Kapitel 8: Der Herr der schwarzen Grube15. Mai, 1396 V.Z.
Es war still im großen Thronsaal von Moria. Lunthák genoss die Stille. Endlich waren keine der Maden, die den ganzen Tag um ihn herumrannten, mehr zu sehen. Jedem von ihnen hatte er einen Befehl erteilt, und alle waren sie gegangen. Nur seine sechs treuesten Leibwächter standen noch hinter seinem goldgeschmückten Thron aus verkohlten Zwergengebeinen; Orks von denen er wusste, dass sie ihm niemals ein Messer in den Rücken stoßen würden, oder ihm im Schlaf die Kehle durchschneiden. Im Gegenteil waren sie diejenigen, die dafür gesorgt hatten, dass die unzähligen Orks, die keine solchen Hemmungen hatten, ihm nicht einmal auch nur nahe gekommen waren.
Stumm standen sie hinter ihm. Vielleicht warteten sie auf einen Befehl, doch fürs Erste würde er sitzenbleiben, und die Halle betrachten, über die er uneingeschränkter Herr war.
Am anderen Ende befand sich das große Tor, aus silbernem Stahl geschmiedet. Zwergenwerk. Darüber führte ein Balkon, an dem einige zerfetzte Banner hingen. Der Balkon führte einmal um die gesamte Halle herum, und wie gewöhnlich stand an jeder der vier Türen, die auf den Rundweg führten, ein weiterer Leibwächter, den Bogen in der Hand.
Die Decke der Halle war aus solidem grauen Stein gefertigt, und würde noch Jahrhunderte halten, wohl eher sogar Jahrtausende.
Die Wände waren verziert mit Trophäen: Bleiche Zwergenschädel, erbeutete Waffen, Zerrissene und beschmierte Banner. Der Rest der Halle war mit Resten von Lagerfeuern übersäht, wo Orks sich ihr Mahl zubereitet hatten. Was genau sie gebraten hatten, wusste Lunthák nicht. Im Zweifelsfall andere Orks. Am Kopfende führte eine große, steinerne Treppe hinauf zum Thron, auf dem er saß.
Er brauchte den Kopf nicht zu drehen, um zu wissen, dass die Wand hinter ihm mit roter und schwarzer Farbe bekritzelt war, eine große, hässliche Zeichnung, die den Schrecken aus alter Zeit darstellte. Den Valaraukar. Den Balrog.
„Was für eine Ironie“, dachte er, wie er es oft bereits getan hatte. Erneut warf er einen Blick durch die Hallen. Ihm fiel auf, wie leer sie waren... und dass er sich dennoch beobachtet fühlte. Irgendwo in der Dunkelheit war ein Augenpaar... Eines welches ihn beobachtete, und dabei selbst unsichtbar blieb.
Langsam erhob er sich von seinem Thron. Jemand war dort... jemand war in seine Hallen eingedrungen. Es war keiner der dreckigen Elben, da war Lunthák sich sicher. Nein, es war etwas Dunkleres. Er öffnete den Mund, um seinen Leibwächtern einen Befehl zu geben.
Im gleichen Moment ertönte ein entfernter Schrei, hoch und schrill. Seine Leibwachen zuckten zusammen. „Feiglinge!“ brüllte Lunthák wütend, „wenn das Madengezücht schreit, müsst ihr nicht in der Ecke kauern wie verschreckte Elbenweiber! Seid ihr Uruks oder Snaga?“
„Das war kein Ork!“ wagte einer der Orks einzuwenden, „die Maden quieken viel verschreckter, wenn man ihnen den Kopf abreißt!“
„Ausreden! Los, ihr Rattensöhne, geht und schaut, was da draußen los ist!“
„Wir...“ „Macht was ich euch sage, stinkendes Pack, oder ich schneid euch die Zungen raus!“
Lunthák richtete sich zu seiner vollen Größe auf, sodass er selbst die großen Uruks seiner Leibwache um einen Kopf überragte, und stieß den Ork, der gesprochen hatte, in Richtung Tür. Die Leibwächter rannten los, mehr ängstlich vor dem Zorn ihres Gebieters als vor einem entfernten Schrei. Sie öffneten das Tor des Thronsaals, schlossen es hinter sich und waren verschwunden.
Luntháks Zorn kochte. Er war leicht zu wecken, und sie hatten es gewagt, ihm zu widersprechen. Als der große Ork bemerkte, dass die vier Bogenschützen immer noch auf dem Balkon standen, brüllte er nur ein einziges Wort: „RAUS!“
So schnell sie konnten, verschwanden auch diese Leibwächter durch die Türen hinter ihnen, wohin war Lunthák egal.
Ihm selbst war bewusst, dass der Schrei nicht von einem Ork gekommen war. Irgendetwas näherte sich, er konnte es spüren. Etwas, dass ihm nicht freundlich gesinnt war.
Von der Seite seines Thrones zog Lunthák seine Waffe hervor, ein großes, Zweihändiges Schwert, mit breiter, gerader Klinge, ohne Parierstange oder Spitze. Außerdem setzte er sich einen Helm aus geschwärztem Silberstahl auf. Ehemals war es ein Zwergenhelm gewesen, doch jetzt waren Symbole in einer dunklen Sprache eingraviert, und leuchteten in blutigem Rot. Der Helm komplettierte die nachtschwarze Rüstung aus Zwergenstahl, die Lunthák trug.
Zuletzt zog er einen schwarzen, kurzen Holzstab aus dem Thron, den niemand jemals von den Knochen unterscheiden können würde, ohne davon zu wissen. Das, was immer weiter in Richtung des Thronsaals Schritt, war alt. Alt und mächtig. Es war sicherlich älter als der Ork Lunthák, aber er selber war auch alt. Älter als die meisten Orks, und einiges mächtiger. Er spürte, dass ein Zauber den Eindringling umgab. Aber auch die Orks beherrschten Zauber.
Mit einem bedrohlichen Lächeln auf den Lippen zog Lunthák eine schwarze Linie hinter das große Tor, wobei sein Stab ihm als Werkzeug diente. Daneben zog er eine weitere Linie, etwas weniger gerade. Er musste sich beeilen. Dann hob er seinen Stab, hielt ihn eine Zeitlang über den Kopf, und warf ihn dann auf den Boden zwischen die Linien. „Ghâsh!“ zischte er, und der Stab brach in grelle Flammen aus, die sich rasch über den Markierten Bereich verteilten. Lunthák nahm sein ungeschlachtes Langschwert wieder zur Hand, und stellte sich hinter das Feuer. Er war bereit.
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Schließlich, nach einiger Zeit angespannten Wartens, spürte er etwas auf der anderen Seite des Tores. Eine gewaltige Macht schien daran zu rütteln, aber das Tor war fest verschlossen.
Erst geschah nichts mehr. Dann begann ein grünes Licht, unter dem Tor hindurchzufließen. Es schlängelte sich die silbernen Torflügel empor, und legte sich um den Riegel.
Plötzlich traf ein schwerer Schlag das Tor. Es verformte sich langsam, beulte sich aus, und brach schließlich in der Mitte. Der Riegel wurde aufgesprengt, und die Flügel schwangen weit auf.
Herein schritt eine Gestalt, gänzlich in schwarzen Stoff gehüllt. Sie strahlte Kälte aus, und in der Rechten funkelte ein scharfes Schwert. Mit der linken Hand hielt das Wesen einen Stab, aus dunkelbraunem Holz, etwa einen und einen halben Schritt lang, und mit einer schwarzen Stahlkugel am oberen Ende. Bei jedem Schritt der Kreatur klopfte die Spitze auf den Boden. Das Feuer, welches hoch und heiß brannte, schien der Gestalt auszuweichen. Die Flammen wichen zurück und erloschen teilweise, und bildeten so einen Durchgang. Ein kalter, schriller Schrei ertönte, als die Kreatur hindurch sprang.
Lunthák wartete nicht länger. Voller Kampfeslust stürzte er sich auf seinen Gegner, die Zähne gefletscht und das Schwert hoch erhoben. Die Klinge ging in einem todbringenden Bogen nieder, aber die schwarze Gestalt lenkte den Schlag mit einer leichten Bewegung ihrer einhändigen Klinge ab, und ging fließend zum Gegenschlag über.
Der Ork verließ sich auf seine Rüstung, und während das Schwert abprallte, rammte er dem Gegner die rechte Faust in den Magen.
Es war, als hätte er gegen eine Steinwand geschlagen. Erschrocken zuckte Lunthák zurück, als eine kalte Schockwelle durch seine Hand lief. Der schattenhafte Gegner machte einen Schritt vor, das Schwert in einer defensiven Haltung. Er wartete ab.
Lunthák versuchte, seine Wut zurückzuhalten, und begann, seinen Gegner zu umkreisen. Der jedoch blieb auf der Stelle stehen, und folgte dem Herrn von Moria nur mit den funkelnden Augen unter seiner finsteren Kapuze, während er sich langsam drehte. Den Holzstab hielt er immer noch mit langen, in schwarzen Stoff gehüllten Fingern umklammert, das Schwert war starr auf Luntháks Gesicht gerichtet.
Schließlich hatte der Ork genug. Er stieß einen zornigen Schrei aus und griff an. Er zielte erst auf die Beine des Schattens, dann änderte den Hieb, um den Kopf abzuschlagen. Aber der Gegner wich erstaunlich schnell zurück, dann sprang er rasch vor und schlug nach den Füßen des Orks. Der sprang über die Klinge drüber, täuschte einen Hieb an, stach nach seinem Gegner – und stolperte ins Leere.
Dann traf ihn ein wuchtiger Schlag an der Schulter, und gleich darauf ein zweiter am Helm. Aber die Rüstung hielt stand. Wutentbrannt wirbelte er herum und versuchte seinen Gegner an der Schulter zu packen. Er war etwas größer als der schwarze Schatten, und sicherlich stärker.
Aber bevor er zugreifen konnte, rammte ihm die finstere Gestalt den Stab gegen den Kopf, mit der Kugel zuerst. Der Ork taumelte zurück, sein Schädel dröhnte. Er riss sein Schwert hoch, um den folgenden Schlag zu parieren, wurde jedoch von einem harten Treffer am Knie von den Beinen geholt. Während er niederstürzte, überkam ihn ein gewaltiges Gefühl von Niederlage.
Während seiner Zeit als der Herr von Moria hatte Lunthák jeden Gegner besiegt, jeden Ork, der ihn herausgefordert hatte, in seinen Platz verwiesen. Seine letzte Niederlage lag über ein Jahrtausend zurück! Und jetzt kam ein fremdes Wesen in seine Hallen, das nicht nur keine Rüstung trug, sondern auch sonst erbärmlich und zerbrechlich wirkte, und schickte ihn auf den Boden? Sollte er jetzt vernichtet werden, durch die Klinge eines solchen Abschaums?
Nein! Dies war der Tod einer unwürdigen Made! Während sich die dunkle Kapuze seines Feindes in das Sichtfeld des Orkes schob, dunkel und bedrohlich, packte er sein Schwert fester. Er atmete tief die rauchige Luft ein. Das hier war seine Halle, das Herz seines Reiches! Weder Ork noch Mensch, Elb oder Zwerg, auch kein anderer Abschaum würde ihm seinen Thron nehmen!
Eine blitzende Klinge senkte sich langsam zu seinem Gesicht herab. Mit einem Gewaltigen Ausruf des Hasses auf den Lippen sprang der Herr von Moria vom Boden auf. Sein Langschwert fuhr durch die Luft, traf den Angreifer an der Seite, und fegte ihn beiseite.
Zwar schien er eine harte Rüstung zu tragen, denn das Schwert prallte zurück, aber es ertönte kein einziges Geräusch. Dann stieß sein Gegner einen schrillen Schrei aus, der in den Ohren schmerzte.
Aber nichts weiter geschah, bevor Luntháks Schwert erneut niederfuhr. Der Gegner parierte mit Stab und Schwert zugleich, aber er wurde zu Boden gerissen. Lunthák ließ seiner Wut freien Lauf, als er auf den Gegner einprügelte, ohne Rücksicht auf seine Deckung. Fünfmal schlug er zu, und fünfmal war es, als läge ein Stück Stahl vor ihm. Seine Schläge zeigten keine Wirkung! Dann, beim sechsten Treffer, gegen den Hinterkopf des Besiegten, gab es ein lautes, brechendes Geräusch. Das krude Schwert zerbarst in der Hand des Orks wie ein trockenes Stück Holz.
Der nutzlose Griff fiel ihm aus der Hand. Erschrocken und verblüfft stolperte Lunthák rückwärts. Wie konnte das sein? Das Schwert war mit mächtigen Zaubern der Orks belegt gewesen, um niemals zu zerbrechen!
Noch während er bewegungslos dastand, kam sein Gegner mühelos auf die Beine, Schwert und Stab immer noch fest in den Händen. Lunthák versuchte sich auf ihn zu stürzen und zog einen breiten Krummdolch, aber eine Bewegung am zerstörten Tor der Halle ließ ihn innehalten. Herein strömten Orks, in schwarzer Kleidung, mit großen Äxten und Bögen in den Händen. Sie waren alle hochgewachsen, und nicht aus Moria – das erkannte Lunthák sofort. Vermutlich waren es dreckige Maden aus dem Gefolge des Dinges, das vor ihm stand.
Immer mehr hatte der Herr von Moria das Gefühl, das ein Wesen vor ihm stand, das nicht von der Kraft eines Orks, selbst nicht von einem der wenigen Hexer unter ihnen, besiegt werden konnte.
Aber er war kein gewöhnlicher Ork! Er würde es noch einmal versuchen, bei Melkor dem großen!
Lunthák griff an. Der Dolch zielte auf die funkelnden Augen wie eine zustoßende Schlange. Aber plötzlich erstarrte sein ganzer Körper in der Bewegung! Aus dem Stab des Feindes flossen grüne Schlieren, wanden sich um seinen Körper, versuchten ihn zu ersticken, ihn zu zerdrücken.
Verfluchte Hexerei! Aber schon begann der Bann sich zu lockern, während Lunthák vor Anstrengung bebte. Bald würde er sich befreit haben. Und sein Gegner schien auch nur darauf zu warten – er steckte selbst sein Schwert weg! Wollte er ihn beleidigen?
Dann ließ die Kreatur auch den Stab los. Lunthák traute seinen Augen nicht, denn der Stab blieb einfach stehen, als würden unsichtbare Hände ihn halten. „Verdammt und Verflucht!“ zischte er in der Gemeinsprache zwischen zusammengebissenen Zähnen, „ich zermalme dich mit meinen bloßen Händen!“
Vom Gegner kam keine Reaktion, außer dass er in die Falten seines Umhangs griff. Als er seine Hand, es war die rechte, wieder hervorzog, hielt er einen goldenen Ring in den Fingern, besetzt mit einem einzelnen, grünen Edelstein. Kurz zögerte das dunkle Wesen, dann ließ es den Ring ruckartig über den Ringfinger seiner linken Hand gleiten.
Der triumphale Schrei, den es ausstieß, war betäubend, und zum vielleicht ersten Mal in seinem langen Leben empfand der Ork Lunthák Angst. Im gleichen Augenblick verschwand der Bannzauber, und der Herr von Moria stürzte auf den harten Steinboden. Er sprang sofort wieder auf, den Dolch immer noch fest gepackt, bereit, um sein Leben zu kämpfen – aber den magischen Schlag, der ihn dann traf und gegen den Wall seiner eigenen Halle schmetterte, hätten die wenigsten sterblichen Wesen überleben können.
SPRACHE DER ORKS
Ghâsh = Feuer