Narissa, Aerien, Gimli und Aragorn aus Barad-DûrAuf der Straße nach Westen waren ihnen auf den ersten paar Meilen weder Orks noch sonstige Diener Saurons begegnet, was Narissa verwunderte, doch sie beschloss, nicht weiter darüber nachzugrübeln. Erst an den unteren Berghängen des Orodruin erspähte sie durch eine Wolke aufgewirbelter Asche vor ihnen.
"Wir bekommen Gesellschaft", stellte sie knapp fest. Gimli befühlte mit grimmiger Miene seinen Schwertgriff. "Sollen sie kommen. Ich würde sie zu gerne meiner Klinge vorstellen." Aragorn hingegen schüttelte mühsam den Kopf. "Wir sollten uns nicht auf einen Kampf einlassen, mein Freund. Ich bin mit Sicherheit nicht in der Lage zu kämpfen, und ihr anderen vermutlich ebenfalls nicht mehr wirklich."
Tatsächlich fühlten sich Narissas Beine wie Blei an und sie hatte nicht das Gefühl, noch die Kraft aufbringen zu können um nur einen ihrer Dolche zu heben. Dennoch sagte sie: "Welche andere Wahl haben wir denn?" Sie beschrieb einen Halbkreis über das öde Land um sie herum. "Ich sehe nicht, wo wir uns verstecken könnten."
"Aber ich", begann Aerien zögerlich. "Es gibt einen Weg den Berg hinauf, der nur ein kurzes Stück weiter westlich von dieser Straße abzweigt - wenn ich mich recht erinnere. Orks... Orks gehen nicht dorthin."
"Das ist der Weg zur Ringschmiede", warf Aragorn ein. "Und wir sollten auch nicht dorthin gehen. Spürt ihr nicht die Kraft, die diesen Berg beherrscht?"
Jetzt, wo Aragorn es sagte, wurde Narissa das schwache Summen in ihren Ohren bewusst, und der Druck auf ihrem Kopf. Sie hatte es bislang der Erschöpfung zugeschrieben, doch vielleicht hatte Aragorn recht. "Und wohin sollten wir sonst gehen?", fragte sie. Im Süden war das Land kahl und flach, ohne gute Möglichkeiten zum Verstecken, von Westen nahten die Orks, und im Osten ragte drohend der Barad-Dûr auf.
"Es bleibt nur der Berg", stimmte Aragorn nach kurzem Zögern zu. "Es gefällt mir nicht, doch es scheint unsere einzige Wahl zu sein. Wir gehen so weit, bis wir ein Versteck gefunden haben, und keinen Schritt weiter den Berg hinauf." Er blickte Aerien an, deren Hand offenbar unbewusst nervös über Andúrils Griff strich. "Also führe uns, Aerien."
Aerien zögerte keinen Augenblick, und wandte sich nach Nordwesten, schräg den hier noch sanft ansteigenden Berghang hinauf. Narissa wusste, dass Aerien hoffte, auf diesem Weg möglichst bald auf die Straße zur Ringschmiede zu stoßen, ohne weiter auf der großen Straße am Fuß des Berges bleiben zu müssen.
Aeriens Plan hatte Erfolg gehabt. Schon nach kurzer Zeit waren sie auf die schmale, gepflasterte Straße gestoßen, die sich um den Berg herum wand, immer leicht bergauf. Ihr waren sie noch etwa drei Meilen weit gefolgt, ohne auf Feinde zu stoßen, bis die Spitze des Berges im Osten hinter ihnen lag, und sie nach Westen den Berg hinunter auf die Ebene von Gorgoroth und das Schattengebirge blickten. Inzwischen war das Licht schwächer geworden, auch wenn die tief über Gorgoroth hängenden Wolken den Blick auf die Sonne versperrten. Glücklicherweise stieß Gimli ein wenig unterhalb der Straße auf einen halb überhängenden Felsen, der ein gutes Versteck bieten würde.
Nur wenig später, als die Nacht beinahe hereingebrochen war, hatten sie sich zu viert unter dem Felsen verkrochen. Narissa schmiegte sich dicht an Aerien, denn die Nacht war kälter als der Tag es vermuten ließ, während Aragorn auf dem Rücken lag und zum dunklen Himmel aufblickte. "Ich wünschte, man könnte die Sterne sehen", sagte er leise. "Es ist zu lange her, dass ich Sterne gesehen habe."
"Du wirst bald wieder Sterne sehen können", erwiderte Aerien ein wenig scheu. "Wir werden dafür sorgen."
"Dafür sollten wir uns allerdings für einen Weg entscheiden", warf Narissa ein, auf einen Ellbogen aufgestützt. Eigentlich wollte sie nur noch schlafen, doch sie glaubte nicht, dass sie an diesem Ort ein Auge zu tun würden.
Stein knirschte, als Gimli, der sich ein wenig in der Umgebung umgesehen hatte, zurückkehrte und neben Aragorn auf den Boden fallen ließ. "Die südliche Route würde ich nicht empfehlen", knurrte der Zwerg. "Der Weg bis zu eurem geheimen Pass ist zu weit, ich glaube nicht, dass ihr Menschen das in eurem augenblicklichen Zustand schaffen würdet." Narissa öffnete den Mund um zu protestieren, entschied sich aber doch anders - Gimli hatte recht, ihr graute bei dem Gedanken daran, diesen weiten Weg durch Mordor ein zweites Mal zurückzulegen. Und wer konnte wissen, was sie südlich des Gebirges erwartete? Vielleicht hatte Qúsay den Krieg inzwischen verloren, und sie würden geradewegs in Suladâns Hände laufen.
"Gimli hat recht", stellte Aragorn fest. Seine Stimme klang rau und erschöpft. "Es gibt zwei nähere Wege über das Gebirge: Den Weg durchs Morgultal, oder durch das schwarze Tor nach Norden."
"Das Morgultal ist der Sitz der N..." Aerien unterbrach sich, als würde allein das Aussprechen des Wortes die Nazgûl herbeilocken. An jedem anderen Ort hätte Narissa den Gedanken für lächerlich erklärt, doch nicht hier. "Wir alle wissen, wessen Sitz es ist", sprach Aerien schließlich weiter. "Und der Pass von Cirith Ungol ist bewacht, von Orks und... Schlimmerem. Beide Wege sollten wir nicht gehen. Ebenso das schwarze Tor - es ist der größte und wichtigste Eingang nach Mordor im Westen, und einer der am besten bewachten Orte in Mittelerde."
Narissa kannte den Ausdruck auf Aeriens Gesicht. "Du hast einen anderen Plan", stellte sie fest. "Und er gefällt dir nicht besonders."
Aerien schüttelte den Kopf, und antwortete: "Nein, er gefällt mir nicht. Aber es ist unsere beste Chance. Wir könnten über Durthang gehen, den Sitz... meiner Familie. Ich kenne mich dort aus, also könnten wir einen Weg finden, uns ungesehen vorbei zu schleichen. Es gibt dort Pfade das Gebirge im Westen hinunter - kein Weg auf dem eine Armee gehen kann, doch für uns wirt des reichen."
"Das bringt uns nach Nord-Ithilien", führte Aragorn den Gedanken fort. "Ein Land, dass vermutlich noch immer von Mordor beherrscht wird."
"Ja", bestätigte Aerien seine Vermutung. "Doch wir könnten uns von dort am Anduin nach Norden durchschlagen, bis wir zur Grenze von Rohan kommen, und dort versuchen den Fluss zu überqueren."
Aragorn wechselte einen Blick mit Gimli, als ob sie eine gemeinsame Erinnerung teilten. "Oberhalb des Rauros bildet der Anduin den See Nen Hithoel. Er hat dort nur eine schwache Strömung, und die Gegend ist bewaldet. Es sollte uns möglich sein, dort ein Floß zu bauen und den See zu überqueren - wenn wir es soweit schaffen, denn auf dem Weg entlang des Anduin liegt das Nindalf, ein großes Gebiet aus Mooren und Tümpeln."
Als er den zweifelnden Ausdruck auf Narissas und Aeriens Gesichtern sah, lächelte Aragorn. "Ich glaube, wenn wir es über Durthang hinaus schaffen, werden weder die Sümpfe, noch die Felsen des Emyn Muil, noch der Anduin eine wirkliche Herausforderung für uns darstellen."
Es dauerte nicht lange, bis Aragorn eingeschlafen war, worum Narissa ihn beneidete. Spitze Steine stachen sie in den Rücken, doch sie hätte vermutlich selbst in dem weichsten Federbett aller Zeiten nicht einschlafen können - zu sehr fürchtete sie die Träume, die der Schlaf bringen mochte. Als sie nach links blickte, verrieten ihr Aeriens offene Augen, dass es ihrer Freundin kaum anders ging als ihr selbst.
"Ich hätte nicht gedacht, dass wir es so weit schaffen", gestand sie leise, und spürte, wie sich Aeriens Hand auf ihre legte. "Das hast du aber gut verborgen. Und ich... ich fürchte mich vor Durthang", erwiderte Aerien, und ihre Stimme wurde immer leiser. "Varazîr zu begegnen war schlimm genug, doch was ist, wenn ich dort... wenn ich dort meiner Mutter begegne? Oder meinem Vater? Trotz allem sind sie... sie sind meine Familie, 'Rissa. Verstehst du?" Narissa verstand es nicht. Sie fürchtete sich nicht davor, Suladân gegenüber zu treten - im Gegenteil, sie sehnte es geradezu herbei, damit sie ihren Dolch in sein schwarzes Herz stoßen konnte. Doch sie sagte nichts davon, und drückte nur Aeriens Hand. "Wir können einen anderen Weg suchen."
"Es gibt keinen anderen Weg", erwiderte Aerien, und die Verzweiflung in ihrer Stimme drohte Narissa die Luft abzuschnüren. "Ich weiß, dass wir diesen Weg wählen müssen, doch irgendwie... habe ich ein schreckliches Gefühl dabei. Als würde dort etwas Furchtbares auf mich lauern."
Narissa schob einen Arm unter Aeriens Schulter hindurch, und zog sie dicht an sich. "Ich werde nicht zulassen, dass dir dort etwas geschieht." Aerien lächelte traurig. "Wer sagt denn, dass ich um mich selbst Angst habe?"
Darauf wusste Narissa nichts zu sagen. Stattdessen zog sie Aerien noch näher an sich, mit der Absicht, sie nie wieder loszulassen.