Córiel, Jarbeorn und Durin aus PalisorZwei Tage kämpfte sich die kleine Gruppe nun schon durch die kargen Vorgebirge der Orocarni. Immer schwieriger wurde es für die Pferde, einen begehbaren Pfad zwischen den zerklüfteten, auffällig rötlichen Felsen hindurch zu finden und sicheren Schrittes voranzukommen. Am Abend des dritten Tages seit ihrem Aufbruch aus dem Dorf des Hwenti-Stammes entschieden sie schließlich, die Pferde freizulassen. Jarbeorn redete den Tieren gut zu und behauptete, nachdem er sie losgebunden hatte, dass sie klug genug wären, ihren Weg zurück zu den Elben Herions zu finden. Durin und Córiel bezweifelten diese Aussage zwar, doch der Beorninger ließ sich nicht umstimmen. Noch immer war Jarbeorn voller Abenteuerlust und sein Entdeckergeist hatte auch Durin angesteckt. Beiden schien die Bergluft wohl zu bekommen und ließ die Müdigkeit und die Strapazen der anstrengenden Reise scheinbar wirkungslos an ihnen abprallen.
Córiel hingegen war still und nachdenklich geworden, seitdem sie Vaicenya und Níthrar zurückgelassen hatten. Oft dachte sie zurück an den Beginn ihrer Reise, als sie die bedrohte Grenze Rohans im Auftrag des Herrn Faramir verlassen hatte und nach Dunland gegangen war. Damals hatte sie noch immer unter dem Fluch ihres heißen Blutes gestanden und immer wieder im Kampf die Kontrolle über sich verloren. Doch seitdem es Vaicenya gelungen war, Melvendës Erinnerungen zu erwecken, hatte sich alles geändert. Körperlich ging es Córiel nun besser, und der Kampf mit Lathiawen hatte gezeigt, dass sie ihre Reflexe und ihr Blut nun vollkommen im Griff hatte. Der Preis dafür war die emotionale Last, die die verloren geglaubten Erinnerungen nun mit sich brachten. Es verging kaum eine Stunde, in der sich Córiel nicht an Dinge aus ihrem früheren Leben vor Aufgang von Sonne und Mond erinnerte. Die meisten Bekanntschaften, die sie damals gehabt hatte, waren längst vergessen; verloren in den Nebeln der Zeit. Bis auf Tarasanë und Vaicenya war niemand mehr da, der sich noch an Melvende erinnerte. Córiel hingegen hatte viele Freunde, wenngleich keine dieser Freundschaften sonderlich tiefgründig war. Einzig und allein das Band, das sie mit Jarbeorn verbunden hatte, bildete die Ausnahme.
Werde ich jemals Frieden mit meinen Erinnerungen und meinem früheren Leben schließen können? Wird es jemals aufhören? fragte sie sich, während sie hinter Durin herstapfte, der im Augenblick die Spitze der Gruppe übernommen hatte und sie tiefer und tiefer ins Gebirge hinein führte. Córiel seufzte unhörbar und fasste dann, einige Schritte weiter den Entschluss, Melvendës Erinnerungen - ihre Lebensgeschichte - eines Tages zu Papier zu bringen.
Vielleicht wird es mich nicht länger so quälen, wenn ich aufschreibe, was geschehen ist. Auch wenn ich nicht glaube, dass irgend jemand so ein Buch gerne lesen würde. Es wäre so... so voller Leid und Schatten...Sie schlugen ihr Lager für die Nacht unter einer großen, vorstehenden Felsplatte auf, die hoch genug aufragte, dass selbst Jarbeorn aufrecht darunter stehen konnte. Die Nische, in der sie ein kleines Feuer in Gang brachten, war einigermaßen windgeschützt. Jarbeorn hatte auf dem Weg hierher ein Wildschwein erlegt und bereitete das Fleisch fachmännisch zu, sehr zu Durins Freude und Erstaunen.
"Ich dachte immer, ihr Beorninger würdet nichts als Milch und Honig zu euch nehmen," sagte er, während er begierig in die Flammen starrte, über denen sich das Abendessen langsam drehte.
"Mein Großvater hielt es so," antwortete Jarbeorn lächelnd. "Doch selbst er ließ sich hin und wieder dazu hinreißen, sich nach einem Pelzwechsel an den Tieren des Anduin-Tales gütlich zu tun. Ihr dürft nicht vergessen, dass Bären zwar Honig lieben, doch im Normalfall sind sie Fleischfresser."
"So ist das also," brummte Durin. "Da bin ich froh, dass du dein Fleisch dennoch lieber gebraten anstatt roh hast."
Jarbeorn lachte. "Die Geschmäcker von Mensch und Bär sind nun einmal verschieden," sagte er mit einem Augenzwinkern.
Selbst Córiel musste zugeben, dass der Braten hervorragend schmeckte. Sie aß schweigend und lauschte Jarbeorn, der von einem seiner ersten Jadgstreifzüge durch seine Heimat erzählte. Während die Hochelbin zuhörte, ging ihr Blick zum klaren Himmel hinauf, der jenseits des Randes der Felsplatte zu sehen war. Die Sterne lagen dort oben ausgestreut wie Sand auf schwarzem Fels. Im Süden blinkte ein besonders heller Lichtpunkt mit bläulichen Strahlen auf und erinnerte Córiel daran, dass hier, im tiefen Osten Mittelerdes, ein völlig anderer Nachthimmel als im Westen zu sehen war. Selbst in den Erinnerungen Melvendës war kein Sternbild zu finden, das Córiel in den Lüften über sich wiederekannte. Sie nahm sich vor, während ihrer Wachschicht in dieser Nacht die Sterne über den Orocarni eingehend zu studieren.
Während Durin und Jarbeorn die Reste des Abendessens beseitigten und dafür sorgten, dass das Feuer auf einen kleinen Haufen von Wärme spendender Glut zusammenschmolz, kletterte Córiel auf die Felsplatte hinauf, die über dem Lagerfeuer aufragte. Einen steilen Hang voller losem Geröll erklomm die Hochelbin mit einiger Anstrengung, um ihr Ziel zu erreichen und setzte sich dann direkt oberhalb ihrer Gefährten an die Kante des Felsens, die Beine herabbaumeln lassend. Als Jarbeorn sie bemerkte, lachte er und packte Córiels Fuß mit seiner breiten Hand, der kaum eine Armlänger über seinem Kopf herabhing. Gerade wollte der Beorninger den Mund öffnen - zweifellos um eine spöttische Bemerkung auf Kosten seiner Gefährtin zum Besten zu geben - doch da ergriff Córiel Jarbeorns Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen. Der Wind hatte etwas an ihre scharfen Elbenohren getragen. Etwas, das nicht in die Atmossphäre der nächtlichen Bergwelt passte.
"Was ist denn los?" fragte Durin - viel zu laut.
"Psst!" machte Córiel und ließ sich fallen. Lautlos kam sie neben Jarbeorn auf und stand sofort aufrecht da. Einen Bruchteil eines Augenblickes lauschte sie angestrengt, dann war sie sich sicher: sie hatte sich nicht getäuscht. Was sie gehört hatte, waren schwere Schritte, die rasch näher kamen.
Hastig bedeutete die Hochelbin ihren Gefährten, sich zu bewaffnen. Durin und Jarbeorn taten wie geheißen, während die Schritte nun deutlich hörbar heran kamen. Angestrengt starrten die drei Gefährten in die Dunkelheit hinein, die außerhalb des kleinen Lichtkreises der Feuerglut lag und warteten ab.
Zwischen den Felsen zu ihrer Linken, aus dem Gebirge herab kommend, tauchten mehrere helle Punkte auf, die schnell näher kamen. Sie stammten von Lampen, die in behandschuhten Händen getragen wurden. Ehe die drei Wanderer es sich versahen, waren sie von einer Gruppe Fremdlinge umstellt. Die Neuankömmlinge waren im trüben Licht ihrer Laternen nur undeutlich zu sehen, doch sie waren so groß wie Córiel und Jarbeorn und trugen weite, pelzbesetzte Mäntel in verschiedenen dunklen Farben und dazu passende, dicke Stiefel und Handschuhe. Die meisten hatten Pelzmützen auf den Köpfen, doch der, der ihr Anführer zu sein schien, war barhäuptig. Als er vortrat und seine Lampe hob, um ihnen ins Gesicht zu leuchten, erkannte Córiel, dass es sich um einen Menschen mit ordentlich gepflegtem, braunem Bart handelte.
"Dies also ist die Quelle des ungewöhnlichen Lichtes," sagte der Mann - mehr neugierig als feindselig klingend. Doch dann verengten sich seine Augen und er sah Córiel genau ins Gesicht, als er fortfuhr: "Was treiben ein Elb, ein Mensch und ein Zwerg hier am nördlichen Pass? Noch dazu in fremdartiger Aufmachung und voller Missachtung der Gefahren dieses Gebirges? Wer seid ihr? Sprecht schnell!"
Córiel spürte, wie Durin sich neben ihr regte - zweifellos verärgert darüber, nach dem Namen gefragt zu werden, ohne dass sich der Fremde ebenfalls vorgestellt hätte. Sie legte ihm sanft die Hand auf die Schulter, was ihr einen überraschten Blick des Zwerges einbrachte. Ehe er etwas sagen konnte, ergriff Jarbeorn das Wort.
"Seid gegrüßt, Freunde. Ich bin Jarbeorn, Sohn des Grimbeorn, und dies sind meine Begleiter, Córiel von den Noldor und Durin, Sohn des Thorin. Von welchen Gefahren sprecht Ihr?"
Anstatt einer Antwort starrte der Fremde den Beorninger mehrere Augenblicke lang abschätzend an. Dann gab er einem seiner Begleiter ein Zeichen. Dieser trat mit einigen raschen Stiefeltritten das noch immer glühende Feuer aus.
"Was fällt Euch ein?" ereiferte Durin sich.
"Ihr solltet es doch am besten wissen,
Zwerg," antwortete der Anführer der Fremden. "Es ist töricht, in dieser Gegend ein Feuer zu entfachen." Er deutete bedeutungsvoll nach oben, als würde diese Geste alles erklären. "Löscht die Lampen," wies er seine Leute an. Córiel stellte überrascht fest, dass der Mann für diesen Befehl das Quenya verwendet hatte, und zwar in seiner urtümlichen Form, wie sie einst auch von den Tatyar in Cúivienen gesprochen worden war. "Wir finden auch ohne sie den Weg zurück zum Pass."
"Es gibt einen Pass in der Nähe?" sagte Córiel in derselben Sprache. Einzig das Licht der Sterne und des halbvollen Mondes beleuchtet nun das Gesicht des Fremden, als er nickte und zurück in die Gemeinsprache wechselte. "Wir haben ihn gerade überquert. Ihr seid wohl nicht von hier, wenn ihr ihn nicht kennt."
"Wir sind auf der Suche nach..." begann Jarbeorn, doch er sollte seinen Satz niemals beenden. Von Süden drang ohne Vorwarnung ein fernes Brausen an ihrer aller Ohren, das in ein dröhnendes Gebrüll überging. Mehrere Sekunden hielt der ohrenbetäubende Laut an, der beide Gruppen erstarren ließ. Wie auf ein geheimes Zeichen hin drängten sie sich hastig unter der Felsplatte zusammen, wo gerade genug Platz für sieben Menschen, einen Zwerg und eine Elbin zu sein schien. Córiel, die ganz am Rand kauerte, spähte vorsichtig hervor und suchte die Umgebung nach der Quelle des Brüllens ab. Drei Herzschläge vergingen, bis ihre Ohren erneut ein Brausen wie von starken Windstößen hoch über ihr auffingen. Ein gewaltiger Schatten zog am Mond vorbei und verdunkelte das Sternenlicht. Ehe Córiel weiter hinsehen konnte, packte eine Hand sie an der Schulter und riss sie zurück in den Schutz der Felsspalte, wo sich alle dicht an dicht zusammenkauerten. So still wie möglich harrten sie dort aus - zehn Sekunden, dann zwanzig, dann dreißig - bis mit einem Schlag selbst das wenige Licht, das zu ihnen drang, für einen Moment verlosch und es stockfinster wurde. Etwas sehr Großes donnerte direkt über sie hinweg. Niemand wagte sich zu bewegen oder gar zu atmen. Erneut erklang das Gebrüll, diesmal kürzer und etwas weniger laut, dann verlang das Rauschen langsam. Was auch immer dort draußen gewesen war, war abgedreht und hatte sich gen Süden entfernt.
Mehrere lange Minuten vergingen, ehe sie sich aus ihrem Versteck hervor wagten. Die Menschen blickten verstört drein, bis auf den Anführer. Er schien der einzige zu sein, der eine solche Situation bereits erlebt hatte.
"Was... was war das denn?" stieß Durin schockiert hervor.
"Das," antwortete der Anführer der Fremden, "war der wahre Herr der Orocarni."
"Der
Ilcalocë," hauchte Córiel kaum hörbar.
"So nennen ihn die Avari," erwiderte der Mann. "Ihr habt also bereits von ihm gehört."
"Wir wissen kaum etwas. Nichts als Schauermärchen," sagte Jarbeorn.
"Dann ist es nicht an mir, euch mehr zu erzählen. Ihr habt großes Glück gehabt, dass ihr uns getroffen habt, ehe er euer Feuer bemerkt hat." Der Mann deutete eine sonderbar förmliche Verbeugung an. "Ich bin Ûmarhil von Abârzâin. Hätte der Lodernde euch verschlungen, wäre er auch uns schon bald auf die Fährte gekommen. Deshalb verließen wir den Pass, als wir das Leuchten Eurer Glut sahen."
"Wir sind Euch dankbar, Ûmarhil," sagte Córiel. "Wir sind fremd in diesen Landen."
"Ihr seid bei der Überquerung des Passes nicht zufällig an den Hallen der Zwerge der Orocarni vorbeigekommen?" fragte Durin, der noch immer etwas mürrisch drein blickte.
"Also sucht Ihr nach den Vätern der Berge?" Ûmarhil nickte verstehend. "Ihr Anblick ist dieser Tage rar geworden. Einst gab es viele von ihnen in den Orocarni, wie die Aufzeichnungen meines Volkes sagen. Vier große Städte und unzählige kleinere Minen, Bergwerke, Vorposten und Hallen soll es unter den Gipfeln der Rotberge gegeben haben. Wieviele davon übrig sind, kann ich nicht sagen. Wir stammen nicht von hier, sondern aus dem Süden Palisors."
"Dennoch habt ihr das Gebirge oft genug durchquert, um diesen Ort hier zu kennen. Den nördlichen Pass nanntet ihr ihn, nicht wahr?" hakte Córiel nach.
"Gut aufgepasst," sagte Ûmarhil anerkennend. Seine Leute suchten derweil ihre Sachen zusammen und machten sich wieder aufbruchsfertig. Die Hochelbin bedeutete Durin und Jarbeorn rasch, dasselbe zu tun. "Ich habe das Gebirge mehrere Male überquert, um in die jenseitigen Lande an der Küste zu gelangen. Wir jagen dort nach den weißen Hirschen, die die unberührte Wildnis zwischen Meer und Berg durchstreifen. Auf den Märkten von Abârzâin werden diese Trophäen in Gold aufgewogen."
Córiel nickte. "Wir müssen die Zwerge dringend finden," sagte sie mit Nachdruck. "Kennt Ihr vielleicht jemanden, der sich im Gebirge besser auskennt?"
"Es gab einst einen Handelsposten, etwas nördlich von hier. Auf halber Höhe des Passes ist eine Abzweigung, die euch dorthin führen wird. Vielleicht findet ihr dort eine Spur der alten Bergväter. Aber passt auf, dass ihr nicht zu nahe an den Eisernen Schlund kommt. Von dort geht vieles des Übels aus, das diese Lande seit einigen Jahren plagt."
"Wir werden uns vorsehen. Habt erneut Dank, Ûmarhil," sagte Córiel.
"Ich wünsche euch viel Erfolg bei Eurer Suche. Wenn ihr jemals nach Abârzâin kommt, besucht mich doch und erzählt mir von euren Erlebnissen."
Córiel wunderte sich über die plötzliche Freundlichkeit des Mannes. Dennoch nickte sie und schüttelte Ûmarhils Hand. Dann nahm sie ihr Gepäck auf und schloss sich dem Rest der Gruppe an, die nun auf den Pass zurückkehrten.
Dort angekommen riet Ûmarhil ihnen, noch einige Meilen zu gehen, ehe sie sich schlafen legten. Dann sagte er ihnen Lebewohl und wandte sich mit seinen Begleitern nach Südwesten, wo der Pfad, der hier aus dem Gebirge hinab kam, auf die Ebenen Palisors hinaus führte. Jarbeorn und Durin schulterte ihre Rucksäcke und marschierten los, den Passweg hinauf nach Osten, und nach kurzem Zögern folgte Córiel ihnen.