Córiel, Jarbeorn und Vaicenya aus dem SternenwaldInnerhalb nur weniger Tage hatten die drei Reisenden die Länder des Carnen weit hinter sich gelassen und waren in die große Region Rhûns vorgedrungen, die zwischen dem Binnenmeer im Süden und den Eisenbergen im Norden lag. Es war ein nur spärlich besiedeltes Land, das von großen Herden von Weidetieren durchstreift wurde. Die meisten Menschen, die hier lebten, verdienten sich ihren Lebensunterhalt als Hirten oder Händler.
Im Zentrum dieses Gebietes lag eine Stadt, die einst von dorwinischen Erkundern erbaut worden war und die den Namen Riavod trug. Auf dem Höhepunkt des Königreichs von Thal war sie am östlichen Randgebiet des Reiches der See-Menschen gelegen und war in jenen Jahren zu einem wichtigen Handelsposten zwischen Thal, Dorwinion, den Eisenbergen und den Reichen weiter im Osten geworden. Hirten trieben ihre Herden alle paar Monate hierher, um die Erzeugnisse der Tiere an die Händler zu verkaufen, die sie von Riavod aus im ganzen Osten Mittelerdes vertrieben. Die Stadt war von einer starken Holzpalisade umgeben, die noch aus der Zeit stammte, in der das Königreich von Dorwinion Bestand gehabt hatte. Selbst als die Ostlinge von Gortharia Dorwinion eroberten, erkannten sie den Wert Riavods und ließen es ungeplündert. Heute war es ein einsamer Vorposten inmitten der stillen Wildnis nördlich des Meeres von Rhûn, der seit dem Feldzug gegen Thal und den Erebor auch eine starke Garnison von Ostling-Soldaten beherbergte. Im Zentrum Riavods stand ein großer Handelskontor, der gleichzeitig als Rathaus, Marktplatz und Bank diente.
Córiel und ihre beiden Gefährten hatten vor, in Riavod Pferde zu erstehen. Zwar kamen sie dank der Schnelligkeit der Elbin und der Ausdauer des Beorningers rasch voran, doch insbesondere Vaicenya war von einer tiefen Besorgnis ergriffen worden, die sie antrieb. Ihr Ziel lag tief im Osten und beritten würden sie es schneller erreichen als zu Fuß.
Sie entschieden, dass Jarbeorn bei den Kaufverhandlungen das Wort führen sollte. Der Beorninger war ein herzlicher, aufgeschlossener Mensch, den nur wenige nicht ausstehen konnten, da er meistens einen guten ersten Eindruck machte. Darüber hinaus waren sie sich einig, dass es besser wäre, wenn man Córiel und Vaicenya nicht als Elben erkannte, da sie nicht recht wussten, wie die Ostlinge darauf reagieren würden. Córiel hatte aus dem Sternenwald eine Pelzmütze mitgebracht, die zwei große, mit weißem Fell besetzte Klappen besaß, die die spitzen Ohren der Hochelbin vollständig bedeckten. Das war ihr ganz recht, da der Winter inzwischen nahte und es in jenen Landen empfindlich kalt werden konnte. Vaicenya hingegen beschränkte sich darauf, die Kapuze ihres dunklen Umhangs aufzusetzen und sich im Hintergrund zu halten.
Bereits am Tor fiel ihnen auf, dass in Riavod die Wachsamkeit der Soldaten Rhûns nicht sonderlich stark auszufallen schien. Man winkte die drei Reisenden hindurch, ohne ihnen besondere Bemerkung zu schenken. Und jenseits des hölzernen Tores erwartete sie gleich die nächste Überraschung. Sie kamen auf einen großen Platz, auf dem eine Hülle und Fülle von Waren angeboten wurden. Und dort, inmitten der menschlichen Händler, entdeckte Jarbeorn mehrere Stände, die eindeutig von Zwergen besetzt waren.
„Ich dachte, die Ostlinge verstehen sich nicht sonderlich gut mit den Zwergen und führen am Erebor sogar Krieg gegen sie,“ wunderte sich Córiel.
Jarbeorn nickte und erinnerte sie an die vielen Geschichten über Rhûn, die ihnen Pallando während ihrer Reise nach Osten erzählt hatte. „Vielleicht haben sie weniger Probleme mit den Zwergen aus den Eisenbergen,“ überlegte er. „Ich sehe einen Hufschmied dort vorne. Vielleicht kann er uns ja gleich bei beider unserer Anliegen behilflich sein und uns ein Pferd besorgen und uns erklären, weshalb er da so sorglos inmitten einer Ostlingstadt stehen und seine Dienste anbieten kann.“
Der Beorninger setzte seine Entscheidung sogleich in die Tat um und marschierte los, um den zwergischen Hufschmied zu befragen. Hastig schlossen Córiel und Vaicenya zu ihm auf.
„Grüß‘ Euch, Meister Zwerg,“ sagte Jarbeorn gerade. „Mein Name ist Jarbeorn, Sohn des Grimbeorn, zu Euren Diensten.“
Das mürrische Gesicht des Zwerges hellte sich auf, als er das hörte. „Bei Durins Bart, ein echter Beorninger! Wahrlich ein seltener Anblick in diesen Tagen. Sindri, Sohn des Fandri, zu Euren Diensten. Sagt - Ihr habt nicht zufällig einen Eurer unvergleichlichen Honigkuchen dabei?“
Jarbeorn lachte schallend, wie es seine Art war. „Leider muss ich Euch enttäuschen, Meister Sindri. Wie Ihr aber wohl bereits richtig vermutet habt, benötige ich Eure Dienste. Meine Gefährten und ich benötigen Reittiere.“
Sindri nickte zufrieden. „Da seid ihr bei mir genau richtig, Freund Jarbeorn. Ich selbst bevorzuge normalerweise Ponys, doch ihr drei seid so groß, dass ihr mit Pferden besser dran seid. Ich mache euch ein feines Angebot, weil mir der Anblick eines Beorningers diesen Tag versüßt hat. Kommen wir ins Geschäft?“
Sie kamen ins Geschäft. Der Preis war fair, soweit Córiel es einschätzen konnte. Sindri kam ihnen ein ganzes Stück entgegen und legte sogar noch Sättel und Zaumzeug obendrauf. Nach Abschluss des Kaufes rief der Zwerg nach einem seiner menschlichen Stallburschen, welcher die Pferde herbeiholen ging.
„Ich frage mich, wie es sein kann, dass Ihr als Zwerg so problemlos Euer Dasein in einer Stadt der Ostlinge führen könnt,“ sagte Jarbeorn, der sich gemeinsam mit Sindri auf eine hölzerne Bank direkt außerhalb der Hufschmiede gesetzt hatte. Er hatte im Plauderton gesprochen, doch Córiel sah, wie der Zwerg sofort misstrauisch zu werden begann. Sie hoffte, dass Jarbeorns Umgänglichkeit ausreichen würde, um ihnen ein paar Antworten zu verschaffen.
„Nun, man muss sehen, wo man bleibt, mein Freund,“ sagte Sindri unverbindlich. „Jetzt, wo in Thal und am Erebor kaum noch Handel läuft, bleiben uns Zwergen der Eisenberge nur die Ostlinge als Käufer.“
„Dann liegt ihr noch nicht im Krieg mit Gortharia?“ fragte Jarbeorn unbeirrt weiter.
„Viele von unserem Volk haben Krieg gefordert,“ erklärte Sindri, dem das echte Interesse, das der Beorninger zeigte, aufgefallen sein musste. „Aber unser Fürst, Gráin, den sie
Feuerfaust nennen, ist weniger jähzornig als sein Vater Dáin. Er hat erkannt, dass der Erebor im Augenblick nicht in unserer Reichweite liegt. Zu viele Orks und Ostlinge haben sich dort eingenistet.“
„Das tut mir Leid,“ sagte Jarbeorn, dem man ansah, dass er es auch so meinte. „Auch mein Volk hat seine Heimat verloren.“
„Ich hörte davon,“ sagte Sindri. „Mein Freund, ich würde unseren Plausch wirklich gerne fortführen, aber ich komme nicht umhin, zu bemerken, dass die beiden Damen hier ziemlich schweigsam geblieben sind. Unter Handelspartnern ist es üblich, einander seine Namen zu nennen, nicht wahr? Die kalten Blicke, die sie mir zuwerfen, lassen mich an einige wirklich üble Geschichten denken, die aus Gortharia an mein Ohr gedrungen sind. Wisst ihr, man erzählt sich, es gäbe dort eine Gruppe von mordlustigen Frauen, die sich wie Schatten durch die Gassen schleichen und wahllos töten. Ihr seid doch nicht etwa...“
„Ich bin etwas viel Schlimmeres,“ wisperte Córiel dem Zwerg ins Ohr. „Ich bin eine Elbin.“
Sindri brauchte einen Moment, um das Gehörte zu verarbeiten. Dann lachte er tief und befreit auf. „Ein Spitzohr, so weit im Osten? Das ist beinahe noch ungewöhnlicher als der gute Beorninger hier. Jetzt verstehe ich eure Heimlichkeit. Die Ostlinge tolerieren uns Zwerge, weil wir ihnen hochwertige Waren verkaufen und ihren Handel ordentlich ankurbeln, aber auf euer Volk sind sie wirklich ganz schlecht zu sprechen.“
„Das ist also der Grund, weshalb Zwerge in Riavod geduldet sind,“ schlussfolgerte Jarbeorn. „Handel macht die Leute reich, und diesen Reichtum geben sie nur ungern auf.“
„Und genau das hat auch Fürst Gráin erkannt. Solange wir Zwerge nützlich für die Ostlinge sind, werden sie uns wahrscheinlich nicht angreifen und wir können Nahrung und Vorräte bei ihnen kaufen, die sich in den Eisenbergen nicht so leicht anbauen lassen.“
Vaicenya, die noch kein einziges Wort gesagt hatte, lehnte an einer der Säulen, die das Dach der Hufschmiede trugen und hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Sie sah aus, als könnte sie absolut nicht verstehen, wieso sich Jarbeorn und Córiel so lange mit dem Zwerg abgaben. Córiel hoffte, die Dunkelelbin würde nicht die Geduld verlieren und ein Blutbad anrichten.
Doch ehe es dazu kommen konnte brachte der Stallbursche die Pferde herbei. Sie waren mit frischen Hufen und Sätteln versehen worden und wirkten ausgeruht. Jarbeorn händigte Sindri die Bezahlung aus und versprach dem Zwerg, bei seinem nächsten Besuch in Riavod oder in den Eisenbergen einen Honigkuchen nach dem Rezept seines Vaters Grimbeorn mitzubringen. Zum Abschied riet ihnen Sindri noch, sich in Richtung des Fürstentums Dervesalend zu wenden, das südöstlich von Riavod am nördlichsten Zipfel des Binnenmeeres befand, denn er hatte gehört, dass in den Gebieten östlich der Stadt mehrere Horden wilder Wölfe ihr Unwesen trieben. Sie nahmen den Rat dankbar an und stiegen in die Sättel. Riavod rasch hinter sich lassend setzten sie ihre Suche nach Níthrar und dem geheimnisvollen Ort Cuivíenen zu Pferde fort.
Córiel, Jarbeorn und Vaicenya nach Dervesalend