Das Schicksal Mittelerdes (RPG) > Gortharia

Anwesen der Castavs

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Melkor.:
Ceyda von den Straßen von Gortharia

Branimir bat seine Nichte Ceyda herein und führte sie in sein Arbeitszimmer. Dort warteten bereits zwei frisch servierte Tassen Tee auf die beiden. Von den Bediensteten war jedoch nichts zu sehen, wie Branimir zufrieden feststellte. Er erwartete von den gut ausgebildeten Hausdienern nichts weniger als Perfektion.
Ceyda, die schon immer ein wenig stürmisch gewesen war, schien sich nur mit Mühe ruhig halten zu können. Branimir bemerkte, dass die Hände seiner Nichte kaum sichtbar zitterten und dass ihr Pupillen sich vergrößert hatten; zwei eindeutige Anzeichen von Aufregung. Er bot Ceyda seinen Stuhl an und lehnte sich selbst gegen die Fensterbank, die dampfende Teetasse bereits in der Hand. Dann begann er, zu sprechen.
"Es ist gut, dass du so rasch zu mir gekommen bist, Ceyda," sagte Branimir ruhig. "Lass mich gleich zum Grund deines Hierseins kommen. Es hat einen Angriff auf das Fürstentum Balanjar gegeben."
"Was?" entfuhr es Ceyda und sie schlug die Hände vor den Mund.
"Ich habe bereits alles in die Wege geleitet um die Familie dort 'rauszuholen," beschwichtigte Branimir sofort. "Sei unbesorgt. Ich kümmere mich darum."
Ceyda musterte ihn eindringlich - offenbar wog sie ab, ob Branimirs Aussage für sie ausreichend war. "Wer würde Balanjar angreifen?" fragte sie mit einem erbosten Unterton.
"Noch haben wir nicht alle Fakten über den Angriff in der Hand," erklärte Branimir methodisch. "Ich habe dich rufen lassen, damit du es von mir erfährst und nicht irgendwo auf der Straße hörst. Gerüchte und Falschinformationen breiten sich rasch aus und können zu unnötiger Panik führen."
"Was weißt du, Onkel?" hakte Ceyda nach. "Wer steckt hinter dem Angriff?"
"Alles deutete darauf hin, dass es sich um eine Invasion aus Mordor handelt," sagte Branimir. Er sah keinen Sinn darin, lange um den heißen Brei herumzureden. Je eher Ceyda die Fakten kannte, desto besser für sie.
"Das ergibt doch keinen Sinn," überlegte Branimirs Nichte. "Wieso sollten sie uns angreifen?"
Branimir warf einen Blick hinaus auf den Hof, der von der Nachmittagssonne beschienen wurde. "Dafür kann es viele Gründe geben. Solange ich mir nicht sicher bin, werde ich keine Vermutungen anstellen. Ich habe Leute entsandt, um Fakten zu beschaffen. Bald werden wir mehr wissen."
Ceyda wirkte nicht sonderlich zufrieden, doch sie nickte langsam. "Also gut, Onkel," sagte sie. "Versprich mir, dass du alle heil dort rausholst."
"Ein solches Versprechen kann ich nicht geben," erwiderte Branimir. "Zu viele Faktoren beeinflussen den Erfolg der Mission um sicherzugehen, dass alles reibungslos ablaufen wird. Ich habe Vertrauen in meine Leute und ich bin mir sicher, dass sie ihr Bestes geben werden. Das ist alles, was ich dir anbieten kann."
"Dann muss das eben reichen," antwortete Ceyda fest. "Wohin lässt du meine Familie bringen?"
"Zu deinem Vater, hier auf das Anwesen," erklärte Branimir. "Vadim bereitet bereits alles für die Ankunft vor."
Ceyda atmete tief aus und strich ihr Kleid glatt, ehe sie aufstand. "Ich sollte zu ihm gehen," sagte sie.
Branimir nickte. "Du wirst ihn in den Gärten finden, beim Hintereingang des Anwesens."
Seine Nichte warf Branimir einen letzten Blick zu, ehe sie hinaus eilte. Branimir ließ sich auf den nun leeren Stuhl sinken und fragte sich, was Ceyda nun wohl tun würde. Sie war dafür bekannt, hin und wieder recht... eigenwillige Entscheidungen zu treffen. Er würde ein Auge auf Ceyda haben müssen.

Der Nachmittag verstrich, während Branimir eine Vielzahl Briefe schrieb und Laufboten aussandte, um Nachrichten von den Stadttoren einzuholen. So erfuhr er, dass inzwischen bereits die ersten Flüchtlinge aus Balanjar in Richtung Gortharia unterwegs waren. Ob Vadims und Ceydas Familie darunter waren, ließ sich jedoch bislang nicht feststellen.
Als die Sonne untergegangen war, ließ Branimir seinen Wachhauptmann Lerkko zu sich rufen. Er hatte den Kontakt zur Untergrundorganisation der Schwarzen Rose hergestellt - einer weit vernetzten Gruppe von Widerstandskämpfern gegen die Herrschaft König Gorans, die ihre Mitglieder hauptsächlich aus den ärmsten Schichten der rhûnischen Bevölkerung rekrutierte. Branimir war es gelungen, die Identität des Anführers der Schwarzen Rose aufzudecken, bei dem es sich um niemand Geringeren als Ulfang, den gestürzten Herrscher des Ostling-Reiches, handelte - ein Fakt, den Branimir bislang für sich behalten hatte. Die Schwarze Rose würde am späten Abend eine Kontaktperson zum Anwesen entsenden, und Branimir hatte entschieden, dass es Lerkko sein würde, der ihn bei diesem ersten Treffen vertrat.
"Ich denke, ein geeigneter Ort für das Gespräch wäre das leer stehende Gebäude neben der Schmiede," sagte er und legte die Hände auf dem Bauch zusammen, als er sich in seinem Stuhl zurücklehnte. "Ich will, dass die Kontaktperson gründlich durchsucht wird, ehe sie auf das Gelände des Anwesens geführt wird. Sicherheit geht vor."
"Ich verstehe, Meister Castav," sagte Lerkko, der auf der anderen Seite von Branimirs Schreibtisch stand und ihn aufmerksam betrachtete.
Rasch schärfte Branimir Lerkko den Plan für die Kontaktaufnahme ein. Wenn alles wie geplant ablaufen würde, würde Branimir bald alles über den verworrenen Untergrund von Gortharia wissen, was es zu wissen gab. Deshalb war dieses Treffen für ihn besonders wichtig.
Nachdem alles besprochen war, schickte Branimir Lerkko fort, damit dieser sich für die Ankunft der Kontaktperson der Schwarzen Rose bereit machen konnte. Auch Branimir würde sich nun in Bereitschaft halten müssen, denn der Zeitpunkt des Treffens war schon beinahe heran. Er verließ sein Arbeitszimmer in Richtung des Hofes, hielt unterwegs jedoch am Schlafzimmer seiner Enkelin Melina an. Lautlos öffnete Branimir die Tür des Zimmers, um vorsichtig hinein zu spähen. Leise, regelmäßige Atemzüge verrieten ihm, dass das Mädchen fest schlief.
Sie hat sich heute bei ihren Übungen wieder sehr verausgabt, dachte er. Ein kleines Lächeln stahl sich auf sein Gesicht, ehe er das Zimmer wieder verließ und sich auf den Weg die Treppen hinab machte.

Fine:
Cyneric und Tyra von den Straßen von Gortharia


Das Anwesen von Haus Castav lag im nordöstlichen Viertel der Königsstadt, in der der Großteil des gortharischen Adels residierte. Es war rundum mit einer starken eigenen Mauer umgeben und war von einer starken Wachmannschaft geschüzt. Es dauerte eine ganze Weile, bis man Tyra und Cyneric endlich einliess. Sie wurden beide gründlich durchsucht und mussten sämtliche Waffen abgeben. Dann führten die Wächter des Anwesens sie durch das mit Eisen beschlagene Tor in den Innenhof des Anwesens. Fackeln erleuchteten das Zentrum des gepflasterten Platzes und Cyneric spürte die Augen der Wachposten auf sich, als sie sich dem Treffpunkt mit dem Kontaktmann der Castavs näherten. Vorsichtig nahm er seine Umgebung unter die Lupe. Direkt vor ihnen erhob sich das Herrenhaus im Zentrum des Anwesens. Eine einladende, eingemauerte Terasse lag direkt neben dem Haupteingang des Hauses. Zu beiden Seiten gab es verschiedene kleinere Gebäude, unter anderem einen Stall und etwas, das nach einer Schmiede aussah. In der Nähe der Terasse sah Cyneric im flackernden Licht der Fackeln etwas Sand, mit dem der Boden bestreut worden war, sowie mehrere hölzerne und mit Stroh gefüllte Übungspuppen. Er fragte sich, ob diese wohl von den Wachmännern genutzt wurden.
Im Zentrum des Innenhofes angekommen ließen die Wachen Tyra und Cyneric stehen und kehrten zum Tor zurück. Gleichzeitig näherte sich vom Haupthaus her ein Mann in fester Rüstung aus Leder und dunkelrotem Umhang. Er nickte Cyneric mehr oder weniger freundlich zu und deutete dann nach links, auf eines der Nebengebäude, wo eine Tür offen stand. "Bitte folgt mir," sagte er und ging voraus.
Eine einzelne Laterne erhellte das Innere des Nebengebäudes, in dem sich ein Tisch mit mehreren Stühlen befand. Ihr Gastgeber bedeutete Cyneric und Tyra, Platz zu nehmen und setzte sich ihnen dann gegenüber hin.
"Willkommen im Anwesen der geschätzten Familie Castav," begann er. "Mein Name ist Lerkko, meines Zeichens Hauptmann der Wache."
"Ich bin Tyra, dies ist Cyneric. Ich spreche für die Schwarze Rose," erklärte Tyra.
Lerkko nickte. "Wir hatten angenommen, dass du alleine kommen würdest," wandte er sich an Tyra.
"Man kann nie vorsichtig genug sein, schon gar nicht in dieser Stadt," erwiderte diese.
"Ich verstehe. Ich hoffe, meine Leute haben euch nicht allzu grob behandelt."
Tyra winkte ab. "Lassen wir die Höflichkeiten und kommen zum Punkt. Dein Meister ist an uns herangetreten um Informationen auszutauschen. Ich bin hier um herauszufinden, was er anzubieten hat."
Lerkkos Miene wurde eine Spur härter. "Meister Castav hat seine Augen und Ohren überall, doch ich weiß, dass auch die Schwarze Rose viel von dem erfährt, was in den Straßen und auf den Feldern Rhûns gesprochen und gewispert wird. Doch fehlt euch eines: Ein Ohr an der Tür des Adels. Dies ist Meister Castavs Spezialgebiet."
"Nun, das lässt sich nicht bestreiten," meinte Tyra und verschränkte die Arme vor der Brust. "Aber dann frage ich mich doch, was die Schwarze Rose für Meister Castav tun kann, wenn er seine Augen und Ohren wirklich überall hat."
Der spöttische Tonfall schien Lerkko nicht entgangen zu sein. "Meister Castav hat seine Gründe," sagte er. "Für den Augenblick genügt es ihm, wenn der Anführer der Schwarzen Rose ihm einen Gefallen schuldet, im Austausch gegen aktuelle Informationen aus der Oberschicht."
"Hmm," machte Tyra. "Ich bin mir nicht sicher, ob unser Anführer darauf eingehen wird. Er ist derzeit... womöglich zu beschäftigt, um jemandem einen Gefallen zu tun."

So ging das Gespräch noch eine ganze Weile hin und her. Cyneric beschränkte sich darauf, aufmerksam zuzuhören, konnte jedoch nicht gänzlich verhindern, dass ein Teil seiner Gedanken abdriftete und sich mehr mit anderen Dingen beschäftigte. Er fragte sich, ob er Lerkko wohl nach Milva oder Salia fragen sollte. Als Hauptmann der Wache war Castavs Kontaktmann sicherlich mit vielen Menschen in Gortharia vernetzt und konnte vielleicht bei der Spurensuche helfen.
"Die Frage ist, wie ihr im Notfall eure Leute mobilisieren könnt," sagte Lerkko gerade.
"Das hängt von der Art des Auftrags ab," entgegnete Tyra. "Aber genug davon. Ich habe noch ein weiteres Anliegen, das von großer Wichtigkeit ist. Es geht um..."
"...das Verschwinden der totgeglaubten Stieftochter König Gorans, die ein hochrangiges Mitglied der Schwarzen Rose war?" sagte eine neue Stimme. Die Worte waren in eine ruhigen und deutlichem Ton gesprochen worden und in der Stimme schwang eine gewisse Autorität mit.
Tyra fuhr herum und hielt wie aus dem Nichts einen kleinen Dolch in der Hand. Auch Cyneric blickte in Richtung der Stimme, die aus einer der Ecken des Raumes gekommen war. Dort schälte sich gerade eine gedrungene Gestalt aus den Schatten.
"Lerkko... hatte ich nicht darum gebeten, unsere Gäste gründlich zu durchsuchen?" Diesmal war der Tonfall tadelnd, wie der eines Vaters, der seinen fehlgeleiteten Sohn zurechtweist.
"Meine Männern haben mir versichert, sie hätten..."
"Du hättest dich selbst vergewissern sollen." Der Sprecher trat nun ins Licht: Ein Mann im fortgeschrittenen Alter, gekleidet in vornehme, dunkle Gewänder. Er hatte kurzes, schwarzes Haupthaar und einen Vollbart, beides war dicht mit grauen Strähnen durchsetzt. Das Gesicht war faltig, doch aus den grünbraunen Augen blitzte ein ungetrübter Intellekt hervor. Kostbare Ringe zierten seine Finger und die Füße steckten in halbhohen, pelzbesetzten Lederstiefeln.
Lerkko neigte vor dem Neuankömmling das Haupt. "Vergebt mir, Meister Castav," sagte er demütig.
Branimir Castav, der Herr des Anwesens, ließ ein leises Seufzen hören, als er sich an den Platz setzte, den Lerkko gerade geräumt hatte. "Es ist gut. Doch wiederhole deinen Fehler nicht." 
"Sieh mal einer an. Meister Castav höchstpersönlich," sagte Tyra mit einem schiefen Lächeln. "Was sollte dieses Versteckspiel?"
"Ich habe meine Gründe", erwiderte Castav gelassen. "Liege ich mit meiner Vermutung richtig? Gorans Stieftochter ist verschwunden?"
Tyras Lächeln verschwand. "Es stimmt," gab sie zu. "Wir hatten gehofft..."
"...dass ich Informationen darüber besitze," ergänzte Branimir Castav. "In der Tat ist dem so. Richte deinem Herrn aus, dass ich ihm schon bald eine Spur liefern werde, wenn er mir meinen Gefallen erfüllt."
"Und der wäre?" wollte Tyra wissen.
"Er wird wissen, wovon ich spreche," entgegnete Castav nur.
"Und was ist mit den Gildenattentätern?" fragte Tyra weiter. "Gibt es gar nichts, was Ihr über sie zu erfahren wünscht?"
"Dieses Narrengezänk geht mich nichts an," erwiderte Castav kalt. "Sie haben für mich längst keine Bedeutung mehr. Und nun... zu dem Eorling dort. Ihn habe ich hier nicht erwartet. Wieso ist er hier?"
Cyneric war von der plötzlichen Frage etwas überrumpelt und benötigte einen kurzen Augenblick, um sich zu sammeln. Währenddessen musterte der Herr von Haus Castav ihn eindringlich, ohne etwas zu sagen. "Verzeiht mein unerwartetes Eindringen, Meister Castav," begann Cyneric. Als Castav nur leicht nickte, fuhr er fort: "Mein Name ist Cyneric, Cynegars Sohn. Ich gehöre nicht zur Schwarzen Rose."
"Sondern Ihr arbeitet mit den Schattenläufern zusammen," bemerkte Castav.
"Das ist richtig," gab Cyneric zu. "Allerdings tue ich das nicht freiwillig. Ich hatte gehofft, Ihr könntet mir dabei behilflich sein, jemanden zu finden."
"Von wem sprecht Ihr, Cyneric?"
"Von einer Frau namens Milva. Sie stand vor einiger Zeit im Dienste der Familie Bozhidar."
Castav zog die Augenbrauen um ein wenig in die Höhe. "Ah, ja. Eine Tragödie, was mit der Familie geschehen ist. Aber das tut hier nichts zur Sache. Stattdessen habe ich eine Frage an Euch, Cyneric. Wieso sollte ich Euch helfen, wenn ich Euch auch einfach an die Palastgarde ausliefern könnte, was mir eine großzügige Belohung und das Vertrauen des Königs einbringen würde?"
Cyneric erschrak. So berechnend hatte er sich Meister Castav nicht vorgestellt. "Ich... wäre Euch sehr verbunden, wenn Ihr davon absehen könntet," brachte er mit Mühe hervor. "Ich will nichts weiter als Milva zu finden und sie aus dieser Stadt herauszuschaffen. Selbstverständlich würde ich Euch Eure Unterstützung nach bester Möglichkeit vergelten."
Branimir Castav lehnte sich in seinem Stuhl zurück. "Nun, Cyneric, ich verstehe Euer Anliegen. Und ich denke... ich werde Euch meine Hilfe anbieten. Im Gegenzug werdet Ihr mir sämtliches Wissen das Ihr über die Schattenläufer besitzt zur Verfügung stellen."
"Und was hindert Euch dann daran, ihn hinterher trotzdem an die Garde auszuliefern?" mischte sich Tyra ein.
"Mein Wort muss Euch genügen," antwortete Castav. "Sind wir uns also einig?"
"...Sind wir," sagte Cyneric nach einem kurzen Augenblick des Zögerns.
"Exzellent," befand Castav. "Dann steht Ihr mit sofortiger Wirkung unter meinem Schutz, Cyneric. Im Nebenraum werdet Ihr eine bescheidene Unterkunft finden. Ich erwarte Euch morgen zur Mittagszeit in meinem Arbeitszimmer, wo Ihr Eure Bezahlung ableisten werdet." Er wandte sich an Tyra. "Überbringt meine Nachricht an den Anführer der Schwarzen Rose. Ich werde auf seine Antwort warten. Aber nicht ewig..."
Tyra warf Castav einen missbilligenden Blick zu. Dann nickte sie Cyneric aufmunternd zu und verschwand durch die Türe nach draußen.
Auch Castav verabschiedete sich rasch. Cyneric blieb alleine zurück und fragte sich, ob er wohl die richtige Entscheidunge getroffen hatte, sich dem Herrn von Haus Castav anzuvertrauen...

Fine:
Den Vormittag verbrachte Cyneric damit, sich innerlich auf das vorzubereiten, was ihn als Nächstes wohl erwarten würde. Der Herr des Anwesens, Branimir Castav, war Cyneric ein Rätsel. Einerseits schien der Mann großen Einfluss zu besitzen, doch gleichzeitig wirkte er auch so, als gingen seine Ambitionen deutlich über seinen derzeitigen Stand hinaus. Cyneric hoffte, dass die Informationen, die er Castav über die Schattenläufer geben würde, ausreichen würden. Er spähte nachdenklich aus dem kleinen Fenster des Raumes, den man ihm zur Verfügung gestellt hatte und nahm den großen Innenhof des Anwesens in Augenschein. Der Platz war bis auf zwei Gestalten verlassen, die sich in der Nähe der Übungspuppe aufhielten. Einen der beiden erkannte Cyneric als Lerkko wieder, den Hauptmann der castavschen Wache. Bei der zweiten Person handelte es sich ganz offensichtlich um eine Jugendliche. Cyneric schätzte das Mädchen auf ungefähr sechzehn Jahre. In der Hand hielt sie ein Schwert aus Holz und schon bald begann sie, unter Lerkkos Anweisung auf die Übungspuppe einzudreschen. Dabei stellte sie sich gar nicht so ungeschickt an, wie Cyneric feststellte. Er fragte sich, ob es sich bei dem Mädchen wohl um ein Mitglied von Meister Castavs Familie handelte.
Während er weiter den Übungen zuschaute, wanderten seine Gedanken zurück nach Rohan. Hoffentlich geht es Zarifa gut, dachte er. Und natürlich dem Kind. Es ist nicht gut, dass sie damit auf sich allein gestellt ist. Ich hätte bleiben sollen. Er zwang sich, an den Grund zu denken, aus dem er nach Rhûn gekommen war. Sobald ich Milva gefunden habe, müssen wir aus dieser furchtbaren Stadt verschwinden, schwor er sich. Ich bin keine zwei Tage wieder hier, und habe schon wieder genug von Gortharia. All diese Geheimnisse und das ständige Gefühl, verfolgt zu werden... ich fürchte, wenn ich noch lange hier bleibe, verliere ich endgültig den Verstand.

Pünktlich zur Mittagsstunde traf Cyneric im Arbeitszimmer des Herrn des Anwesens ein. Branimir Castav saß in einem großen, bequemen Stuhl hinter einem massiven Schreibtisch und befahl den Wachen, die draußen auf dem Flur standen, mit einem Wink, die Türe hinter Cyneric zu schließen. Offenbar hatte er nicht die Befürchtung, dass Cyneric ihn angreifen könnte. Zwar hatte dieser seine Waffen noch immer nicht wieder zurück erhalten, doch selbs tmit bloßen Fäusten konnte man einem so betagten Mann wie Branimir Castav gefährlich werden, wenn man es denn wollte.
Cyneric hegte keinerlei solche Absichten. Er hoffte, die Unterhaltung so rasch wie möglich hinter sich zu bringen, ahnte jedoch bereits, dass es sich dabei wohl nur um Wunschdenken handeln würde.
"Gut, Ihr seid pünktlich, Eorling," begrüßte Branimir seinen Gast. "Eine Eigenschaft, die ich überaus zu schätzen weiß." Er machte sich eine kurze Notiz in einem der offenen Bücher, die vor ihm lagen. "Kommen wir gleich zur Sache," fuhr der Alte dann fort. "Ich bin bereit, alles zu hören, was Ihr mir über die geheimnisvollen Schattenläufer sagen könnt. Ihr dürft beginnen."
Cyneric räusperte sich und stellte fest, dass er sich ungewohnt nervös fühlte. Etwas stockend sagte er: "Ich kenne längst nicht alle Geheimnisse der Schattenläufer, doch im Austausch gegen Informationen über Milva werde ich Euch sagen, was ich weiß. Die Schatten haben mir gegenüber stets betont, dass es zu jeder Zeit drei von ihnen geben muss: Mór, die Dunkelheit, Rant, der Fluss, und Dáe, der Schatten. Darüber hinaus gibt es eine Person, die sie Mêril nennen, und der die Schattenläufer unterstellt sind."
Castav hatte sich bereits von Beginn an eifrig weitere Notizen gemacht und hob nun den Kopf für einen Zwischenfrage. "Und Ihr kennt die Identitäten der Drei, richtig?"
Cyneric zögerte. Er wusste gut, wie tödlich die Schattenläufer sein konnten. Und Ryltha war es gelungen, ihn sogar im fernen Rohan aufzuspüren. Wenn er sie nun verriet... was würden sie ihm antun? Oder seiner Tochter?
"Kein Wort von Euch wird diesen Raum verlassen," versicherte Castav ihm - offenbar hatte er Cyneric die Zweifel im Gesicht abgelesen. "Darauf habt Ihr mein Wort."
"Ich verlasse mich darauf, Meister Castav," entgegnete Cyneric. "Mein Leben und das Leben meiner Tochter hängt womöglich davon ab."
"Ich verstehe," sagte Branimir Castav. "Man sagt, in Gortharia haben die meisten Wände Ohren, doch seid versichert, dass mein Arbeitszimmer absolut sicher ist. Nicht ein Ton wird nach draußen dringen."
Cyneric atmete tief durch und fasste sich ein Herz. Um Milvas Willen muss es sein. "Die Schattenläufer sind... die Hohe Heerführerin Morrandir vom siegreichen Heer des Erebor-Feldzugs und ihre Adjutantin, Ryltha Yavaris. Und die Dritte ist ein Mädchen namens Salia, das aus Thal stammt."
Castav wirkte zum ersten Mal überrascht. "Tatsächlich? Heerführerin Morrandir, dieses allzu pflichtbewusste, stocksteife Weib soll eine sagenumwobene Attentäterin sein?" Er fasste sich wieder und legte die Hände zusammen. "Ich schätze, ihre Tarnung war meisterlich. Und Yavaris... dieser Emporkömmling aus Khand, sehr interessant..." Flink schrieb er an seinen Notizen weiter. "Beschreibt mir das Mädchen, Cyneric. Diese Salia. Wie sieht sie aus?"
Cyneric gab Castav eine rasche Beschreibung von Salia, woraufhin der Alte wissend nickte. "Ich verstehe... nun, das ergibt Sinn. Bitte, fahrt fort. Was wisst Ihr noch über die Schattenläufer?"
"Das Meiste ihres Wissens beziehen sie aus einem geheimnisvollen Brunnen, der in den Tiefen des Untergrunds von Gortharia verborgen ist und der ihnen gezielte Eindrücke und Bilder aus der Ferne offenbaren kann," fuhr Cyneric fort.
Castav msuterte ihn bei diesen Worten eindringlich. Er schien abzuschätzen, ob Cyneric die Wahrheit sagte. "Hätte ich nicht vor vielen, vielen Jahren ein ähnliches Gerücht gehört, würde ich Euren gesunden Verstand anzweifeln, Cyneric," sagte Castav kühl. "Doch bin ich mir sicher, dass Ihr es nicht wagen würdet, mir Lügen aufzutischen. Es muss also entweder tatsächlich wahr sein, dass die Schattenläufer über irgend eine Art dunkler Hexerei verfügen, oder es ist ihnen gelungen, Euch so vollständig zu täuschen, dass Ihr diesen.... Brunnen, sagtet Ihr?... wirklich für wahrhaft haltet."
Cyneric konnte sich nicht vorstellen, dass alles, was er im Bezug auf den dunklen Brunnen der Schattenläufer bereits gesehen und erlebt hatte, wirklich nur eine Täuschung gewesen sein sollte. Doch diesen Gedanken behielt er für sich und erzählte Castav davon, wie er zum ersten Mal in Kontakt mit den Schattenläufern geraten war, und aus welchem Grund er sich in ihre Dienste gestellt hatte. Der Herr von Haus Castav machte sich weiterhin eifrig Notizen und stellte hin und wieder eine kurze Zwischenfrage, bis Cyneric schließlich am Ende seines Berichts angekommen war.
"Nun, das war aufschlußreich," meinte Castav. "Selbstverständlich kann ich mich nicht alleinig auf die Aussagen einer einzelnen Quelle stützen, aber vieles von dem, was Ihr mir erzählt habt, deckt sich mit Informationen, über die ich bereits verfügt habe. Einige hochinteressanten Neuigkeiten waren ebenfalls dabei, die ich nun natürlich gründlich prüfen werde. Doch gestattet mir zunächst noch eine letzte Frage, Cyneric. Wie steht Ihr zu Salia, dem Mädchen das die Rolle der Dáe innehat?"
"Sie wurde und wird ebenso von den Schattenläufern ausgenutzt wie ich," antwortete Cyneric prompt. "Ich wünschte, sie würde ihren Rachefeldzug aufgeben und mit mir aus Rhûn fliehen..."
"Rachefeldzug? Gegen wen?" hakte Castav sofort nach.
"Gegen den König," erklärte Cyneric. "Sie macht ihn persönlich für den Tod ihres Vaters verantwortlich."
"Ich verstehe," sagte Castav emotionslos. "Nun, vielleicht bekommt Ihr die Möglichkeit, Euch Euren Wunsch selbst zu erfüllen."
"Wie meint Ihr das, Meister Castav?"
"Ich verfüge über einen Augenzeugenbericht, der mir kritische Hinweise auf den Verbleib der beiden Frauen, Fiora und Milva, liefert. Laut dem Zeugen waren die beiden jedoch nicht allein, als sie zuletzt gesehen wurden. Eine dritte Person war bei ihnen, auf die Eure Beschreibung Salias perfekt passt."
"Ihr wollt damit also sagen, dass Milva, Fiora und Salia alle gleichzeitig verschwunden sind, und dass sie zusammen zuletzt gesehen wurden?"
"Gut erkannt," lobte Castav. "Und da Ihr Euren Teil der Abmachung eingehalten habt, Cyneric, halte ich nun auch den meinen. Begebt Euch zum Anwesen von Haus Bozhidar. Dorthin hat man Milva und die anderen gebracht, wenn meine Informationen stimmen. Und ich lege viel Wert darauf, dass sie das tun." Er gestattete sich ein kleines Lächeln, die erste Gefühlsregung, die Cyneric an jenem Tag bei Castav beobachten konnte.
"Wer hat sie dorthin verschleppt?" wollte Cyneric wissen.
"Das lässt sich derzeit noch nicht sagen," entgegnete Castav. "Vielleicht werdet Ihr es sein, der in dieser Hinsicht etwas Klarheit schaffen kann - ich wäre überaus interessiert an Informationen zu den Drahtziehern dieser Entführung. Oh, und Cyneric... macht Euch keine Sorge um die Stadtwache. Sie werden Euch ignorieren, dafür habe ich gesorgt... jedenfalls für einige Zeit. Doch seid vorsichtig. Das Anwesen ist gut bewacht. Seit dem Tod von Herrin Velmira ist es strikt abgeriegelt worden. Ich bin mir nicht sicher, ob es einen Weg hinein geben wird."
"Ich muss es wenigstens versuchen," entgegnete Cyneric. Dann verbeugte er sich. "Ich danke Euch, Meister Castav."
"Vergesst nicht, Eure Waffen bei Lerkko wieder abzuholen. Ihr werdet sie brauchen," sagte Castav noch, ehe er sich wieder seinen Notizen zuwendete.


Cyneric auf die Straßen von Gortharia

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