah dich sterben..."
"Ich bin zäher als ich aussehe," sagte sie lächelnd, doch Cyneric konnte ihr ansehen, dass sie Schmerzen litt. Auf der Stirn standen kleine Schweißperlen, und unter den grünen Augen lagen dunkle Ringe. Die linke Hand war an ihre Seite gepresst, die Rechte hielt den Dolch fest umklammert.
"Du hättest nicht herkommen sollen," sagte Salia kühl. "Ich habe Morrandir getötet. Und dich werde ich ebenfalls nicht verschonen."
"Ich muss es zu Ende bringen. Ihr wärt gut damit beraten, mir zu helfen oder mir wenigstens nicht im Wege zu stehen," sagte Ryltha mit zusammengebissenen Zähnen. "Merîl... wird heute ihr Ende finden."
Milva starrte Ryltha an. "Also kontrolliert sie dich nicht?"
"Sie hat mich zum Sterben zurückgelassen," knurrte Ryltha. "Ich bin für sie nichts als eine weitere Hülle, die auf sie wartet. Das... sehe ich jetzt."
Salia war die Einzige, die das alles kalt zu lassen schien. "Dann komm. Sie ist dort vorne, vermutlich spürst du sie stärker als ich. Sie wird versuchen, dich zu kontrollieren. Ich werde das nicht zulassen... du verstehst, was ich damit sagen will?"
"Natürlich," sagte Ryltha leise. "Ich lebe ohnehin nur, weil mich die Rache zusammenhält. Wenn es getan ist..."
"Sag so etwas nicht," sagte Cyneric.
Sie lachte leise und schmerzerfüllt. "Du bist ein Narr, Cyneric. Ich habe es dir schon einmal gesagt. Mich kannst du nicht retten."
"Du kannst mich nicht davon abhalten, es nicht zumindest zu versuchen," hielt er mit sanfter Stimme dagegen.
Rylthas Augen verengten sich, doch sie erwiderte nichts darauf.
"Genug getrödelt," sagte Salia. "Wir beenden es, hier und jetzt. Kommt." Sie packte ihren Dolch so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten, dann lief sie los, in Richtung der halb offen stehenden Tür.

Fine:
Salia trat an die Tür und stieß sie weit auf. Bläuliches Licht strömte heraus. Cyneric ging direkt hinter Salia, Klinge und Schild kampfbereit in der Hand. Doch was er im Inneren sah, ließ ihn entgeistert stehen bleiben. Ihnen gegenüber standen in einem Halbkreis ein Dutzend Menschen, die ähnlich gekleidet waren wie die Bediensteten, die sich ihnen im Innenhof und auf der Treppe entgegengestellt hatten. Doch gerade als Salia den Raum betrat, öffnete sich eine Lücke in dem Halbkreis und das Licht wurde stärker. Eine Frau kniete dort auf dem Boden, der mit seltsamen Zeichen in weißer Farbe bemalt war. Leuchtendes Wasser schien von der Decke herab zu stürzen, wie als flösse dort ein Wasserfall, der im Nichts kurz unterhalb der tragenden Dachbalken begann, und sich nach dem Aufprall auf dem Holzboden wieder in Luft auflöste. Es war ein so widernatürlicher Anblick, dass Cyneric beinahe die Fassung vollkommen verloren hätte.
Die kniende Frau stand auf. Ihre Augen leuchteten in demselben unnatürlichen Blau, das den ganzen Raum flutete. "Meine treuen Mädchen. Endlich seid ihr zu mir gekommen," sagt sie und als sie sprach, schienen mehrere Stimmen gleichzeitig aus ihrem Mund zu kommen. "Dieser Körper verfällt zusehends... welche von euch soll es sein? Du, Dáe?" richtete sie sich an Salia. "Wirst du mir die Treue halten?"
Salia schien etwas sagen zu wollen, doch da schob sich Ryltha vor sie. "Lass die Finger von ihr, du verdammte Hexe."
Die Augen der Frau - es konnte sich nur um Merîl handeln - richteten sich auf Ryltha. "Meine liebe, tapfere Ránt... Ich habe nicht erwartet, dass du überlebt hast."
"Du hast mich zum Sterben zurückgelassen," knurrte Ryltha. "Ich werde das Gleiche mit dir tun. Aber ich werde nicht den Fehler machen, mich nicht zu vergewissern, ob du vielleicht doch noch am Leben bist."
Sie sprang vorwärts, den Dolch gezückt, auf den Halbkreis und die Frau in dessen Mitte zu. Absolutes Chaos brach aus.

Auch Milva, Cyneric und Salia stürmten bei diesem Anblick los, während sich die Bediensteten mit gezogenen Waffen ihnen in den Weg stellten. Wie schon zuvor erwiesen sie sich trotz mangelnder Bewaffnung und Rüstung als zähe Gegner, die sich sich wie wildgeworden ohne Rücksicht auf Verluste auf Cynerics Gruppe stürzten. Die wilden Schreie und verzerrten Mienen erinnerten kaum noch an menschliche Wesen. Dennoch gelang es Salia und Milva, einen nach dem anderen zu Boden zu schicken, während Cyneric dafür sorgte, dass niemand verletzt wurde, indem er die Feinde mit Schwert und Schild so gut es ging auf Abstand hielt. Milvas Pfeile fanden ihre Ziele, während Salia flink unter Angriffen hinwegtauchte und herumwirbelte, während ihre Dolche den Tod brachten.
Ryltha war es, wie Cyneric aus den Augenwinkel erkennen konnte, gelungen zu Merîl durchzubrechen. Im Hintergrund des Raumes, nahe der Quelle des bläulichen Lichtes, sah er zwei schemenhafte Gestalten miteinander kämpfen, die sich schneller bewegten, als er mit dem Auge so richtig folgen konnte. Er selbst musste sich weiterer Angriffe erwehren und erlitt einen Schnitt am Kinn, der zu bluten begann.
"Cyneric! Runter!" hörte er Milvas Stimme und ließ sich prompt flach auf den Boden fallen. Ein Pfeil schoß knapp über seinen Kopf hinweg und warf den letzten Bediensteten zu Boden.

Das nächste was sie sahen, war ein blauer Blitz, der von dem Wasserfall im Zentrum des Raumes ausging, und Ryltha, die schwer getroffen daraus hervorstolperte. Zu Cynerics Füßen brach sie zusammen, Blut lief aus ihrem Mundwinkel. Besorgt kniete Cyneric sich neben sie. Rylthas Atem ging nur schwach, doch sie lebte. Als er wieder aufschaute, sah er, wie sich vor ihm Merîls Gestalt aufbaute, die Hände mit Blut verschmiert und die Augen im selben Blau leuchtend wie das Zwielicht im Raum.
"Ihr kommt hier her, und versucht das zu zerstören, von dem ihr nichts versteht!" brüllte sie mit verzerrter Stimme
"Ich verstehe genug," sagte Salia grimmig. "Ich habe das Buch gelesen, das in Rylthas Haus war und ich kenne die Schauergeschichten, die dich umgeben. Dein Leben währt schon viel zu lange und du hast mehr als genug Unheil über die Menschen Rhûns gebracht. Heute wird es enden."
"Ránt konnte mich nicht bezwingen, und du kannst es ebensowenig, Daé," sagte Merîl, nun wieder sehr sanft. Als Salia sich vor Cyneric stellte, der noch immer an Rylthas Seite kniete, sah er, wie Merîl sich Salia näherte, die linke Hand ausgestreckt. "Du hast hart gekämpft, aber nun ist es vorbei, Kind. Es wird Zeit, dass du dich deinem Schicksal stellst. Schließe deine Augen, es wird nicht weh tun..." Sie legte ihre Hand an Salias Wange, die wie erstarrt war. Salias Dolch fiel ihr aus der Hand und ihre Augen schlossen sich tatsächlich. Mit der rechten Hand zog Merîl sie Schritt für Schritt auf den leuchtenden Wasserfall zu.
"Nein!" brüllte Cyneric und packte Salia an den Schultern, er versuchte verzweifelt, sie von Merîl wegzuzerren. Doch deren Griff erwies sich als unnachgiebig und deutlich stärker als es ein Mensch sein konnte.
"Du kannst nicht aufhalten was zu sein bestimmt ist," drohte Merîl unheilvoll. Sie war nur noch einen Schritt von ihrem Ziel entfernt.
Da schoß etwas sehr knapp an Cynerics Gesicht vorbei, verfehlte Salias Hinterkopf und bohrte sich tief in den Hals der Kreatur, die Merîl gewesen war. Ein grausiges Kreischen entfuhr ihr und ihr Griff um Salia lockerte sich, sodass Cyneric das Mädchen endlich aus ihren Klauen ziehen konnte. Salia schlug die Augen auf, gab einen Angstschrei von sich und stieß sich ab, sodass Cyneric und sie nach vorne stolperten, von dem blauen Wasser weg. Erst jetzt sah Cyneric, woher der Pfeil gekommen war, der Merîl getroffen hatte. Milva stand nahe des Eingangs, den Bogen noch wie zum Schuss erhoben. Ihr Köcher war leer.
Mühsam kamen Cyneric und Salia auf die Beine. Wie eine gewaltige blaue Welle schwoll das Licht zu einem blendenden Leuchten an und nur ein wütender Schrei warnte sie vor dem Angriff, der jetzt folgte. Merîl riss sich den Pfeil aus dem Hals, schwarzes Blut strömte heraus. Das schien sie jedoch nicht sonderlich zu behindern, denn sie stürmte nun genau auf Milva zu, die Hände einem Paar Klauen gleich in ihre Richtung ausgestreckt. Cyneric trat ihr in den Weg, doch die Wucht des Aufpralls fegte ihn beiseite. Salia erging es ähnlich, sie wurde gegen eine Wand geschleudert und blieb reglos liegen. Cyneric sah, wie Merîl Milva Bogen und Schwert entriss und der entsetzten Dorwinierin die blutigen Hände um den Hals legte, um sie zu erwürgen. Er stemmte sich mühsam hoch, doch das immer heller pulsierende Licht blendete ihn und nahm ihm die Sicht. Er hörte Milva würgen und taumelte auf das Geräusch zu, als ein Schatten an ihm vorbeihuschte, gefolgt von einem gurgelnden Aufschrei, und dann.... Stille.

Das Licht erstarb. Von draußen fiel nun das Licht der aufgehenden Sonne durch die Fenster auf der Ostseite des Raumes. Als sich Cynerics Augen an die veränderten Lichtverhältnisse gewöhnt hatten, sah er Milva im Türrahmen stehen, die ihren lädierten Hals betastete, aber abgesehen davon unverletzt zu sein schien. Vor ihr stand Merîl, Augen und Mund weit aufgerissen, und aus ihrer Brust ragte Milvas Schwert, das ihr jemand durch den Rücken hindurch in den Oberkörper gerammt hatte.
"R-Ránt..." kam ein geisterhaftes Wispern über Merîls Lippen, dann zog Ryltha das Schwert heraus und ihr verhasster Feind brach zusammen.
"Ist sie... tot?" wollte Cyneric wissen und kam mühsam näher. Er sah, dass Ryltha selbst sich kaum auf den Beinen halten konnte, aber der Stolz in ihrem Blick war ungebrochen. Sie spuckte auf den Körper zu ihren Füßen.
"Es ist vorbei," sagte sie und holte mit der Klinge aus... um in einem sauberen Schnitt Merîls Kopf von den Schultern zu trennen.
Cyneric nickte. Davon konnte sie niemand erholen. Hoffte er jedenfalls. Er ging zu Milva hinüber und nahm sie in den Arm, denn sie zitterte. "Bist du in Ordnung?" fragte Cyneric leise.
Milva starrte auf die kopflose Leiche. "Ich muss hier weg, und eine ganze Weile nichts mehr dergleichen sehen," antwortete sie leise. "Für heute habe ich wirklich genug... Frag mich später noch einmal. Aber ich denke... ich werde bald in Ordnung sein. Wenn wir weit weg von hier sind."
Stöhnend rappelte sich auch Salia wieder auf und stieß zur Gruppe. Sie sagte kein Wort als sie den Leichnam sah, stattdessen tat sie es Ryltha gleich und spuckte wortlos darauf.
"Verschwinden wir hier," sagte Cyneric. Er nahm Rylthas Arm und legte ihn sich um die Schulter, um sie zu stützen. Sie war sehr bleich, aber schien nicht in unmittelbarer Lebensgefahr zu sein. So machten sie sich auf den Rückweg zum Anwesen der Castavs.

Ihr Weg nach draußen war von Leichen gepflastert. Eine trügerische Ruhe hatte sich über den gesamten Gebäudekomplex gelegt. Im Innenhof angekommen begegneten ihnen einige wenige überlebende Wachen, die sie jedoch nicht aufhielten.
"Was jetzt, Cyneric?" wollte Ryltha schwach wissen.
"Wir bringen dich in Sicherheit," sagte er entschlossen.
Sie lachte schmerzhaft. "Du versuchst also wirklich, mich zu retten," stellte sie fest.
"Ich habe es dir gesagt, Ryltha," erwiderte er sanft.
Ryltha schloss die Augen. "Dieser Name... gehört nicht mehr zu mir. Ich fühle mich... ich weiß nicht recht. Ránt war mein Name als Schatten, Ryltha war ich... seitdem ich unter den Einfluss dieses Monsters geriet. Wer ich jetzt bin... weiß ich nicht."
"Firvi," schlug Salia leise vor. "Das war dein Name, nicht wahr?"
Rylthas Augen öffneten sich. "Firvi..." wiederholte sie und dann nickte sie zaghaft. "Das... würde mir gefallen..."
Cyneric nickte. "Firvi also. Sehr schön..." Er spürte, wie sich Milvas Hand in seine legte und er lächelte. "Kommt. Wir brauchen Verarztung und Schlaf. Je eher wir beides bekommen, desto eher können wir fort von hier..."

Fine:
Es dauerte nicht lange, da standen sie alle vier wieder vor dem Anwesen der Castavs. Zu ihrem Erstaunen bat man sie ohne Nachfrage hinein und brachte sie in einen der Nebenräume des großen Saales, wo sie von zwei Heilern untersucht und verarztet wurden. Am schwersten waren Salia und Firvi verletzt worden, Salia war mittlerweile sogar vor Erschöpfung eingeschlafen oder bewusstlos geworden. Einer der Heiler versicherte ihnen allerdings nach einer kurzen Untersuchung, dass sie nicht in Lebensgefahr schwebte. So ließen sie die Verarztung über sich ergehen und waren froh, dass die anstrengende Nacht erst einmal vorbei war.
Noch während der Behandlung kam der Herr des Hauses selbst herein und nickte wissend.
"Ihr hattet also Erfolg," sagte er ohne Begrüßung. "Nun, das freut mich. Ich hoffe, damit haben sich nun alle Machenschaften der Schattenläufer ein für alle Mal erledigt?" Sein Blick traf dabei Firvi, die ihm ungewohnt scheu auswich. Ryltha hätte sich nie so verhalten, wie Cyneric feststellte. Er erhob sich von der Liege, auf der er gesessen war und trat einige Schritte auf Branimir Castav zu.
"Wir sollten nicht hier davon sprechen," erklärte er ruhig. "Es war eine turbulente Nacht für uns alle."
"Ihr untertreibt, mein Lieber," sagte Meister Castav ebenso ruhig, kaum eine Gefühlsregung war ihm anzusehen.
"Vermutlich habt Ihr Recht. Doch Ihr habt uns entscheidend geholfen und besitzt ein Recht darauf, zu erfahren, was geschehen ist. Nur..."
"Ich verstehe schon. Kommt doch mit in mein Arbeitszimmer, dann besprechen wir alles Weitere."

Cyneric hatte vorgehabt, alleine zu gehen, doch Milva bestand darauf, ihn zu begleiten, obwohl sie noch immer blass um die Nase war und ziemlich müde wirkte. Bis zu Meister Castavs Arbeitszimmer waren es zum Glück nur wenige Schritte, und es gab dort einen kleinen, runden Tisch mit drei Stühlen darum. Der Hausherr bat die beiden, dort mit ihm Platz zu nehmen.
"Wieviel wisst Ihr bereits?" fragte Cyneric ohne Umschweife.
"Das Meiste, schätze ich," beantwortete Castav die Frage. "Ihr habt dort oben im oberen Adelsdistrikt eine Menge Lärm verursacht."
"Das waren wir nicht," sagte Milva prompt. "Als wir dort ankamen, war das Gefecht bereits im Gange."
"Ich weiß, ich weiß. Eine der überlebenden Wachen hat mir davon erzählt. Es hat bereits am späten Abend begonnen. Die Dienerschaft des Hauses begann sich merkwürdig zu verhalten, schon seit Tagen trugen sie auf einmal alle dunkle Kutten mit Kapuzen. Der Überlebende beschrieb es, als wären sie alle besessen gewesen. Niemand hatte sich mehr in die oberern Stockwerke getraut, und am vergangenen Abend, kurz vor Mitternacht, begannen die Bediensteten, die Wachen des Anwesens anzugreifen. Was ich wissen möchte, ist ob ihr den Grund dafür kennt."
"Viel verstehen wir von den Geheimnissen der Schattenläufer nicht," sagte Cyneric, "Vermutlich wisst Ihr sogar mehr darüber. Die Anführerin, Merîl... soll wohl einst eine aus dem Volk der Zauberer gewesen sein, wenn ich es richtig verstanden habe... doch nach einem Kampf mit dem Dunklen Herrscher so sehr geschwächt worden sein, dass sie von dort an... die Lebensessenz von Menschen zu überleben benötigte."
"Hmm," machte Branimir und strich sich durch den sorgsam gepflegten Bart, "Das passt zu einer These, die ich schon vor einiger Zeit gehört habe... aber sprecht bitte weiter."
"Salia war der Meinung, dass Merîl die Lebensenergie ausging und sie deshalb..." begann Cyneric, aber noch immer kam ihm all dies so befremdlich vor, dass er den Satz unvollendet ließ.
"...den Körper wechseln wollte," fuhr Milva hilfreich fort. "Wie sie es wohl schon seit Jahrhunderten tut. Doch Salia tötete die aussichtsreichste Kandidatin. Vermutlich brauchte sie die Bediensteten nur um... einen gewissen Zeitraum zu überbrücken, und trieb sie damit in den Wahn... um genug Zeit zu gewinnen, einen geeigneten Körper anzulocken."
Meister Castav nahm ihre Aussagen mit einem ruhigen Nicken hin, ihn schien nichts aus der Fassung bringen zu können. Einzig der kleine Finger seiner linken Hand gab ein kurzes Rucken von sich, ehe er wieder still blieb. "Das ergibt auf gewisse Weise durchaus Sinn. Gehe ich richtig in der Annahme, dass eure Begleiterin Ryltha diejenige ist, die angelockt werden sollte?"
"Entweder sie oder Salia. Es gibt immer nur drei Schattenläufer," sagte Cyneric. "Zumindest drei, von denen wir wissen..."
"Sie hat... irgendeine uralte Magie angewandt, dort in diesem Raum im obersten Stockwerk," erzählte Milva etwas stockend, "Aber irgendwie... ist es uns gelungen, sie aufzuhalten. Sie ist tot. So tot wie man nur sein kann."
"Man sagt, dass es bei magischen Wesen dieser Art wichtig sei, den Kopf vom Körper zu trennen," sagte Branimir ungerührt. "Habt ihr das zufällig gemacht?"
Cyneric nickte langsam. "Ich hoffe, sie kehrt nicht doch noch einmal zurück. Jedenfalls danken wir Euch für Eure Unterstützung, wir stehen tief in Eurer Schuld, Meister Castav."
"Nun, ihr habt mir ebenfalls geholfen, denn nun kann ich ungehindert die Handelsanteile jenes närrischen Adeligen übernehmen, der dieser Merîl Obhut gewährt ist. Ich weiß aus erster Hand, dass der arme Wicht den Tumult in seinem Anwesen nicht überlebt hat." Er machte eine Pause, die Cyneric ahnen ließ, dass Meister Castav eventuell seine Finger im Spiel gehabt hatte und die Ablenkung für seine eigenen Zwecke genutzt hatte, doch er versuchte, sich diesen Verdacht nicht anmerken zu lassen. "Dennoch denke ich, dass ihr mir zustimmen werdet, dass ich jedes Recht habe, euch noch um eine weitere Kleinigkeit zu bitten...?"
Cyneric wusste, dass dies ein Angebot war, dass er nicht ablehnen konnte, auch wenn Branimir ihm streng genommen eine Frage gestellt und somit die Wahl gelassen hatte. "Worum geht es denn?" fragte er vorsichtig.
"Oh, nun, ich hatte gehofft, dass Ihr mit Eurer Königin sprechen könntet, wenn Ihr wieder in Rohan seid," sagte Branimir ruhig. "Wie Ihr wisst, befinden wir uns nun im Krieg mit dem Dunklen Herrscher und wären den Rohirrim sehr verbunden, wenn sie etwas Druck auf die mordorischen Gebiete ausüben könnten. Wie sagt man so schön? Der Feind meines Feindes ist mein Freund, nicht wahr?"
"Natürlich," sagte Cyneric rasch und war ziemlich erleichtert. "Ihr habt mein Wort, Meister Castav. Ich werde versuchen, einen Angriff zu erwirken."
"Vergesst nicht, dass es auch im Interesse der Menschen Rohans liegt, jeglichen Vorteil, der sich bietet, zu nutzen, wenn der Feind aus Mordor kommt. Er hat viel von seiner Stärke aufgeboten, um gegen Gortharia zu ziehen. Eine Weile werden wir die Meerengen und Pässe zwischen Gorak und Dorwinion halten können... aber nicht ewig. Für Rohan und auch Gondor ist die Zeit zum Angriff gekommen."

Milva war nachdenklich geworden und sagte vorerst nichts. Cyneric beendete das Gespräch kurz darauf, nachdem er noch einige kleinere Fragen Branimirs zu den Geschehnnissen der vergangenen Nacht beantwortet hatte, und sie kehrten auf ihr Zimmer zurück. Unterwegs erfuhren sie, dass Salia und Firvi nebenan in zwei Betten lagen und bereits tief und fest schliefen, ihre Verletzungen waren behandelt und verbunden worden.
"Du willst also so schnell es geht nach Rohan zurück?" fragte Milva leise, sie gähnte und setzte sich auf ihre Bettkante.
"Du etwa nicht?" stellte Cyneric eine verwunderte Gegenfrage. "Dort ist es sicherer als hier... und es gibt nichts mehr, was mich in diesem Land hält. Dich etwa?"
"Eine Sache gäbe es da schon..." sagte Milva. "Als Meister Castav davon sprach, dass die Heere Mordors nun drohen, ganz Rhûn zu überrennen, musste ich an die Herrin der Quelle denken, die mit ihrem Volk auf der jenseitigen Seite des Carnenflusses lebt. Es sind vielleicht drei oder vier Tagesreisen zu Fuß dorthin. Ich habe das Gefühl, dass... ich sie warnen muss. Dass es meine Pflicht ist..."
Cyneric überlegte einen langen Moment, dann erinnerte er sich. Viel hatte Milva ihm noch nicht von ihrer Zeit unter den Elben des Sternenwaldes erzählt, doch er wusste, dass diese sie einst vor dem Tod gerettet und gesund gepflegt hatten, und dass sie es gewesen waren, die Milva erst überhaupt nach Gortharia geschickt hatten. "Drei oder vier Tagesmärsche sagst du? Nun... ich denke, wenn wir uns Pferde leihen oder kaufen, schaffen wir es in der Hälfte der Zeit," sagte er mit einem Lächeln.
"Oh," gab Milva erfreut aber müde von sich. "Dann... wirst du mich also begleiten, ja?"
"Natürlich," sagte er und beugte sich vor, um sie zu küssen.

Ob Salia und Firvi sich ihnen beiden anschließen würden, beschloss Cyneric später zu besprechen. Er deckte Milva zu, die bereits die Augen geschlossen hatte, und legte sich dann selbst hin. Der Schlaf überrollte ihn beinahe augenblicklich, wie eine dunkle Woge die sich über ihn herabsenkte...

Fine:
Cyneric und Milva waren nicht die Einzigen, die beschlossen hatten, Dorwinion zu verlassen. Nachrichten über die heranrückenden Horden Mordors waren längst zum einfachen Volk durchgedrungen, das zu einem nicht geringen Teil vor Kurzem erst aus Gortharia geflohen war und auf Schutz in Dorwinion gehofft hatte. Viele zogen nun weiter nach Norden, Süden und Osten, um sich nach Dervesalend, Riavod oder gar bis nach Esgaroth durchzuschlagen. So erwies es sich als recht schwierig, vier Pferde aufzutreiben. Erst nachdem Cyneric sein Versprechen Meister Castav gegenüber, die Herrscher Rohans um Unterstützung zu bitten erneuert hatte, setzte jener seinen Einfluß ein, um der Reisegruppe ihre Reittiere zu beschaffen. Branimir stattete sie mit Vorräten aus und wies sie an, den Umweg über den geheimnisvollen Sternenwald nicht allzu lange dauern zu lassen.
"Die Streitmacht des Königs hat am Nordufer des Grenzflusses zwischen Dorwinion und den Landen rings um Gortharia Verteidigungsstellungen bezogen und mit dem Bau von Befestigungen begonnen," erklärte Meister Castav, als er Cyneric am Tor seines dorwinischen Anwesens verabschiedete. "Es gibt nur eine brauchbare Brücke dort, und die Alternative besteht aus einem Labyrinth aus verwinkelten, kaum begehbaren Bergpfaden durch das Hochland von Gorak - sollten die dunklen Horden sich dort hinauf wagen, werden wir sie in eine endlose Reihe von Hinterhalten locken können."
"Dann gratuliere ich Euch zu dem geschickten Schachzug, Meister Castav," sagte Cyneric. "Der Rückzug aus Gortharia hat Euch und dem König einen strategischen Vorteil verschafft."
"Einstweilen, mein Freund," antwortete Branimir. "Einstweilen mögen wir diese Orks wohl aufhalten können. Jedenfalls hoffen wir es. Aber die Lage kann - und wird - sich ändern, darauf kannst du dich verlassen. Je eher die Menschen des Westens die Gelegenheit ausnutzen, desto besser für uns. Und je eher sie von dieser Möglichkeit erfahren..." Er ließ den Satz unvollendet.
"Ich verstehe, und ich gab Euch ja bereits mein Wort, dass ich mit meiner Königin sprechen würde," sagte Cyneric und nickte. "Dennoch solltet Ihr vielleicht erwägen, einen Botenvogel nach Rohan zu senden. Flügel sind schneller als jedes Pferd."
"Oh, das habe ich längst getan," erwiderte Branimir Castav. "Doch werden die Rohirrim auf das Wort eines... Ostlings vertrauen?"
Cyneric dachte einen Augenblick darüber nach. "Nun, ich denke, es wäre natürlich besser, wenn sie es von einem der Ihren hören würden..."
"So ist es," stimmte Castav ihm zu. "Du verstehst also, weshalb ich wünschte, dein Weg führte dich direkt nach Westen, und nicht erst in den Norden."

Branimir Castavs Worte hingen Cyneric noch eine ganze Weile nach, während er sein Pferd durch die Straßen der Zwillingsstädte trotten ließ. Der Alte hatte ihm damit eine gewisse Veranwortung für das Überleben der Menschen in Dorwinion anvertraut, die wie eine Last auf Cynerics Schultern lag. Dennoch war er bei seinem Entschluss geblieben: er würde Milva zu den Elben des Sternenwaldes begleiten. Sie braucht keinen Beschützer, dachte er und schüttelte sachte den Kopf. Ich bin einfach gerne in ihrer Nähe. Als er sich das eingestanden hatte, warf er Milva, die schräg vor ihm ritt, einen Blick zu. Die Sonne schien auf ihr Haar und für einen Moment verschwand Branimirs Last von Cynerics Schultern und die Verantwortung löste sich in Luft auf. Er atmete tief durch und ließ den Augenblick einfach geschehen. Cyneric hatte in den vergangenen Jahren wenig Zeit gehabt, um Unbeschwertheit zuzulassen. Und trotz der Situation in der er sich befand, gelang es ihm nun, Gedanken und Sorgen - wenn auch nur für diesen kurzen, wertvollen Moment - abzustreifen.

Sie passierten das nördliche Tor Holmgards und die Reisegruppe hielt an. Sie waren zu viert; Salia und Firvi hatten sich Cyneric und Milva ohne viel Diskussion angeschlossen, als diese den beiden ehemaligen Schattenläufern von ihren Plänen erzählt hatten.
"Ich habe keinen Ort, an den ich gehen könnte," hatte Firvi gesagt. Sie war nachdenklicher und weniger lautstark geworden, seitdem sie geholfen hatte, Merîl zu vernichten, und Cyneric bemerkte immer wieder, dass Firvi es sich nun ab und zu gestattete, ihre verletzlicheren Seiten zu zeigen, doch ob sie sich in ihrer neuen Rolle wohlfühlte, konnte er nicht sagen. Ryltha hatte viel gelacht und geprahlt, aber auch zwischen Düsternis und Zorn geschwankt. Firvi tat keines von beidem. Oft wirkte sie, als hinge sie längst vergessenen Erlebnissen nach oder versuchte, sich an ihr einstiges Leben, das sie vor den Schattenläufern gelebt hatte, zu erinnern. Nur hin und wieder huschte ein schmales Lächeln über ihre Lippen, was noch an Rylthas derbe Art erinnerte. Cyneric hoffte, dass es Firvi auf der nun vor ihnen liegenden Reise gelingen würde, eine neue Identität für sich zu finden. "Vielleicht... wird mir der Norden oder der Westen besser tun, als... es Osten und Süden getan hatten," hatte Firvi hinzugefügt.
"Und ich finde, dass ich euch drei im Auge behalten sollte," stellte Salia klar, als Milva und Cyneric sie angesehen hatten. Beinahe etwas frech hatte Salia die Hände in die Hüften gestemmt. "Zumindest um sicherzustellen, dass ihr wohlbehalten in Rohan ankommt, werde ich euch begleiten."
Milva schien froh über Salias Begleitung zu sein, doch Cyneric konnte sehen, dass sie Vorbehalte gegenüber Firvi hegte. Er teilte diese Meinung nicht. Firvis Verhalten unterschied sich zu stark von der Ryltha, die er einst gekannt hatte, um nur vorgespielt zu sein. Zumindest war das Cynerics Eindruck, und er hatte sich entschieden, seinem Bauchgefühl zu vertrauen. "Salia wird sie schon im Auge behalten, falls wirklich noch etwas von der alten Ryltha in ihr steckt," hatte er zu Milva gesagt, als die beiden am Morgen ihres Aufbruchs aus Dorwinion unter vier Augen über die kommende Reise nach Norden gesprochen hatten. Zwar hatte das nicht ausgereicht, um Milvas Zweifel entgültig verschwinden zu lassen, aber es hatte dafür gesorgt, dass sie Firvi als Teil der Reisegruppe akzeptiert hatte - vorerst jedenfalls.

Den Celduin hatten sie bereits innerhalb der Mauern der Zwillingsstädte überquert und Milva hatte vorgeschlagen, dem Lauf des Flusses an dessen Ostufer nach Norden zu folgen, bis sie die Einmündung des Carnens erreichen würden. Milva kannte die Gegend, durch die sie nun ritten, gut. Sie war hier aufgewachsen, weshalb sie die Führung der kleinen Reisegruppe übernahm. Die Pferde waren ausgeruht und kamen auf dem flachen Grasland gut voran. Allerdings schlug ihnen nach ungefähr einer Wegstunde ein scharfer Nordwestwind entgegen, der schließlich so heftig wurde, dass sie eine Rast einlegen mussten und in einer langgezogenen Mulde etwas abseits der Böschungen des Celduins Schutz suchten. Der Wind trieb dicke, dunkle Regenwolken heran, und schon bald fielen die ersten Tropfen auf sie herab. Die Sonne, die noch in der Stadt auf Milvas Haar geschienen hatte, war längst verschwunden.
Als der Niederschlag endlich nachließ, waren sie alle bis auf die Knochen durchnässt und verfroren. Der Nachmittag brach gerade erst an, weshalb sie beschlossen, trotz ihres Zustandes noch einige Stunden weiterzureiten, ehe sie ein Lager für die Nacht aufschlugen. Ihre Hoffnungen, von der zurückkehrenden Sonne getrocknet zu werden, erfüllten sich nur teilweise, denn zwar hatte der Regen aufgehört, doch der Wind war geblieben und pfiff ihnen noch immer um die Ohren. Dennoch machten sie nun einiges an Weg gut, ehe die Sonne zu sinken begann und sie es sich gestatteten, sich an einem Feuer zu trocken und für die Nacht zu rasten.
Schon kurz nach Sonnenuntergang teilten sie die Wachschichten unter sich auf, und legten sich schlafen. Cyneric, der die letzte Wache zugewiesen bekommen hatte, schlief mit dem Gedanken ein, dass sie Meister Castav besser um ein Boot gebeten hätten, um den Fluss hinaufzusegeln - dann wären sie dem Regen vielleicht trockener entgangen.

Der folgenden Tag verlief ohne besondere Vorkommnisse. Der Wind war ihr ständiger Begleiter, doch anstelle des Regens schloss sich ihm an diesem Tag die Sonne an, die ihnen die verfrorenen Glieder etwas aufwärmte. Die Landschaft veränderte sich kaum; zu ihrer Linken floss der kräftige Celduin dahin, zur Rechten lagen flache Graslandschaften und hin und wieder sahen sie vereinzelte bestellte Felder oder Grüppchen von Bäumen. Zweimal überholten sie kleinere Ansammlungen von Menschen, die wie Cynerics Gruppe von den Zwillingstädten aufgebrochen waren. Am Abend schließlich gelangten sie an eine große Biegung des Flusses und konnten im Licht der roten Abendsonne in der Ferne die Einmündung des Carnenflusses sehen.

"Morgen um diese Zeit werden wir den Sternenwald erreicht haben," sagte Milva.

Milva, Cyneric, Salia und Firvi nach Taur-en-Elenath

Navigation

[0] Themen-Index

[*] Vorherige Sete

Zur normalen Ansicht wechseln