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Autor Thema: Die nördlichen Gipfel  (Gelesen 5266 mal)

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Die nördlichen Gipfel
« am: 1. Apr 2019, 17:21 »
Córiel, Jarbeorn und Durin aus Palisor


Zwei Tage kämpfte sich die kleine Gruppe nun schon durch die kargen Vorgebirge der Orocarni. Immer schwieriger wurde es für die Pferde, einen begehbaren Pfad zwischen den zerklüfteten, auffällig rötlichen Felsen hindurch zu finden und sicheren Schrittes voranzukommen. Am Abend des dritten Tages seit ihrem Aufbruch aus dem Dorf des Hwenti-Stammes entschieden sie schließlich, die Pferde freizulassen. Jarbeorn redete den Tieren gut zu und behauptete, nachdem er sie losgebunden hatte, dass sie klug genug wären, ihren Weg zurück zu den Elben Herions zu finden. Durin und Córiel bezweifelten diese Aussage zwar, doch der Beorninger ließ sich nicht umstimmen. Noch immer war Jarbeorn voller Abenteuerlust und sein Entdeckergeist hatte auch Durin angesteckt. Beiden schien die Bergluft wohl zu bekommen und ließ die Müdigkeit und die Strapazen der anstrengenden Reise scheinbar wirkungslos an ihnen abprallen.
Córiel hingegen war still und nachdenklich geworden, seitdem sie Vaicenya und Níthrar zurückgelassen hatten. Oft dachte sie zurück an den Beginn ihrer Reise, als sie die bedrohte Grenze Rohans im Auftrag des Herrn Faramir verlassen hatte und nach Dunland gegangen war. Damals hatte sie noch immer unter dem Fluch ihres heißen Blutes gestanden und immer wieder im Kampf die Kontrolle über sich verloren. Doch seitdem es Vaicenya gelungen war, Melvendës Erinnerungen zu erwecken, hatte sich alles geändert. Körperlich ging es Córiel nun besser, und der Kampf mit Lathiawen hatte gezeigt, dass sie ihre Reflexe und ihr Blut nun vollkommen im Griff hatte. Der Preis dafür war die emotionale Last, die die verloren geglaubten Erinnerungen nun mit sich brachten. Es verging kaum eine Stunde, in der sich Córiel nicht an Dinge aus ihrem früheren Leben vor Aufgang von Sonne und Mond erinnerte. Die meisten Bekanntschaften, die sie damals gehabt hatte, waren längst vergessen; verloren in den Nebeln der Zeit. Bis auf Tarasanë und Vaicenya war niemand mehr da, der sich noch an Melvende erinnerte. Córiel hingegen hatte viele Freunde, wenngleich keine dieser Freundschaften sonderlich tiefgründig war. Einzig und allein das Band, das sie mit Jarbeorn verbunden hatte, bildete die Ausnahme.
Werde ich jemals Frieden mit meinen Erinnerungen und meinem früheren Leben schließen können? Wird es jemals aufhören? fragte sie sich, während sie hinter Durin herstapfte, der im Augenblick die Spitze der Gruppe übernommen hatte und sie tiefer und tiefer ins Gebirge hinein führte. Córiel seufzte unhörbar und fasste dann, einige Schritte weiter den Entschluss, Melvendës Erinnerungen - ihre Lebensgeschichte - eines Tages zu Papier zu bringen. Vielleicht wird es mich nicht länger so quälen, wenn ich aufschreibe, was geschehen ist. Auch wenn ich nicht glaube, dass irgend jemand so ein Buch gerne lesen würde. Es wäre so... so voller Leid und Schatten...

Sie schlugen ihr Lager für die Nacht unter einer großen, vorstehenden Felsplatte auf, die hoch genug aufragte, dass selbst Jarbeorn aufrecht darunter stehen konnte. Die Nische, in der sie ein kleines Feuer in Gang brachten, war einigermaßen windgeschützt. Jarbeorn hatte auf dem Weg hierher ein Wildschwein erlegt und bereitete das Fleisch fachmännisch zu, sehr zu Durins Freude und Erstaunen.
"Ich dachte immer, ihr Beorninger würdet nichts als Milch und Honig zu euch nehmen," sagte er, während er begierig in die Flammen starrte, über denen sich das Abendessen langsam drehte.
"Mein Großvater hielt es so," antwortete Jarbeorn lächelnd. "Doch selbst er ließ sich hin und wieder dazu hinreißen, sich nach einem Pelzwechsel an den Tieren des Anduin-Tales gütlich zu tun. Ihr dürft nicht vergessen, dass Bären zwar Honig lieben, doch im Normalfall sind sie Fleischfresser."
"So ist das also," brummte Durin. "Da bin ich froh, dass du dein Fleisch dennoch lieber gebraten anstatt roh hast."
Jarbeorn lachte. "Die Geschmäcker von Mensch und Bär sind nun einmal verschieden," sagte er mit einem Augenzwinkern.
Selbst Córiel musste zugeben, dass der Braten hervorragend schmeckte. Sie aß schweigend und lauschte Jarbeorn, der von einem seiner ersten Jadgstreifzüge durch seine Heimat erzählte. Während die Hochelbin zuhörte, ging ihr Blick zum klaren Himmel hinauf, der jenseits des Randes der Felsplatte zu sehen war. Die Sterne lagen dort oben ausgestreut wie Sand auf schwarzem Fels. Im Süden blinkte ein besonders heller Lichtpunkt mit bläulichen Strahlen auf und erinnerte Córiel daran, dass hier, im tiefen Osten Mittelerdes, ein völlig anderer Nachthimmel als im Westen zu sehen war. Selbst in den Erinnerungen Melvendës war kein Sternbild zu finden, das Córiel in den Lüften über sich wiederekannte. Sie nahm sich vor, während ihrer Wachschicht in dieser Nacht die Sterne über den Orocarni eingehend zu studieren.

Während Durin und Jarbeorn die Reste des Abendessens beseitigten und dafür sorgten, dass das Feuer auf einen kleinen Haufen von Wärme spendender Glut zusammenschmolz, kletterte Córiel auf die Felsplatte hinauf, die über dem Lagerfeuer aufragte. Einen steilen Hang voller losem Geröll erklomm die Hochelbin mit einiger Anstrengung, um ihr Ziel zu erreichen und setzte sich dann direkt oberhalb ihrer Gefährten an die Kante des Felsens, die Beine herabbaumeln lassend. Als Jarbeorn sie bemerkte, lachte er und packte Córiels Fuß mit seiner breiten Hand, der kaum eine Armlänger über seinem Kopf herabhing. Gerade wollte der Beorninger den Mund öffnen - zweifellos um eine spöttische Bemerkung auf Kosten seiner Gefährtin zum Besten zu geben - doch da ergriff Córiel Jarbeorns Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen. Der Wind hatte etwas an ihre scharfen Elbenohren getragen. Etwas, das nicht in die Atmossphäre der nächtlichen Bergwelt passte.
"Was ist denn los?" fragte Durin - viel zu laut.
"Psst!" machte Córiel und ließ sich fallen. Lautlos kam sie neben Jarbeorn auf und stand sofort aufrecht da. Einen Bruchteil eines Augenblickes lauschte sie angestrengt, dann war sie sich sicher: sie hatte sich nicht getäuscht. Was sie gehört hatte, waren schwere Schritte, die rasch näher kamen.
Hastig bedeutete die Hochelbin ihren Gefährten, sich zu bewaffnen. Durin und Jarbeorn taten wie geheißen, während die Schritte nun deutlich hörbar heran kamen. Angestrengt starrten die drei Gefährten in die Dunkelheit hinein, die außerhalb des kleinen Lichtkreises der Feuerglut lag und warteten ab.
Zwischen den Felsen zu ihrer Linken, aus dem Gebirge herab kommend, tauchten mehrere helle Punkte auf, die schnell näher kamen. Sie stammten von Lampen, die in behandschuhten Händen getragen wurden. Ehe die drei Wanderer es sich versahen, waren sie von einer Gruppe Fremdlinge umstellt. Die Neuankömmlinge waren im trüben Licht ihrer Laternen nur undeutlich zu sehen, doch sie waren so groß wie Córiel und Jarbeorn und trugen weite, pelzbesetzte Mäntel in verschiedenen dunklen Farben und dazu passende, dicke Stiefel und Handschuhe. Die meisten hatten Pelzmützen auf den Köpfen, doch der, der ihr Anführer zu sein schien, war barhäuptig. Als er vortrat und seine Lampe hob, um ihnen ins Gesicht zu leuchten, erkannte Córiel, dass es sich um einen Menschen mit ordentlich gepflegtem, braunem Bart handelte.
"Dies also ist die Quelle des ungewöhnlichen Lichtes," sagte der Mann - mehr neugierig als feindselig klingend. Doch dann verengten sich seine Augen und er sah Córiel genau ins Gesicht, als er fortfuhr: "Was treiben ein Elb, ein Mensch und ein Zwerg hier am nördlichen Pass? Noch dazu in fremdartiger Aufmachung und voller Missachtung der Gefahren dieses Gebirges? Wer seid ihr? Sprecht schnell!"
Córiel spürte, wie Durin sich neben ihr regte - zweifellos verärgert darüber, nach dem Namen gefragt zu werden, ohne dass sich der Fremde ebenfalls vorgestellt hätte. Sie legte ihm sanft die Hand auf die Schulter, was ihr einen überraschten Blick des Zwerges einbrachte. Ehe er etwas sagen konnte, ergriff Jarbeorn das Wort.
"Seid gegrüßt, Freunde. Ich bin Jarbeorn, Sohn des Grimbeorn, und dies sind meine Begleiter, Córiel von den Noldor und Durin, Sohn des Thorin. Von welchen Gefahren sprecht Ihr?"
Anstatt einer Antwort starrte der Fremde den Beorninger mehrere Augenblicke lang abschätzend an. Dann gab er einem seiner Begleiter ein Zeichen. Dieser trat mit einigen raschen Stiefeltritten das noch immer glühende Feuer aus.
"Was fällt Euch ein?" ereiferte Durin sich.
"Ihr solltet es doch am besten wissen, Zwerg," antwortete der Anführer der Fremden. "Es ist töricht, in dieser Gegend ein Feuer zu entfachen." Er deutete bedeutungsvoll nach oben, als würde diese Geste alles erklären. "Löscht die Lampen," wies er seine Leute an. Córiel stellte überrascht fest, dass der Mann für diesen Befehl das Quenya verwendet hatte, und zwar in seiner urtümlichen Form, wie sie einst auch von den Tatyar in Cúivienen gesprochen worden war. "Wir finden auch ohne sie den Weg zurück zum Pass."
"Es gibt einen Pass in der Nähe?" sagte Córiel in derselben Sprache. Einzig das Licht der Sterne und des halbvollen Mondes beleuchtet nun das Gesicht des Fremden, als er nickte und zurück in die Gemeinsprache wechselte. "Wir haben ihn gerade überquert. Ihr seid wohl nicht von hier, wenn ihr ihn nicht kennt."
"Wir sind auf der Suche nach..." begann Jarbeorn, doch er sollte seinen Satz niemals beenden. Von Süden drang ohne Vorwarnung ein fernes Brausen an ihrer aller Ohren, das in ein dröhnendes Gebrüll überging. Mehrere Sekunden hielt der ohrenbetäubende Laut an, der beide Gruppen erstarren ließ. Wie auf ein geheimes Zeichen hin drängten sie sich hastig unter der Felsplatte zusammen, wo gerade genug Platz für sieben Menschen, einen Zwerg und eine Elbin zu sein schien. Córiel, die ganz am Rand kauerte, spähte vorsichtig hervor und suchte die Umgebung nach der Quelle des Brüllens ab. Drei Herzschläge vergingen, bis ihre Ohren erneut ein Brausen wie von starken Windstößen hoch über ihr auffingen. Ein gewaltiger Schatten zog am Mond vorbei und verdunkelte das Sternenlicht. Ehe Córiel weiter hinsehen konnte, packte eine Hand sie an der Schulter und riss sie zurück in den Schutz der Felsspalte, wo sich alle dicht an dicht zusammenkauerten. So still wie möglich harrten sie dort aus - zehn Sekunden, dann zwanzig, dann dreißig - bis mit einem Schlag selbst das wenige Licht, das zu ihnen drang, für einen Moment verlosch und es stockfinster wurde. Etwas sehr Großes donnerte direkt über sie hinweg. Niemand wagte sich zu bewegen oder gar zu atmen. Erneut erklang das Gebrüll, diesmal kürzer und etwas weniger laut, dann verlang das Rauschen langsam. Was auch immer dort draußen gewesen war, war abgedreht und hatte sich gen Süden entfernt.

Mehrere lange Minuten vergingen, ehe sie sich aus ihrem Versteck hervor wagten. Die Menschen blickten verstört drein, bis auf den Anführer. Er schien der einzige zu sein, der eine solche Situation bereits erlebt hatte.
"Was... was war das denn?" stieß Durin schockiert hervor.
"Das," antwortete der Anführer der Fremden, "war der wahre Herr der Orocarni."
"Der Ilcalocë," hauchte Córiel kaum hörbar.
"So nennen ihn die Avari," erwiderte der Mann. "Ihr habt also bereits von ihm gehört."
"Wir wissen kaum etwas. Nichts als Schauermärchen," sagte Jarbeorn.
"Dann ist es nicht an mir, euch mehr zu erzählen. Ihr habt großes Glück gehabt, dass ihr uns getroffen habt, ehe er euer Feuer bemerkt hat." Der Mann deutete eine sonderbar förmliche Verbeugung an. "Ich bin Ûmarhil von Abârzâin. Hätte der Lodernde euch verschlungen, wäre er auch uns schon bald auf die Fährte gekommen. Deshalb verließen wir den Pass, als wir das Leuchten Eurer Glut sahen."
"Wir sind Euch dankbar, Ûmarhil," sagte Córiel. "Wir sind fremd in diesen Landen."
"Ihr seid bei der Überquerung des Passes nicht zufällig an den Hallen der Zwerge der Orocarni vorbeigekommen?" fragte Durin, der noch immer etwas mürrisch drein blickte.
"Also sucht Ihr nach den Vätern der Berge?" Ûmarhil nickte verstehend. "Ihr Anblick ist dieser Tage rar geworden. Einst gab es viele von ihnen in den Orocarni, wie die Aufzeichnungen meines Volkes sagen. Vier große Städte und unzählige kleinere Minen, Bergwerke, Vorposten und Hallen soll es unter den Gipfeln der Rotberge gegeben haben. Wieviele davon übrig sind, kann ich nicht sagen. Wir stammen nicht von hier, sondern aus dem Süden Palisors."
"Dennoch habt ihr das Gebirge oft genug durchquert, um diesen Ort hier zu kennen. Den nördlichen Pass nanntet ihr ihn, nicht wahr?" hakte Córiel nach.
"Gut aufgepasst," sagte Ûmarhil anerkennend. Seine Leute suchten derweil ihre Sachen zusammen und machten sich wieder aufbruchsfertig. Die Hochelbin bedeutete Durin und Jarbeorn rasch, dasselbe zu tun. "Ich habe das Gebirge mehrere Male überquert, um in die jenseitigen Lande an der Küste zu gelangen. Wir jagen dort nach den weißen Hirschen, die die unberührte Wildnis zwischen Meer und Berg durchstreifen. Auf den Märkten von Abârzâin werden diese Trophäen in Gold aufgewogen."
Córiel nickte. "Wir müssen die Zwerge dringend finden," sagte sie mit Nachdruck. "Kennt Ihr vielleicht jemanden, der sich im Gebirge besser auskennt?"
"Es gab einst einen Handelsposten, etwas nördlich von hier. Auf halber Höhe des Passes ist eine Abzweigung, die euch dorthin führen wird. Vielleicht findet ihr dort eine Spur der alten Bergväter. Aber passt auf, dass ihr nicht zu nahe an den Eisernen Schlund kommt. Von dort geht vieles des Übels aus, das diese Lande seit einigen Jahren plagt."
"Wir werden uns vorsehen. Habt erneut Dank, Ûmarhil," sagte Córiel.
"Ich wünsche euch viel Erfolg bei Eurer Suche. Wenn ihr jemals nach Abârzâin kommt, besucht mich doch und erzählt mir von euren Erlebnissen."
Córiel wunderte sich über die plötzliche Freundlichkeit des Mannes. Dennoch nickte sie und schüttelte Ûmarhils Hand. Dann nahm sie ihr Gepäck auf und schloss sich dem Rest der Gruppe an, die nun auf den Pass zurückkehrten.
Dort angekommen riet Ûmarhil ihnen, noch einige Meilen zu gehen, ehe sie sich schlafen legten. Dann sagte er ihnen Lebewohl und wandte sich mit seinen Begleitern nach Südwesten, wo der Pfad, der hier aus dem Gebirge hinab kam, auf die Ebenen Palisors hinaus führte. Jarbeorn und Durin schulterte ihre Rucksäcke und marschierten los, den Passweg hinauf nach Osten, und nach kurzem Zögern folgte Córiel ihnen.
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Ein verbotener Ort
« Antwort #1 am: 6. Mai 2019, 16:37 »
Je tiefer sie in das Gebirge vordrangen, desto kälter wurde es. Schon bald froren sie trotz der pelzbesetzten Umhänge, die sie trugen und sprachen kaum ein Wort miteinander. Selbst Jarbeorn war sehr einsilbig in jenen Tagen und schien eigenen Gedanken nachzuhängen. Mehr als alles andere löste dies in Córiel Sorge aus. Den Beorninger so zu sehen nahm sie mehr mit, als sie zugeben wollte.
Córiel beschloss, ihre Sorge in Vorsicht umzuwandeln und begann, sich mehr auf ihre Umgebung zu konzentrieren. Sie waren dem Pfad, den Ûmarhil ihnen gezeigt hatte, nach Nordosten in den Nordteil der Orocarni hinein gefolgt, bis sie nach einem Tag an die Kreuzung gelangt waren, die sie gesucht hatten. Hier zweigte eine verfallene Straße direkt nach Norden ab, die wohl einst ordentlich gepflastert gewesen sein musste, inzwischen jedoch von Geröll und abgebrochenen Felsen übersät war. Der Hauptweg über den Pass bog geradewegs nach Osten hin ab und gewährte ihnen, zwischen den schneebedeckten Gipfeln hervorlugend, weit in der Ferne einen Blick auf ein grünes Land. Und jenseits davon erhaschte Córiel einen Anflug vom tiefem Blau, den ihre scharfen Augen als das Blau des Ostmeeres identifizierten. Wie gerne wäre sie diesem Weg gefolgt, bis sie an den Gestaden jener fremden See stand, um die unbekannten Wasser zu betrachten. Sie sehnte sich danach, an Bord ihres Schiffes zu sein und die Wellen zu befahren, mit dem Wind im Rücken und der feuchten Meeresluft im Gesicht. Doch stattdessen zog die Reisegruppe nun nach Norden. Einer nach dem anderen wandten sie sich stumm von dem fernen Ausblick ab: Mensch, Zwerg, und Elb.

Die Landschaft, die sie umgab, veränderte sich kaum. Das markante rötliche Gestein der Orocarni unterschied das Gebirge von den Höhenzügen des Nebelgebirges im Westen, doch auch hier schien immerwährender Winter zu herrschen. Es war bitterkalt. Schnee und Eis bedeckten alle Oberflächen, doch dort, wo Schluchten und Abgründe steil abfielen, stachen die roten Felsen allzu deutlich hervor. Es war zu kalt um zu rasten, wie sie fanden, deshalb hielten sie nur an, wenn es Nacht geworden war. Aus Furcht davor, von der Bestie erneut entdeckt zu werden, achteten sie genaustens darauf, weder Feuer noch Licht zu entfachen. So bestanden ihre Mahlzeiten nur aus rohen oder trockenen Rationen, deren Geschmack selbst für die genügsame Córiel zu wünschen übrig ließ.
Da der Pfad nach Norden langsam, aber stetig anstieg, waren sie schon bald so hoch gekommen, dass selbst die standhaftesten Pflanzen jenseits der Schneegrenze zurückblieben. Sie reisten seit der Abzweigung durch ein sich schier endlos nach Norden hinziehendes, breites Tal im Zentrum der Orocarni, das von gewaltigen, zerklüfteten Gipfeln umringt war. Da hier nichts wuchs, gab es außer Felsen, Eis und Schnee nichts zu sehen, was der Stimmung der drei Gefährten ebensowenig zuträglich war wie die ständige Gefahr, die wie ein Schatten über ihnen schwebte. Durin und Jarbeorn wechselten sich damit ab, die Führung zu übernehmen. Da sie trotz der Strapazen noch vergleichweise ausgeruht waren, kamen sie zwar gut voran, doch die drei Tage, die sie auf der Reise durch das Herz des Gebirges verbrachten, behielt Córiel später nicht sonderlich gut in Erinnerung. Nichts regte sich um sie herum. Und dennoch hielten sie alle den Atem an. Die Spannung lag wie ein schweres Gewicht auf ihnen und begleitete sie auf jedem Schritt, den sie taten.

Am vierten Tag endlich geschah etwas, das ihre Situation veränderte. Das Tal, dem sie noch immer aufwärts folgten, begann, sich um einige Grad nach Westen zu neigen und sie folgten dem Pfad nun in einer langgezogenen Kurve nach links. Als sie um einen vorspringenden Felsen herum kamen, erspähten sie an der westlichen Bergflanke einen großen Gebäudekomplex, der von eindeutig zwergischer Bauart war. Das brachte Bewegung in die Gruppe. Durin eilte mit neuem Elan los, auf die von einer ebenso rötlichen Mauer wie das sie umgebene Gestein umringte Ansiedlung zu. Die Straße war hier in einem etwas besseren Zustand und so dauerte es nur wenige Minuten, bis sie vor den Toren ihres Ziels standen.
"Das muss der Handelsposten der Zwerge der Orocarni sein, den Ûmarhil erwähnt hat," sagte Durin. "Dann wollen wir doch gleich mal sehen, ob jemand zu Hause ist."
Er stapfte auf das eisenbeschlagene Tor zu und hob die Hand, um gegen die schweren Torflügel zu drücken. In dem Augenblick, als die Handfläche des Zwerges das Holz berührte, geschahen mehrere Dinge gleichzeitig.
Córiel, die Durin gemeinsam mit Jarbeorn rasch gefolgt war, blickte auf und sah erschrocken, wie dicke Rauchwolken über den zwergischen Mauern aufstiegen. Jarbeorn zog seine Axt, als zur gleichen Zeit ein gedämpfter Schrei durch das Tor drang. Durin sprang überrascht zurück, als der Torflügel, den er berührt hatte, nach außen hin aufschwang und ein halbes Dutzend schwer bewaffnete Orks heraus stürmten.
Beide Seiten waren von der Situation vollkommen überrumpelt worden. Die Orks fauchten überrascht, doch es war die Hochelbin, die am schnellsten reagierte. In einer flüssigen Bewegung riss sie ihren Bogen vom Rücken, legte einen Pfeil auf die Sehne und schoss ihn aus nächster Nähe zwischen die Augen des vordersten Orks.
Der Beorninger ließ seine Axt im hohem Bogen auf einen zweiten Feind niedergehen. Schwarzes Blut spritzte über den Schnee und das Zwergentor. Die überlebenden Feinde wichen zurück, doch sie hatten den Zwerg übersehen. Durins Hammer zertrümmerte mehrere Knie und ließ die verbliebenen Orks kreischend zu Boden gehen. Rasch setzten die drei Gefährten ihrem Leben ein Ende.
Durin nickte seinen Begleitern zu; eine stumme Aufforderung, ihm zu folgen. Mit gezogenen Waffen durchquerten sie das Tor und kamen in einen großen Hof. Teilweise zerstörte Gebäude standen an der Rückseite der Mauern und ließen dünne Rauchschwaden in die Luft aufsteigen, welche schon bald an der steilen Felswand des Gebirges über ihnen hängen blieben. Geradeaus führten breite Treppenstufen zum Hauptgebäude des Handelspostens, das direkt in die Felswand hineingeschlagen war. Der gemauerte Boden des Hofes war übersät von Leichen - zu ihrem Entsetzen waren darunter neben unzähligen Orks auch viele Zwerge.
"Dafür werden sie bezahlen," murmelte Durin, ehe er mit einem zwergischen Fluch auf den Lippen die Treppen hinauf stürmte. Die Eingangstür des Handelspostens stand offen und seine Wächter lagen erschlagen zu beiden Seiten davon. Im Inneren folgten Córiel und Jarbeorn dem Zwerg durch enge, blutverschmierte Gänge und fragten sich, ob Durin wohl wusste, wohin er sie führte oder ob er einfach der Spur der Erschlagenen folgte. Hin und wieder stießen sie auf vereinzelte Orks, die das Gebäude offenbar nach Plunder durchsuchten. Keiner war in der Lage, gegen Durins Zorn zu bestehen. Und so kamen sie schließlich in einen großen Raum, der zwar mehrere Fenster besaß, doch nicht vom Licht des Tages erhellt wurde. Stattdessen waren die Fenster, die allesamt auf der Rückseite des Raumes lagen, nach unten geneigt und das Licht, das durch sie hindurchdrang, entstammte gewaltigen, fahl schimmernden Kristallen, die in den Tiefen des Gebirges jenseits des Handelspostens in einer riesigen Höhle wuchsen.
Córiel vergaß bei diesem Anblick beinahe die Lage, in der sie sich befand. Sie fühlte sich, als hätte man sie auf den Kopf gestellt. Sie waren hinter Durin her tiefer und tiefer in die Gewölbe des zwergischen Handelspostens hinab gestiegen, doch nun schienen sie sich in großer Höhe oberhalb der fremdartigen Kristallhöhle zu befinden. Ein rascher Seitenblick auf Jarbeorn zeigte Córiel, dass es dem Beorninger ganz ähnlich wie ihr ging.
Durin hingegen hatte sich rasch an das ungewohnte Licht gewöhnt und erspähte drei Orks, die sich in einem der Winkel des Raumes verborgen hatten. Mit stummem Zorn stürzte sich der Zwerg in den Kampf. Als er kurz darauf schwer atmend zur Ruhe kam und seinen Hammer sinken ließ, legte sich eine klamme Stille über den Handelsposten.

Ein beinahe unhörbares Geräusch hinter ihr ließ Córiels Ohren zucken und sie fuhr herum, den Bogen in der Hand. Ein grelles Licht flammte ohne Vorwarnung vor ihr auf und sie hob die Hand, um ihre Augen zu schützen. Durin und Jarbeorn taten es ihr gleich.
"Das sind keine Orks," sagte eine Stimme.
"Nicht im Geringsten," antwortete eine zweite. "Und man kann nicht behaupten, dass sie mit dieser Brut im Bunde stehen. Seht doch, da ist schwarzes Blut an ihren Klingen."
Das grelle Licht wurde etwas erträglicher und Córiel konnte die Sprecher erkennen. Es waren Zwerge, daran bestand kein Zweifel, doch ihre Rüstung glichen keiner, die Córiel zuvor gesehen hatte. Hunderte ineinander greifende Plättchen aus einem gelblichen Metall formten Brustpanzer, Arm- und Beinschienen sowie Schulterpolster und Helme, und auch die großen Schilde, die die fremden Zwerge trugen, bestanden aus ähnlichem Material. Die Bärte, die unter den mit Gesichtsmasken versehenen Helmen hervorlugten, waren kürzer als jene, die die Hochelbin beim Volke Erebors in Erinnerung hatte.
"Nun, dann befinden wir uns in einer schwierigen Situation," sagte der erste Zwerg. Er trug einen wallenden, roten Umhang und hielt ein schwarzes Horn in der Hand.
"Ganz recht," antwortete einer seiner Begleiter. "Als Feinde der Orks verdienen sie unseren Dank. Und doch... sind unsere Gesetze diesen Ort betreffend eindeutig."
"Wovon sprecht Ihr?" wagte Durin zu fragen.
Die fremden Zwerge gingen nicht darauf ein. "Nehmt ihnen die Waffen ab," befahl der Anführer mit dem roten Umhang. Mehr und mehr Zwerge strömten in den Raum und hatten die drei Gefährten rasch umzingelt.
Durin stellte sich vor Córiel und Jarbeorn. "Ich bin Durin, Sohn des Thorin, dem König unter dem Berge. Wir sind keine Feinde eures Volkes!"
Das zeigte tatsächlich Wirkung. Die Krieger blieben stehen. Die Stimme ihres Anführers erklang nach einer Pause erneut: "Einst bestanden freundschaftliche Beziehungen zwischen unserem Volk und den Zwergen Erebors. Wenn Ihr also wirklich der Sohn des Königs unter dem Berge seid, können wir dies nicht leichtfertig abtun. Legt die Waffen nieder, und wir werden euch gestatten, mit dem Bergvater zu sprechen, ohne euch für euer Vergehen hinzurichten."
"Welches Vergehen?" fragte Córiel atemlos.
Der Anführer der Zwerge deutete an ihr vorbei durch die Fenster hindurch, auf das fahle Kristallschimmern. "Diesen Ort zu betreten und jenen Anblick zu betrachten ist für uns ein Frevel, der nur mit dem Tode bestraft werden kann. Wir werden sehen, ob dies euer Schicksal sein wird..."
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Der Herr der Kristallhalle
« Antwort #2 am: 11. Jun 2019, 15:12 »
Die Zwerge entwaffneten die drei Gefährten und nahmen sie in ihre Mitte. Zunächst stiegen sie einige der Stufen innerhalb des Handelspostens wieder hinauf, wobei Córiel auffiel, dass andere Zwerge bereits damit begonnen hatten, die Leichen und das verschmierte Blut zu entfernen. Schließlich kamen sie in einen größeren Raum, in dessen Mitte eine stählerne Plattform an einer großen Kranvorrichtung hing. Ein Dutzend Zwerge passte samt ihren Gefangenen darauf, und als alle ihren Platz gefunden hatten, betätigte jemand einen der großen Hebel, die sich neben dem Kran befanden, und zu Córiels Überraschung begann die Plattform sich in den steinernen Boden abzusenken. Schon bald erhellten nur noch die Kristalllampen der Zwerge auf der Plattform den finsteren Schacht, den sie nun hinab fuhren. Gesprochen wurde dabei nur wenig. Nur hin und wieder raunte ein Zwerg ein einzelnes Wort. Die Enge und Stille des Schachtes war für Córiel kaum auszuhalten. Sie war an die Weite des Meeres und das ständige Tosen von Wellen und Wind gewöhnt. Sie fühlte sich, als hätte man sie bei lebendigem Leibe eingesargt.

Endlich kam die Plattform mit einem dröhnenden Knirschen zum Stillstand. Ein Durchgang öffnete sich vor der Gruppe, und die Zwerge strömten hindurch, ihre Gefangenden mit sich schiebend. Sie gelangten in einen von weiteren Kristallampen erhellten, breiten Gang, der mit einem roten, reich mit Runen und anderen Symbolen verzierten Teppich ausgelegt war. Schwer gerüstete Zwergenwächter standen in regelmäßigen Abständen aufgereiht und hielten lange Hellebarden in den Händen, ohne sich zu rühren. Der Gang mündete schließlich in einen großen Thronsaal, in der zu beiden Seiten nahe den Seitenwänden große Feuer brannten. Von der Decke hingen Kronleuchter mit blinkenden Kristallen, und der Thron selbst ruhte an der Spitze von zwölf breiten Stufen auf einem Podest, dessen Rückseite an eine mit Malereien übersäte Felswand stieß. Auf dem Thron saß ein grauhaariger Zwerg in einem königlichen Gewand. Er trug einen roten Umhang und sein Bart war von ähnlicher kurzer Länge wie die Gesichtshaaarpracht seiner Untertanen.
Einer der Zwerge, die Córiel und ihre Gefährten in den Saal gebracht hatte, löste sich aus der Gruppe und schritt mit betonter Ehrfurcht die Stufen hinauf. Vor dem Thron kniete er nieder und verharrte eine volle Minute mit gebeugtem Haupt dort. Niemand sprach dabei ein Wort und ein unheilvolles Schweigen senkte sich über den Thronsaal. Auf dem Podest des Königs standen dessen Berater rings um ihren Herrscher und zu seiner Rechten saß ein Zwerg in voller Rüstung auf einem schlichten steinernen Hocker.
Córiel hatte in all ihren Jahren nur die Hallen der Zwerge in den Ered Luin besucht, und selbst dort hatte sie nur die Eingangshalle gesehen, welche noch vom Tageslicht erhellt gewesen war. Sich nun so tief unter der Erde zu befinden und gewaltige Massen von Gestein über ihrem Kopf zu wissen gab ihr ein ständiges Gefühl von Unwohlsein und Angespanntheit. Die Feindseligkeit der Zwerge fürchtete sie nicht - immerhin hatten Córiel, Jarbeorn und Durin gegen die Orks gekämpft, und von einem verbotenen Ort unterhalb des Handelspostens hatten sie nichts gewusst oder auch nur geahnt, welche Gesetze die Zwerge der Orocarni hatten. Was, wenn die Erde bebt und uns die Decke auf den Kopf fällt? dachte die Hochelbin und blickte nervös zu den Kristallen über ihrem Kopf hinauf. Da regte sich der kniende Zwerg vor dem Thron und zog Córiels Aufmerksamkeit wieder auf sich.

Der Zwerg trat links neben den Thron und sprach leise zu seinem Herrn. Trotz der Stille in der Halle konnte Córiel kein Wort verstehen. Der Zwergenherrscher musterte die Gruppe eindringlich, während sein Untertan weitersprach. Dann hob er die Hand, und Córiel konnte sehen, dass viele reich verzierte Ringe an seinen Fingern steckten.
"Durin, Sohn des Thorin," sprach der Zwergenherrscher, und mit einem Mal hallte seine Stimme laut von den Wänden wider. "Tritt vor."
Durin beeilte sich, der Aufforderung nachzukommen. Er schritt die Stufen hinauf und wollte schon die kniende Geste nachahmen, doch der Zwerg auf dem Thron rief: "Halt! Stehe aufrecht und sieh mir in die Augen, damit ich sehen kann, ob du wahrhaftig der Linie des Unsterblichen entstammst."
Der Herr der Halle richtete sich auf seinem Thron auf und betrachtete den jungen Durin mit stechendem Blick. Dann streckte er die rechte Hand zur Seite hin aus. Einer seiner Berater trat vor und legte ein dünnes Stück Stoff darauf. Der Zwergenherrscher hob es ins Licht und verglich das, was darauf zu sehen war, mit Durins Gesicht. Dann nickte er langsam, was Getuschel in der gesamten Halle auslöste.
Der Zwerg auf dem Thron hob die Hand, und das Gemurmel erstarb. "Ich bin Garik, Sohn des Horik, Bergvater der Nördlichen Gipfel und Herr der Kristallwacht. Und ich sage, du hast wahr gesprochen, Durin von den Langbärten Erebors. Also knie nicht vor mir, denn du stehst nicht unter meinem Befehl, so wie es alle anderen Zwerge hier tun. Zolle mir deinen Respekt, indem du dich und deine Taten erklärst. Was führt dich hierher, in mein Reich, und wie kamst du dazu, die Verbotene Grotte zu erblicken, worauf nach dem Gesetz unseres Volkes der Tod steht?"
Córiel sah, wie Durin schlucken musste. Doch dann schien der junge Zwerg seinen Mut zu finden und er sagte: "Großer Bergvater, es war weder meine noch die Absicht meiner Gefährten, Euer Heiligtum zu entweihen. Wir kamen zu Eurem Handelsposten und fanden dort eine Horde Orks vor, die wir erschlugen. Der Anblick der gefallenen Zwerge im Inneren der Mauern erfüllte mich mit Zorn, und ich stürmte durch die Gänge, um ihren Tod zu rächen. So kamen wir schließlich in den untersten Raum, wohin sich die letzten Orks geflüchtet hatten, und hieben diese Kreaturen nieder."
"Entspricht dies der Wahrheit, Hauptmann?" fragte Garik den Anführer der Zwergenkrieger, die Córiel, Jarbeorn und Durin in die Halle gebracht hatten.
"So scheint es, Bergvater," antwortete dieser.
"Wir wussten nichts von Euren Gesetzen," fuhr Durin fort. "Doch nun, da ich die Schönheit der Kristallgrotte mit eigenen Augen gesehen habe, bin ich bereit, jegliche Strafe zu akzeptieren."
Wie bitte? dachte Córiel und hätte beinahe aufgeschrien. Er will das Todesurteil ohne Einspruch hinnehmen?
"Das ehrt dich, Durin, Sohn des Thorin," sagte Garik. "Doch für deinen Tod und den deiner Begleiter besteht kein Bedarf."
Empörtes Gerede erhob sich in der Halle, doch der Bergvater ballte die rechte Hand zur Faust und rief: "Dies ist mein Wort! Der Frevel sei diesen Dreien nicht anzurechnen, denn sie haben mit dem Blut der Orks, die sie erschlugen, damit bezahlt. Die Niedertracht des Hinterhaltes, der unsere Streitmacht noch immer am Eisernen Schlund im Norden festhält und unsere Handelsposten dem Feind preisgibt, darf niemals ungesühnt bleiben!"
Stille senkte sich wieder über die Halle. Dann erhob sich Garik von seinem Thron und bedeutete auch Córiel und Jarbeorn, die Stufen zu ihm hinauf zu erklimmen. Als die Hochelbin und der Beorninger die zweitoberste Stufe erreicht hatten, hielten die Wächter, die dort standen, sie mit ihren Hellebarden zurück. So befanden sie sich nun auf derselben Augenhöhe wie der Zwergenherrscher und Durin.
"Nennt eure Namen, und ich werde euch als Gäste ansehen," sagte Garik.
"Jarbeorn, Sohn des Grimbeorn werde ich genannt," sagte Jarbeorn und begegnete dem Blick des Bergvaters mit Respekt, aber auch mit einem Lächeln.
"Melvendë von den Tatyar," sagte Córiel. Ihr war noch immer etwas unbehaglich zumute, obwohl die Gefahr der Exekution durch wütende Zwerge vorerst gebannt zu sein schien.
"Sieh mal einer an," sagte Garik interessiert. "So hat also nun tatsächlich einer von euch die verborgene Stadt der Südlichen Gipfel verlassen, nach all den langen Jahrhunderten der Isolation? Wir haben lange nichts mehr von Nurthaenar oder dem Volk der Tatyar gehört. Nicht, seitdem sich der Schatten des Drachens von der Frostspitze herab auf das gesamte Gebirge gesenkt hat."
Córiel beschloss, das Missverständnis nicht sofort zu korrigieren. Sie wusste natürlich nichts von einer verborgenen Stadt namens Nurthaenar, doch sie hoffte, später noch einmal im kleineren Kreis mit dem Zwergenherrscher zu sprechen. Daher entgegnete sie nichts, und Garik schien seine Aufmerksamkeit auch bereits wieder auf Durin zu richten.
"Sage mir, junger Durin, wenn du nicht gekommen bist, um die Wunder meines Reiches zu sehen, was verschlägt dich dann hierher, zu solch schicksalhafter Stunde, und mit solch ungewöhnlichen Gefährten?"
"Ich kam, um wieder eine Verbindung zwischen dem Volk Erebors und den Zwergen der Orocarni herzustellen," erklärte Durin. "Der Einsame Berg ist von Ostlingen Rhûns erobert worden und nun herrscht der Schatten Mordors über die Hallen meiner Vorväter. Ich kam in der Hoffnung, willige Äxte zu finden um meine Heimat zurückzuerobern. Doch niemand von meinem Volk wollte mir glauben, dass die Zwerge des Ostens bis zum heutigen Tage überdauert haben. So kam ich allein, gegen den Willen meines Vaters und Königs. Unterwegs traf ich Jarbeorn und Có... Melvendë hier, die sich mir anschlossen, denn auch sie hegen den Wunsch, den Erebor zurück in die Hände der Zwerge zu bringen."
"Der Sitz der Langbärte, erobert von Ostlingen?" rief Garik entsetzt. "Welch Unglück! Oh, wärest du nur zu einer anderen Zeit gekommen, Sohn des Thorin! Ich hätte die vier Bergväter vereint und ein so gewaltiges Heer gen Westen geführt, wie es die Zwerge des Ostens seit den Tagen des großen Kriegs mit den Orks nicht gesehen haben. Doch wehe uns! Uns plagt ein ebenso schlimmes Übel wie der Schatten, der den Erebor überfiel. Er ist der Grund für die unzähligen Orks, die aus dem Eisernen Schlund quellen und die den Norden Palisors verheeren."
"Er? Von wem sprichst du?" fragte Jarbeorn. Córiel ahnte schon, was der Zwergenherrscher antworten würde...
"Rodhrukar, der Lodernde," wisperte Garik unheilvoll. "Ein gewaltiger Feuerdrache von Smaugs Sippe. Lange schon verharrte er tatenlos auf dem höchsten Gipfel der Frostspitze, den die Elben Ilmarës Wacht nennen. Dieser Lindwurm hegte kein Interesse an Gold oder Geschmeide der Erde, sondern an den Schätzen des fernen Himmels. Zu den Sternen hinauf ging stets sein Blick, und so blieb es für Jahrtausende. Doch nun hat ihn etwas aus seiner andächtigen Ruhe aufgeschreckt, und er hat die Frostspitze verlassen, und sucht unsere Länder heim. Ehe der Drache nicht erschlagen ist, wird keine Rache für den Fall Erebors möglich sein."
Garik schwieg, und die bedrückende Stille legte sich erneut über die Halle. Córiel atmete tief durch, um sich der Aufgabe klar zu werden, die sich ihnen hier zu stellen schien. Wenn Durins Mission zum Erfolg führen sollte, mussten sie einen Weg finden, um den Sternendrachen, den Ilcalocë aus den Legenden der Hwenti, zu töten...
« Letzte Änderung: 1. Jul 2019, 14:21 von Fine »
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Hinab in die Finsternis
« Antwort #3 am: 24. Jun 2019, 15:30 »
Man hatte ihnen eine kleine Unterkunft zugewiesen, die über einen der wenigen Lichtschächte verfügte, die in Bergflanke eingelassen waren. Córiel fühlte sich an den Raum in den Minen von Moria erinnert, der ganz ähnlich gestaltet gewesen war. Das Zimmer war spärlich eingerichtet - es gab vier einfache Betten in Menschengröße sowie einen kleinen Tisch und einige hölzerne Hocker.
Durin war beim Herrn der Kristallhalle geblieben, der ganz erpicht auf jegliche Neuigkeiten aus den Zwergenreichen im Westen gewesen war. Und da gab es viel zu erzählen, denn wie Córiel später von Durin erfuhr, war die letzte Nachricht von den Langbärten, die bis in die Orocarni gedrungen war, der Tod Smaugs und der Aufstieg Dáin Eisenfuß' zum König unter dem Berg gewesen. Es würde also einige Zeit dauern, bis der junge Zwerg zu seinen Gefährten zurückkehren würde.

Córiel legte sich auf eines der Betten und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Staub wurde dabei aufgewirbelt und die Hochelbin musste niesen.
"Ist wohl sehr lange niemand mehr hier gewesen," meinte Jarbeorn, der den Lichtschacht hinauf starrte und versuchte, ein Stück des Himmels dort oben zu erkennen.
"Gerüchten zufolge leben die Zwerge der Orocarni sehr isoliert und haben nur wenig Kontakt mit dem Rest der Bewohner Palisors, ob sie nun Elben oder Menschen sein mögen," mutmaßte Córiel. Sie staunte noch immer, wie sehr sich das Land ihres früheren Lebens verändert hatte. In den urzeitlichen Wäldern der Altvorderen Tage war das Volk der Elben mit seinen vielen verschiedenen Stämmen und Gemeinschaften als sprechende Wesen unter sich gewesen, doch heute lebten im Süden Palisors die unterschiedlichsten Menschen, im Gebirge hausten die Zwerge und aus den dunklen Winkeln des Landes krochen immer wieder Orks hervor, um allerlei Unheil über Wald und Berg zu bringen. Und doch glich der Wald, den Córiel seit ihrer Ankunft im Tal von Dalvarinan durchquert hatte, noch immer jenem mystischen Ort aus den uralten Erinnerungen Melvendës. Der Wald hatte sich nicht so sehr verändert, aber seine Bewohner dafür umso mehr.
"Warum hast du ihnen nicht deinen richtigen Namen genannt, Stikke?" wollte Jarbeorn wissen und riss Córiel damit aus ihren Gedanken.
"Die Noldor sind unter den Dunkelelben nur wenig beliebt, und wenn selbst unser eigenes Volk eine Abneigung gegen uns hat, wie sieht es dann erst mit den Zwergen aus? Vaicenya sagte mir, dass noch einige wenige verstreute Tatyar in den Wäldern des südlichen Palisor leben, und deshalb glaube ich, dass die Zwerge vielleicht mit jener Gruppe vertrauter sein würden als mit den berüchtigten Noldor. Und war es wirklich eine Lüge? Ich... verstehe noch nicht so recht, wie all das überhaupt möglich war, aber... ich weiß, dass es wahr ist: einst war ich Melvendë von den Tatyar. Und wieso sollte ich es nicht wieder sein?"
"Hmm," brummte Jarbeorn. "Das ist mir ein wenig zu kompliziert, Stikke. Unsterbliche Elben, die auch wenn sie erschlagen werden nicht tot bleiben... Da warst du mir fast lieber, als du noch die gute alte kämpferische, aber unvorsichtige Stikke warst."
Córiel musste lächeln. "Damals war alles einfacher," sagte sie leise. "Und doch bin ich froh, nun die Wahrheit zu kennen." Sie setzte sich im Bett auf und suchte Jarbeorns Blick. "Bereust du es, Jarbeorn?"
"Wie, was soll ich bereuen?" fragte der Beorninger und rieb sich verwundert den Hinterkopf.
"Dass du mir damals gefolgt bist, als ich Rohan ohne dich verlassen wollte. Und dass du dich von Bruchtal aus aufgemacht hast, um mich zu befreien."
Jarbeorn trat neben das Bett und legte seine große Hand auf Córiels Kopf. "Ich würde dir überallhin folgen, Stikke. Denn wenn ich eines gelernt habe, dann dass es mit dir niemals langweilig wird." Er nahm die Hand weg und machte eine ausholende Geste. "Sieh dich doch nur um! Wir sind im Herzen eines im Westen nahezu vollkommen unbekannten Zwergenreiches und bereiten uns darauf vor, einen echten Drachen zu erschlagen. Wir haben mehrere Elbenreiche betreten und sind Zeugen der Macht der Zauberer geworden. Wälder und Gebirge haben wir überquert und viele Kämpfe bestritten. Und wir sind immer noch hier, am Leben, und bei gesundem Verstand. Wer weiß, wohin uns unser nächstes Abenteuer führen wird?"
Córiel fand einen ungeahnten Trost in Jarbeorns Worten. "Das waren jetzt aber viele Worte auf einmal für dich, Schwarzpelz," scherzte sie. "So wortgewandt kenne ich dich ja gar nicht."
"Du wärest überrascht, was noch so alles in mir steckt," hielt er grinsend dagegen.

Es vergingen einige Stunden, in denen sowohl Córiel als auch Jarbeorn etwas Schlaf fanden. Geweckt wurden sie schließlich von Durin, der in Begleitung mehrerer Zwergenwachen in den Raum kam.
"Wie könnt ihr zu einer solchen Zeit nur schlafen?" wunderte sich der junge Zwerg. "Es geht dem Drachen an den Kragen, und ihr macht ein Nickerchen?"
"Sagtest du, es geht dem Drachen an den Kragen?" fragte Jarbeorn, der noch etwas verschlafen ins Licht der tragbaren Kristalllampen blinzelte.
"O ja, mein Freund," sagte Durin und rieb sich die Hände. "Es hat sich eine Gelegenheit ergeben, die viel zu gut ist, um sie ungenutzt verstreichen zu lassen."
"Wovon sprichst du, Durin?" wollte Córiel wissen.
"Noch während ich mit Garik, dem Hern der Kristallhalle sprach, brachten Kundschafter die Nachricht, dass der Drache gesichtet worden war, wie er in Richtung der Frostspitze flog. Vermutlich hat er für eine Weile genug davon, im Gebirge Angst und Schrecken zu verbreiten und widmet sich dem Studium der Sterne, wie es der Legende nach stets seine Art gewesen war. Die Zwerge von Khizrikul, der Stadt die nur wenige Meilen entfernt von der Frostspitze liegt, haben damit begonnen, dem Drachen auf der Bergspitze eine Falle zu stellen, nachdem er zu seinem neusten Raubzug aufgebrochen ist."
"Eine Falle?" wiederholte Jarbeorn zweifelnd. "Ist so etwas überhaupt möglich?"
"Viele Male schlugen unsere Versuch fehl, gegen den Drachen vorzugehen," ergriff nun Garik persönlich das Wort, der inmitten seiner Wächter aufgetaucht war. "Doch dieses Mal habe ich ein gutes Gefühl. Wenn wir schnell zuschlagen, und uns das Glück gewogen ist, können wir uns dieser lästigen Echse entledigen."
"Wie lautet Euer Plan, wenn die Frage gestattet ist?" fragte Córiel, während sie ihre Habseligkeiten zusammensuchte und sich zum Aufbruch bereit machte.
"Die Frage ist gestattet," antwortete der Herr der Kristallhalle. "Aber anstatt langer Erklärungen ist es einfacher, wenn ich es euch zeige. Kommt! Wir werden rasch zur Frostspitze aufbrechen."

Es stellte sich schon bald heraus, dass die Zwerge keineswegs vorhatten, an die Oberfläche des Gebirges zurückzukehren. Stattdessen würden ungefähr einhundert Zwerge, angeführt von Garik selbst, einen direkten Weg nehmen: Ihr Pfad führte durch einen langen Tunnel, der sie auf gerader Straße bis zu den Wurzeln der Frostspitze bringen würde. Die Zwerge führten Teile einer kompliziert wirkenden Holzkonstruktion mit sich und die meisten von ihnen waren darüber hinaus schwer bewaffnet. Durin erhielt eine Rüstung aus Gariks persönlichem Besitz und kam Córiel nun viel mehr wie ein echter Zwergenprinz vor. Wenn der junge Zwerg den dazugehörigen Helm aufsetzte, verschwand sein Gesicht hinter einer grimmigen Kriegsmaske und verlieh ihm ein abschreckendes Äußeres.
Jarbeorn und Córiel hatten darauf verzichtet, zusätzliche Waffen von den Zwergen anzunehmen. Jedoch ließen sie nur zu gerne zu, dass man ihre Pelzmäntel gegen von Zwergen gefertigte Umhänge austauschte, die mehr Schutz gegen die Kälte boten. Denn obwohl sie sich tief unter der Erde befanden und Schnee und Eis fern waren, war es in dem finsteren Tunnel bitterkalt.
So zogen sie los, und die unterirdischen Tore der Zwergenstadt schlossen sich hinter ihnen. Kristalllampen leuchteten den Weg, der geradewegs nach Süden führte und vor ihnen in einem schier endlos wirkenden Tunnel verlief. Córiel versuchte nicht daran zu denken, wieviel Gestein sich inzwischen über ihren Köpfen befinden musste. Sie hoffte darauf, bald wieder ans Tageslicht zurückkehren zu können, was sie davon ablenkte, dass ihr eine direkte Konfrontation mit dem Drachen wohl nun schon viel früher bevorstand, als sie es sich vorgestellt hatte...


Córiel, Jarbeorn und Durin mit den Zwergen der Orocarni zur Frostspitze
« Letzte Änderung: 1. Jul 2019, 14:21 von Fine »
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