Das Schicksal Mittelerdes (RPG) > Gortharia

Konzil der Zauberer

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Aus der Sicht Pallandos

03. Dezember, 3021 D.Z.

Pallando fröstelte. Eine heiße Tasse Tee wäre jetzt genau das Richtige, dachte er verdrossen. Die Terrasse, auf der er stand, bot kaum Schutz vor dem kühlen Wind, der über der mächtigen Hauptstadt des Ostling-Reiches dahin fegte und vereinzelte Schneeflocken mit sich brachte. Alatar hatte diesen Ort ausgewählt, um sich mit ihm zu treffen, und von Pallandos letzter Reise zu erfahren. Erst am Tag zuvor war Pallando entlang der Kalevin-Küste nach Rhûn zurückgekehrt, nachdem er Palisor durchstreift hatte. Im Gegensatz zu Alatar hielt es ihn nur selten an Ort und Stelle. Obwohl sie beide die Farbe Blau im Orden der Zauberer repräsentierten, ähnelten Alatar und Pallando sich nur wenig. Alatar bevorzugte ein helleres Blau, ähnlich der Farben des Himmels, das seine Beständigkeit repräsentierte. Er war tief in die Gesellschaft Gortharias verwurzelt und war als "Ewiger Berater" am Hofe der Könige Gortharias ein geschätztes Mitglied des Rats der Zehn. Pallando hingegen hatte sich dem dunkleren Blau des Ozeans verschrieben und war ebenso unbeständig wie die See. Nie verweilte er lange an einem Ort, sondern zog quer durch die Lande im Osten und hatte bei den unterschiedlichen Völkern Rhûns und Palisors so viele unterschiedliche Namen, dass er alle kaum noch aufzählen konnte.

Der Zauberer lehnte seine Ellbogen auf das hohe Geländer, das Gesicht in die Hände gestützt. Die Terrasse befand sich auf dem flachen Dach eines der Häuser im Südwesten Gortharias, das sich in Alatars persönlichem Besitz befand. Drei Stockwerke weiter unten gingen die Menschen ihren alltäglichen Geschäften nach und die engen Straßen des Viertels waren, wie gewöhnlich, zur Mittagszeit besonders überfüllt. Pallando seufzte leise. Er mochte keine Städte. Sie gaben ihm stets das Gefühl, eingeengt zu sein. Stattdessen liebte er die Wildnis mit ihren weitläufigen Ebenen und Steppen, auf denen die Rinder Oromës in großen Herden dahin zogen. Ein Windstoß zerzauste Pallandos Bart und ließ ihn sich weit weg, in wärmere Gefilde wünschen.

"Also," erklang Alatars volltönende, tiefe Stimme hinter ihm. "Was gibt es Neues aus den Ostlanden?"
Pallando drehte sich um. Alatar saß in einem Stuhl aus hellem Holz und hatte bis gerade eben ein altes Ahnenregister eines der Adelshäuser Rhûns studiert. Doch nun lag das Buch zugeklappt auf dem Schoß des Zauberers. Seine dunklen Augen musterten Pallando mit einer Mischung aus Strenge und kühlem Abwarten.
"Man hört allerlei Gerüchte," erwiderte Pallando. "Die Hallen der Zwerge in den Orocarni sind noch immer versiegelt. Seit Jahren besteht kein Kontakt mehr zu ihnen. Die Stämme der Avari, die in verstreuten Winkeln Palisors überdauert haben, erzählen von Orks, die an den unteren Hängen der Berge aufgetaucht sind. Es heißt, dies sei das Werk des Ilcalocë."
Alatar hob mit milder Überraschung die Augenbrauen. "Du warst dir doch einst sicher, dass der Ilcalocë nur eine Legende sei," sagte er.
"Der Meinung bin ich noch immer," erwiderte Pallando. "Dennoch ist es nicht von der Hand zu weisen, dass sich in Palisor Dinge regen, die womöglich unserer Aufmerksamkeit bedürfen."
Doch Alatar schüttelte den Kopf. "Das denke ich nicht. Ich habe alle Hände voll zu tun, um dem Einfluß von Saurons Gesandten Khamûl hier in Gortharia entgegenzuwirken. Es gereicht uns zum Vorteil, dass der Ringgeist mit dem Heer des Königs zum Erebor gezogen ist, doch weiß ich nicht, wie lange dies noch so sein wird. Ich kann es mir nicht leisten, meine mühsam erarbeitete Position am Hofe aufzugeben."

Sie debattierten noch eine ganze Weile und kamen letzten Endes zu dem Kompromiss, der ihre Beziehung zueinander seit Jahrhunderten geprägt hatte: Alatar würde in Gortharia verweilen, während Pallando den unheilvollen Gerüchten auf den Grund gehen und erneut aufbrechen würde.
Als sie sich gerade darüber unterhielten, welchen möglichen Ausgang der Feldzug der Ostlinge gegen Thal und den Erebor haben könnte, kam unerwartet einer von Alatars Wächtern auf die Terrasse.
"Ein Bittsteller steht vor der Tür und wünscht eine Audienz, Herr," sagte der Soldat.
"Wer ist es?" wollte Alatar wissen.
"Er nannte keinen Namen. Er sei ein alter Freund," lautete die Antwort.
Alatar dachte einen Augenblick darüber nach, dann nickte er. "Also gut."

Eine hochgewachsene Gestalt betrat die Terrasse, gehüllt in einen schmutzigen grauen Mantel mit Kapuze. Doch der Stab, den der Fremde trug, ließ keinen Zweifel daran zu, dass auch er ein Zauberer war.
"Rómestámo. Morinehtar," sprach er sie mit ihren ältesten Namen an. "So also sehen wir uns endlich wieder." Er nahm die Kapuze ab und begegnete ihrem Blick.
"Curumo..." entwich es Pallandos Lippen.
"Was ist der Grund deines Besuches?" entgegnete Alatar, nach außen hin so gefasst wie eh und je.
"Meine langjährigen Freunde und Begleiter. Ich bin hier, um euch ein Angebot zu machen," sagte Saruman. Pallando fiel auf, dass der Weiße Zauberer einen anderen Stab trug als bei ihrer letzten Begegnung, die viele Jahrhunderte zurücklag. Anstatt einer schwarzen Kugel war dieser neue Stab von einer ganz weißen, geschnitzten Spitze gekrönt. "Im Westen haben sich die Ereignisse überschlagen. Sicherlich wisst ihr, dass Sauron den Meisterring zurück erlangt hat. Doch noch ist Mittelerde nicht verloren. Mit vereinten Kräften können wir ihn besiegen und uns diese Welt zu eigen machen; sie ordnen und gestalten nach unseren Wünschen. Schließt euch mir an, und gemeinsam werden wir an jenen Rache nehmen, die sich gegen uns gewandt haben, und Mittelerde vom Dunklen Herrscher befreien. Ich als Oberster unseres ehrwürdigen Ordens bitte euch, mir erneut zu folgen, wie ihr es einst so viele Jahre lang tatet."

Eine Pause trat ein. Weder Alatar noch Pallando hatten sich bewegt. Saruman starrte sie beide herausfordernd an, die Hände fest an seinen Stab geklammert.
"Ja, wir hörten vom Fund des Einen Ringes," entgegnete Alatar langsam. "Doch noch mehr Nachrichten drangen an unser Ohr. Wir erfuhren auch von deinem Fall, Curumo, und davon, dass Olórin dich aus dem Orden verstoßen hat. Du bist nicht länger unser Oberhaupt."
"Und wir werden dir nicht dabei helfen, aus Rache zu handeln," fügte Pallando hinzu.
"Ihr versteht nicht," widersprach Saruman, und Zorn leuchtete in seinen Augen auf - oder war es Wahnsinn? "Ich werde mir die Orks des Nebelgebirges untertan machen und mich ihrer bedienen, um die Demütigung zu rächen, die mir widerfuhr. Gegen Lothlórien werde ich sie führen, damit diese fehlgeleiteten Narren erkennen, dass ich es ernst meine. Derweil werdet ihr dafür sorgen, dass sich Rhûn gegen Sauron erhebt und sich unserer Allianz anschließt. Mit der Macht der Orks und Ostlinge unter unserem Befehl wird sich niemand in Mittelerde uns widersetzen können. Die Welt wird uns gehören."
"Dies entspricht nicht dem Auftrag, den die Herren des Westens uns gaben," sagte Pallando mit fester Stimme. "Lass' ab von diesen selbstsüchtigen Zielen, Curumo! Du magst nicht mehr dem Orden angehören, doch noch immer gebietest du über große Macht. Setze sie zum Wohle dieser Welt ein, und nicht um sie zu unterwerfen!"
Alatar blieb bei diesen Worten still. Saruman hingegen zeigte seine Wut nun unverhohlen. "Ich kam als Freund zu euch und bot euch die Möglichkeit, sich mir freiwillig anzuschließen, doch ihr habt diese Gelegenheit mit den Füßen getreten, wie Diebe, die einen schlafenden Drachen in seinem Hort wecken. Wenn ihr euch mir nicht anschließt, werdet ihr es bereuen. Ich werde einen Weg finden, es euch ebenso heimzuzahlen wie den Verrätern, die im Weißen Rat sitzen und sich in Sicherheit wiegen. Glaubt nicht, dass ihr hier in Rhûn sicher vor mir seid!"
"Diese Unterhaltung ist beendet," sagte Alatar leise, aber deutlich. "Es gibt nichts mehr zu sagen, Curumo." Er erhob sich und ließ Saruman stehen, der vor Wut schäumte. Pallando beeilte sich, Alatar zu folgen. Ihm war klar, dass er etwas unternehmen musste. Jemand musste die Elben Lothlóriens warnen. Und dieser jemand würde er selbst sein.

Pallando nach Lothlórien

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Aus der Sicht Pallandos:

Pallando aus Taur-en-Elenath

Alatar hatte sich verändert. Pallando konnte es deutlich spüren. Sein alter Freund glich kaum noch dem einstigen Weggefährten, der ihm über Jahrhunderte eine wichtige Konstante gewesen war. Ein Jahr war vergangen, seitdem die Ithryn Luin zuletzt miteinander gesprochen hatten. Und damit nicht genug: Auch die Stadt Gortharia war nun eine völlig andere. Ein neuer König saß auf dem Thron, der ihm vom Sendboten Mordors gegeben worden war. Der Bevölkerung ging es trotz der Expansion des Reiches der Ostlinge schlechter. Pallando hatte es an vielen Orten in Gortharia gesehen: die Reichen vermehrten ihren Besitz und die Armen mussten hungern. Unzufriedenheit war deutlicher zu spüren als er es gewohnt war. Er fragte sich, ob dieser Stimmungswandel der Grund dafür war, dass Alatar ihm deutlich grimmiger und verschlossener als noch vor einem Jahr vorkam.
"Nun, Rómestámo. Du darfst beginnen," forderte Alatar ihn auf.

Pallando war im höchsten Tempo entlang der Küste des Binnenmeeres durch die Fürstentümer von Dorwinion und Gorak gereist, bis er das Kronland Gortharias und dessen gleichnamige Hauptstand endlich erreicht hatte. Sorge und üble Vorahnungen hatten seine Schritte beschleunigt, doch er war weiterhin vorsichtig genug, sich nicht offen zu erkennen zu geben. Das Gedränge in der Stadt war ihm noch schlimmer als gewohnt vorgekommen. Die Straßen quollen über von Menschen; hin und wieder sah man sogar vereinzelte Zwerge. Was Pallando allerdings gar nicht gefiel war die ungewöhnlich hohe Zahl an Stadtwachen, die in ihren goldfarbenen Umhängen in Fünfergruppen durch die Straßen streiften und die Aura der Bedrückung in der Stadt damit umso mehr hervorhoben.

"Ich gehe davon aus, dass du es ebenso wie ich gespürt hast," sagte Pallando ernst. "Etwas ist geschehen, das die Grundfesten der Erde erschüttert hat."
Alatar nickte langsam. Er saß auf demselben Stuhl, in dem er vor einem Jahr Saruman die Stirn geboten hatte. Pallando fiel auf, dass ein neues Schwert an der Seite des Blauen Zauberers hing. "Auch wenn ich derzeit einen großen Teil meiner Macht aufwende, um den Blick des Anntírad zu trüben habe ich durchaus wahrgenommen, das sich im Süden etwas geregt hat," fuhr Alatar fort. "In der Tat: Etwas hat sich verändert. Und es bereitet mir große Sorge."
"Dann geht es dir ebenso wie mir," sagte Pallando und atmete auf. Er war froh, dass Alatar ihn verstand. "Wir müssen etwas unternehmen. Ich schlage vor, wir gehen südwärts und folgen den Spuren, die wir dort vorfinden, bis wir dieses Rätsel aufgedeckt haben."
"Nein," entgegnete Alatar kalt. "Ich kann Gortharia derzeit nicht verlassen. Einige wichtige Ereignisse stehen kurz bevor, die meine vollste Aufmerksamkeit benötigen. Ein Umbruch muss in die Wege geleitet werden."
"Ein Umbruch? Wovon sprichst du?"
"Ist dir etwa entgangen, dass das Volk kurz vor dem Aufbegehren steht? Bald schon wird die Macht von Rhûn den Händen des manischen Königs entgleiten. Ich muss dafür sorgen, dass diese Macht nicht ungenutzt bleibt. Sie muss in fähige Hände gelegt werden und für sinnvolle Zwecke eingesetzt werden."
"Sprichst du etwa davon, selbst den Thron zu besteigen?" rief Pallando entsetzt. War nun nach Saruman etwa auch Alatar den Verlockungen von Macht und Einfluss erlegen?
Doch Alatar machte eine beschwichtigende Geste mit der rechten Hand. "So beruhige dich, Rómestámo. Ich strebe nicht nach dem Thron Gortharias. Aber ich werde jemanden darauf setzen, der der Bürde der Verantwortung eines Herrschers dieses mächtigen Reiches besser gewachsen ist als jener Narr, den Khamûl eingesetzt hat."
Pallando nickte. "Ich verstehe. Nun, dann werde ich darauf vertrauen, dass du weißt, was du tust."
"Das tue ich."
"Und wie es scheint, fällt nun die Rolle des Reisenden erneut mir zu, während du hier verweilen wirst."
"So ist es seit Generationen gewesen," antwortete Alatar. "Es liegt nun einmal in unserer Natur, mein Freund. Uns stehen nun entscheidende Tage bevor. Ich kann es mir nicht leisten, gerade jetzt alles aufzugeben. Ich bin von Feinden umringt. Noch blendet mein Zauber ihren finsteren Blick, doch wenn ich jetzt nachlasse, werden sie der Falle entgehen, die ich für sie vorbereitet habe."
Pallando konnte sich keinen Reim darauf machen, wovon Alatar sprach. Doch er war klug genug, nicht nachzufragen. Was in Gortharia geschah, war Alatars Spezialgebiet. Pallando hingegen würde sich seinen Stärken widmen, und alleine nach Süden gehen.

"Eile dich," sagte Alatar und erhob sich. "Ich spüre, dass sich die Dunkelheit nicht länger gedulden wird. Die Schatten wachsen und die Nächte werden finsterer. Etwas ist im Begriff zu geschehen... wir müssen wissen, was auf uns zu kommt."
Pallando nickte entschlossen. "Ich werde gehen, alter Freund, und ergründen, was sich im Süden zusammenbraut."
"Fang in Balanjar an," riet ihm Alatar noch. "Aus jenem Fürstentum ereilte den Rat der Zehn zuletzt reichlich seltsame Kunde. Dort wirst du hoffentlich die Antworten finden, die du suchst."
Von Alatars Dienern erhielt Pallando ein frisches Pferd. Durch das südliche Tor von Gortharia preschte er zurück auf die Ebenen Rhûns, ohne eine lange Rast einzulegen. Die Wälder südlich der Halbinsel Gortharias flogen an ihm vorbei, während er der Straße nach Balanjar, dem südlichsten der fünf Fürstentümer Rhûns folgte.

Pallando nach Balanjar

Fine:
Cyneric, Morrandir und Ryltha von den Straßen Gortharias


Ryltha hatte Cyneric rasch aus dem Adelsviertel heraus nach Südwesten geführt, den Weg oft durch enge Gassen und andere Abkürzungen nehmend. Im Händlerviertel, das in der südwestlichen Ecke Gortharias lag, waren sie scheinbar zufällig auf Morrandir getroffen, die ihre goldene Kommandantenrüstung mit dem dazugehörigen langen roten Umhang trug und einen Trupp Ostlingsoldaten anführte. Die Männer hatten Cyneric und Ryltha in ihre Mitte genommen, ohne Fragen zu stellen und hatten ihnen den Weg durch die Menschenmenge freigemacht, bis sie zu einem unscheinbaren mehrstöckigem Haus gekommen waren, dessen Flachdach von einem segelartigen Sonnenschutz überspannt wurde.
„Hier ist es,“ sagte Ryltha, während die Soldaten begannen, sich zu zerstreuen. „Dieser Ort wird vom Ewigen Berater für besondere Treffen genutzt. Bevor wir mit ihm sprechen brauchen wir allerdings einen neuen Namen für dich, Cyneric.“
„Wieso das?“ wollte Cyneric wissen.
Morrandir bedachte ihn mit einem düsteren Blick. „Wähle deine Worte weise in Alatars Gegenwart. Je mehr er über dich weiß, desto gefährlicher kann er dir werden. Unsere Allianz mit dem Zauberer ist brüchig genug. Wir fürchten, dass er uns hintergehen könnte. Es ist besser, er misst deiner Gegenwart keinerlei Bedeutung zu.“
Ryltha musterte Cyneric prüfend, dann sagte sie: „Ab sofort bist du Cahir, aus Dorwinion. Name und Aussehen passen gut zu dir. Präge es dir ein, falls der Zauberer dich befragt. Ein einfacher Mann vom Celduin-Ufer. Du bist ja bereits dort gewesen, weißt also wie die Gegend aussieht.“
„Der Name klingt mir eher nach Gondor,“ meinte Cyneric.
„So mancher Dorwinier hat gondorische Wurzeln,“ sagte Morrandir. „Cahir also. Eine gute Wahl, Schwester.“
Ryltha lächelte hinterlistig. „Wir sollten den Alten nicht warten lassen.“

Am Eingang des Hauses hielten zwei Krieger Wache, die blaue Umhänge trugen und mit langen Speeren bewaffnet waren. Morrandir trat vor und sagte: „Richtet Meister Alatar aus, dass die Schatten gekommen sind und eine Audienz einfordern.“
Der linke Wachtposten erbleichte sichtlich und rannte ins Innere, wobei er beinahe gestolpert wäre. Auch der zweite Mann blickte eindeutig unbehaglich drein, sagte jedoch nichts. Es vergingen wenige Minuten, ehe der Wächter zurückkehrte und mit leicht zitternder Stimme sagte: „Er erwartet Euch auf dem Dach.“
Ohne ihn eines Blickes zu würdigen marschierte Morrandir voran, gefolgt von Ryltha und ‚Cahir‘. Drei Stockwerke hinauf ging es über eine mit hölzernen Stufen versehene Wendeltreppe im Zentrum des Hauses, das auf Cyneric nur spärlich eingerichtet wirkte. Er sah nur wenige Möbel und gar keine Dekoration abgesehen von einigen Gemälden, die ausnahmslos Bilder des Himmels zeigten. So kamen sie nach einem kurzen Aufstieg auf das Flachdach des Hauses, das aus einer ausladenden Terrasse bestand. Zwei bequeme Stühle standen gegenüber des Treppenaufgangs. Einer war leer; in dem zweiten saß Alatar der Blaue vom Rat der Zehn, der vom Volk der Ewige Berater genannt wurde. Cyneric hatte den Zauberer bereits zweimal zuvor gesehen, beide Male allerdings nur aus der Entfernung. Ein wenig erinnerte er Cyneric an Gandalf, den Weißen: der stattliche Bart und die buschigen Brauen gehörten dazu. Doch der gelassen wirkende und doch prüfende Blick und das dunkle, nur an den Rändern ergraute Haar gaben Alatar eine deutlich kühlere, strengere Aura als die Herzlichkeit, die Gandalf bei seiner Begegnung mit Cyneric in Aldburg ausgestrahlt hatte.
„Willkommen, Ránt und Mór,“ sagte er mit tiefer, volltönender Stimme. Er fixierte Cyneric und fuhr fort: „Haben die Schattenläufer nun also ihre Aufnahmekriterien dramatisch geändert?“
„Mitnichten, Meister Alatar,“ entgegnete Morrandir ruhig. „Dies ist Cahir aus Dorwinion. Kein Mitglied der Drei Schatten, aber ein Verbündeter.“
„Ich verstehe. Und weshalb ersuchen die Schatten nun eine Audienz bei mir?“
Er kommt wohl direkt zur Sache, dachte Cyneric, der seine innere Anspannung nur mit Mühe unterdrücken konnte.
„Eine der Unseren ist in Gefangenschaft geraten,“ stellte Morrandir klar.
„Dáe ist in Gefahr. Wir wissen wo man sie gefangen hält, kommen aber nicht an sie heran,“ fügte Ryltha hinzu.
„Nicht ohne Hilfe, wie ich vermute,“ sagte Alatar und legte die Fingerspitzen aneinander.
„So ist es,“ antwortete Morrandir. „Findet einen Weg für uns in das Anwesen der Bozhidars, und wir stünden in Eurer Schuld.“
„Nun, die Gefallen der Schatten sind selten,“ meinte Alatar. „Ich würde einen solchen Gefallen durchaus einfordern zu wissen.“ Er erhob sich von seinem Stuhl und stützte sich auf seinen Stab, an dessen Spitze ein blauer Edelstein im kühlen Licht des Wintertages funkelte. „Dennoch muss ich mich wundern. Hat euer Können so weit nachgelassen, dass es den Schattenläufern unmöglich ist, in ein gewöhnliches Anwesen einzudringen?“
„Ihr wisst sicherlich, dass selbst bei einem einfachen Einbruch allerlei Vorbereitungen vonnöten sind,“ sagte Morrandir.
„Und dafür fehlt uns die Zeit,“ ergänzte Ryltha rasch hinzu. „Außerdem...“
Morrandir warf Ryltha einen warnenden Blick zu, doch es war zu spät. Interessiert blickte der Zauberer in ihre Richtung. „Außerdem?“ hakte er nach.
Ryltha kniff verärgert die Augen zusammen. Morrandir blieb ungerührt und sagte: „Einige Einblicke sind uns derzeit verschlossen. Und Ránt hat recht: Die Vorbereitungszeit fehlt uns. Wir müssen Dáe so bald wie möglich retten. Die Zeit drängt.“
Cyneric musste bei diesen Worten daran denken, dass Ryltha auf ihrer Reise von Rohan nach Gortharia eher beiläufig erwähnt hatte, dass der geheimnisvolle Brunnen der Schattenläufer in den vergangenen Wochen von einem geheimnisvollen Nebel getrübt worden war. Er fragte sich, ob der Zauberer vielleicht erahnte, wovon Morrandir wirklich sprach.
„Wie es der Zufall will führen mich meine Angelegenheiten noch heute zu besagtem Anwesen,“ sagte Alatar nach einer kurzen Pause. „Der Erbe der verblichenen Velmira, der junge Meister Silan, erwartet mich. Ich gedenke, ihm ein Geschenk zu machen um mir seinen guten Willen zu sichern.“
Morrandir nickte. „Ein weiser Zug. Haus Bozhidar besitzt großen Einfluss, den es nun zu nutzen gilt.“
„Ich werde eine Eskorte benötigen, wenn ich das Anwesen betrete,“ fuhr Alatar fort. „Ihr werdet ein Teil davon sein und erlangt so Zugang zum Inneren.“ Er erreichte die Treppe nach unten und sagte: „Folgt mir.“

Im Stockwerk direkt unterhalb des Daches befand sich ein Raum, in dem mehrere Geräte herumstanden, die offenbar zur Beobachtung des Himmels dienten. Darüber hinaus befand sich an einer der Wände eine Vitrine aus Glas, die Alatar nun öffnete. Er nahm ein Schwert heraus und reichte es an Cyneric weiter, der es überrascht entgegen nahm.
„Dies ist mein Geschenk an Meister Silan,“ erklärte der Zauberer. „Ein wertvolles Schwert, das als Kriegsbeute nach Gortharia kam. Er wird dessen Wert rasch erkennen. Tragt es, Cahir, bis ich Euch das Zeichen zur Übergabe gebe. Verliert Ihr es jedoch, so ist Euer Leben verwirkt.“ Bei den letzten Worten funkelte ein gefährliches Leuchten in Alatars Augen auf.
Cyneric hielt das Schwert mit beiden Händen fest umklammert. Die Klinge steckte in einer Fassung aus Leder und besaß einen leicht gebogenen Griff - eine Machart, die Cyneric noch nie zuvor gesehen hatte. Die Waffe war leichter als er bei dieser Größe erwartet hatte - das Schwert war lang genug, um als Anderthalbhänder geführt zu werden.
Diener kamen herein und brachten ihnen dieselbe Ausrüstung, die Alatars Wachen getragen hatten: eine einfache Kettenhemdrüstung mit ledernen Schulterschützern und Eisenhandschuhen, dazu ein langer, tiefblauer Umhang und ein Speer. Rasch legten sie die Verkleidung an und stießen dann zum Rest der Eskorte des Zauberers, die aus insgesamt fünfzehn Soldaten bestand. Gemeinsam schickten sie sich an, das Anwesen zu verlassen, als ihnen am Eingang eine Frau in einem langen, dunklen Gewand entgegenkam.
Alatar wirkte für einen kurzen Augenblick überrascht. „Nun, dies kommt unerwartet,“ sagte er, als die Frau vor ihm stand. „Die Herrin der Schatten persönlich.“
Da erkannte Cyneric sie: Merîl, die geheimnisvolle Anführerin der Schattenläufer. Es schauerte ihn, als er daran dachte, wozu diese Frau in der Lage war.
„Ich werde mit euch gehen,“ stellte Merîl in einem Tonfall klar, der keine Widerrede duldete. „Daés Befreiung hat oberste Priorität für mich.“
„So sei es,“ stimmte Alatar zu, was Cyneric wunderte. Er hatte erwartet, dass der Zauberer Einspruch einlegen würde. Doch dieser wirkte im Gegensatz dazu sogar regelrecht zufrieden. „Meister Silan ist über mein Eintreffen unterrichtet worden. Lassen wir ihn nicht länger warten.“
Die Eskorte setzte sich in Bewegung. Cyneric, der sich am Ende des Trupps eingereiht hatte, hatte sich das Schwert, das der Zauberer ihm anvertraut hatte, an den Gürtel gehängt, doch seine freie linke Hand verharrte am Griff der wertvollen Klinge. Er hatte nicht vor, sein Leben für diese Waffe aufs Spiel zu setzen...


Cyneric, Alatar und die Schattenläufer zum Bozhidar-Anwesen

Fine:
Milva, Cyneric, Alatar, Salia und Fiora aus dem Bozhidar-Anwesen


Alatar hatte sie allesamt aus dem Anwesen der Bozhidars heraus gebracht. Seine in Blau gekleideten Wachen hatten die Gruppe in die Mitte genommen und sie durch einen der Nebenausgänge zurück auf die Straßen Gortharias geführt. Dann waren sie zur Behausung des Zauberers zurückgekehrt, wo dieser sie in einen Raum geführt hatte, den Cyneric bei seinem vorherigen Besuch noch nicht gesehen hatte. Dieser Raum lag auf der mittleren Ebene des Gebäudes und war bis auf einen steinernen Sitz am hinteren Ende leer. Der Boden war zur Mitte hin leicht abgesenkt und war mit sanft ineinander übergehenden, kreisförmingen Blautönen bemalt worden. An der Decke waren ganz ähnliche Muster zu sehen, während die Wände ein einfarbiges, dunkles Blau zeigten und mit Holz ausgekleidet waren. Vier von der Decke hängende Lampen aus Kristall spendeten kühles Licht.
Der Ewige Berater schritt zu dem Steinsitz und ließ sich nieder, während seine Wachen hinaus gingen und Cyneric, Milva und Salia alleine mit ihrem Meister ließen. Fiora war in ein anderes Zimmer gebracht worden, wo sich eine Heilerin um sie kümmern würde.
"Ihr seid vorerst hier in Sicherheit," begann der Zauberer mit volltönender Stimme. "Ich nehme an, ihr fragt euch - insbesondere du, Cyneric - weshalb ich euch hergebracht habe."
"Ich kam nicht umhin, mir dieser Frage immer wieder zu stellen," entgegnete Cyneric. "Immerhin habt Ihr die Schattenläufer verraten und sie Silans Männern ausgeliefert."
"Du sprichst leichtfertig von Verrat," sagte Alatar scharf. "Verrat lag den Schatten im Sinne, als sie zu mir kamen und mich gegen Silan wenden wollten. Ich habe sie nur dem Schicksal zugeführt, das ihnen schon lange zusteht. Sie sind fehlgeleitet und besudelt von der Dunkelheit Mêrils."
"Mêril..." hörte Cyneric Milva neben sich sagen. "Ihr ... habt diesen Namen vorhin schon verwendet. Wer... wer ist sie?"

Der Zauberer stützte die Ellbogen auf seine Knie und legte die Fingerspitzen beider Hände aneinander. Leicht vorgebeugt begann er, zu sprechen. "Ihre Geschichte beginnt in der Altvorderen Zeit, noch vor dem Aufgang von Sonne und Mond," berichtete er im ernsten Tonfall eines Gelehrten, der seinen Schülern eine besonders wichtige Lektion beizubringen versucht. "Als die Sternenentzünderin Elbereth ihre Lichter an den Himmel setzte, tat sie dieses große Werk nicht alleine. Varda - der Name, unter dem ich sie einst kannte - war stets in Begleitung ihrer Zofe, Ilmarë, die sie durch das Dunkel der jungen Welt leitete und beschützte. Darüber hinaus gab es viele geringere Maiar in Vardas Gefolge, doch die Wichtigsten unter ihnen waren jene, die als die Sieben Schwestern bekannt wurden. Ihre Namen sind heute allesamt vergessen, doch wenn ich sie in das imladrische Quenya des Hauses Elrond übertragen müsste, würden sie lauten... " Er schloss für einen Moment die Augen und fuhr dann fort: "...Túlcarna, die Standhafte... Vilhistë, die Weitsichtige... Telrossë, die Nachdenkliche... Merendë, die Ausgelassene... Lirulin, die Geschwinde... Sovallë, die Reinigende... und schließlich Micaurëa, die Vorsichtige. Sie halfen der Sternenentzünderin und brachten das erste Licht in die noch dunkle Welt. Auch waren sie später am Bau der beiden großen Säulen beteiligt, ehe diese vom Dunklen Herrscher umgestürzt wurden. Lange wandelten die Sieben Schwestern ohne Heimat durch Mittelerde, doch als ihre Herrin sich im schneeweißen Palast an der Seite des Altvorderen Königs niederließ und ihr Gefolge zu sich rief, waren sich die Schwestern zum ersten Mal seit ihrer Ankunft in Arda uneins. Drei von ihnen wollten nach Valinor gehen, doch die anderen vier liebten das Licht der Sterne, und nicht das neue, von der Erdherrin geschaffene Licht der beiden Bäume, das ihnen zu grell war. Schließlich gelang es den Vieren, ihre drei Schwestern zum Bleiben zu überreden. So vergingen der Mittag von Valinor und das Dunkel legte sich mit der Flucht des Großen Feindes und des Todes der Lichtbäume wieder über die Welt, die so lange Frieden gehabt hatte. Die Schwestern lebten inzwischen an einem Ort... auf genau dem Felsen, auf dem diese Stadt errichtet wurde. Die Rückkehr des Schattens im Norden versetzte sie alle in Schrecken und so zerstreuten sie sich, obwohl sie einander sehr liebten. Eine von ihnen schuf damals die sieben Gewässer der Weisheit - eines für jede der Schwestern. Über diese konnten sie trotz der Trennung miteinander in Verbindung bleiben. Da sich die Kriege des Ersten Zeitalters hauptsächlich in Beleriand abspielten, waren jene Jahre für die Sieben zwar unruhig, aber noch mehr als die Rückkehr des Schattens überraschte sie der Aufgang von Sonne und Mond, die das geliebte Sternenlicht verblassen ließen. Doch als Morgoth schließlich auch seine Schattenkreaturen in den Osten entsandte, da flohen die Schwestern, eine nach der anderen, in die Unsterblichen Lande... bis auf zwei."

Alatar machte eine lange Pause und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Der Zauberer wirkte vollkommen gelassen, obwohl seine Worte den schweren Klang großer Bedeutsamkeit hatten. Alle drei Menschen - Milva, Salia und Cyneric - hatten bis jetzt wie gebannt zugehört und schienen es nicht zu wagen, Fragen zu stellen. Alatar schien das beinahe sofort aufzufallen. Er machte eine kleine Geste mit dem Finger, und das Licht im Raum begann, sich langsam zu verändern. Die blauen Kristalllampen nahemn an Intensivität zu und schon bald warfen Cyneric und die beiden jungen Frauen lange Schatten, die sich an die kalten Wände klammerten. Nachdem noch ein weiterer Augenblick vergangen war, nahm der Zauberer wieder das Wort. "Als Sauron nach dem Krieg des Zorns floh und sich im Osten verbarg, war er stark geschwächt und nur ein Schatten seiner selbst. Hier, in den Ruinen einer längst verfallenen Elbensiedlung aus den Tagen der Großen Wanderung, begegnete ihm durch Zufall eine der beiden Schwestern, die gerade auf Wanderung nach Norden war. Es kam zum Kampf. Dabei gelang es Sauron, seiner Gegnerin ihre Lebenskraft zu entziehen und sich selbst damit zu regenerieren. Der Dunkle Herrscher ließ sie gebrochen zurück, in dem Glauben, sie getötet zu haben. Dann machte er sich im Süden auf die Jagd nach der zweiten verbliebenen Schwester. Doch jene, die er hier, in den Tiefen unterhalb des Felsens zurückließ, war nicht tot... noch nicht. Sie klammerte sich mit aller Kraft an das wenige Leben, das ihr verblieben war. Sie war es, die einst die Wasser der Weisheit geschaffen hatte. Und sie fand hier, am Ort ihrer Niederlage, einen tiefen, natürlichen Brunnen. Doch als sie versuchte, ihre Macht erneut einzusetzen, um sich mit den reinigenden Kräften des Wassers zu heilen, verfärbte es sich stattdessen schwarz. Saurons Dunkelheit war auf sie übergegangen und er hatte sie damit befleckt. So gelang es der sterbenden Maia nur, ein Zerrbild ihrer einstigen Schöpfung zu erschaffen - den dunklen Brunnen, den die Schattenläufer Anntírad nennen. Der Zufall wollte es, dass in jenem Augenblick, als die Schwester ihre letzte Lebenskraft beinahe aufgebraucht hatte, eine vom Volk der Ostlinge zu ihr fand. Die Ostlinge waren aus Beleriand vertrieben worden und das Volk Gorthars hatte begonnen, sich auf dem Felsen hier am Kap niederzulassen. Dabei stießen sie auf die uralten Elbenruinen und das Gewirr von Tunneln im Gestein darunter. Eine von ihnen musste sich dort verirrt haben. Sie... war die Erste in einer langen Linie von Frauen, der ein grausames Schicksal bevorstand. Die gefallene Maia packte sie und stürzte sie in die Fluten des Brunnens, wo sie ihr das nahm, was ihr Sauron entzogen hatte: Die Lebenskraft. Als sich die Wogen geglättet hatten, enstieg nur eine Person dem Brunnen. Sie hatte die Gestalt der Menschenfrau, doch ihr Geist gehörte jener, die einst Merendë von den Sieben Schwestern gewesen war."
"M-mêril," erkannte Salia flüsternd.
"So ist es," sagte Alatar kalt. "Sie scharte drei Anhänger um sich, und begann einen Zyklus, der von den ersten Jahren des Zweiten Zeitalters bis heute andauert. Begann einer der Körper Mêrils Schaden zu nehmen, ob durch Verletzungen oder das Gewicht des Alters, erwählte sie sich die geeignetste unter ihren Dienerinnen und übernahm deren Gestalt. Sie war klug genug, ihre Gefolgschaft stets klein zu halten, um nicht Saurons Aufmerksamkeit zu erregen, weshalb sie die Regel der Drei ersann und damit die Zahl der Schattenläufer auf ewig festschrieb. Denn das sind sie: Gefäße für die Maia der Dunklen Wasser, Nahrung für Mêrils unheilbares Siechtum und Spielfiguren in ihrem Spiel der Macht. Doch nun... wird es enden. Ein für allemal. Ich habe lange Jahrhunderte gebraucht, um all dieses Wissen zusammenzutragen. Doch nun ist mir Mêril in die Falle gegangen. Eine ihrer Dienerinnen habe ich hier - und sie ist noch lange nicht gebrochen worden, habe ich recht?" Er blickte Salia an, welche dem Zauberer mit ernster Miene entgegenstarrte, ohne jedoch etwas zu erwidern, sodass Alatar fortfuhrt: "Nun, die zweite fiel im Kampf im Anwesen, die dritte entkam gemeinsam mit Mêril selbst, doch... sie sind beide verwundet, und während wir hier sprechen, spüren Silans Leute sie auf. Das wird das Ende der Schattenläufer sein, und das Ende Mêrils."

"Doch wieso das alles?" wollte Milva wissen. "Und was... was hat die Herrin der Quelle damit zu tun? Ist sie auch eine der Sieben Schwestern?"
"Nein," entgegnete Alatar. "Sie ist nur eine der Hüterinnen der Wasser der Weisheit. Sie war eine meiner wichtigsten Informantinnen, denn ihr Wissen über die Schwestern und ihre Geschichte ist groß, wenn sie auch nicht alles weiß. Aber zurück zu deiner ersten Frage... Die Schattenläufer haben auf eine Destabilisation Rhûns hingearbeitet. Grundsätzlich sehe ich dieses Ziel nicht als falsch an, aber... es ist der falsche Zeitpunkt. Rhûn braucht eine vereinte Streitmacht, um gegen das zu bestehen, das kommt. Es braucht einen starken König, der sowohl Adel als auch Volk hinter sich vereinen kann."
"Und Ihr seid der Meinung, Silan ist dafür der Richtige," meinte Cyneric zweifelnd.
"Nun, er ist jedenfalls ein besserer Kandidat als dieser Wahnsinnige, den Khamûl auf den Thron gehievt hat," entgegnete Alatar. "Er ist klug, aber dennoch offen für Ratschläge."
"Ihr meint, Ihr glaubt ihn kontrollieren zu können," folgerte Salia, die mit verschränkten Armen dastand. "Deshalb unterstützt Ihr ihn. Er soll Eure Marionette sein."
"Ich leugne nicht, dass sich dieses Land so am einfachsten lenken ließe," antwortete der Zauberer bedrohlich. "Doch ist dies nicht der Weg meines Ordens. Wir wurden als Berater entsandt, nicht als Herrscher. Andere haben diese Lektion bereits missachtet und dafür bezahlt."
"Saruman," murmelte Cyneric, als er verstand, wovon der Zauberer sprach.
"Ihr sagtet... Rhûn müsse vereint sein, gegen das was da kommt," wiederholte Milva nachdenklich. "Wie... habt Ihr das gemeint? Was wird kommen?"
Alatar erhob sich und sein Stab flog in seine Hand. "Der Dunkle Herrscher höchstpersönlich," sagte er grimmig und blickte sie alle nacheinander mit blitzenden Augen an.

Fine:
Alatars Worte hallten wie ein Donnerschlag im Raum wieder und hinterließen ein geschocktes Schweigen. Eine ganze Weile verging, in der die drei Menschen den Zauberer einfach nur anstarrten, ohne zu Worten imstande zu sein. Schließlich war es Salia, die als Erste die Sprache wiederfand.
"Der... dunkle Herrscher?" wiederholte sie langsam, mit einem Zögern in der Stimme. "Also... also stimmen die Gerüchte, die man aus Balanjar hört? Mordor greift tatsächlich das Königreich Rhûn an, und..."
"So ist es," sagte Alatar mit einem grimmigen Nicken. "Und Sauron persönlich führt das Heer an, das noch während wir hier sprechen, die Weiden und Felder der Balanjari niederbrennt. Ich kann nur hoffen, dass mein Mitstreiter Pallando rechtzeitig dort eingetroffen ist, um die Bevölkerung in Sicherheit zu bringen."
"Und Ihr glaubt, dass dieses Heer... als nächstes Gortharia angreifen könnte?" fragte Cyneric alarmiert.
"Nun... das kann derzeit niemand vorhersagen," erwiderte Alatar ruhig. "Aber die Möglichkeit besteht - und allein diese Tatsache bedeutet, dass ich mir für diesen Fall einen Plan machen muss. Jetzt, wo die Gefahr durch die Schattenläufer gebannt ist, steht Silans Aufstieg zum König nichts mehr im Wege, und das ist gut so. Je rascher er seine Herrschaft festigen kann, desto früher kann das Heer vom Erebor zurückgerufen werden und desto früher können wir an eine Verteidigung der Stadt denken."
"Überseht Ihr da nicht etwas?" meinte Milva nachdenklich. "Auf dem Thron sitzt noch immer König Goran."
Alatar erlaubte sich ein scharfsinniges Lächeln. "Diese Tatsache gedenke ich noch heute zu ändern," stellte er klar.
"Wie... wie wollt Ihr das bewerkstelligen? Wollt Ihr einfach so in den Palast marschieren, und Goran seines Amtes entheben?" fragte Salia zweifelnd.
"Mehr oder weniger... Ja," sagte der Ewige Berater. "Aber ich werde ihn nicht seines Amtes entheben. Sondern... seines Lebens."
Cyneric lief es bei diesen Worten eiskalt den Rücken hinunter. Er staunte noch immer darüber, wie sehr sich dieser Zauberer von dem zwar strengen, aber gütigen Gandalf unterschied, den er in Aldburg kennengelernt hatte.
Milva hingegen nickte knapp. Sie schien weniger ein Problem mit diesem offenen Bekenntnis zum Königsmord zu haben. Auch Salia wirkte nicht allzu beeindruckt. "Heute also noch," meinte sie nachdenklich.
"Noch heute," wiederholte Alatar. "Und ihr werdet mit mir gehen, als meine Zeugen."
"Wie bitte?" rief Milva. "Wir sind gerade erst aus Silans Keller entkommen, wenn er uns sieht, wird er...."
"Er wird nichts dergleichen tun," stellte Alatar klar. "Mein Mitverschwörer und ich selbst werden für eurer Sicherheit sorgen."
"Und wer ist dieser Mitverschwörer Etwa Silan selbst?" wollte Cyneric wissen.
"Silan der wichtigste Teil in unserem Plan zur Stabilisierung Rhûns. Ich habe mich nicht umsonst gerade mit ihm verbündet, obwohl er aus einem Adelshaus stammt, das traditionell das haus Gorthar unterstützt hat und loyal zur Krone stand. Seine Ambitionen und sein Ehrgeiz machen ihn zu dem perfekte Verbündeten für mich. Aber er ist nicht derjenige, von dem ich gerade sprach. Nein, mein Mitverschwörer ist jemand, der sich in den Reihen des Adels auskennt wie kein Anderer, der mir, der ich zeitlos bin, den Vorteil hat, am Puls der Gesellschaft Gortharias zu lauschen." Er machte eine subtile Handbewegung, und neben dem Sitz des Zauberers glitt eine bislang unsichtbar gewesene Türe auf. Hindurch trat eine Gestalt, die vom hellen Licht, das durch den Tührramen drang, von hinten angestrahlt wurde und deswegen zunächst nur als Silhouette zu erkennen war. Erst als sich der Mann etwas spöttisch verbeugte und neben Alatar trat, erkannte Cyneric ihn.
"Meister Castav?" entfuhr es ihm überrascht.
Branimir Castav lächelte und verschränkte die Arme vor der Brust. "Überrascht, mich hier zu sehen?" fragte er freundlich.
"Wer ist der Kerl?" wollte Milva wissen - Salia hingegen schien den Neuankömmling bereits erkannt zu haben.
"Branimir Castav," stellte sich der Adelige vor und nickte Milva zu. "Und Ihr müsst diejenige sein, wegen der Cyneric bei mir war und um meine Hilfe bat."
"Und Ihr standet die ganze Zeit über mit dem Zauberer im Bunde?" fragte Cyneric, was mit einer bejahenden Geste beantwortet wurde.
"Ich hatte den Ewigen Berater schon viele Jahre im Auge behalten. Als er vor einiger Zeit von sich aus auf mich zukam, war ich zunächst ebenso überrascht wie ihr," erklärte Branimir. "Doch rasch erkannte ich die Weisheit in seinen Worten. Unser geschätzter König... ist untauglich. Er hätte niemals den Thron besteigen sollen. Der junge Silan hingegen ist schlau, kommt beim Volke gut an und weiß, was er will. Er wäre ein guter Herrscher... mit den richtigen Beratern an seiner Seite, versteht sich."
"Ihr beiden wollt ihn wohl zu eurer Marionette machen," meinte Salia zweifelnd. "Und was, wenn er sich eurer Vormundschaft entledigen will?"
"Von einer Marionette kann keine Rede sein," erwiderte Alatar gelassen. "Wir sind Verbündete, das ist alles. Und das ist auch gut so, solange es einen so mächtigen gemeinsamen Feind gibt wie den Dunklen Herrscher," fügte er hinzu. "Doch genug der Worte. Jetzt ist die Zeit für Taten." Er erhob sich und setzte sich in Bewegung, gefolgt von Branimir. "Kommt, meine Verbündeten. Es gilt nun, einen König zu stürzen..."


Alatar, Milva, Cyneric, Branimir und Salia zum Königspalast

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