Das Schicksal Mittelerdes (RPG) > Umbar

Vor der Stadt

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Eandril:
Qúsay war nicht sonderlich begeistert von der Aussicht gewesen, einen bekannten Verbrecher zehn Prozent der Reichtümer Umbars und eine Begnadigung zusichern zu müssen, doch er hatte schließlich zähneknirschend eingewilligt. Immerhin war die Zeit gegen ihn, und jeder Tag länger, den die Belagerung Umbars andauerte, war ein Tag mehr, den Suladân zu Verfügung hatte, neue Kräfte zu sammeln.
Langlas hatte die Stadt noch zwei Mal verlassen und wieder heimlich betreten, um Qúsays Nachrichten zu Teijo zu bringen, und umgekehrt, doch den Tag, bevor sie ihren Plan in die Tat umsetzen wollten, war er in Umbar geblieben, um Teijo zu unterstützen.

Jetzt wartete Qúsays gesamte Armee darauf, dass sich die Tore öffneten und sie Umbar stürmen konnten. Um Hasael nicht vorzuwarnen, hatte Qúsay auf Edrahils Rat hin ungefähr die Hälfte seiner Männer im Lager belassen und die andere Hälfte rund um die Stadt verborgen hinter Anhöhen, Bäume und niedergebrannten Häusern Aufstellung nehmen lassen. Die im Lager verbliebenen Männer hielten sich in Bereitschaft, sofort die Tore zu stürmen, wenn diese sich öffneten, während die andere Hälfte die Mauern an möglichst vielen Stellen gleichzeitig attackieren würden.
Edrahil hatte sich einen Platz im Schatten eines kleinen Baumes am Rand des Lagers gesucht, von dem aus er bequem zum Haupttor Umbars hinüber blicken konnte. Hírilorn ging unruhig auf und ab - der junge Mann wäre liebend gerne mit Langlas gemeinsam in die Stadt gegangen, doch Edrahil hatte sich dagegen entschieden. Auch Qúsay war mit einigen seinen Getreuen in der Nähe - er würde den Angriff auf die Tore persönlich befehligen, und beobachtete die stumm aufragenden Mauern von Umbar ebenso unruhig wie Hírilorn.
Edrahil selbst war ebenfalls merkwürdig unruhig, denn Teijos Leute hatten bereits beinahe eine halbe Stunde Verspätung. Außerdem, selbst wenn der Plan gelang, würde vermutlich Fürst Imrahil vor den Kopf gestoßen sein, dass er seine Flotte vollkommen grundlos nach Umbar entsandt und Gondors Küsten schutzlos zurückgelassen hatte.
"Da passiert etwas", meinte Hírilorn, dessen junge Augen noch scharf waren. Edrahil erhob sich, und blickte mit zusammengekniffenen Augen über die trockene Ebene zum Tor. Tatsächlich öffnete sich einer der beiden Torflügel, und eine Gruppe von Männern auf Pferden verließ die Stadt. Sie führten das Banner Umbars, und Edrahil fühlte seinen Mund trocken werden. Das konnte nur eines bedeuten.
Unter Qúsays Beratern war eine hitzige Diskussion ausgebrochen, und schließlich ritten vier Männer, ebenso viele, wie Umbar verlassen hatten, jenen entgegen. Edrahil beobachtete angespannt, wie die beiden Gruppen auf halbem Weg zum Tor zusammentrafen. Er konnte nicht verstehen, was gesprochen wurde, doch er glaubte zu sehen, wie die Boten Umbars etwas Rundes zu Boden warfen. Schließlich kehrten beide Gruppen zu ihrem Ausgangspunkt zurück.
Edrahil wandte sich Hírilorn zu. "Ich fürchte, das war es", stellte er so ruhig wie möglich fest. Hírilorn schüttelte den Kopf, also könnte er leugnen, was geschehen war. "Nein. Ihr glaubt doch nicht wirklich..." Edrahil legte ihm eine Hand auf die Schulter. "Immerhin solltet ihr jetzt froh sein, dass ich nicht euch in die Stadt geschickt habe." Hírilorn erwiderte seinen Blick ungläubig, als wollte er sagen Das meint ihr nicht ernst!
Qúsays Boten hatten den Malik erreicht, und kurze Zeit später kam Dírar ein wenig zögernd zu Edrahil und Hírilorn hinüber. Dass sein Sohn sich zum ersten Mal seit er die Wahrheit erfahren hatte, überwinden konnte, mit Edrahil zu sprechen, bestätigte ihn endgültig in seinem Verdacht.
"Es tut mir leid", sagte Dírar langsam, und wich Edrahils Blick aus. "Der Plan ist gescheitert. Sie... haben uns Langlas' und vermutlich Teijos Köpfe vor die Füße geworfen."
Hírilorn wandte sich abrupt ab und ging mit schnellen Schritten davon, Edrahil blieb jedoch stehen, den Knauf seines Stocks fest umklammert. "Nun. Dann haben wir wenigstens klare Verhältnisse."
Dírar blickte ihn verständnislos an. "Es berührt dich nicht einmal, nicht wahr? Es berührt dich nicht, dass du wenigstens zwei Menschen in den Tod geschickt hast, vermutlich mehr."
"Ich habe weder Langlas noch Teijo zu irgendetwas gezwungen", erwiderte Edrahil, und blickte seinem Sohn fest in die Augen. "Ist es so viel anders zu den Männern, die auf Qúsays - oder deinen - Befehl beim Sturm auf die Mauern sterben?"
"Wohl nicht", meinte Dírar langsam. "Und dennoch... es ist etwas anderes, wenn unsere Freunde sterben."
"Ich hatte die Möglichkeit unseres Scheiterns von Anfang an akzeptiert. Und Langlas war sich der Risiken sehr wohl bewusst." Edrahil warf einen nachdenklichen Blick zu den Mauern von Umbar - dieser Stadt, die ihn in gewisser Weise bereits sein halbes Leben lang verfolgte. "Es stimmt, ich habe Langlas gemocht - oder zumindest respektiert. Ebenso wie Teijo. Und ich werde beide auf gewisse Weise vermissen. Doch ich tue das hier lange genug, um keine Schuldgefühle mehr zu verspüren, wenn ich Männer in den Tod schicke, die sich der Risiken bewusst sind."
Dírar wollte offensichtlich noch etwas sagen, wurde aber unterbrochen, als Qúsay mit langen Schritten zu ihnen hinüber kam. Das Auge des Malik funkelte. Er war offensichtlich zornig. "Meine Boten haben eine Nachricht für euch mitgebracht, Edrahil. Ihr müsst schon klüger sein, Edrahil. Glaubt ihr, ich hätte euer doppeltes Spiel vergessen? Welche Spiele spielt ihr wohl jetzt? Ich hoffe, ihr habt eine Erklärung dafür."
Edrahil biss die Zähne zusammen. "Sagt euch der Name Saleme etwas?" Qúsay nickte knapp. "Nun, dann wisst ihr, dass ihr nicht zu trauen ist. Nach meiner Ankunft in Umbar habe ich einige Zeit mit ihr zusammengearbeitet, zumindest oberflächlich - gleichzeitig habe ich sie und Hasael gegeneinander ausgespielt, um beide Parteien zu schwächen. Darauf spielt sie an - denn die Nachricht ist von ihr, oder zumindest in ihrem Auftrag, da bin ich sicher."
"Und welche Antwort vermögt ihr zu geben?", fragte Qúsay grimmig. "Spielt ihr mehr als ein Spiel?"
"Nein - zumindest im eigentlich Sinne." Dírar hob eine Augenbraue. "Im eigentlichen Sinne?"
"Ich beabsichtige nicht, euch über meine Absichten im Unklaren zu lassen, Malik", erwiderte Edrahil direkt an Qúsay gewandt. "Meine Treue gilt Dol Amroth, daran wird sich nie etwas ändern. Ich werde euch unterstützen so gut ich kann, so lange eure Ziele mit den Interessen Dol Amroths übereinstimmen."
"Und wenn diese Übereinstimmung nicht mehr besteht..." "Werde ich nicht zögern, mich gegen euch zu wenden", vollendete Edrahil den Satz. Er glaubte nicht, dass er in dieser Situation mit schönen Lügen weiterkommen würde. "Zumindest, sollten eure Absichten gegenüber Dol Amroth feindlich werden."
Qúsay zeigte ein seltenes, gefährliches Lächeln. "Dann wollen wir hoffen, dass unsere Ziele noch auf absehbare Zeit kompatibel bleiben."

Erneut wurde ihr Gespräch gestört. Ein junger Südländer kam aus Richtung des Lagers geeilt, und ließ sich keuchend vor Qúsay auf die Knie fallen. "Verzeiht, Malik. Doch ich bringe gute Neuigkeiten. Ihr... ihr habt eine Tochter, Herr."
Auf Qúsays Gesicht breitete sich ein Lächeln aus, dass den sonst so grimmigen Malik wie einen vollkommen anderen Mann erscheinen ließ. "Das heißt, es ist alles gut gegangen?"
Der Bote nickte. "Herrin... Thódbjörg ist wohlauf und munter, und auch dem Kind geht es gut." Edrahil bemerkte amüsiert, dass der junge Südländer sichtlich Schwierigkeiten mit der Aussprache des nordischen Namens hatte.
Dírar wandte sich mit einem gänzlich unkomplizierten Lächeln an Qúsay, und legte dem Malik eine Hand auf die Schulter - eine seltene Geste. "Erlaubt, der erste zu sein, der euch zu eurer Tochter gratuliert. Möge ein langes, glückliches Leben sie erwarten, und ihre Geburt an diesem Tag ein glückliches Omen für den Verlauf dieses Krieges sein." Edrahil entging nicht, wie geschickt sein Sohn mit dem letzten Satz vorgegangen war - es war nicht unwahrscheinlich, dass sich genau die andere Deutung verbreitet hätte. Dass Qúsays Tochter ausgerechnet an dem Tag geboren worden war, da der Plan zur Eroberung Umbars so katastrophal gescheitert war, hätte als schlechtes Omen für ihr Leben gedeutet werden können.
Qúsay schienen die Worte zu fehlen, also ergriff Edrahil ein wenig steif des Wort: "Erlaubt, mir ebenfalls, euch und eurer Tochter im Namen Dol Amroths Glückwünsche zu übermitteln." Qúsays Miene verfinsterte sich ein wenig. "Ihr billigt sie nicht. Ihr fürchtet, dass die Söhne, die ich mit Prinzessin Lóthiriel zeugen werde, dadurch Nachteile haben könnten. Doch eine Tochter kann nicht erben, das solltet ihr nicht vergessen."
"Und was ist mit den Söhnen, die ihr mit Thódbjörg zeugen werdet?", fragte Edrahil offen, ohne Qúsays Blick auszuweichen.
Der Malik seufzte. "Ach Edrahil, ihr versteht es auch, einem Mann den schönsten Tag seines Lebens zu verderben. Ich werde mit euch nicht darüber sprechen." Er bedeutete dem Boten, sich zu erheben, und begann in Richtung des Lagers davon zu gehen. "Kommt mit mir", sagte er, bereits im Gehen, an den Boten gewandt. "Für diese gute Nachricht habt ihr euch eine Belohnung verdient..."
Als Qúsay außer Hörweite war, sagte Dírar leise: "Das war nicht sonderlich geschickt... Vater." Edrahil seufzte. "Ich weiß. Doch ich kann nicht billigen, dass er legitime Kinder zeugt, während er mit unserer Prinzessin verlobt ist."
"Und doch ist es Sitte so in Harad", erwiderte Dírar. "Du kannst nicht erwarten, dass Qúsay seine ganze Lebensweise ablegt."
"Doch", gab Edrahil zurück. "Ich fürchte, das kann ich." Mit diesen Worten ließ er Dírar stehen.

Eandril:
Die nächsten Tage flossen zäh dahin. Edrahil grübelte über einen anderen Weg, Umbar ohne große Verluste einzunehmen nach. Fragte sich, wie Saleme Einfluss auf die belagerte Stadt ausüben konnte. Ob sie selbst in Umbar war, und was das zu bedeuten hatte. Auf keine Frage fand er keine befriedigende Antwort.
Hírilorn ging ihm aus dem Weg, Dírar hatte seit dem Tag, an dem Edrahils Plan gescheitert war, nicht mehr mit ihm gesprochen, und auch Qúsay selbst schien nicht das Bedürfnis zu verspüren, sich Rat bei ihm zu holen. Für zwei Tage nach der Geburt von Qúsays Tochter, die nach Qúsays Mutter Miluiril genannt worden war, hatte ein trügerischer Friede über Umbar gelegen, doch danach hatte das Belagerungsheer seine fruchtlosen Angriffe wieder aufgenommen.
Am Morgen des fünften Tages wurde die Plane von Edrahils Zelt zurückgeschlagen, und ein junger Südländer - der selbe, der Qúsay die Nachricht von der Geburt seiner Tochter überbracht hatte - verneigte sich tief. "Herrin Thjódbjörg wünscht euch zu sprechen, Herr", sagte er, und Edrahil erhob sich überrascht aus seinem Stuhl. "Nicht Malik Qúsay?", fragte er, und der Bote schüttelte den Kopf. "Nein, Herr. Der Malik führt einen Angriff auf die Mauern an, und Herrin Thjódbjörg wünscht euch allein zu sprechen."
Edrahil hob eine Augenbraue. "Das wäre nicht sonderlich schicklich, nicht wahr?" Der Junge stutzte, und zögerte ein wenig. "Ich... ich bin mir nicht sicher..."
Edrahil hob die Hand, und unterbrach ihn: "Es war ein Scherz. Ich werde selbstverständlich mit Herrin Thjódbjörg sprechen, wenn sie es wünscht."

Er folgte dem Boten quer durch das Zeltlager bis zu Qúsays großem Feldherrenzelt. Dieses Mal wurde er durch den ihm bereits bekannten Vorderteil hinter die hölzerne Absperrung geführt. Dort erwartete ihn, in einem bequemen Sessel sitzend, die Arme steif auf die Armlehnen gelegt, eine hochgewachsene blonde Frau. Edrahil verneigte sich knapp. "Herrin." Thódbjörg bedeutete dem Boten mit einer Geste, sie allein zu lassen, und sagte dann: "Bitte, setzt euch."
Edrahil kam ihrer Aufforderung nach, dankbar, dass er nicht stehen musste, und ließ sich in den ihr gegenüber stehenden Sessel sinken. "Erlaubt mir, euch zur Geburt eurer Tochter zu gratulieren", sagte er ein wenig steif.
"Danke", erwiderte sie, ohne eine Regung zu zeigen, und fügte dann hinzu: "Ihr billigt mich nicht, nicht wahr? Meine Verbindung mit Qúsay. Unsere Tochter." Sie blickte in Richtung des Kinderbetts in einer hinteren Ecke des Zeltes, und lächelte unwillkürlich. Als sie sich wieder an Edrahil wandte, wurde ihre Miene wieder ernst. "Ihr fürchtet, Qúsay könnte mich eurer Prinzessin vorziehen, nicht wahr? Meine Kinder ihren Kindern."
Edrahil betrachtete sie aufmerksam. Ihre Finger klammerten sich so fest um die Armlehnen ihres Stuhles, dass die Fingerknöchel weiß hervortraten. Vor irgendetwas schien sie Angst zu haben. "Ihr fürchtet den umgekehrten Fall", vermutete er. "Ihr fürchtet, dass Qúsay euch zur Seite schieben könnte, sobald er Lóthiriel heiratet, und eure Tochter und möglichen anderen Kinder vernachlässigen könnte." Thjódbjörg wich seinem Blick aus, und er wusste, dass er ins Schwarze getroffen hatte.
"Diese Ehe muss zustande kommen", fuhr er fort. "Für das Wohl Dol Amroths - Gondors - ebenso wir für das Wohl Qúsays, über was auch immer er herrschen mag, wenn der Krieg vorüber ist. Das müsst ihr ebenso gut wissen wie ich. Wieso also seid ihr diese Verbindung überhaupt erst eingegangen?"
Thjódbjörg blickte schweigend zu Boden, bevor sie den Kopf hoch, und Edrahils Blick fest erwiderte. "Ich stamme aus Thal. Mein Vater entstammte einem recht unbedeutenden Adelshaus, doch wir hatten ein gutes Leben. Mein Großvater starb vor an den Hängen des Erebor, im Kampf gegen Mordors Heerscharen. Als Thal erobert wurde, wurde ich gefangen genommen und verschleppt, als Sklavin verkauft und geriet schließlich in den Besitz Marwans in Linhir." Ihr Blick wurde geradezu herausfordernd, als sie weiter erzählte: "Er stellte mich Qúsay für die Nacht zur Verfügung, doch er weigerte sich, mich zu zwingen, ihm zu Diensten zu sein. Ihr versteht nicht, warum ich eingewilligt habe, als er mich später zur Frau genommen hat? Qúsay war der erste, der mich seit dem Fall Thals wie einen Menschen behandelte, nicht wie ein Stück Fleisch, wie Eigentum. Er ist ein großer Mann, ein guter Mann. Ihr solltet nicht an ihm zweifeln." Ihre Wangen hatten sich im Verlauf ihrer Erzählung gerötet, und ihre Augen glänzten.
Edrahil betrachtete sie nachdenklich. Er konnte durchaus verstehen, was Qúsay bewegt haben mochte, Thjódbjörg zu seiner Nebenfrau, wie es in Harad genannt wurde, zu machen. Schließlich sagte er: "Nun, ich denke, ich verstehe ein wenig besser. Vielleicht gibt es einen Weg, unser beider Bedenken ein wenig aus dem Weg zu räumen."
"Was stellt ihr euch vor?", fragte Thódbjörg vorsichtig.
"Einen Vertrag", antwortete Edrahil. "Einen Vertrag zwischen Qúsay, Lóthiriel und euch, der regelt, dass Lóthiriel seine Ehefrau ist, und dass ihre Kinder in jedem Fall in der Erbfolge an erster Stelle kommen werden. Dafür wird euch zugesichert, dass eure Kinder gleichwertig behandelt und ausreichend mit materiellen Gütern versorgt und mit angemessenen Partnern verheiratet beziehungsweise verlobt werden."
Thjódbjörg wirkte nachdenklich. "Ein solcher Vertrag würde mich offiziell zu einer Frau zweiter Klasse machen."
"Das seid ihr bereits", stellte Edrahil unbarmherzig fest. "Qúsay hat sein Verlöbnis mit Lóthiriel nicht gelöst, sondern euch zu seiner Nebenfrau genommen. Ich kenne die Sitten Harads gut genug um zu wissen, dass das im Grunde lediglich ein schöneres Wort für Mätresse ist."
Thjódbjörg hob das Kinn, doch ihre Augen glitzerten verdächtig. "Ich glaube nicht, dass Qúsay es so sieht." Edrahil seufzte. "Das fürchte ich auch, denn darauf beruht ja unser Problem. Seht ihr nicht, dass ein Vertrag, der eure Ansprüche und die eurer Kinder ein für alle mal eindeutig regelt, die beste Alternative ist?"
"Ich... es gefällt mir nicht sonderlich", erwiderte Thjóbjörg. "Ich denke, ihr habt... Recht", schloss sie, und ihre Stimme klang verwirrt und abwesend. Sie taste mit der rechten Hand hinter ihrem Rücken. Ihr Mund formte ein verwirrtes "Oh", und ihr Oberkörper sackte langsam nach vorne. Ohne Nachzudenken sprang Edrahil auf, und fing sie auf, bevor sie aus dem Stuhl fallen konnte. Sofort fiel ihm der kleine rote Fleck auf dem Rücken ihres weißen Kleides auf. Die Wunde im Rücken war nur winzig klein, dennoch ging Thjódbjörgs Atem flach und schnell, als Edrahil sie sanft zu Boden gleiten ließ. Er konnte geradezu beobachten, wie ihre Kraft schwand. Er öffnete, den Mund, um einen Hilferuf auszustoßen, doch der Druck ihrer Hand lenkte ihn ab. Sie umklammerte seinen Arm wie eine Ertrinkende.
"Ich will... nicht sterben", stieß sie mühsam hervor. "Nicht... jetzt." "Ihr werdet nicht sterben", versuchte Edrahil sie zu beruhigen, doch sie lächelte schwach. "Doch. Ich spüre es. Irgendein... Gift. Es brennt... in mir." Sie presste vor Schmerz die Lippen zusammen. "Sagt Qúsay... dass ich ihn liebe. Und... beschützt meine Tochter." Ihre Finger krallten sich schmerzhaft in Edrahils Arm. "Versprecht es mir."
Das war ungefähr das letzte, was Edrahil wollte, doch in diesem Augenblick hatte er keine Wahl. "Ich verspreche es."
Der Schmerz in ihren Augen wich Erleichterung. "Gut", sagte sie. Und schloss die Augen.
Edrahil tastete nach ihrem Handgelenk, doch kein Puls war zu spüren, und ihre Brust hob und senkte sich nicht mehr. Wie im Traum stand er auf. Seine Augen registrierten den Riss in der Zeltplane an der Stelle hinter dem Sessel, in dem Thjódbjörg gesessen hatte. Er ging zu dem Kinderbett, in dem die kleine Miluiril inzwischen aufgewacht war, und zu weinen begonnen hatte - also ob sie ahnte, was gerade geschehen war.
Zum ersten Mal seit langer Zeit spürte Edrahil, wie sich sein Herz vor Mitleid zusammenzog. Er hob Miluiril aus ihrem Bettchen und begann sie sanft hin und her zu wiegen, wie er es mit seinem eigenen Sohn gern getan hätte, vor über vierzig Jahren. "Armes Ding", flüsterte er. Miluiril hatte die dunklen Augen ihre Vaters geerbt. "Du wirst es nicht leicht haben im Leben."

So fand ihn Qúsay, als er mit Dírar und zwei weiteren Gefährten um die hölzerne Absperrung herum in den hinteren Teil des Feldherrenzeltes kam. Der Malik erstarrte, und alle Farbe wich aus seinem Gesicht. "Eure... Gemahlin wurde ermordet", sagte Edrahil ruhig. Er ahnte, was geschehen wurde. Auf Qúsays Stirn pulsierte eine Ader, als er sagte: "Gebt mir meine Tochter." Sobald Edrahil Miluiril in seine Arme gelegt hatte, befahl Qúsay seinen Begleitern: "Ergreift ihn, und schafft ihn mir aus den Augen. Bindet ihn irgendwo an, bis ich mich entschieden habe, was ich tun werde." Dírar öffnete den Mund, doch Edrahil blickte ihn warnend an, und schüttelte den Kopf. Im Augenblick würde Dírar nichts für ihn tun können, und es war wichtig, dass er an Qúsays Seite bleiben konnte. Er wehrte sich nicht, als die beiden anderen Männer unsanft seine Arme packten, und ihn aus dem Zelt schleiften. Als sie das Zelt verließen, glaubte er hinter sich ein ersticktes Schluchzen zu hören.

Eandril:
Sie hatten Edrahil in ein leeres Zelt nahe des Zentrums des Lagers gebracht und an einem Pfahl in der Mitte gebunden. Seine Hände waren hinter dem hölzernen Pfahl aneinander gefesselt, und der Pfahl war deutlich zu hoch um Edrahil eine Flucht zu ermöglichen - nicht, dass er das vorgehabt hätte. Stattdessen lehnte er, sobald er im Zelt alleine war, den Kopf gegen den Pfahl und schloss für einen Moment die Augen. Er wusste, dass er nicht lange alleine bleiben müssen.
Tatsächlich dauerte es nicht lange, bis die Plane zurückgeschlagen wurde, und sein Sohn ins Zelt trat. Dírars Gesicht war noch immer blass, und er wirkte niedergeschlagen und gleichzeitig angespannt. "Hast du sie getötet?", stieß er beinahe hastig hervor, und Edrahil schüttelte mit einiger Mühe - seine Fesseln behinderten ihn - den Kopf.
"Nein", erwiderte er ernst. "Ich schwöre es bei... beim Leben deiner Mutter, dass ich Thjódbjörg nicht getötet habe."
Dírars Erleichterung war ihm deutlich anzusehen, und Edrahil war überrascht, wie groß seine eigene Erleichterung war, dass Dírar ihm ohne weiteres glaubte.
"Qúsay ist vom Gegenteil überzeugt", meinte Dírar schließlich, und begann, auf der schmalen Fläche, die das Zelt bot, auf und ab zu gehen. "Er hätte dich auf der Stelle hinrichten lassen, wenn wir nicht mit all unserer Überzeugungskraft auf ihn eingeredet hätten."
"Ich dachte mir, dass seine Trauer seine Urteilskraft für den Moment trüben würde", erwiderte Edrahil. "Wer ist wir?" Dírar blieb stehen, und blickte ihn überrascht an. "Beinahe alle seiner Berater und Vertrauten haben sich dagegen ausgesprochen, dich einfach hinrichten zu lassen. Glaubst du, ich wäre der einzige in diesem Heerlager mit einem Funken Vernunft?"
"Nein - zumindest nicht, solange ich noch hier bin", scherzte Edrahil matt, bevor er sich selbst zur Ordnung rief. Dies war nicht der Zeitpunkt für Galgenhumor, dies war die Zeit für wohl gewählte Worte. Zu seiner Überraschung lächelte Dírar schwach über seinen Kommentar.
"Ich nehme nicht an, dass alle, die gegen eine Hinrichtung gesprochen haben, von meiner Unschuld überzeugt sind", vermutete Edrahil, und Dírar schüttelte den Kopf. "Nein. Die meisten von ihnen sind im Gegenteil überzeugt, dass du Thjódbjörg tatsächlich getötet hast, um Platz für Lothíriel zu machen. Doch die meisten sind ebenso Realisten - sie wissen, dass es uns das Bündnis mit Dol Amroth kosten würde, sollten wir dich ohne ordentliche Verhandlung hinrichten."
Edrahil fixierte Dírar, und zwang ihn, ihm in die Augen zu sehen. "Und wird man mir diese Verhandlung geben?" Dírar hielt seinem Blick einen Augenblick stand, und wich ihm dann aus. "Im Augenblick sieht es nicht so aus. Deine Äußerungen an dem Tag, als dein Plan gescheitert ist, machen dich in den Augen vieler bereits zum Verräter. Man will dir keine Bühne für einen letzten Auftritt geben."
"Also werde ich in Gefangenschaft sterben. Qúsay hat eine wunderbare Ausrede - die Belagerung beansprucht seine Zeit voll und ganz, und bei einem Mann in meinem Alter wäre ein plötzlicher Tod immerhin nicht allzu verdächtig", stellte Edrahil gelassen fest.
Sein Tonfall schien Dírar zu überraschen. "Du nimmst es einfach so hin?"
"Oh nein", widersprach Edrahil. "Ich beabsichtige nicht, mich Qúsays Rachegelüsten einfach so opfern zu lassen. Wird man Besucher zu mir vorlassen?"
"Ich weiß nicht", meinte Dírar unsicher. "Ich werde sehen, was ich tun kann. Mit wem möchtest du sprechen?"
Edrahil überlegte kurz - viel Auswahl gab es nicht. "Hírilorn wäre ein Anfang."
Dírar, und zögerte kurz, bevor er antwortete: "Ich werde ihn ausfindig machen und dafür sorgen, dass er zu dir vorgelassen wird. Und... Qúsay ist ein guter Mann. Er wird nicht auf Dauer zulassen, dass die Trauer sein Urteilsvermögen trübt." Das hoffte Edrahil allerdings auch, doch er wusste, er konnte nicht darauf warten, dass Qúsay zur Vernunft kam. Er brauchte einen Weg, Qúsays Aufmerksamkeit zu erregen. Einen Weg, der es Qúsay unmöglich machen würde, ihn hinzurichten oder in der Gefangenschaft zu ermorden.

Hírilorn kam am frühen Morgen des nächsten Tages. Inzwischen waren Edrahils Hände von den Fesseln taub geworden, und sein schwaches Knie zitterte immer wieder unkontrollierbar.
"Ich... wollte erst nicht kommen", gestand der junge Mann, nachdem er das Zelt betreten hatte. "Aber dann dachte ich... wärt ihr wirklich schuldig, hättet ihr eher versucht, mich dazu zu bewegen, euch heimlich zu befreien."
"Diese Überlegung hat etwas für sich", meinte Edrahil, und versuchte, sich nicht auf die Schmerzen in seinem Bein zu konzentrieren. "Und ja, wäre ich schuldig, hätte ich vermutlich tatsächlich versucht, euch für einen Befreiungsversuch zu gewinnen - immerhin seid ihr darin ausgebildet."
"Vielleicht wird das tatsächlich doch noch nötig sein", erwiderte Hírilorn, und rieb sich ein wenig nervös die Schulter. "Man hat ein winziges Fläschchen in eurem Zelt gefunden, in dem Spuren von einem tödlichen Gift gefunden wurden." Diese Neuigkeit war äußerst schlecht, kam aber nicht allzu überraschend für Edrahil. Die gesamte Angelegenheit kam ihm äußerst verdächtig vor, als würde jemand versuchen, einen Keil zwischen Dol Amroth und Qúsay zu treiben - und Edrahil war nur das Werkzeug. Die Umstände ließen Edrahils Schuld äußerst glaubhaft erscheinen, und Qúsay hätte ungeachtet seiner persönlichen Gefühle kaum eine Wahl gehabt, außer Edrahil hinzurichten - was wiederum mit ziemlicher Sicherheit Imrahil verstimmen und das Bündnis belasten würde. Darüber hinaus ließen Edrahils unbedachte Äußerungen, auf die Dírar bereits angespielt hatte, den Schluss zu, dass der Mord in Imrahils Auftrag geschehen sein könnte - oder zumindest in Imrahils Sinne war. Langsam erkannte Edrahil, wie geschickt die Falle gestellt worden war, in die er gelaufen war. Die ganze Angelegenheit trug Salemes Handschrift, doch beweisen konnte er nichts davon. Erst recht nicht, wenn Qúsay sich weiterhin weigerte, ihn anzuhören.
"Es gibt allerdings auch besser Neuigkeiten", fuhr Hírilorn fort. "Imrahil von Dol Amroth hat seine Flotte nach Umbar entsandt. Die Schiffe sind in der Nacht eingetroffen, und blockieren den Hafen."
Edrahil hob eine Augenbraue. "Ich könnte mir vorstellen, dass das Qúsay ein wenig in Verlegenheit gebracht hat."
"Allerdings. Nach den Gerüchten, die ich gehört habe, hat Prinz Erchirion - er befehligt die Flotte - bereits nach euch gefragt, und Qúsay hatte Schwierigkeiten, eine Erklärung für eure Abwesenheit zu finden." Demnach schien Qúsay Edrahils Gefangenschaft noch nicht öffentlich machen zu wollen, um Erchirion nicht zu verstimmen und zu riskieren, dass die Flotte die Blockade aufgab. Das war gleichermaßen beruhigend wie beunruhigend - offenbar hatte Qúsay nach wie vor nicht die Absicht, Edrahil vor ein Gericht zu stellen, doch ein plötzlicher Tod würde mit Sicherheit Erchirions Misstrauen wecken.
Edrahil wurde aus seinen Gedanken gerissen, als er Hírilorn seinen Namen sagen hörte. "Ihr müsst etwas für mich tun", sagte er, ohne sich um Hírilorns gekränkte Miene zu scheren. "Findet einen Weg, mit Erchirion zu sprechen. Vermutlich sind Valion oder Valirë vom Ethir bei ihm, oder beide. Bittet ihn, sie an Land in Qúsays Lager zu entsenden. Ich muss mit ihnen sprechen."
Hírilorn seufzte, und meinte dann: "Ihr macht euch mit eurer Art keine Freunde, Edrahil. Aber ich werde es tun." Als Hírilorn das Zelt verließ, dachte Edrahil bei sich: Ich brauche euch nicht als Freund, ich brauche nur jemanden, der tut was ich benötige.

Ein Tag verging. Inzwischen waren die Schmerzen in Edrahils Knie stark genug geworden, dass er sich mit einiger Mühe mit dem Rücken an den Pfahl gelehnt hingesetzt hatte. Lediglich einmal hatte ein junger Krieger ihm eine kärgliche Mahlzeit und ein wenig Wasser gebracht, die Edrahil mit auf den Rücken gefesselten Händen allerdings nicht hatte zu sich nehmen können. Stattdessen standen Essen und Wasser noch immer unberührt neben ihm. Schließlich wurde die Zeltplane unsanft zurückgeschlagen, und Edrahil blinzelte im hellen Sonnenlicht. Vor ihm stand Valirë vom Ethir, in voller Rüstung, ihren elbischen Zweihänder auf dem Rücken.
"Ihr sitzt ganz schön in der Tinte, scheint es", spottete sie, doch ihr Tonfall war sanfter und ernsthafter als gewöhnlich.
"Ein wenig", erwiderte Edrahil, und Valirë lachte, bevor sie sich vor ihm zu Boden hockte, und sich damit auf Augenhöhe mit ihm brachte.
"Also, ihr habt Qúsays Frau ermordet?"
"Nein, habe ich nicht", gab Edrahil unwillig zurück. "Sie wurde ermordet, als ich mit ihr alleine war, ja. Doch meine einzige Schuld liegt darin, den Mörder nicht bemerkt zu haben." Es war ein Profi gewesen, der Thjódbjörg getötet hatte, so viel stand fest. Ein ungeübter Mörder hätte in jedem Fall Edrahil Aufmerksamkeit erregt. Vielleicht war es sogar Saleme selbst gewesen... Edrahil beschloss, später darüber nachzudenken. Für den Moment war das Wichtigste, die unmittelbare Gefahr abzuwenden.
"Vielleicht werde ihr alt", meinte Valirë, hob allerdings auf Edrahils Blick hin die Hände. "Schon gut, schon gut. Nicht der richtige Moment."
"Allerdings", stimmte Edrahil zu. "Du musst etwas für mich tun."
Valirë blickte zweifelnd über ihre Schulter. "Ich soll euch hier herausholen? Also, ich habe großes Vertrauen in meine Kampfkünste, aber ein ganzes Heer ist doch ein wenig zu viel für mich."
Edrahil lächelte unwillkürlich. Als Valirë sich ihm wieder zuwandte, fielen ihm ihre ebenmäßigen Gesichtszüge auf, und für einen Augenblick wünschte er sich, Imrahil hätte ihren Bruder an ihrer Stelle entsandt. Er schob die Gedanken beiseite, und sagte stattdessen: "Du wirst nicht gegen ein ganzes Heer kämpfen müssen. Nur gegen einen einzigen Mann."
Valirë zog eine Augenbraue in die Höhe und legte den Kopf schief. "Ein Urteil durch einen Kampf? Gibt es das hier?"
Edrahil nickte. "Soweit ich weiß, ja. Qúsay wird sich dem nicht verweigern können, hoffe ich."
"Und dann ab aufs Schiff mit euch und nach Hause, oder was?"
"Nein." Edrahil lächelte über Valirës überraschte Miene. "Ich habe hier noch einiges zu erledigen. Diese ganze Angelegenheit stinkt geradezu nach einer Falle, und ich wüsste gerne, wer genau dafür verantwortlich ist - und würde diese Person ebenso gerne zur Rechenschaft ziehen."
"Das ist ja schön und gut", meinte Valirë. "Aber selbst wenn wir durch diesen Kampf Qúsay zwingen, euch gehen zu lassen - er wird euch mit Sicherheit misstrauen, und wird euch nicht in seiner Nähe wollen."
Ihre Fähigkeit, die richtigen Schlüsse zu ziehen, überraschte Edrahil ein wenig. Valion hätte sich vermutlich mit Feuereifer in den Kampf gestürzt, hätte Kleinholz aus seinem Gegner gemacht, und wäre dann vollkommen überrascht gewesen, dass Qúsay trotzdem nichts mehr mit Edrahil zu tun haben würde. "Du hast vollkommen recht", antwortete Edrahil. "Und genau deswegen werde ich Qúsay von meiner Unschuld überzeugen müssen. Ich weiß, dass ich das tun kann, doch dazu muss er bereit sein, mit mir zu sprechen."
"Und deshalb der Zweikampf", schloss Valirë. "Das würde euch die Gelegenheit geben, mit Qúsay zu sprechen."
"Vor einer großen Menge, die meine Worte bezeugen kann, ja."
Valirë lächelte. "Also schön. Ich kann solcher Dramatik schlecht widerstehen. Ich werde für euch kämpfen."
Edrahil war nicht der Meinung, dass sie eine Wahl gehabt hatte, doch er sagte nichts. Valirë kam geschmeidig auf die Füße, und sagte: "Ein Danke wäre nicht schlecht, aber was soll's. Ihr könnt euch nach dem Kampf immer noch bedanken. Und jetzt sollte ich vielleicht diesen Dírar suchen gehen, und ihm sagen, dass sie mir gefälligst einen anständigen Gegner aussuchen sollen..."

Eandril:
Dírar ging wieder einmal in dem kleinen Zelt nervös auf und ab. "Qúsay ist einverstanden", sagte er.
Edrahil betrachtete ihn aufmerksam. "Du scheint nicht sonderlich glücklich über diese Entwicklung zu sein."
"Ist das so offensichtlich?" Dírar lachte ein wenig bitter auf. "Offenbar kann ich mich weniger gut verstellen als du."
Edrahil schwieg, wartete ab, bis sein Sohn fort fuhr. "Ich dachte... ich könnte ihn dazu bewegen, dir eine gerechte Verhandlung zu ermöglichen. Und ich hätte es auch geschafft, wenn ich mehr Zeit gehabt hätte."
"Zeit, die wir nicht haben", erwiderte Edrahil. "Ich kann es mir nicht leisten, womöglich Wochen darauf zu warten, dass eine Verhandlung mit unsicherem Ausgang beginnt, und in der Zeit womöglich zu verdursten, verhungern oder irgendeinen anderen plötzlichen Tod zu sterben."
Bei den letzten Worten hatten Dírars Augen sich vor Empörung verengt, und jetzt ging er wie Valirë einige Stunden zuvor vor Edrahil in die Hocke, um ihm im die Augen sehen zu können. "Du hältst Qúsay für einen unehrenhaften Mann." Edrahil schüttelte den Kopf. Normalerweise hätte er jetzt die Hände im Schoß verschränkt, doch die waren ja hinter dem Pfahl gefesselt.
"Ich halte Qúsay grundsätzlich für einen ehrenhaften und guten Mann, der seine Sache gut macht. Doch im Augenblick ist ihm seine Ehre nicht das wichtigste, sondern seine Rache. Vielleicht zweifelt er tief in sich daran, ob ich wirklich schuldig bin, und diese Zweifel will er gar nicht erst wachsen lassen."
Dírar blickte ihn nachdenklich an. "Ist das der Grund, aus dem du diesen Zweikampf wolltest?"
"Ja. Du, mein Sohn, hast mich auf diese Idee gebracht. Du hast gezweifelt, obwohl die Beweislast erdrückend schien, und du hast dich überzeugen lassen - auch wenn ich bezweifle, dass es mit Qúsay so einfach sein wird." Dass Dírar so einfach an seine Unschuld geglaubt hatte, wunderte Edrahil noch immer, denn bislang hatte er nicht den Eindruck gemacht, jemals wirklich anderer Meinung zu sein als Qúsay - und besondere Zuneigung gegenüber Edrahil hatte er bisher ebenfalls nicht gezeigt.
"Ich... bin mir gar nicht sicher, weshalb ich dir geglaubt habe", erwiderte Dírar. "Eigentlich hielt ich dich für einen eiskalt berechnenden Mann, der jede Gelegenheit nutzen würde, um seine Ziele zu fördern, ohne über Verluste zu trauern."
"Damit liegst du vermutlich nicht falsch", meinte Edrahil leise.
Dírar fuhr fort: "Doch mir war auch klar, dass du geschickter bist, als der Mord an Thjódbjörg in deiner Situation gewesen wäre. Warum hättest du dort bleiben sollen? Warum hättest du sie in einer Situation töten sollen, in der du der einzige Verdächtige wärst? Was hättest du damit gewonnen? Das ganze ergibt nur Sinn, wenn du insgeheim sowohl gegen Gondor als auch gegen uns arbeiten würdest und bereit wärst, dein eigenes Leben dafür grundlos aufs Spiel zu setzen. Das erschien mir unwahrscheinlich, also habe ich gezweifelt." Dírar lächelte, beinahe ein wenig schüchtern. "Und deshalb habe ich dich gefragt. Als du mir geantwortet hast, wusste ich, dass du die Wahrheit sagst. Ich weiß nicht, wieso."
Edrahil blickte zu Boden, bevor er den Kopf hob und antwortete: "Weil du mein Sohn bist. Weil du deinen Verstand zu benutzen vermagst, und weil du ein Gespür dafür besitzt, ob Menschen lügen, oder die Wahrheit sagen." Er hätte nie erwartet, so zu empfinden, doch in diesem Augenblick war er stolz auf Dírar.
Jener wich seinem Blick jedoch aus. "Ich weiß nicht..."
"Ich weiß, dass wir vermutlich niemals ein normales Verhältnis als Vater und Sohn führen werden", sagte Edrahil leise und eindringlich. "Dafür ist zu viel geschehen, dafür liegen zu viele Jahre zwischen uns, dafür trennt uns zu viel. Ich kann von dir keine Liebe verlangen - ich weiß nicht einmal, ob ich selbst dazu fähig bin. Ich kann von dir nicht verlangen, stolz darauf zu sein, dass ich dein Vater bin, doch die Tatsache ist nicht zu leugnen."
Dírar schüttelte den Kopf, und lachte leise. "Nein, zu leugnen ist es wahrlich nicht. Und es mag dich überraschen, ein wenig stolz bin ich schon. Darauf, dass ich der Sohn eines Mannes bin, der bereit ist, alles für seine Überzeugungen, für sein Volk, zu geben. Ich mag deine Methoden, deine Kälte nicht billigen, doch ich kann stolz auf deine Beweggründe sein, denn es sind die selben wie die meinen. Nur ist dein Volk nicht das meine."
"Das akzeptiere ich", erwiderte Edrahil langsam. "Ich wünschte, es wäre anders, doch ich bin in der Lage die Tatsachen zu akzeptieren. Dein Platz ist hier, an Qúsays Seite. Ebenso wie meiner an der Seite meines Fürsten ist."
Dírar stand auf, und blickte auf Edrahil herab. "Qúsay selbst wird sich Valirë im Zweikampf stellen. Ich... ich fürchte, was geschehen mag." Edrahil biss die Zähne zusammen. Er hatte eigentlich damit gerechnet, dass Qúsay trotz allem klug genug war, nicht selbst gegen Valirë anzutreten. In einem solchen Zweikampf war ein tödlicher Unfall schnell passiert, und ob es nun Valirë oder Qúsay traf, die Folgen wären gravierend. "Dann können wir nur hoffen, dass einer von beiden rechtzeitig erkennt, wann er geschlagen ist", meinte Edrahil. "Denn ansonsten wäre meine Hinrichtung noch die harmloseste Folge dieses Duells..." Für einen Augenblick fragte er sich, ob er wirklich die richtige Entscheidung getroffen hatte.

Vor Qúsays Zelt war provisorisch ein kreisrunder Kampfplatz abgesteckt worden, um den herum sich reichhaltig schaulustige Soldaten drängten. Ihre Reihen reichten bis weit zwischen die Zelte hinter ihnen, obwohl sie vermutlich schon wenige Schritte vom Kampfplatz entfernt nichts mehr sehen konnten. Dennoch schien jeder Soldat, der gerade keinen Wachdienst hatte, sehen zu wollen, wie sich ihr Malik im Kampf schlug. Edrahil wurde von zwei Soldaten an den Südrand des Kampfplatzes geführt, wo Valirë und Hírilorn ihn bereits erwarteten. Valirë trug wie bei ihrer Ankunft im Lager ein etwas mehr als hüftlanges Kettenhemd und darüber ein Lederwams mit dem Wappen Ethirs. Diese Tatsache fiel Edrahil positiv auf - wäre Valirë mit dem Wappen Dol Amroths zum Kampf angetreten, hätte das die ohnehin prekäre diplomatische Lage vermutlich weiter verschärft.
"Ich hoffe, du hast Erchirion eine Nachricht schicken lassen?", fragte Edrahil leise, und Valirë blickte ihn als wollte sie sagen Das glaubst du doch selbst nicht. "Er hätte sich nur unnötig Sorgen gemacht, und mir das hier vermutlich verboten", antwortete sie ebenso leise. "Und das wäre doch auch nicht der Sinn der Sache, oder? Er kann immer noch hinterher davon erfahren."
Ihre Selbstsicherheit war gleichzeitig beruhigend und beunruhigend, doch bevor Edrahil etwas erwidern konnte, ging ein Raunen durch die Menge der Soldaten, und Qúsay betrat von Norden den Kampfplatz. Der Malik trug einen stählernen Helm mit Nasenschutz, der mit rotem Tuch umwickelt war, und einen mit Bronzeplatten verstärkten Leinenpanzer. Im Gegensatz zu Valirë, die ihr Zweihandschwert Gilrist führte, war Qúsay mit einem rot bemalten Krummschwert und einem mit braunen Leder bespannten Rundschild bewaffnet.
Dírar, der hinter Qúsay am Rand des Kampfplatzes stehen geblieben war, sagte mit tragender Stimme: "Malik Qúsay wird für seine eigene Sache kämpfen. Ihm gegenüber steht Valirë vom Ethir, die für die Unschuld des Angeklagten Edrahil von Linhir streiten wird. Der Zweikampf wird enden, sobald einer der beiden Kämpfer seine Niederlage eingesteht. Möge im Kampf die Wahrheit ans Licht kommen."
Valirë klopfte Edrahil leicht auf die Schulter und sagte: "Macht euch nur keine Sorgen. Ich bin gleich wieder da." Damit trat sie auf den Kampfplatz hinaus.

Langsam gingen Qúsay und Valirë aufeinander zu, beide in einem gegenläufigen, immer enger werdenden Halbkreis. Als sie einander nah genug gekommen waren, sprangen sie plötzlich, wie auf ein unsichtbares Kommando aufeinander zu, und die Klingen trafen blitzartig zusammen.
Zu seiner Überraschung stellte Edrahil fest, dass er nervös war. Er war niemals nervös.
Es war ein ungleicher Kampf, der sich vor seinen Augen abspielte. Beide Kontrahenten waren geübte Kämpfer, doch Valirë hatte den Vorteil der Reichweite auf ihrer Seite, während Qúsay durch seinen Schild besser geschützt war. Für einige Augenblicke konnte keiner der beiden auch nur ansatzweise die Oberhand gewinne. Valirë hielt mit leichten, beinahe tänzerischen Schritten den Abstand zwischen ihnen offen und wich zurück, wenn Qúsay vorrückte, doch Qúsay deckte sich geschickt mit Schild und Schwert, und Gilrist kam nicht einmal in seine Nähe. Dann stolperte Valirë beinahe unmerklich über eine winzige Unebenheit im Boden, doch es genügte, um sie aus dem Rhythmus zu bringen und Qúsay kam ihr zu nahe. Sofort schlug er zu, schnell und schräg von oben. Valirë brachte sich mit einer raschen Drehung in Sicherheit, doch Qúsay hatte getroffen. Seine Klinge hatte das Ende von Valirës Zopf durchtrennt und ein beinahe einen Fuß langes Stück abgetrennt. Ein Raunen ging durch die Menge.
Valirë sah das Stück Haar im Staub liegen, und grinste. "Ich hänge an diesem Zopf", stieß sie hervor, und führte einen heimtückischen Stoß gegen Qúsays Beine, den dieser nur gerade so mit dem Schild abwehren konnte. Jetzt gewann Valirë allmählich die Oberhand, und sie dränge Qúsay mit einem Hagel aus Schlägen, die viel zu schnell für ein Zweihandschwert wirkten, zurück, bis er sich nur noch mit Mühe decken konnte. Schließlich barst mit einem scharfen Knall der Riemen, der Qúsays Schild hielt, und der Schild hing nutzlos an seinem Arm herunter.
"Gebt auf", forderte Valirë ihn keuchend auf, doch Qúsay schüttelte nur mit einer verächtlichen Geste den Schild vom Arm, und griff wieder an.
Schlagartig veränderte sich der Kampf. Nun besaß keiner der Kämpfer einen wirksamen Schutz, doch Qúsay war durch Valirës größere Reichweite gezwungen zu versuchen, so nah wie möglich an sie heran zu kommen, um ihren Vorteil zu einem Nachteil zu wenden. Dadurch wurde der Kampf für beide deutlich riskanter.
Die Menge hielt den Atem an, und nur das gelegentliche Aufeinanderprallen der Klingen war zu hören. Edrahil wunderte sich, dass Qúsay sich so lange gegen Valirë behaupten konnte, selbst ohne Schild. Immerhin hatte der Malik lediglich ein Auge, und hinkte zudem schwach. Dennoch schien es mehrmals, als könnte er Valirës Deckung durchbrechen - bis Valirë schließlich einem seiner blitzschnellen Schläge nicht auswich, sondern mit Gilrist parierte und Qúsay mit einer einzigen Bewegung das Schwert aus der Hand hebelte.
Im nächsten Augenblick hatte sie die Spitze ihres Schwertes gegen seinen Hals gesetzt, und wartete stumm. Nach einem quälend lang erscheinenden Schweigen sagte Qúsay: "Ich gebe auf."

Die beiden Soldaten, die Edrahil bewachten, blickten fragend zu Dírar hinüber, der knapp nickte. Daraufhin durchtrennte einer der Männer unsanft das Seil, mit dem Edrahils Hände gefesselt waren. Edrahil rieb sich die vom Seil wund gescheuerten Handgelenke, und seine Hände prickelten unangenehm, als das Gefühl in sie zurückkehrte. Dann trat er auf den Kampfplatz hinaus, wobei er die mit einem Lächeln auf sich zukommende Valirë für den Augenblick ignorierte.
Eine gespenstische Stille hatte sich über das Lager gelegt. Vermutlich konnten die Soldaten noch immer nicht glauben, dass ihr Malik, der sich nicht vom Fleck gerührt hatte, und zu Boden blickte, gerade von einer Frau im Zweikampf besiegt worden war. Edrahil war jedoch nicht an Rache gelegen, sondern an Versöhnung, also fiel er ein wenig mühsam vor Qúsay auf ein Knie. Qúsay blickte verwirrt auf ihn hinunter.
"Malik Qúsay", begann Edrahil laut. Eigentlich widerstrebten ihm derartige öffentliche Auftritte, doch in diesem Fall musste es sein. "Ich bin beschuldigt worden, eure Gemahlin ermordet zu haben. Dieser Zweikampf mag meine Unschuld gezeigt haben, doch ich bitte euch, mir die Gelegenheit zu geben, diese auch zu beweisen. Der feige Mord an eurer Gemahlin widert mich ebenso an wie euch und jeden aufrechten Mann in eurer Armee. Ich bitte euch um die Gelegenheit, die wahren Verbrecher aufzuspüren, und eurer Gerechtigkeit zuzuführen." Vermutlich befand sich irgendwo in der Menge einer von Salemes Spionen und würde sie warnen, doch das hatte im Grunde keine Bedeutung. Saleme würde bereits wissen, dass Edrahil, falls es ihm gelang, sich aus ihrer Falle zu befreien, sofort ihre Spur aufnehmen würde.
Qúsay erlaubte ihm mit einer Geste, sich zu erheben, und sagte: "Euer Angebot ehrt euch, und ich... nehme es gerne an." Ein zufriedenes Raunen ging durch die Menge, die offenbar Geschmack an dramatischen Gesten hatte, doch an Qúsays Miene erkannte Edrahil, dass der Malik keineswegs vollständig versöhnt war. Qúsays leise nächste Worte bestätigten diesen Eindruck. "Und jetzt geht mir aus den Augen... bis ich nach euch rufen lasse."
Edrahil verneigte sich knapp. "Ich auf euren Ruf warten." Er warf noch einen Blick zu Dírar, der gleichzeitig erleichtert und besorgt wirkte, und ging dann so schnell er konnte in Richtung seines alten Zeltes davon.

Im Zelt erwartete ihn nur Valirë, die noch immer ihre Kampfausrüstung trug, ihr Schwert allerdings an einen der Zeltposten gelehnt hatte. "Hírilorn hat mir den Weg gezeigt", sagte sie zur Begrüßung. "Also, dann ist jetzt alles wieder gut, ja?"
"Nicht ganz", erwiderte Edrahil. "Aber wir haben einen entscheidenden Schritt getan."
Zur Antwort warf sie ihm die Arme um den Hals und küsste ihn. Für einen herrlichen Augenblick vergaß Edrahil, wer er war, und wer die Frau in seinen Armen war, und erwiderte den Kuss. Dann wurde ihm alles wieder bewusst, und er schob sie sanft von sich.
"Valirë", sagte er leise. "Es geht nicht." Sie blickte ihm standhaft in die Augen, höchstens ein wenig errötet. "Und warum nicht? Fürchtet ihr, ich könnte... enttäuscht werden?" Edrahil musste ein Lächeln unterdrücken, denn das war typisch für Valirë - Angriff war besser als Verteidigung. Und er verstand jetzt, dass er ihr Spiel wenigstens ein Mal mitspielen musste, sonst würde sie niemals Ruhe geben.
"Du wärst sicherlich nicht enttäuscht", stellte er fest. "Und, nun ja... jeder Mann, der nicht in Versuchung geriete, müsste wohl blind sein."
"Und da ihr eindeutig nicht blind seid..." begann Valirë, und grinste. Edrahil ergriff ihre Hände. "Du bist mit dem Sohn meines Dienstherrn verlobt, Valirë. Ganz gleich, wie groß die Versuchung sein mag... ich kann ihr nicht nachgeben."
Er hoffte, dass das genügen würde. Dass er zugab, tatsächlich von ihr versucht worden zu sein - dazu musste er nicht einmal lügen.
Bei der Erwähnung Erchirions errötete Valirë zu Edrahils Überraschung ein wenig mehr, beinahe, als würde sie sich schämen. "Vielleicht habt ihr Recht", meinte sie, und blickte zu Boden. "Erchirion ist ein guter Mann, und ich... mag ihn zumindest. Vielleicht sollte ich versuchen, ihm nicht schon vor der Hochzeit des Herz zu brechen."
"Und deshalb solltest du auf der Stelle eine Nachricht senden, was geschehen ist", sagte Edrahil. "Oder, wenn ich es mir recht überlege... ich sende die Nachricht selbst. Ich will nicht riskieren, dass du deine Heldentaten zu sehr ausschmückst..." Valirë lachte.

Eandril:
"... und deswegen ist es von größter Wichtigkeit, dass ihr die Wahrheit so schnell wie möglich herausfindet. Verstanden?" Hírilorn nickte knapp. Er hatte Edrahil offensichtlich noch nicht wirklich verziehen, dass dieser Langlas in den Tod geschickt hatte. Zugleich jedoch schien er erkannt zu haben, dass es notwendig war, Qúsay auch wirklich von Edrahils Unschuld zu überzeugen - und dazu mussten sie beweisen, dass jemand anderes hinter dem Mord an Thjódbjörg steckte. Normalerweise hätte Edrahil einen großen Teil der Untersuchungen selbst durchgeführt, doch Dírar hatte ihn, zweifelsohne in Qúsays Auftrag, gebeten, sein Zelt bis auf weiteres nicht zu verlassen. So musste er nun Hírilorn diese Aufgaben übertragen, Valirë erschien ihm für so etwas nicht besonders gut geeignet.
Hírilorn verließ das Zelt, steckte allerdings sofort den Kopf wieder hinein und sagte: "Hier ist ein Gondorer, der euch sprechen will."
Edrahil nickte zufrieden, und blickte von seinen Aufzeichnungen auf. "Das dürfte Beregond sein. Sagt ihm, er kann hinein kommen."
Bei der Erwähnung von Beregonds Namen reagierte Valirë äußerst merkwürdig. Sie hörte abrupt auf Gilrist zu polieren, hob den Kopf und fragte: "Sagtet ihr Beregond?"
Bevor Edrahil antworten konnte, trat Beregond auch schon ins Zelt. Edrahil hatte keine Schwierigkeiten, ihn wiederzuerkennen, auch wenn sie einander nur einmal kurz bei Edrahils Ankunft im Lager begegnet waren. Edrahil vergaß selten ein Gesicht.
Beregond blieb respektvoll einen Schritt vor Edrahils Tisch stehen und verneigte sich leicht. "Ihr wolltet mich sprechen..." Er kam nicht dazu, auszureden, weil Valirë aufgesprungen war und ihren Hocker mit einem lauten Poltern umgestoßen hatte. Beregond blickte zu ihr hinüber, blinzelte überrascht und errötete zu Edrahils Überraschung leicht. "Valirë, welch eine Überraschung d-euch hier anzutreffen. Ich hatte gedacht, ihr wärt nach dem Kampf zu den Schiffen zurückgekehrt."
Valirë schüttelte den Kopf. "Noch nicht. Edrahil war der Meinung, ich könnte hier noch von Nutzen sein."
"Ich bin sicher, ihr seid... eine große Hilfe", erwiderte Beregond ein wenig verkrampft. Edrahil beobachtete ungläubig, wie Valirë beinahe scheu lächelte.
"Nun, ich... tue mein Bestes, wie immer", erwiderte sie, bevor sie vorsichtig fragte: "Wie... wie geht es Bergil?"
Beregonds Gesicht verdüsterte sich. "Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, ob er es geschafft hat, rechtzeitig aus Minas Tirith zu entkommen. Vielleicht ist er gefangen, oder..."
"Sag es nicht", unterbrach ihn Valirë, und Beregond verstummte. In der Stille war nur zu hören, wie Edrahil ungeduldig mit dem Finger auf die hölzerne Tischplatte tippte. Er hob eine Augenbraue, als sich beide Gesichter ihm zu wandten, und sagte: "Schön. Dürfte ich erfahren, worum es hier geht?"
Valirë und Beregond wechselten keinen vielsagenden Blick, der Edrahil verraten hätte, dass eine besondere Verbindung zwischen ihnen bestand. Doch die Art und Weise, wie sie krampfhaft vermieden, einander anzusehen, sprach ohnehin Bände.
"Wir... kennen einander von früher", begann Beregond zu erklären. "Wir, äh..."
"Haben eine Zeit lang gemeinsam gegen Mordor gekämpft", sprang Valirë ihm bei. "Beregond hat einen Sohn, Bergil, mit dem ich so etwas wie Freundschaft geschlossen hatte." Sie hielt Edrahils Blick tapfer stand, und als Edrahil schließlich weg sah, breitete sich für einen kurzen Augenblick ein verräterischer Ausdruck der Erleichterung auf ihrem Gesicht aus.
Besonders gute Lügner waren beide nicht, stellte Edrahil fest. Er fragte sich, welche Art 'Freundschaft' Valirë mit Bergil geschlossen haben mochte. Beregond erschien ihm zu jung, um vor ein paar Jahren bereits einen erwachsenen Sohn gehabt zu haben, also handelte es sich vermutlich um eine andere Art Freundschaft, als Valirë mit den meisten Männern zu schließen schien. Sie und Beregond hingegen... Edrahil beschloss, in seinem nächsten Brief an Amrodin diesen darum zu bitten, diskrete Nachforschungen in dieser Sache anzustellen.
"Nun gut. Es geht mich ohnehin weiter nichts an", log er, ohne mit der Wimper zu zucken. Tatsächlich entsprach dieser Satz vermutlich der Wahrheit, doch seine Absichten waren ganz andere. Wenn er ehrlich zu sich war, war er einfach nur neugierig.
"Ihr begleitet Qúsay seit einiger Zeit, nicht wahr?", fragte er Beregond, und dieser nickte, offenbar erleichtert, dass Edrahil das Thema gewechselt hatte. "Ich möchte euch bitten, mir bei Gelegenheit einen umfangreichen Bericht über diese Zeit zu verfassen. Ich erwarte die Wahrheit von euch, was ihr von Qúsay haltet - als Mensch, als Heerführer, als Fürst." Tatsächlich hatte sich Edrahil bereits seine Meinung von Qúsay gemacht, doch eine zweite Sicht konnte nie schaden. Zumal von einem Mann, der seit Harondor gewissermaßen mit Qúsay gereist war.
"Das kann ich tun", erwiderte Beregond. "Wusstet ihr, dass Qúsay etwas ähnliches von mir über euch verlangt hat?" Das hatte Edrahil nicht gewusst, doch es überraschte ihn auch nicht sonderlich.
"Ich fürchte, ihr konntet ihm nicht sonderlich viel neues erzählen."
Beregond musste lächeln, und schüttelte den Kopf. "Nein, ich konnte nicht viel mehr tun, als die Gerüchte zu wiederholen, die ich in Gondor über euch gehört habe. Ich bin mir nicht sicher, ob euch das genützt oder geschadet hat."
"Vermutlich hat es mir eher geschadet", stellte Edrahil ungerührt fest. Ihm war sein nicht allzu guter Ruf in Gondor bewusst, und es störte ihn wenig. Gewisse Dinge musste getan werden, ob es den Leuten gefiel oder nicht. "Ich habe noch einen zweiten Auftrag an euch", fuhr er fort. "Ihr werdet Valirë zu Gondors Flotte begleiten, und Prinz Erchirion den gleichen Bericht geben wie mir, und ihn außerdem umfassend mit allem informieren, was ihr über Qúsays Kampfstärke wisst. Danach... nun, das liegt bei euch. Wenn ihr die Wahl hättet, würdet ihr hier bleiben oder nach Gondor zurückkehren?"
Zum zweiten Mal hatte Edrahil das Gefühl, dass Beregond bemüht war, Valirës Blick auszuweichen. "Wenn ich die Wahl hätte... nun, ich hoffe ihr nehmt es mir nicht übel, aber ich würde gerne nach Gondor zurückkehren sobald es geht. Ich habe fürs erste genug von Harad. Außerdem würde ich gerne herausfinden, was mit meinem Sohn geschehen ist... und ob er überhaupt noch lebt." Die letzten Worte kosteten ihn sichtlich Mühe, und zum ersten Mal empfand Edrahil ein wenig Mitgefühl für ihn. Er erinnerte sich nur zu gut an dieses Gefühl... und er hoffte, dass Beregond nicht ganz so lange warten musste, bis er seinen Sohn wieder traf, wie Edrahil.
"In diesem Fall werdet ihr per Schiff nach Dol Amroth fahren", sagte er. "Sobald Umbar gefallen ist - ich nehme an, dass Qúsay schon bald den entscheidenden Angriff befehlen wird. Und... ich werde einen Brief an meinen Stellvertreter Amrodin in Dol Amroth schicken. Er wird euch helfen, euren Sohn zu finden."
Beregond verneigte sich erneut, ein wenig tiefer als beim ersten Mal. "Ich danke euch. Wenn ihr erlaubt, werde ich mich zurückziehen, um meinen Bericht zu schreiben."
Als Beregond aus dem Zelt getreten war, wollte Edrahil das Wort an Valirë richten, doch sobald er sie ansah, stürmte sie plötzlich aus dem Zelt.
Edrahil richtete den Blick an die Zeltdecke, und sagte leise vor sich hin: "Eines Tages sitze ich wieder in meinem Arbeitszimmer, und die Leute werden sich überschlagen, mir meine Wünsche zu erfüllen..."
"Das klingt herrlich", erklang Dírars Stimme. Edrahil Sohn hatte beinahe lautlos das Zelt betreten. "Aber es wird noch ein wenig warten müssen, fürchte ich. Qúsay möchte dich sprechen."

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