Das Schicksal Mittelerdes (RPG) > Mordor
Nurn und Lithlad
Fine:
"Es ist salzig," sagte Narissa überrascht, als sie vom Wasser des Núrnen-Meeres gekostet hatte. Angewidert spuckte sie aus und trank gleich darauf einen großen Schluck aus einem der Wasserschläuche, um den salzigen Geschmack loszuwerden.
"Das hätte ich dir vorher sagen können," meinte Aerien nur. "Aber du wolltest ja nicht hören."
"Wieso auch? Der Fluss, oder besser gesagt, das schmutzige Rinnsaal, dem wir hierher gefolgt sind, besteht aus Süßwasser. Ekelhaftes, unreines Süßwasser, aber dennoch war keine Spur von Salz darin. Und soweit ich weiß hat dieses Meer - welches letzten Endes auch nur ein großer See ist - keinen Abfluss in den Ozean. Wieso also ist es salzig?"
"Ich weiß es nicht," antwortete Aerien.
"Ich schon," sagte Gimli, der sich bückte und einen der kleineren schwarzen Steine aufhob, aus denen der Strand, an dem sie standen, bestand. "Das Geheimnis verbirgt sich hinter dem Gestein, aus dem sich der Boden Nûrns zusammensetzt." Er holte aus und schleuderte den Stein beeindruckend weit in das stille Meer hinein. Mit einem fernen Platschen duchbrach das Wurfgeschoss die Wasseroberfläche und versank. "Das Salz entstammt aus dem Fels. Ich vermute, dass diese Ebene einst Meeresboden gewesen ist. Ehe die Welt in den Kriegen der Altvorderen zerbrochen und verändert wurde. Das Meeressalz hat sich damals hier festgesetzt und löst sich nun unendlich langsam im Wasser auf, das sich hier aus den umliegenden Gebirgen sammelt. Und obwohl das Wasser dieses Binnenmeeres nicht trinkbar ist, beherrbergt es dennoch köstlichen Fisch."
"Neben dem dürren Getreide, das auf den Feldern von Nûrn angebaut wird, ist der Fisch des Núrnen-Meeres die Hauptnahrungsquelle der Bewohner des schwarzen Landes," fuhr Aerien mit der Erklärung fort. "Selbst in Durthang gab es mindestens ein Mal pro Woche Fisch auf den Tisch."
"Pech für all jene, die keinen Fisch mögen," kommentierte Narissa. "Und Pech für uns - jetzt können wir unsere Wasserschläuche nur mit dem Dreckwasser des Flusses füllen."
"Das ist besser als nichts," meinte Gimli. "Kommt, an die Arbeit, meine Damen. Zwar haben wir nun das Meer erreicht und können uns eine kurze Rast gönnen, doch allzu lange verweilen sollte man nirgendwo, wenn man durch Mordor reist. Bis zu den Sklavenfeldern ist es nicht mehr weit - sie beginnen bereits am jenseitigen Ufer des Binnenmeeres."
Sie hatten den Marsch zum Meer von Núrn in einem zweitägigen Marsch zurückgelegt, der die drei Menschen sichtlich mehr Kraft als den Zwerg gekostet hatte. Kein lebendes Wesen war ihnen auf dem trostlosen Weg über die kaum bewachsene, öde Ebene Núrns begegnet, was Aerien einerseits hoffnungsvoll stimmte, ihr aber gleichzeitig unterbewusst auf die Stimmung schlug. Dies war nicht das Mordor, das sie aus ihrer Kindheit und Jugend kannte. In der Festung von Durthang war sie nie weit von einem anderen Menschen entfernt gewesen - stets hatten vor ihrer Tür stumme Wächter wie Aglarân gestanden, und ständig hatte man sie unerbittlichen Lehrmeistern und Unterweisern vorgeführt, um sie zu jener Perfektion zu drillen, die Sauron, der Große Gebieter, von seinen menschlichen Dienern verlangte. Selbst in den wenigen Stunden der Einsamkeit war Azruphel niemals wirklich allein gewesen. Augen hatten sie aus den Schatten beobachtet und Ohren hatten an Türen und Wänden gelauscht. Als sie alt genug geworden war, um am Hofleben teilzunehmen, hatten sich zu den niemals enden wollenden Unterweisungen kunstvoll gesponnene Intrigen und allerlei geflüsterte Lügen gesellt, die ihr zwar allerhand Schwierigkeiten und Herausforderungen bereiteten, aber ihr niemals das Gefühl gaben, allein auf weiter Flur zu stehen.
Auch wenn sie während der Wanderung durch Mordor nicht wirklich alleine war, denn Narissa war nie weit entfernt, erschreckte die Leere des Landes Aerien doch mehr, als sie sich selbst eingestehen wollte. Die beinahe absolute Abwesenheit von lebenden Geschöpfen - von ein paar hartnäckigen Gräsern und Büschen abgesehen - sorgte dafür, dass ihr Mordor noch feindseliger vorkam, als es endlose Reihen von marschierenden Orks hätten tun können. Denn die Soldaten des Schattenlandes waren Aerien vertraut, doch das Verhängnis, das über der Ödnis von Núrn zu schweben schien, hielt ihr vor Augen, welches Schicksal der Dunkle Herrscher für die Welt der Menschen vorgesehen hatte. Alle Lande würde er unterwerfen und sie so lange für seine Zwecke ausbeuten, bis nichts als eine lebensfeindliche, leere Schattenwüste davon übrig blieb.
Eine grauenvolle Vorstellung, dachte sie.
Gimli führte die Gruppe am Strand entlang in nördlicher Richtung, das Meer zu ihrer Rechten. Gesprochen wurde nur wenig. Noch immer war es offensichtlich, dass der Zwerg als Einziger nichts von dem Willen des Schattens spürte, der sich gegen sie richtete und ihre Schritte erschwerte. Noch waren sie einigermaßen bei Kräften und stemmten sich gegen den Widerstand, der ihnen entgegengeworfen wurde, denn sowohl Narissas als auch Aeriens Wille war ungebrochen. Und als Aerien einen verstohlenen Blick auf Karnuzîr warf, glaubte sie, in den Augen ihres Vetters einen neuen Glanz zu erhaschen, der zuvor noch nicht da gewesen war. Etwas hatte sich an ihm verändert. Doch was das sein mochte, konnte sie nicht sagen.
"Jetzt haben wir es bald geschafft," sagte Gimli, der auf einen großen Felsen geklettert war. Ein ganzes Dutzend von mannshohen Felsen war hier als Überbleibsel einer uralten Gesteinslawine im kiesigen Sand des Strandes liegen geblieben. Zu Aeriens Linker ragte eine felsige Klippe auf, an deren Spitze sie die Stelle zu erkennen meinte, wo die Felsen einst von einer unbekannten Kraft abgebrochen worden waren. Gimli beschattete mit seiner linken Hand seine Augen und blickte nach Norden, wo das Ufer des Meeres zur Rechten hin eine langgezogene Biegung machte, um schließlich am östlichen Horizont zu verschwinden.
"Was ist denn das dort?" rief Narissa und deutete zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. "Gibt es Vögel in dieser trostlosen Gegend?"
Gimli fuhr herum, eindeutig alarmiert von diesen Worten. "Nein, gibt es nicht," brummte er und kniff die Augen zusammen. Kaum einen Moment später weiteten sie sich, als der Zwerg, erschrocken ausrief: "Los, runter! In Deckung!"
Sofort ließen sie sich in den schwarzen Kies fallen und krochen so rasch es ging in den Schatten der großen Felsen, die nahe genug aneinander zum Stillstand gekommen waren, um ihnen hoffentlich genug Deckung vor unfreundlichen Blicken zu geben. Narissa und Karnuzîr gingen beide sogar noch einen Schritt weiter und bedeckten sich hastig mit einer notdürftigen Schicht des groben Kieses, während Aerien sich nah an Gimli drängte, der beinahe in einer schwarzen Felsspalte verschwunden war. Durch einen feinen Schacht über ihrem Kopf konnte Aerien ein Stück des trüben, grauen Himmels über ihr sehen. Und während sie noch mit pochendem Herzen nach oben blickte, rauschte eine monströse Gestalt hoch über ihrem Versteck vorüber. Der Jagdschrei einer gewaltigen Kreatur drang an ihre Ohren und sorgte dafür, dass sie panisch die Hände darauf presste. Doch noch mehr als das, was sie gesehen oder gehört hatte, raubte die Eiseskälte in ihrem Herzen Aerien beinahe dien Atem. Sie hatte dieses Grauen nicht mehr gefühlt seit... seit Qafsah.
Eine sich in schiere Endlosigkeit dahinziehende Minute des Schreckens verging, dann begann Aerien zu spüren, wie sich die grausame Präsenz nach Norden hin entfernte. Sie schüttelte sich, um die Bilder abzustreifen, die vor ihrem inneren Auge auf sie einstürmten: Eine schattenhafte Gestalt mit einem gezackten Schwert, die in einem gemauerten Gang auf sie zukam. Unerbittlich. Unaufhaltsam. Unvermeidlich.
Eine Hand packte Aerien an der Schulter und zerrte sie aus ihrem Versteck. Es war Narissa.
"Du weißt, was das war, nicht wahr?"
Aerien nickte. "Naz-"
"Sprich es nicht aus," unterbrach Gimli sie. "Nenne sie nicht beim Namen." Sein Blick ging voller Sorge nach Norden. "Ich hatte gehofft, dass sie noch nichts von eurer Ankunft erfahren haben." Traurig schüttelte der Zwerg den Kopf.
"Vielleicht war das nur ein Zufall," meinte Narissa. "Vielleicht hat er gar nicht nach uns gesucht."
"Wohl kaum," erwiderte der Zwerg. "Nichts geht in Mordor vor sich, ohne dass sie es mitbekommen, ob früher oder später. Ich wünschte nur, wir hätten mehr Zeit..." Er blickte niedergeschlagen zu Boden und eine Minute verging, in der niemand ein Wort sprach. Dann schien sich Gimli einen Ruck zu geben. "Wie dem auch sei," sagte er. "Auch ohne Aussicht auf Erfolg müssen wir es dennoch zumindest versuchen. Noch sind wir frei und im vollständigen Besitz unserer Kräfte. Also hoch mit euch."
Sie versammelten sich erneut am Strand. "Was war das für ein Wesen?" wollte Narissa wissen.
"Ein Geflügelter Schatten," sagte Aerien leise. Sie hatte eine solche Kreatur selbst erst bei zwei Gelegenheiten gesehen: eine in Barad-dûr, sowie eine weitere in Minas Morgul. "Sie leben in den Ered Lithui, am Nordrand der Aschenöde von Lithlad. Es sind wilde Kreaturen mit ledrigen Flügeln, die der Dunkle Herrscher für seine wichtigsten Würdenträger als Reittiere bereithält."
"Wenn es ein lebendiges Wesen ist, dann kann man es auch töten," sagte Narissa. Auf seltsame Art und Weise schien ihr das Mut zu machen.
Gimli lachte leise, ein beinahe unnatürlicher Laut inmitten der Trostlosigkeit Mordors. "Das ist die richtige Einstellung," pflichtete er Narissa bei. "Trotzdem hoffe ich, dass wir allen weiteren Geflügelten Schatten aus dem Weg gehen können. Dieses Vorhaben, das ihr zu versuchen trachtet, beruht auf List und Heimlichkeit, und nicht auf Waffenstärke."
Er wandte ihnen den Rücken zu und stapfte unbeirrt voran, als wäre nichts geschehen. Die drei Menschen folgten ihm, entlang des dunklen Strandes, bis Gimli sich schließlich direkt nach Norden wandte und sie auf die gewaltigen Sklavenfelder von Núrn führte.
Fine:
Ein schwindender Halbmond stand am Himmel, als Gimli die drei Menschen auf die Sklavenfelder von Nûrn führte. Sie hofften, nachts weniger Aufmerksamkeit zu erregen. Und obwohl es finster ringsum war, minderte sich ihr Unbehagen über den sich bietenden Anblick kaum.
Die Pflanzen, die hier angebaut wurden, wirkten, als würden sie sich mit aller Kraft dagegen wehren, in der geschundenen Erde von Nûrn zu gedeihen, doch wie alles in Mordor waren auch sie längst dem Willen des Dunklen Herrschers unterworfen worden. Sauron hatte früh verstanden, dass ein totes Land keine Nahrung für seine riesigen Heere produzieren würde, und deshalb war den Feldern von Nûrn die Verwüstung erspart geblieben, die den Großteil Mordors auf ewig vernarbt hatte. Bräunliche, krank aussehende Gräser und Gestrüppe wuchsen entlang der Plantagen, die einzig und allein dem Zweck dienten, die Kriegsmaschinerie des Schwarzen Landes zu füttern, denn selbst Orks und andere Wesen des Schattens mussten essen, um bei Kräften zu bleiben.
Gilmi führte sie mehr oder weniger geradewegs nach Norden, stets die Fackeln in der Ferne vermeidend, die auf herumstreifende Sklaventreiber hindeuteten. So passierten sie halb abgeerntete Felder und brach liegende Gehöfte, bis vor ihnen das Licht einer Ansiedlung auftauchte, die mitten in der Ebene erbaut worden war. Das Ufer des Nûrnenmeeres hatten sie inzwischen längst hinter sich gelassen.
"Jetzt werden wir etwas mehr Risiko eingehen müssen," brummte Gimli. "Falls dieses Dorf einen Namen hat, so kenne ich ihn nicht. Aber dort werden wir hoffentlich Bekannte von mir treffen, die uns an den Wachen am Nûrnen-Pass vorbeibringen können."
"Du sprichst von dem Pass, der Nûrn mit der Ebene von Gorgoroth verbindet," sagte Aerien wissend. "Eine große Ork-Festung bewacht jene Straße. Und der einzige Weg daran vorbei führt über die Nordstraße bei Lithlad - ein gewaltiger Umweg."
"Deshalb müssen wir es hier versuchen," antwortete der Zwerg. "Uns bleibt keine Zeit für Umwege."
Sie schlichen sich näher an die Ansiedlung heran. Eine hölzerne Palisade umgab das Dorf, welches aus Zelten und grob zusammengezimmerten Hütten bestand. Beide Zugänge waren von Orks bewacht, doch Gimli führte die Gruppe in einem Bogen um das südliche Tor herum zu der Stelle, an der die Befestigungsanlage an eine Gruppe von großen Felsen stieß. Dort ließ sich einer der Holzstämme, aus denen die Palisade bestand, anheben, um hindurch zu schlüpfen. Für einen patrouillierenden Wächter würde die Mauer vollkommen intakt wirken, doch für Gimli und jeden, der über den wahren Zustand des Stammes bescheid wusste, war sie der perfekte verborgene Zugang in die Ansiedlung. Nacheinander krochen sie hindurch und fanden sich am Ende einer engen Gasse zwischen zwei hohen Zelten wieder.
"Gut," raunte Gimli ihnen zu. "Selbst nach all den Wochen ist der Zugang noch unentdeckt geblieben." Er sah sich vorsichtig um, und als sich nichts regte, setzte der Zwerg sich wieder in Bewegung. Zweimal mussten sie sich rasch in die Schatten von Haustüren oder Seitengängen hechten, um dem Blick vorbeiziehender Wachen zu entgehen, bis sie schließlich an eine der hölzernen Hütten kamen, die vor allem im zentralen Teil des Dorfes standen. Gimli blickte sich erneut um, dann klopfte er viermal gegen die Eingangstür.
Stille antwortete ihm. Der Zwerg verharrte einen Augenblick auf der Stelle, dann klopfte er erneut. Als noch immer keine Reaktion erfolgte, legte Gimli sein Ohr auf das Holz der Tür, um zu lauschen.
"Hörst du etwas?" wisperte Narissa.
"Nicht einen Mucks," gab Gimli leise zurück. "Vielleicht sollte ich..."
Gerade in dem Moment, als ein vage vertrauter Geruch in Aeriens Nase zog, stieß Karnuzîr die Türe kurzerhand auf. Sie war nicht verschlossen gewesen, was Gimli zu überraschen schien. Einer Welle gleich ergoss sich ein Duft aus dem Inneren auf die Straße, der Aerien sofort klar werden ließ, was sie drinnen vorfinden würden. Karnuzîr spähte hinein und bestätigte ihren Verdacht.
"Wer auch immer hier gewohnt hat... sie sind alle tot," sagte er gleichmütig.
Gimli drängte sich an Karnuzîr vorbei, und Aerien und Narissa folgten ihm in die Hütte hinein. Die Leichen von sieben Menschen lagen auf dem Boden des Raumes, in den die Gruppe nun kam. Im fahlen Licht des Mondes, der durch ein offen stehendes Fenster herein fiel sahen sie das getrockete Blut, das Boden und Wände verschmiert hatte. Der Geruch - der Gestank der Verwesung - wurde beinahe unerträglich. Aerien musste die Leichen nicht ansehen um zu wissen, dass sie schon viele Tage lang tot sein mussten.
Gimli starrte tonlos zu Boden. Kein Laut der Trauer drang über die Lippen des Zwerges. Die Jahre seiner Gefangenschaft in Mordor mussten dafür gesorgt haben, dass dieser Verlust ihn nicht weiter schockierte, als er es ohnehin schon war. "Welch ein Jammer," sagte er schließlich, ehe er begann, die Leichen mit einem abgebrochenen Holzbalken, den er aufgehoben hatte, auf einen Haufen zu befördern und sie dann mit einem schmutzigen, großen Tuch zu bedecken, das der Zwerg in einer der Ecken des Raumes gefunden hatte.
Während Gimli mit seiner traurigen Arbeit beschäftigt war, hielt Narissa am Eingang Ausschau nach Gefahren, während Karnuzîr sich auf den einzigen intakten Stuhl im Raum gesetzt hatte, um etwas Atem zu schöpfen. Aerien war mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt. Der Geruch der Verwesung brachte sie nicht aus der Fassung, denn er war ihr seit jungen Jahren gut vertraut. Schon früh hatte man sie in die Kerker von Durthang geschickt, um erste Erfahrungen mit den Strafen zu erlangen, die auf jene warteten, die den Dunklen Herrscher enttäuschte. Aerien erinnerte sich daran, wie sie zum ersten Mal von den Wachen ihres Vaters die steinernen Stufen hinab zu den Verliesen gebracht worden war.
~~~
Die kleine Hand ihres jüngeren Bruders, Varazîr, drückte sich fest in ihre, als Azruphel der düsteren Gestalt Aglârans hinab zu den Kerkern folgte. Ihr elfter Geburtstag lag vier Wochen zurück und an diesem Morgen hatte ihr Vater sie persönlich geweckt, um sie auf das vorzubereiten, was sie heute erleben würde. Das Rot ihres Kleides war so dunkel, dass es nur im hellsten Licht seine wahre Farbe preisgab und ansonsten nachtschwarz wirkte, und obwohl der Saum des weichen Stoffes bis zu ihren Fußknöcheln reichte, fror das Mädchen. Fackeln erhellten den Gang, in den sie nun traten und ein unangenehmer Geruch stieg in Azruphels Nase. Aglâran blieb inmitten des Ganges stehen, dann trat der Gardist beiseite und gab den Blick auf den Raum frei, der sich nun vor den beiden Kindern öffnete. Ein trübes Licht, das durch ein breites Gitter in der Decke fiel, erleuchtete eine breite, steinerne Platte, auf der ein Mensch lag. Ein Schatten lag auf dem Gesicht des Mannes, der unbekleidet war, doch Azruphel spürte instinktiv, dass sie einem Toten gegenüber stand.
Jenseits des steinernen Altars regten sich etwas, und eine Gestalt trat vor. Es war Azruphels Vater, gehüllt in volle Rüstung, das Haupt von der Kapuze seines Umhangs bedeckt. In beiden Händen hielt er einen Dolch aus dunklem Metall.
"Tretet vor," befahl Varakhôr seinen Kindern. Und sie gehorchten, wie sie es gelernt hatten, ohne zu zögern. Dabei ließ der kleine Varazîr die Hand seiner Schwester nicht los; selbst dann nicht, als sie direkt vor der Leiche standen.
Der Herr von Durthang reichte ihnen die Dolche. "Dieser hier ist bereits tot und kann euch eure Aufgabe daher nicht mehr erschweren," fuhr er fort. "Betrachtet dies als erste Übung. Verseht seinen Körper nun mit dem Mal des Auges, damit jeder sehen kann, dass er sein Ende in Mordor fand." Unerwähnt ließ er die Tatsache, dass die nächste Übung an einem lebendigen Opfer vollzogen werden würde, wie Azruphel bald schon erfahren würde.
Sie schloss ihren Griff fest um den Dolch, als sie die Spitze der Klinge vorsichtig auf die Brust des Toten ansetzte. Und während sie noch zögerte - so kurz dieser Augenblick auch andauerte - spürte sie schon, wie ihr jüngerer Bruder bereits mit seiner Aufgabe begonnen hatte. Azruphel biss die Zähne zusammen und stieß zu.
~~~
"Wie geht es jetzt weiter?" fragte Narissa einige Minuten später. Das Licht des Mondes war inzwischen beinahe vollständig geschwunden und die dunkelste Stunde der Nacht zog herauf.
"Wir können hier nicht bleiben," murmelte Gimli. Lauter sagte er: "Nein, wir müssen so rasch es geht weiterziehen, zum Nûrnen-Pass... ohne diese armen Seelen hier. Wir werden es ohne ihre Hilfe versuchen müssen."
Aerien sah zu Karnuzîr hinüber, der ihrem Blick für einen Augenblick begegnete, eher er rasch in Narissas Richtung schaute. "Dann müssen wir also früher als gedacht auf unser Täuschungsmanöver zurückgreifen," stellte sie fest.
"Ja," stimmte Narissa zu. "Ich schätze, es wird Zeit für deinen Auftritt, Karnuzîr."
Sie riskierten noch eine halbe Stunde Rast in der verwüsteten Hütte, dann stahlen sie sich zurück zu der Lücke in der Palisade der Ansiedlung. Es gelang ihnen, den Blicken der Wächter auszuweichen und das Dorf ungesehen hinter sich zu lassen. Bald schon waren sie zurück auf den trostlosen Feldern Nûrns, wo sie sich schließlich ein Versteck in einem dornigen Gebüsch suchten, um tagsüber etwas Schlaf zu finden. Am nächsten Abend würden sie sich zum Pass, der nach Gorgoroth führte vorwagen. Dann würde sich zeigen, ob es Karnuzîr gelingen würde, Narissa, Gimli und insbesondere Aerien als seine Gefangenen auszugeben.
Narissa, Aerien, Gimli und Karnuzîr nach Gorgoroth
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