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Autor Thema: Fürstentum Dervesalend  (Gelesen 2935 mal)

Fine

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Fürstentum Dervesalend
« am: 20. Aug 2018, 09:19 »
Córiel, Jarbeorn und Vaicenya aus Riavod


Jenseits von Riavod lag ein hauptsächlich flaches, in Richtung Süden sanft abfallendes Gebiet, das von verschiedenen Gräsern und Farnen bewachsen war. Im Gegenzug zu den größtenteils leeren Ebenen Rhovanions stießen Córiel und ihre Gefährten hier hin und wieder auf eine Ansammlung von Bäumen, die sich zu ungefähr gleichen Teilen aus Nadel- und Laubbäumen zusammensetzten. Die meisten Laubbäume hatten inzwischen nahezu alle ihre Blätter verloren; ein eindeutiges Zeichen dafür, dass der Winter nun nicht mehr fern war. 
Im Sattel von Sindris Pferden kamen die drei Reisenden gut und schnell voran, denn die Rösser waren gut genährt und ausgeruht gewesen, als sie sie in Riavod gekauft hatten. Daher dauerte es nur zwei Tage, bis sie die Mündung des Flusses Tajnik erreichten, der hier in den nordöstlichen Zipfel des Binnenmeeres von Rhûn mündete. An seinem östlichen Ufer lag die Stadt Dervogord - Hauptstadt des Fürstentums Dervesalend und Sitz seines Fürsten. Vaicenya hatte vorgeschlagen, in Dervogord die Vorräte aufzustocken und nach Hinweisen auf ihr Reiseziel Cuivíenen zu suchen. Und so kamen sie an das Tor der aus hellgrauen Steinblöcken errichteter Stadtmauer, wo sie von den aufmerksamen Wachen im Empfang genommen wurden. Die Kontrolle war gründlicher und misstrauischer als in Riavod, doch dank Jarbeorns freundschaftlicher Ausstrahlung ließ man sie schließlich durch, ohne ihnen Waffen oder andere Habseligkeiten abzunehmen.
Dervogords Straßen wirkten im Vergleich zu Riavod geradezu ausgestorben. Einige wenige Stände entlang der Hauptstraße waren geöffnet und hier und dort sah man vereinzelte Stadtbewohner, die ihren Geschäften nachgingen, doch die meisten Menschen, die Córiel sah, waren hastigen Schrittes unterwegs und wirkten alle so, als wollten sie so wenig Zeit wie möglich außerhalb ihrer Häuser verbringen. Eine seltsame Stimmung lag in der Luft. Eine Mischung aus Angst, Misstrauen und großer Vorsicht, wie Córiel fand. Die Blicke, die ihrer Gruppe zugeworfen wurden, zeugten nicht gerade von Gastfreundschaft. Mehrere Menschen hielten für einen Augenblick in ihren Tätigkeiten inne, um sie offen anzustarren, ehe sie sich wieder abwendeten.
„Meine Güte,“ murmelte Jarbeorn. „Selbst auf der Beerdigung meines Großvaters war die Stimmung fröhlicher.“
„Mir gefällt nicht, wie sie uns ansehen,“ meinte Vaicenya. „Sie scheinen hier keine Fremden zu mögen.“
Córiel musste zugeben, dass einige der Blicke durchaus feindselig zu interpretieren waren. Es ließ sie sich unbehaglich fühlen und sie wünschte sich, sie hätten eine großen Bogen um Dervogord gemacht. Doch nun, da sie hier waren, mussten sie wohl oder übel das beste aus der Situation machen.
„Es hilft nichts,“ sagte sie leise. „Suchen wir eine Taverne und hören wir uns ein wenig um. Vielleicht finden wir ja jemanden, der etwas gastfreundlicher als der Rest der Stadt ist.“
Indem sie der Hauptstraße weiter ins Zentrum der Stadt folgten kamen sie auf einen breiten Platz, in dessen Zentrum eine große Statue thronte. Als Córiel entsetzt feststellte, dass es sich um ein Abbild des dunklen Herrschers handelte, wurde sie unangenehm daran erinnert, dass die Ostlinge Rhûns Sauron offen dienten und dass Córiels Weg sie spätestens jetzt endgültig in Feindesland geführt hatte.
Der Platz war offenbar nicht für Handel vorgesehen, denn im Gegensatz zu dem großen Marktplatz im Zentrum Riavods gab es hier nicht einen einzigen Stand. Stattdessen erhob sich auf der gegenüberliegenden Seite der freien Fläche ein düster aussehendes Gebäude, bei dem es sich offenbar um einen Tempel zu Ehren des dunklen Herrschers handelte. Daneben lag der Fürstensitz: ein großer Komplex mit mehreren Flügeln, zu dem eine steile Treppe hinauf führte. Bewacht wurde er von einer starken Einheit von speertragenden Wächtern, die Gesichtsmasken und schwere Rüstungen trugen.
 „Vielleicht sollten wir es dort drüben mal versuchen,“ sagte Jarbeorn und deutete auf eines der niedrigeren Häuser zu ihrer Rechten, das an den Platz mit der Statue im Zentrum grenzte. Es schien sich dabei tatsächlich um eine Taverne oder ein Gasthaus zu handeln. Über dem Eingang hing ein Schild, das einen gefüllten Bierkrug zeigte und darunter stand ein in roten Buchstaben geschriebener Name in einer Sprache, die Córiel nicht lesen konnte. Sie setzte sich in Bewegung, gefolgt von ihren beiden Gefährten. Vor dem Eingang angekommen banden sie ihre Pferde an einer der dafür vorgesehenen Pfähle an und stiegen aus den Sätteln.
Im Inneren der Taverne herrschte eine bedrückte Atmosphäre. Der große Raum, in den sie getreten waren, war relativ voll. Die meisten Gäste saßen an den im Zimmer verteilten Tischen oder lehnten an der hölzernen Bar am hinteren Ende des Raumes, doch es wurde nur wenig gesprochen. Der Großteil der Gespräche fand an den Tischen statt und wurde nur im gedämpften Ton geführt. Alle Augen hatten sich auf die Neuankömmlinge gerichtet, was Córiel sehr unangenehm war. Ihre Fellmütze verdeckte ihre verräterischen Elbenohren, doch das half nur wenig gegen ihr wachsendes Unbehagen.
Jarbeorn hingegen schien wie immer die Unbekümmertheit in Person zu sein. Er marschierte festen Schrittes an die Bar und winkte den Mann dahinter herbei, bei dem es sich höchstwahrscheinlich um den Gastwirt handelte.
„Ich habe mich gefragt, wo man in dieser Stadt als durstiger Reisender eine kühle Erfrischung für Mund und Rachen bekommen kann,“ begann er gut gelaunt. „Sind wir hier richtig, guter Mann?“
„Schätze schon,“ gab der Gastwirt gleichgültig zurück. „Ihr seid zu dritt, was?“
Jarbeorn nickte und nahm kurz darauf drei einigermaßen gefüllte krüge entgegen. Jeweils einen davon reichte er an die Elbinnen weiter.
„Ich werde das Zeug auf keinen Fall anrühren,“ wehrte sich Vaicenya.
„Und ob du das wirst,“ erwiderte Jarbeorn. „Wenn wir hier nichts trinken oder den Wirt beleidigen, können wir es vergessen, nach Informationen zu fragen. Also sei ein braves Mädchen, trink dein Bier und lass dir deine Abscheu nicht ganz so offensichtlich ansehen.“
Córiel konnte deutlich sehen, wie es in Vaicenya zu brodeln begann, doch dann beherrschte die Dunkelelbin sich und nahm einen großen Schluck aus ihrem Krug. Das Lächeln, dass sie dem Gastwirt schenkte, nachdem sie das Bier abgesetzt hatte, kam sogar relativ nahe an etwas Echtes heran. Und als Córiel selbst von ihrem Getränk gekostet hatte, stieg ihre Anerkennung noch weiter, denn sie selbst konnte es sich nur mit Mühe verkneifen, ihren Ekel zu verbergen. Das Bier schmeckte furchtbar.
Jarbeorn schien das nicht zu stören. Er begann ein munteres Gespräch mit dem Gastwirt, dem sich nach und nach einige der Einheimischen an der Bar anschlossen. Es ging hauptsächlich um dies und das - das Wetter, die vergangene Ernte, die Launen des Binnenmeeres - doch Córiel, die aufmerksam zuhörte, bemerkte beeindruckt, wie der Beorninger hin und wieder geschickt eine subtile Frage über die Gebiete östlich von Dervesalend in das Gespräch einflocht. Und während die Zeit verging, setzte sich so nach und nach ein Bild über die Lage jenseits der Grenzen des Reiches von Gortharia zusammen, das zwar hauptsächlich auf Gerüchten zu basieren schien, aber dennoch einige hilfreiche Informationen bot. Offenbar gab es östlich von Dervesalend nur wenige Städte. Stattdessen wurden die Lande dort von Nomaden bewohnt, die zwischen dem Binnenmeer und dem großen Gebirge im fernen Osten ohne festen Wohnsitz umherzogen. Und entlang des Flusses, der bei Dervogord ins Meer von Rhûn mündete, gab es tatsächlich einige Orte, die Córiel an das Cuivíenen aus Melvendës Leben erinnerten und die ihrer Meinung nach einen Besuch wert waren. Nach zwei Stunden an der Bar waren sich die drei Gefährten schließlich einig, dem Verlauf des Flusses Tajnik wenn nötig bis zu seiner Quelle im Roten Gebirge zu folgen und dort nach Níthrars Spuren zu suchen.

Ein lauter Hornstoß von draußen unterbrach alle Gespräche. „Was hat das zu bedeuten?“ fragte Jarbeorn in die Runde und sah sich mit betroffenen Gesichtern konfrontiert.
„Ihr mögt umgänglich für Fremdlinge sein, aber ihr habt ein verdammtes Pech, gerade heute in unsere Stadt gekommen zu sein,“ sagte ein älterer Mann mit gebrochener Nase mitleidig. „Wenn das schwarze Horn ertönt, haben sich alle auf dem Platz vor den Stufen der Fürstenresidenz einzufinden. Wer es nicht tut und von den Stadtwachen, die nun beginnen werden, jedes einzelne Haus zu überprüfen erwischt wird, ist des Todes.“
Die Menschen strömten aus der Taverne hinaus und Córiel, Jarbeorn und Vaicenya blieb nichts anderes übrig, als ihnen zu folgen. Draußen drängte sich bereits eine großes Menge auf dem Platz rings um die Statue im Zentrum.
„Haltet den Kopf unten, Fremde,“ sagte der Einheimische, der ihnen den Zweck des Hornstoßes erklärt hatte. „Diejenigen, die ausgewählt werden, werden niemals wieder gesehen. Wir wissen nicht, was der grausame Fürst mit ihnen anstellt. Manche sagen, er opfere sie in dunklen Ritualen im Tempel dort drüben. Andere glauben, er führe unnatürliche Experimente an ihnen durch. Jedenfalls hoffe ich für euch, dass ihr es schafft, nicht aufzufallen.“
„Wie beruhigend,“ kommentierte Vaicenya.
Auf den Stufen vor der Fürstenresidenz waren inzwischen deutlich mehr Wachen zu sehen. Und als das Horn erneut ertönte, tauchten am oberen Ende der Treppe drei Gestalten auf, bei denen es sich um die Kommandanten der Garde zu handeln schien. Sie trugen dieselben Gesichtsmasken und dieselben schweren Rüstungen wie die übrigen Wächter, doch ihre schwarzen Helme besaßen je zwei große Hörner, die Córiel an Drachen denken ließen. Ihr schlechtes Gefühl verstärkte sich noch und sie ließ den Kopf sinken, um noch kleiner zu erscheinen und besser in der Menge unterzugehen.
Kaum war etwas Ruhe eingekehrt, begann die Auswahl. Obwohl sie in einer Entfernung zu der großen Treppe vor der Residenz des Fürsten von Dervesalend standen, waren die Stimmen der drei Kommandanten für Córiel, Jarbeorn und Vaicenya dennoch gut zu verstehen. Sie sprachen niemals gleichzeitig und ließen sich stets viel Zeit, bevor sie ihre Wahl trafen. Hatte einer von ihnen ein Opfer gefunden, zeigte er mit seiner in stählerne Panzerhandschuhe gehüllten Hand darauf und rief ein einzelnes Wort: “Du.“
Die Spannung war kaum auszuhalten. Wurde eine Person ausgewählt, rückten die über den ganzen Platz verteilten Wachen rasch zu ihr vor, um sie zu ergreifen und die Stufen hinauf ins Innere der Fürstenresidenz zu befördern. Einige versuchten ihrem Schicksal zu entgehen, doch die Wachen hatten den Platz sorgfältig umstellt. Niemand konnte entkommen.
Drei Menschen waren ausgewählt worden, dann vier, dann fünf. Einer nach dem anderen verschwand am oberen Ende der Treppe, doch noch schienen es nicht genügend Opfer für den Fürsten Dervesalends zu sein. Sechs, sieben, und schließlich acht kamen an die Reihe, bis sich die drei schwarzen Kommandanten endlich abwendeten und die wenigen Stufen, die sie die Treppe herab gestiegen waren, wieder hinauf gingen. Gerade als die Menschen um Córiel herum begannen, aufzuatmen, blieb der dritte der finsteren Drei auf der obersten Stufe stehen und drehte sich noch einmal um. Sein linker Arm hob sich quälend langsam und seine Hand zeigte, wie Córiel erschrocken feststellte,  genau in ihre Richtung. Schon setzten sich mehrere Wachen in der Nähe in Bewegung. Ehe sie ihre Überraschung überwinden und reagieren konnte, hatten sie sie erreicht und - packten Jarbeorn, der ebensowenig damit gerechnet hatte. Unbarmherzig zerrten sie ihn fort, in Richtung der aufsteigenden Treppe, ohne dass er die Gelegenheit bekam, sich zu wehren - es waren viel zu viele dafür.
Allzu deutlich drang die raue Stimme des Kommandanten der Garde an Córiels Ohr, dessen Hand nun eindeutig auf den Beorninger zeigte. „Und du.“
« Letzte Änderung: 10. Sep 2018, 14:16 von Fine »
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Was dem Fürsten widerfuhr
« Antwort #1 am: 10. Sep 2018, 15:25 »
Córiel stand wie vom Donner gerührt noch immer an Ort und Stelle, selbst als die drei finsteren Gestalten mit ihren neun Opfern bereits seit mehreren Minuten in dem großen Gebäude verschwunden waren, das oberhalb der breiten Treppe thronte. Die Menschenmenge um sie herum hatte sich inzwischen schon zum Großteil aufgelöst und der Platz rings um die Statue des Dunklen Herrschers leerte sich mit großer Geschwindigkeit.
„Verschwinden wir von hier,“ wisperte Vaicenya und zog Córiel hastig davon, bis sie in einer engen Seitengasse schwer atmend stehen blieben.
„Ich...“ begann Córiel, doch sie war noch zu durcheinander, um ihren angefangenen Satz fortzuführen.
Vaicenya blickte etwas betreten zu Boden, dann sagte sie: „Schade um den Jungen. Ich fing gerade an, ihn zu mögen.“ Sie stieß so etwas wie ein Seufzen aus. „Aber es hilft wohl nichts. Wir werden zu zweit weitermachen müssen.“
Das brachte Córiel schliesslich dazu, wieder klare Gedanken zu fassen. „Das kannst du vergessen,“ erwiderte sie wütend. „Ich lasse Jarbeorn nicht zurück. Wir werden ihn da raus holen.“
„Melvendë, das ist Wahnsinn. Du hast gesehen, wie gut der Fürstensitz bewacht ist. Wir bringen uns nur unnötig in Gefahr,“ antwortete Vaicenya.
„Ich weiß, dass Jarbeorn für mich dasselbe tun würde. Ich werde ihn nicht im Stich lassen, jetzt, wo er auf meine Hilfe angewiesen ist,“ stellte Córiel klar. „Und du wirst mir helfen, sonst musst du alleine nach deinem Sohn suchen. Und ohne meine Fürsprache wird er dir niemals vertrauen oder auch nur im Ansatz glauben, dass du dich geändert hast.“
Vaicenya gab ein Geräusch von sich, das von unterdrückter Wut zeugte. Doch dann schien sie ihren Ärger auf untypische Art herunterzuschlucken und beherrschte sich. Ihre silbernen Augen flackerten, doch ihre Haltung veränderte sich. „Also gut,“ presste die Dunkelelbin hervor. „Und was schlägst du nun vor?“

Als es Nacht geworden war, stieg eine in einfache, helle Gewänder gehüllte Gestalt die steilen Treppenstufen zum Fürstenpalast hinauf. Sie bewegte sich langsam, aber stetig und trug in beiden Händen einen Korb, gefüllt mit Brot und Obst, das von einem der Märkte der Stadt zu stammen schien. Der leichte Wind, der durch die Straßen pfiff, spielte mit dem langen, dunkelblonden Haar, das unter der Kapuze ihres hellbraunen Umhangs in dichten Strähnen hervorlugte und verstärkte den Eindruck, dass es sich um eine junge Frau handelte.
Oben angekommen traten ihr die beiden schwer gerüsteten Gardisten entgegen, die ihren Aufstieg von Anfang an beobachtet hatten.
„Halt,“ drang es unter dem Helm des linken Wächters hervor. „Niemand betritt den Palast.“
„Ich ersuche das Recht auf das Geschenk des Abschieds,“ antwortete die junge Frau. Ihre Haut, die an Hals, Mund und Händen zu sehen war, war rein und faltenlos. Sie konnte nicht älter als zwei Jahrzehnte sein.
„Bist du dir der Konsequenzen bewusst, Kleine?“ fragte der rechte Gardist.
Sie nickte zur Antwort. „Ich kann ohne meinen Bruder nicht leben, Herr. Nehmt diese Gabe und lasst mich zu ihm gehen, damit wir wieder vereint sind. Was auch immer unser Fürst für ein Schicksal für uns ersonnen hat - wir werden uns ihm gemeinsam stellen.“
„Was für eine Verschwendung,“ murmelte der andere Wächter.
„Nicht zwingend,“ raunte sein Kumpan ihm zu, in dem Glauben, die junge Frau könne ihn nicht hören. „Lass sie zu ihrem Bruder gehen, bis man ihn holt. Und dann werden wir uns ihrer annehmen...“
Sein Gegenüber beantwortete den Vorschlag mit einem kaum merklichen Nicken, dann wandte er seinen behelmten Kopf wieder der Bittstellerin zu. „Es sei dir gewährt, Kleine. Wir werden dich zu deinem Bruder bringen.“
Sie nahmen die junge Frau in die Mitte und durchquerten zu dritt das große Portal, das ins Innere des fürstlichen Anwesens führte. In der Eingangshalle angekommen gaben die Gardisten den Torwachen auf der Ebene über ihnen das Zeichen, das Tor zu verschließen, ehe sie die Bittstellerin weiter zu den Zellen im Kerker eskortierten.

Keiner von ihnen bemerkte den schlanken Schatten, der im letzten Moment durch das Tor schlüpfte, ehe es sich mit einem unheilvollen Grollen schloss.

Jarbeorn starrte nun schon seit Stunden an die Decke seiner kleinen Zelle und ärgerte sich darüber, was für ein Pech er gehabt hatte. Seine Hände steckten in eisernen Handschellen, die ihn unangenehm nahe an eine der Zellwände ketteten, was ihn dazu zwang, mit in die Höhe gestreckten Armen am Boden zu sitzen, seitdem er nicht länger hatte stehen wollen. Seine geliebte Axt ruhte an einer der Säulen in der Nähe - verlockend nahe, und doch unerreichbar. Er war von seiner Waffe durch mehrere, sehr dicke und widerstandsfähige Eisenstangen getrennt. Selbst wenn er nicht gefesselt gewesen wäre, hätte er die Axt nicht packen können.
Er wandte den Blick von der Zellendecke ab und fragte sich, wie spät es inzwischen wohl war. Weder seine noch die Nachbarzelle hatten ein Fenster. Seitdem man ihn unsanft in den Kerker geworfen hatte, waren keine Wachen mehr aufgekreuzt. Und soweit er wusste, waren die übrigen fünf Zellen, die entlang des Ganges mit den Säulen lagen, alle leer. Zumindest hatte niemand auf seine Unterhaltungsversuche reagiert.
Er ärgerte sich darüber, dass er bei seiner Gefangennahme nicht heftiger versucht hatte, sich zu wehren. Natürlich war ihm klar, dass man ihn so oder so überwältigt hätte. „Aber ich würde mich besser fühlen, wenn ich ein paar von diesen Mistkerlen vorher ordentlich verdroschen hätte,“ murmelte er.
Das Geräusch einer sich öffnenden Tür ließ ihn aufblicken. Schritte näherten sich. Und dann standen drei Gestalten vor seiner Zelle. Bei zweien handelte es sich um die in schwarze Rüstung gehüllten Gardisten, von denen einer die Gittertür zu Jarbeorns Gefängnis aufschloss. Die Dritte hingegen...
Die junge Frau streifte die Kapuze ab und lächelte hinterlistig. Dunkelblondes Haar und spitze Ohren kamen darunter zum Vorschein. „Hallo, Bruder,“ sagte sie gut gelaunt. „Ich habe einen Vorschlag für dich... Werde wütend.“

Córiel stellte dem Wächter, der die Zelle aufgeschlossen hat, ein Bein, und schubste ihn so fest sie konnte hinein. Dann warf sie sich sofort zu Boden und rollte sich geschickt vorwärts - und keine Sekunde zu spät. Der zweite Gardist hatte sein Schwert gezogen und sie entging nur knapp seinem Schlag, der ihr den Kopf von den Schultern getrennt hätte.
„Elben-Abschaum,“ rief der Gardist und stürmte auf sie zu. Erneut wich sie ihm aus und riss sich im Sprung ihren Umhang vom Rücken. Dann warf sie das Stoffstück ins Gesicht des Mannes, dessen eiserner Helm sich darin verhedderte und ihm für einige Sekunden die Sicht nahm.
Während sie sich noch über ihren Erfolg freute, traf sie die stählerne Rückhand eines Panzerhandschuhs im Gesicht. Der zweite Wächter hatte sich inzwischen aufgerappelt und sie mit einem direkten Treffer zu Boden geschickt. Córiel sah für einen Moment Sterne vor den Augen und spuckte einen kleinen Schwall Blut aus. Als sie wieder aufblickte, stand ihr Feind über ihr, einen langen Speer zum Todesstoß erhoben.
Das war der Moment, als der Wächter von einer gewaltigen Pranke gepackt und schreiend zurück in die Zelle gezerrt wurde. Ein ohrenbetäubendes Brüllen erstickte seinen Todesschrei. Etwas sehr großes und sehr wütendes donnerte an Córiel vorbei und machte auch mit dem zweiten Gardisten kurzen Prozess.
„Hier entlang!“ rief Córiel und sprintete zu der Tür, durch die die Gardisten sie wenige Minuten zuvor in den Kerker eskortiert hatten. Das Monstrum folgte ihr, einen Pfad der Verwüstung hinterlassend.
Córiel, die eines der fallen gelassenen Schwerter aufgehoben hatte, nahm nur wenig an den Kämpfen teil, die nun folgten. Jarbeorn bahnte sich seinen Weg durch die völlig überraschten und verschreckten Wachen, bis sie sich wenig später in der großen Eingangshalle wiederfanden. Dort wartete bereits Vaicenya auf sie... inmitten einem dutzend von toten Gardisten. Die Dunkelelbin hatte bereits zwei der drei finsteren Kommandanten ermordet und hielt ihre silberne Klinge nun an den Hals des dritten Anführers der Garde - jener Mann, der Jarbeorn als neuntes Opfer ausgewählt hatte.
„Wie schön, dass ihr kommen konntet,“ begrüßte sie die Hochelbin und den Beorninger, dem es tatsächlich gelang, in seiner Zerstörungswut innezuhalten. Der große, schwarze Bär legte neugierig den Kopf schief und gab ein Schnauben von sich.
„Ich muss schon sagen,“ fuhr Vaicenya fort, an ihren Gefangenen gewandt. „Ihr habt hier wirklich eine beeindruckende Schreckensherrschaft auf die Beine gestellt. So zu tun, als ob der Fürst von Dervesalend, den du und deine Spießgesellen in seinem Schlaf erstochen habt, noch am Leben wäre... und in Wahrheit hattet ihr selbst schon seit Monaten die eigentliche Kontrolle in der Hand. So war es doch, nicht wahr?“
Die Elbenklinge ritzte den Hals des Mannes, der hastig nickte und somit Vaicenyas Theorie bestätigte.
„Ich habe den verrottenden Leichnam des Fürsten von Dervesalend gesehen, der noch immer in seinem Bett liegt,“ fuhr sie fort. „Ihr hieltet das Volk mit der regelmäßigen Auswahl von Opfern ruhig und habt euch inzwischen mit den Reichtümern des Fürsten und seines Fürstentums die Taschen gefüllt. Zu schade, dass ihr heute die falsche Wahl getroffen habt.“
„Lass ihn in Frieden, Vaicenya,“ sagte Córiel. Jarbeorn hatte sich derweil zurückgezogen, um sich wieder in seine menschliche Form zu verwandeln.
„In Frieden? Oh nein, nicht ohne Bestrafung,“ erwiderte Vaicenya. „Das wäre nicht gerecht.“
„Er wird seine Strafe erhalten,“ antwortete Córiel.
„Gut gemacht, Stikke,“ lobte Jarbeorn. „Ohne deine Hilfe hätte ich die Verwandlung nicht riskieren können, weil ich den Weg nach draußen nicht kannte. Doch als ich dich sah fand ich die Kraft in mir, meine Fesseln zu sprengen.“
„Wie ich es mir erhofft hatte,“ erwiderte sie lächelnd. Dann sah sie zu dem Gefangenen hinüber und ihr Lächeln verschwand. „Und nun zu ihm...“

In den Archiven des fürstlichen Anwesens fanden sie einige gute Karten, die den Verlauf des Tajnik-Flusses zeigten, dem sie bis zu seinem Ursprung zu folgen planten. In den Küchen stockten sie ihre Vorräte großzügig auf. Dann befreiten sie alle Gefangenen aus den weitläufigen Verliesen, die Córiel in der Eingangshalle zusammenbrachte.
„Euer Fürst ist tot, und sein Mörder kniet nun vor euch,“ sagte sie zu den Dervesalendern, die sich um den letzten der drei Rädelsführer des Putsches versammelt hatten. „Verfahrt mit ihm wie ihr es für richtig erachtet. Und was nun aus eurem Land und eurem Volk wird, bleibt ebenfalls euch selbst überlassen. Ich habe nur einen einzigen Rat für euch: Wendet euch von Sauron ab. Er herrscht nur durch Furcht, so wie es diese Männer hier getan haben, und er benutzt euch nur, um seine eigene Macht zu stärken.“
Damit wandte sie sich ab und schritt auf den Ausgang des Anwesens zu, gefolgt von Vaicenya und Jarbeorn. Sie hatten die Schwelle gerade erst überschritten, als sie den Todesschrei des finsteren Gardisten vernahmen, der von dem wütenden Mob auseinander gerissen wurde.
Rasch kehrten sie zu ihren Pferden zurück und bedankten sich großzügig bei den Stadtbewohnern, die ihnen beim Durchführen ihres Befreiungsplans geholfen hatten, indem sie Córiel einfache Kleider gegeben und ihr von dem Geschenk des Abschieds erzählt hatten, das sie als Vorwand verwendet hatte um zu Jarbeorn zu gelangen. Dann stiegen die drei Gefährten in die Sättel und verließen Dervogord in nordöstlicher Richtung, entlang des breiten Flusses, der sie tief in wildes, unerforschtes Land führte.


Córiel, Jarbeorn und Vaicenya in die wilden Lande im Osten
« Letzte Änderung: 1. Jan 2019, 18:32 von Fine »
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