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Autor Thema: Die Frostspitze  (Gelesen 5584 mal)

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Die Frostspitze
« am: 1. Jul 2019, 14:20 »
Córiel, Jarbeorn und Durin mit den Zwergen der Orocarni von den nördlichen Gipfeln


Die Reise über die unterirdische Straße der Zwerge dauerte zwei Tage, die für Córiel nur wenig Annehmlichkeiten boten. Der nicht enden wollenden Tunnel zog sich schnurgerade unter den Wurzeln des Gebirges dahin, ohne jemals auch nur eine leichte Kurve zu machen. Er war in jahrtausendelanger Arbeit von den unermüdlichen Händen der Zwerge der Orocarni direkt durch den Felsen getrieben worden und wurde, wie der Herr der Kristallhalle seinen beiden bereitwilligen Zuhörern Jarbeorn und Durin nur allzu gerne anvertraute, noch immer stetig erweitert. Die Zwerge hofften, eines Tages alle vier ihrer großen Klanstädte in den Orocarni miteinander zu verbinden, was die oberidrischen Passwege überflüssig machen würde.

Córiel atmete im wahrsten Sinne des Wortes auf, als der Tunnel sie am dritten Tage endlich freigab. Der Ausgang lag am unteren Ende einer langezogenen Felsspalte, deren Verlauf der Reisetrupp nun in ungefährer östlicher Richtung folgte. Das Tor, welches sie an die Oberfläche zurück passiert hatten, war nur eine von mehreren Abzweigungen gewesen. Der Haupttunnel führte unter ihren Füßen stetig weiter nach Süden, unter dem gewaltigsten Berg des gesamten Gebirges hindurch.
"Die altehrwürdige Frostspitze," sagte Garik zufrieden und lenkte ihre Aufmerksamkeit nach Süden hin. Córiel und Jarbeorn mussten die Köpfe in den Nacken legen um das wahre Ausmaß des mächtigen Gipfels überhaupt erkennen zu können. Die eigentliche Bergspitze war von dichten Wolken verhüllt, doch die Flanken der Frostspitze waren vereist und so steil, dass an einen leichten Aufstieg nicht zu denken war.
"Keine Sorge, meine Freunde," lachte der Herr der Kristallhalle. "Ihr werdet nicht wie Eidechsen an den Felswänden hinauf klettern müssen. Es gibt einen von Zwergenhand geschaffenen Pfad, der uns - über viele Treppenstufen - leicht an unser Ziel führen wird."
Die besagte Treppe war rasch gefunden. Am Ende der Felspalte, durch die sie noch immer gingen, öffnete sich ein breites Tal nach Osten hin und die Gefährten sahen, dass sie sich trotz ihrer unterirdischen Reise noch immer in geraumer Höhe über dem Meeresspiegel befanden. Ein fremdes, grünes Land breitete sich unter ihnen aus, das am Horizont von einem tiefblauen, endlosen Band begrenzt wurde.
Das muss das sagenhafte Meer des Ostens sein, dachte Córiel fasziniert. Wie gerne hätte sie jetzt das Gebirge hinter sich gelassen und sich ein Schiff an jenen fernen Gestaden dort unten gesucht oder gebaut, um das Meer zu erkunden, über das es im Westen nicht einmal Gerüchte oder Legenden gab. Doch dies war nicht die Zeit für solche Abenteuer. Denn rechter Hand begann nun die Treppe, von der Garik gesprochen hatte. Steil führte sie über eine der Begflanken der Frostspitze hinauf und verschwand irgendwo zwischen den Wolken. Die Zwerge begannen bereits damit, die ersten Stufen zu erklimmen, und Durin folgte ihnen voller Elan.
Jarbeorn legte Córiel seine schwere Pranke auf die Schulter, doch die Berührung war warm und sanft. Sie wusste, dass er ihr ihre Gedanken am Gesicht abgelesen hatte. Und als sie seinem Blick begegnete, wusste sie, dass sie nichts weiter sagen musste. Der Beorninger nickte sachte, und sie erkannte das unausgesprochene Versprechen in jener Geste. Sie würden hierher zurückkehren und das Land jenseits der Orocarni erforschen... wenn der Drache besiegt und all dies vorbei war.
Córiel gab sich einen Ruck und stapfte los, die Stufen hinauf. Und während sie nun langsam aber sicher in schwindelerregende Höhen hinauf stiegen, durchsuchte Córiel Melvendës Erinnerungen nach allem, was die Tatyar-Elbin einst über den Berg gewusst hatte, der bei den Avari Ilmarës Wacht genannt wurde. Viel gab es da nicht, außer dass der Legende nach von der Spitze des Berges zu jeder Zeit die Sterne Vardas zu sehen waren, denn sein Gipfel ragte so hoch hinauf, dass selbst das Licht von Sonne und Mond dort oben verblasste. Ilmare, die oberste Dienerin der Sternenentzünderin, die die Hochelben Elbereth nannten, habe dort einst über die Sterne des Ostens gewacht, noch ehe die ersten Sonnenstrahlen Palisors Wälder berührt hatten. Von den Hwenti hatte Coriel erfahren, dass nach dem Fall Angbands, der alten Festung des Dunklen Herrschers, einer der wenigen überlebenden Drachen zur Frostspitze gekommen sei, welcher dort dem Anblick der Sterne verfiel. Der Ilcalocë verließ den Berggipfel nur in den seltensten Fällen. Doch in den letzten Jahren hatte sich dies ganz offensichtlich geändert.

Einen halben Tag mühte sich der gesamte Reisetrupp in schweißtreibender Arbeit den Berg hinauf, bis sie schließlich auf ein überraschend flaches Plateau kamen, das sich einigermaßen eng an die Bergkante schmiegte, aber dennoch genügend Platz für ein recht großes Lager bot. Hier waren bereits andere Zwerge zuwerke und die Neuankömmlinge wurden herzlich begrüßt.
"Garik, alter Freund. Wie gut, dich zu sehen," sagte ein Zwerg mit langem, weißem Haar und einer Krone aus schwarzem Metall auf dem Kopf. "Ihr habt euch ja ganz schön Zeit gelassen."
"Zeit gelassen? Ha! Und das von einem Khizrik!" lachte Garik. "Wir sind so schnell uns die Beine trugen hergeeilt, als deine Nachricht eintraf, mein guter Hjoltvin. Meine Krieger sagen, die Fremdlinge dort haben uns verlangsamt, aber ich habe sie daran erinnert, dass man uns zur Höflichkeit erzogen hat." Er winkte Córiel, Jarbeorn und Durin herbei. "Freunde, dies ist Hjoltvin, der Herr von Khizrikul, der großen Festung im Herzen des Gebirges. Und dies sind Jarbeorn, Sohn des Grimbeorn, Melvendë von den Tatyar und nicht zuletzt: Durin, Sohn des Thorin, vom Erebor."
"Durin! Beim Barte meiner Ahnen. So, so!" Hjoltvin machte ein abschätzendes Geräusch und umrundete den jungen Zwergenprinz. Dann blieb er vor Durin stehen und schlug ihm fest auf beide Schultern. "Ha! Hast einen guten Stand, mein Junge. Du bist mir willkommen. Und deine Freunde natürlich auch! Oh ja, selbst das Spitzohr." Er grinste in sich hinein und zwinkerte Córiel schelmisch zu, was sie ihren aufsteigenden Ärger wieder vergessen ließ.
"Ich würde mich ja vor Euch verbeugen, Meister Hjoltvin, doch ich fürchte, da käme ich so tief hinuter in den Schnee, dass ich Angst hätte, den Weg nach oben nicht wiederzufinden," gab sie belustigt zurück, einem Instinkt folgend.
"Na sieh mal einer an, das Mädel hat aber eine schnippische Zunge hinter den frostblauen Lippen versteckt!" rief der Herr von Khizrikul und grinste. "Du gefällst mir, Melvendë. Ich bin mir sicher, du wirst der Aufgabe ganz wunderbar gewachsen sein."
"Aufgabe?" wunderte sich Córiel noch, doch Garik ging dazwischen.
"Später," sagte der Zwerg. "Genug geschäkert, ihr beiden. Es gibt viel zu tun. Schlagt das Lager auf und bereitet alles vor!" befahl er seinen Untergebenen, die sich sogleich an die Arbeit machten.

Während die Zwerge in Windeseile ein Zeltlager errichteten und den frischen Schnee beseigtigten, grübelte Córiel darüber nach, was für einen Plan die Zwerge im Bezug auf den Drachen wohl verfolgten. Ihr fiel auf, dass im Zentrum des Lagers eine große Fläche frei gelassen wurde und das von der Bergkante, an der das Plateau angrenzte, mehrere Seile herabhingen. Hölzerne Pfähle waren an mehreren Stellen in den beinahe vertikalen Felsen getrieben worden und das Ganze erinnerte Córiel beinahe an eine Art Lastenaufzug. Gab es etwa noch ein weiteres Lager, weiter oben?
Noch ehe sie eine Antwort auf diese Frage finden konnte, kehrte Garik zu ihr zurück. Sein Zelt, das größte im Lager, war aufgebaut worden und offenbar sollte dort nun eine Lagebesprechung stattfinden, wie der Zwerg der Hochelbin mitteilte. So folgte sie dem Herrn der Kristallhalle ins Innere, wo bereits fünf weitere Zwerge warteten. Auch Durin war anwesend, doch von Jarbeorn fehlte jede Spur.
Mit einem Mal fühlte Córiel sich unbehaglich. Das Zelt war für Zwerge gemacht worden, weshalb die Elbin trotz ihres verhältnismäßig kleinen Wuchses mit dem Kopf beinahe die Zeltdecke berührte. Man wies ihr einen Stuhl zu, der sie auf Augenhöhe mit den zumeist grimmig dreinblickenden Zwergen brachte und dort saß sie, mit dem Rücken zum Eingang des Zeltes und kam sich vor, als wäre sie unerlaubt in eine Versammlung von Kriegern und Königen geplatzt.
Ein steinerner Tisch stand zwischen den sitzenden Zwergen. Durin, der neben Córiel saß, warf ihr einen Blick zu, der vermutlich aufmunternd sein sollte, dabei jedoch eher das Gegenteil bewirkte.
"Gut, nun sind alle hier," sagte Garik bedeutungsvoll. "Dies ist nun also der Tag, auf den wir gewartet hatten, meine Freunde und Gefährten."
"Aye," stimmten ihm die übrigen Zwerge zu. Dann nahm Hjoltvin das Wort.
"Alles ist bereit für unsere Rache gegen diesen räuberischen Lindwurm. Erst gestern haben unsere Kundschafter seine unruhige Gestalt zwischen den Wolken auf dem Gipfel erspäht. Er ist dort, daran besteht kein Zweifel."
"Dann schlagen wir zu," rief ein dritter Zwerg.
"Ja," bekräftigte Garik. "Und da kommst du ins Spiel." Er blickte Córiel direkt ins Auge. "Córiel."
Mit einem Mal schlug Córiels Herz ihr bis zum Hals. Ihre Hand legte sich auf den Griff ihres Schwertes, das an ihrer Seite hing. Dass Garik sie nicht als Melvendë angesprochen hatte, musste bedeuten, dass...
"Es tut mir Leid," sagte Durin leise und bestätigte damit Córiels Verdacht. "Ich habe es ihm gesagt."
"Du wirst dort hoch gehen und dich dem Drachen stellen," sagte Hjoltvin. "Nur du kannst das tun."
Endlich gelang es Córiel zu sprechen. "Wieso ich?" presste sie hervor.
"Die Luft dort oben ist zu dünn für unseresgleichen," knurrte einer der anderen Zwerge, ein uralt wirkender Graubart, der in seinem Stuhl zusammengesunken war. "Außerdem würde die Bestie uns riechen, ehe wir uns ihm auch nur auf eine Meile genähert hätten. Doch du - du stammst nicht von hier, sondern bist eine Fremde aus dem Westen. Und doch hast du etwas an dir, das mir vertraut vorkommt..."
"Elbenmagie," warf ein weiterer Zwerg ein, ein mächtiger Krieger in voller Rüstung. "Wenn man Durins Worten Glauben schenken darf, ist sie aus den Hallen der Ahnen zurückgekehrt." Sein Tonfall ließ kaum Zweifel daran zu, dass der Zwerg nur wenig von solcherlei Dingen hielt.
"Und doch wird sie sich als ungemein nützlich erweisen," fuhr Garik fort. "Denn dieser Drache ist nicht wie die meisten seiner Art, die nur Schätze horten und Flammen und Verwüstung verbreiten. Er ist... wissbegierig, auf seine eigene verdorbene Art und Weise. Er hat die Sterne über die Jahrtausende genau studiert. Und jetzt versucht er, sich zum Herrscher über ganz Palisor aufzuschwingen. Er wird... neugierig sein, wenn er dich wahrnimmt, Córiel. Ganz gewiss wird er schon bald bemerken, dass mehr in die steckt, als das bloße Auge sehen kann. Und diese Neugierde wird ihn verwundbar machen."
"Ich soll also den Köder für euch spielen," sagte Córiel, die zu verstehen begann.
"Du sollst den Drachen hierher zu uns locken, Mädel," sagte Hjortvin grinsend. "Damit wir ihm hier sein schuppiges Fell über die Ohren ziehen können."
"Wie soll das gehen?" fragte die Hochelbin.
"Sprich mit ihm. Bringe ihn dazu, dir zu folgen. Ein Stückchen unterhalb des Gipfels findest du einen uralten Lastenaufzug, den einst die Windan errichteten, um Opfergaben auf den Gipfel zu transportieren, ehe der Drache sich dort einnistete." Garik reichte Córiel einen schweren Haken aus Metall, der sich mit einem einfachen Hebel öffnen und wieder verschließen ließ. "Hake dies in eines der Seile ein, die an der steilen Bergflanke hinab führen. Keine Angst, es wird immer genügend Raum zwischen dir und den Felsen sein, während du schnell wie der Wind daran hinabgleitest - zu schnell, als dass der Drache dich einholen könnte. Er wird nicht widerstehen können."
"Das ist doch Wahnsinn," rief Córiel. "Ich werde nicht..."
"Oh doch, du wirst ganz genau tun, worum wir dich bitten," sagte der Herr der Kristallhalle, dessen Tonfall eine ungewohnte Kälte angenommen hatte. "Denn weigerst du dich, wird dein Freund Jarbeorn den Preis dafür bezahlen."
"Ihr verfluchten Verräter," stieß Córiel zornig hervor. Die Zwerge waren zu weit gegangen, als sie Jarbeorn bedroht hatten. Doch da legte sich eine Hand auf ihren Arm.
"Bitte, Córiel," sagte Durin leise. "Tu' es für das Volk Erebors. Ich weiß, dass du es schaffen kannst. Ich werde auf ewig in deiner Schuld stehen, und die übrigen Zwerge ebenfalls."
"Mir scheint, das Wort eines Zwerges ist nur noch wenig wert in diesen Tagen," sgte Córiel zwischen zusammengepressten Zähnen. Sie erkannte, dass ihr keine Wahl blieb. Und so stand sie auf und verließ ungehindert das Zelt.

Draußen fand sie Jarbeorn vor, den die Zwerge an einen schneebedeckten Pfahl gekettet hatten. Sie schienen über seine Kräfte bescheid zu wissen, denn drei lange Speere waren direkt auf den Hals des Beorningers gerichtet.
"Halte durch," rief Córiel ihm zu, und entgegen der Umstände schenkte er ihr ein Lächeln.
"Ich werde hier sein," stellte Jarbeorn klar. "Stirb nicht, Stikke. Unsere Reise ist noch nicht vorbei."
Córiel nickte und ließ zu, dass die Zwerge sie davonführten, zur Bergkante im Süden hin. Jetzt erkannte sie, dass die Konstruktion an der Felswand tatsächlich ein Lastenaufzug war, der nicht ganz senkrecht zum Gipfel hinauf verlief. Etwas verborgen zwischen zwei großen Felsen befand sich die Fortsetzung der Treppe, die die Zwerge bis hinauf auf das Plateau geführt hatte.
"Hier geht es zum Gipfel hinauf," erklärte Garik unnötigerweise. "Ich wünschte, dies unter anderen Umständen getan zu haben, Córiel. Doch leider gibt es keine Alternative. Geh und bringe uns den Drachen, damit wir ihn erschlagen können und das Gebirge und ganz Palisor von ihm befreien können."
Die Hochelbin warf dem Herrn der Kristallhalle einen feindseligen Blick zu und wandte sich dann wortlos ab. Es war alles gesagt worden. Jetzt zählte nur noch eines: sie musste den Gipfel erklimmen und sich dem Ilcalocë stellen, um Jarbeorn und sich selbst zu retten...
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In der Gegenwart des Sternendrachen
« Antwort #1 am: 11. Jul 2019, 16:52 »
Ein eisiger Wind wehte rings um den steilen Gipfel der Frostspitze herum und verwandelte das Schneetreiben in einen wahren Wirbel aus Weiß. Córiel hatte sich ein Tuch über Mund und Nase geknotet, um ihr Gesicht zu schützen. Es war beißend kalt. Sie mühte sich nun schon seit zwei Stunden die uralte Treppe hinauf, die hier oben, außerhalb der Reichweite der Zwerge, nur aus einer Reihe von grob in den Felsen geschlagenen Stufen bestand, die steiler kaum sein konnten. Mehrmals schon hatte Córiel den Halt verloren und wäre beinahe in die Tiefe gestürzt.
Sie kam an eine weitere der zahlreichen Biegungen der Treppe. Doch hier ging es nicht weiter, denn eine große Schneewehe hatte den nächsten Teil des Aufstiegsweges blockiert. Die Hochelbin sackte ermattet in sich zusammen, mit dem Rücken gegen die noch immer gewaltig über ihr aufragende Felswand des Berges gelehnt.
Ich sollte überhaupt nicht hier sein, dachte sie. Sie wünschte sich, Durin niemals ihre Hilfe angeboten zu haben. Dass der Zwerg vom Erebor ihr Geheimnis an die Bewohner der Orocarni verraten hatte, sorgte für Bitterkeit in Córiels Herzen, auch wenn ein kleiner Teil in ihrem Inneren Durins Beweggründe verstehen konnte. Doch ihr Zorn war diesem Verstehen deutlich überlegen.
Zwerge und ihre Geheimnisse. Wie bin ich bloss in einen solchen Schlamassel geraten? Ich sollte bei den Avari sein, und Níthrar und Vaicenya unterstützen. Sie fragte sich, ob die Dunkelelbin noch immer bei den Hwenti weilte oder ob sie längst weitergezogen war. Palisor war ein gewaltig großes Land, und viele kleine verstreute Stämme von Elben durchstreiften es. Vaicenya konnte längst weit weg sein, wenn sie es wollte.
Córiels Gedanken wanderten zurück zu dem Anblick des fernen Ostmeeres, den sie nach dem Verlassen des Zwergentunnels gesehen hatten. Ihre Sehnsucht, die fremden Gestade zu besuchen war noch stärker geworden. Und es verlieh ihr unerwartete neue Entschlossenheit. Jarbeorn wird mich dorthin begleiten, wenn die Zeit gekommen ist, erinnerte sie sich. Ich darf ihn jetzt nicht im Stich lassen.
Sie stand auf. Sie würde sich dem Drachen stellen, doch nicht um der Zwergen Willen, oder um ihre eigene Haut zu retten. Nein, sie würde es für Jarbeorn tun. Und sie würde nicht vergessen, dass die Zwerge den Beorninger dazu benutzt hatten, Córiel zu dieser Tat zu zwingen.

Unter den größten Anstrengungen gelang es ihr, die mannshohe Schneewehe zu überwinden. Wenige Meter weiter nahm die Treppe eine erneute Wendung und führte nun nicht länger in engen Serpentinen entlang der steilen Felswand aufwärts, sondern grub sich direkt in den Felsen hinein, denn der Berg hatte begonnen, sich zur Spitze hin abzuflachen. Vom Wind verwitterte, uralte Statuen, die wohl noch von den Windan stammen mussten, säumten den Weg und die Treppe verbreiterte sich zusehends. Córiel stellte fest, dass der Sturm sich mit jedem Schritt mehr und mehr legte, je höher sie kam. Zu ihrer Rechten tauchte nun das obere Ende des Lastenaufzugs auf, den die Windan in einem vergangenen Zeitalter dort erbaut hatten. Córiel berührte nachdenklich den stählernen Haken, den Garik ihr gegeben hatte. Er passte problemlos an die Seile, die einst Opfergaben der Avari auf den Gipfel von Ilmarës Wacht transportiert hatten. Gewöhnliche Seile wären im Laufe der Jahre längst zu Staub zerfallen. Hier schienen ähnliche Künste im Spiel gewesen zu sein wie bei den Hithlain-Seilen der Galadhrim, die Córiel einst im Goldenen Wald kennengelernt hatte. Córiel hängte den Haken vorsichtig an Ort und Stelle ein, um auf einen schnellen Rückzug vorbereitet zu sein. Dann wandte sie sich dem letzten Teil der Treppe zu.
Die Felswand war inzwischen verschwunden. Die Hochelbin hatte das abgeflachte Plateau des Berggipfels erreicht. Viele Meter breit führten die steinernen Stufen der uralten Treppe nun nur noch sanft ansteigend zum höchsten Punkt der Frostspitze. Dort, jenseits von Wind und Wolken, wo auf geheimnisvolle Art und Weise selbst das Licht von Sonne und Mond verblasste, ruhte eine gewaltige, geschuppte Kreatur im sanften Sternenlicht, das von oben auf sie herabschien.
Der Drache schläft, dachte Córiel und nahm vorsichtig die letzte und oberste Treppenstufe. Sie stand auf einer Insel inmitten von Wolken. Ringsherum unter ihr drängten sich weiße Massen eng an die steil abfallenden Bergflanken, doch keine von ihnen schwebte hoch genug, um den Gipfel der Frostspitze zu überragen. Hier gab es nur das reine Sternenlicht. Córiel ertappte sich dabei, wie sie fasziniert den Blick hob um das ungetrübte, uralte Licht mit den eigenen Augen einzufangen. Sie wusste, wie der Nachthimmel einst, kurz nach dem Erwachen der ersten Elben ausgesehen hatte. Melvendë hatte es gesehen, solange sie gelebt hatte. Und hier, Zeitalter später, war das Licht noch immer das Selbe wie damals, vor Anbeginn der Sonnenjahre.
"Welch unerwarteter Gast," erklang eine tiefe und unheilvoll dröhnende Stimme. Córiel fuhr herum. Der Drache ragte über ihr auf. Seine Schuppen waren schwarz wie die Nacht, doch sie glänzten und spiegelten das Sternenlicht auf ihre eigene Art wieder. Ein rötlicher Schein ging von den Augen der uralten Echse aus. Die Flügel des Drachen waren noch angelegt, doch sein Blick fixierte Córiel voller Interesse und Verschlagenheit. Er war kaum einen Steinwurf von der Hochelbin entfernt und vermutlich wäre es ihm ein Leichtes, sie mit einer raschen Bewegung zu erreichen.
"Es ist lange her, dass ich Besuch hatte," fuhr der Drache fort. "Nur wenige Wesen können hier oben in der reinen Luft überleben. Sage mir, Fremde, wie lautet dein Name?"
Córiel trat einen Schritt zurück und blieb auf der obersten Treppenstufe stehen. "Ich bin Melvendë, von den Tatyar," antwortete sie.
"Interessant," erwiderte die mythische Bestie. Er breitete die Flügel aus und erzeugte einen starken Windstoß damit, ehe er sich wieder Córiel zuwandte. Langsam begann die mächtige Kreatur, die Hochelbin zu umrunden. "Ja, äußerst interessant. Ich kann mich nicht erinnern, jemanden wie dich zuvor schon einmal gerochen zu haben, kleine Melvendë." Der Drache sog brausend die Luft ein. "Deine Aura ist.... hhrrmm. Vertraut... und wieder nicht vertraut."
"Was tut ein Drache hier oben, so fern von der Welt?" wagte Córiel zu fragen. Seltsamerweise verspürte sie nun, da sie den Drachen gesehen hatte, nur noch wenig Angst. Sie musste sich auf ihre Aufgabe konzentrieren und die Bestie vom Gipfel hinab zum Lager der Zwerge locken. Es lag in ihrer eigenen Hand, ob sie Erfolg haben würde. Doch der Drache wirkte nicht so, als würde er der Hochelbin nach dem Leben trachten. Er wirkte stattdessen... wissbegierig?
"Dies ist mein Heiligtum der Sterne. Varda erschuf ihr Licht durch die Inspiration der Ewigen Flamme, und ich bin entschlossen, ihr Geheimnis zu entschlüsseln. Über Feuer und Flamme verfüge ich selbst, doch selbst nach all den Jahrtausenden kann ich beides nur zerstörerisch nutzen, und nicht, um neue Sterne zu schaffen."
Die Antwort überraschte Córiel. Der Drache will einen eigenen Stern an den Himmel setzen? Die Hochelbin hätte nie auch nur in Betracht gezogen, dass eine solche Tat überhaupt möglich sein könnte.
"Ihr Elben teilt, wie ich weiß, meine Wertschätzung des Sternenlichtes. Wusstest du, kleine Melvendë, dass mich einst der Anblick von Earendils Stern blendete, als mein Bruder Ancalagon von ihm erschlagen wurde? Es hat lange Zeit gedauert, bis meine Augen wieder mehr sahen als nur das strafende Licht des Silmarils der Lüfte. Und doch war es mein Schicksal, hierher zu gelangen, als ich führungslos und blind auf den Schwingen des Windes vor dem Zorn des Westen floh, bis mich meine Kräfte verließen. Ich erwachte hier, mit einem erneuerten Geist und einem neuen Zweck. Man mag mich den Sternendrachen nennen, doch einst war ich Rodhrukar, der Lodernde, Wächter des Nordtores von Angband."
Die Bestie machte eine Pause und ihr riesiges Maul näherte sich Córiel bedrohlich. "Doch genug von mir, kleine Elbin. Sag mir, Melvendë... weshalb bist du hier?"
"Ich bin gekommen, um mich mit eigenen Augen davon zu überzeugen, dass auf dem Gipfel wahrlich ein Drache wohnt, der das Sternenlicht verehrt," antwortete Córiel vorsichtig. Sie wollte einen weiteren Schritt rückwärts machen, stieß dabei jedoch gegen den Schweif des Drachen, der sich unbemerkt hinter sie geschoben hatte.
"Nein... das ist es nicht. Lügen stehen dir nicht gut zu Gesichte, meine seltene Besucherin," grollte der Sternendrache. "Du bist nicht vom Wissensdurst getrieben, so wie ich es bin. Da ist ein Hauch von... Schicksal an dir." Mit einem heftigen Schubs seiner Schwanzspitze bugsierte die uralte Echse Córiel vorwärts, auf die Mitte der Bergspitze zu. "Du willst mir also ein Rätsel stellen? So sei es denn. Ich habe einst mit einem der Ersten deines Volkes gesprochen, als ich zum ersten Mal diesen Ort hier verließ, um Palisor einen Besuch abzustatten. Ich kenne die Stämme der Avari, die sich in den Wilden Wäldern tummeln, und du gehörst nicht zu ihnen. Und doch bist du eindeutig einst unter jenen gewesen, die an den Wassern von Cúivienen erwachten. Nicht leicht zu lösen, dieser Widerspruch."
Der Drache gab Córiel frei und murmelte einige schwer zu verstehende Worte, während er mit dröhnenden Schritten auf und ab ging. Nach mehreren Minuten fixierte er die Hochelbin wieder mit seinem durchdringenden Blick. "Die Tatyar weilen schon lange nicht mehr in Palisor, und doch gibt es keinen Zweifel, dass du einst zu ihnen gehörtest. Wo sind sie also hin gegangen?"
Córiel sprach, ehe sie sich selbst davon abhalten konnten. "Einige wenige weilen noch in Taur-en-Elenath in der Obhut der Herrin der Quelle." Erschrocken legte sie die Hand auf den Mund.
"Drachenzauber kann so manche Zunge lösen," höhnte die bestialische Kreatur. "Wundere dich nicht, Melvendë. Du bist also von dort nach Palisor zurückgekehrt. Die Schleier deines Rätsels beginnen zu reißen."
"Wieso hast du Palisor angegriffen, Drache?" wollte Córiel wissen, die diese Frage nur unter einiger Anstrengung stellen konnte.
"Die Völker dieses Landes sind ohne einen Herrscher. Und wer wäre besser dafür geeignet, sie zu vereinen als ein Wesen, das sich der Macht der Sterne verschrieben hat?"
"Das mag vielleicht bei einigen wenigen Elben auf offene Ohren treffen, doch was ist mit den Zwergen?" fragte Córiel weiter, als der Drache sich gerade von der Treppe wegbewegte.
Der Drache gab ein tiefes Knurren von sich. "Diese Erdwürmer glauben, sie wären die Herren der Orocarni. Ich werde sie schon bald eines Besseren belehren."
"Dafür müsstest du die Bergspitze jedoch verlassen und dich nicht hier oben verstecken wie eine verschreckte Eidechse."
"WAS?"
Die Beleidigung war keineswegs ein Versehen gewesen. Córiel hatte den Stolz des Drachen inzwischen erkannt und hoffte, ihn so wütend zu machen, dass er nicht länger durchdacht und verschlagen agierte. "Du hast mich schon verstanden, Drache." Sie sprach weiter, während sie sich rückwärts zur Treppe zurückzog. Der Drache folgte ihr, ohne seinen wütenden Blick von der Hochelbin abzuwenden. "Du willst über Palisor herrschen? Welch Anmaßung. Jeder einfache Stammesführer der Avari wäre dafür besser geeignet. Du magst die Sterne erforscht haben, doch von den Bewohnern der Wälder und Berge verstehst du nichts."
"Sie werden sich mir beugen! Sie alle werden vor mir knien!" dröhnte der Sternendrache. "Ich habe genug von dir, kleine Melvendë. Deine Audienz ist vorbei." Sein Maul öffnete sich und ein unheilvolles Glühen erschien darin.
Córiel erreichte den uralten Lastenaufzung und packte den Haken. "Das werden wir noch sehen. Fang mich, wenn du kannst!" Und damit stieß sie sich ab, beide Hände fest an den eisernen Haken geklammert, der sie entlang der alten Seile die beinahe senkrechte Felswand hinab riss. Eine feurige Explosion versengte ihr einen Teil ihrer Haare, als sie stürzte und in die dicken Wolken eintauchte. Brüllend vor Wut setzte die gewaltige Gestalt des Sternendrachen ihr nach, den steilen Hang hinab auf das Lager der Zwerge zu...
« Letzte Änderung: 14. Okt 2019, 11:02 von Fine »
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Die Schlacht auf dem Plateau
« Antwort #2 am: 25. Jul 2019, 15:25 »
Einer Lawine aus Klauen, Feuer und Zorn gleich donnerte der Drache den steilen Berghang hinab, die Flügel zur Hälfte ausgebreitet. Immer wieder krachten seine beschuppten Beine gegen die Bergflanke und rissen Felsbrocken mit Gewalt aus ihr heraus. Rasend vor Wut jagte der Sternendrache der Hochelbin nach, die sich verzweifelt an den Eisenhaken klammerte, der mit atemberaubender Geschwindigkeit entlang des alten Lastenaufzungs ins Tal rauschte. Mehrere Male brachte Córiels wilde Fahrt sie gefährlich nahe an die Felsen, die im steilen Winkel unter ihr hinweg sausten und immer wieder musste sie die Beine so hoch es ging anlegen, um einer lebensbedrohlichen Verletzung zu entgehen. Je tiefer sie kam, desto dicker schienen die Wolken zu werden, doch den Drachen verlor sie nur selten gänzlich aus dem Blick. Der Ilcaloce war flink und schnell, aber seine Wut schien ihn unachtsam zu machen. Seine Krallen und die Flammen, die er spie, verfehlten Córiel jedes Mal, wenn die Bestie einen Angriff wagte, sodass der Drache schließlich damit begann, den uralten Lastenaufzug kurzerhand einzureißen. Das Seil, an dem Córiel hing, erschlaffte und sie stürzte schreiend in die schier bodenlose, weiße Tiefe unter ihr und die Wolken verschluckten sie.

Ihr Fall kam zu einem abrupten Halt und wurde von einem großen Netz abgebremst, das über einem riesigen Schneehaufen gelegt worden war. Noch bevor Córiel sich darüber Gedanken machen konnte, wer dafür verantwortlich war, tauchte aus dem dichten Wolkennebel das grässliche, geöffnete Maul des Drachen auf. Die Zähne waren lang und scharf, und aus dem Rachen stieg ein feuriges Leuchten auf, das rasch an Kraft gewann...
Ehe der Drache Córiel in ein Häufchen Asche verwandeln konnte, traf ihn ein schwerer Felsbrocken direkt unterhalb des rechten Auges.
"Wer wagt es?..." knurrte die geschuppte Kreatur.
Aus dem Nebel kam anstatt einer Antwort ein wahrer Hagel von Geschossen - Pfeile, Bolzen, Speere, Steine, Wurfäxte - die zwar größtenteils wirkungslos an der dicken Panzerung des Drachen abprallten, ihn jedoch lange genug ablenkten, dass Córiel sich aufrappeln konnte und aus dem Netz klettern konnte.
Unten angekommen erwartete sie Jarbeorn. Trotz des ohrenbetäubenden Brüllens des Drachens, der sich unter dem Angriff aufbäumte und Feuer in den Himmel spuckte, grinste der Beorninger. "Da bist du ja wieder, Stikke. Hab' keinen Augenblick daran gezweifelt, dass du es schaffen wirst. Hier, nimm das!" Er drückte der Hochelbin zu Córiels Verblüffung seine große, zweihände Axt in die Hände.
"Wirst du das denn nicht brauchen?" fragte sie noch, doch er schüttelte nur den Kopf. Dann schloss er die Augen und gab sich seiner wilden Seite hin.
Córiel hatte Jarbeorns Pelzwechsel nie von so nahe beobachten können, und selbst jetzt war der Nebel noch so dicht, dass sie nicht alles genau sehen konnte. Doch als die Verwandlung abgeschlossen war, ragte der gewaltige, schwarze Bär über Córiel auf und ließ ein kampflustiges Knurren hören, ehe er in Richtung der schemenhaften Gestalt des Drachen davon trabte.
Die geschuppte Bestie begann gerade, mit den Flügeln zu schlagen und so den Nebel etwas zu lüften. Aus dem dichten Weiß tauchten nun die Zwerge der Orocarni auf, einer nach dem anderen, die die verschiedensten Kriegsmaschinen bedienten, um ihren Angriff auf den Drachen aufrecht zu erhalten. Da gab es Speerschleudern, Katapulte und Ballisten, die von erfahrener Hand gesteuert wurden.
"Ihr NARREN!" brüllte der Drache. "Ihr denkt, ihr könnt MICH verletzen? Mir auch nur einen einzigen Kratzer zufügen? Ich bin der Herrscher dieser Berge, und von ganz Palisor! Für diese Anmaßung werdet ihr BRENNEN!"
Während der Drache seine wütenden Worte gesagt hatte, hatten die Zwerge begonnen, neue Munition in ihre Maschinen zu laden. Córiel konnte sehen, dass es sich um ungefähr einen Meter lange, schwere Harpunen aus Stahl zu handeln schien, die mit langen Ketten versehen waren.
Der Kopf des Drachen schwenkte von einer Seite zur anderen und er erkannte, dass er umzingelt war. Genau in der Mitte des Plateaus, in der das Lager der Zwerge stand, war die Bestie nach ihrer Jagd auf Córiel gelandet. Und dann lenkte eine neue Bedrohung die Aufmerksamkeit des Sternendrachens auf sich.
Der gewaltige schwarze Bär donnerte unerwartet flink auf den Ilcaloce zu und wich dem ersten Schwall Flammen behände aus, ehe er mit einem mächtigen Sprung auf dem Rücken des Drachens landete und diesen mit seinen Klauen bearbeitete. Der Drache brüllte und bäumte sich auf, um Jarbeorn abzuschütteln, während er wild um sich schlug.
Córiel hatte derweil eine der Speerschleudern erreicht. Der Zwerg, der sie bediente, besaß die Frechheit, ihr gewitzt zuzuzwinkern, doch sie war vom Kampf gegen den Drachen viel zu sehr abgelenkt, um die Geste richtig wahrzunehmen. Als die Maschine fertig beladen war, hob der Zwerg eine Hand, wie als würde er auf ein Signal warten.
Ein tiefer Hornstoß erklang und Córiel sah, wie der schwarze Schemen des wilden Bären sich von der um ein vielfaches größeren Gestalt des Sternendrachen löste. Dann schlug der Zwerg gegen den Auslösehebel seiner Speerschleuder, und ganz offensichtlich taten es ihm die übrigen Krieger gleich, denn von allen Seiten rasten nun Harpunen auf den Drachen zu, die sich zwischen seinen Schuppen verhakten. Ketten spannten sich an und hielten die mächtige Kreatur am Boden fest.
Erneut ertönte das Hornsignal und nun stürmten die Zwerge mit gezogenen Waffen los. Auch Córiel wurde davon mitgerissen, Jarbeorns Axt fest in den Händen. Die Waffe war schwer und unhandlich, denn sie war für eine deutlich größere Person geschmiedet worden, doch die Hochelbin war dennoch froh darüber, bewaffnet zu sein.
Der Drache ließ den Angriff nicht widerstandslos über sich ergehen. Er kämpfte wie wild gegen seine Fesseln an und versuchte, Feuer zu speien, doch der große Schwarzbär drückte den Kopf der Bestie mit aller Kraft gegen den schneebdeckten Boden unter ihnen. Die monströse Kreatur zischte und knurrte, für den Augenblick unfähig zu brüllen oder mit den Zähnen zuzuschnappen.
Córiel erreichte eines der beiden Hinterbeine der Bestie und führte einen schweren Hieb dagegen aus. Obwohl sie ihre ganze Kraft in den Schlag legte, prallte Jarbeorns Axt am Schuppenpanzer ab und der Rückstoß schleuderte die Hochelbin beinahe zu Boden. Den meisten Zwergen schien es ganz ähnlich zu ergehen. Zwar fanden ihre Angriffe hier und da ihr Ziel und schnitten einige Risse in die Flügel der Bestie, doch der Großteil der Verletzungen schien den Ilcaloce nur noch wütender zu machen.
Wir müssen ihn töten, solange er noch gefangen ist, schoss es Córiel durch den Kopf. Denn der Drache hatte bereits damit begonnen, sich loszureißen. Seine Kraft war trotz seiner Einschränkungen immens. Beine, Schwanz und Flügel zuckten wie wild umher und fegten Zwerge beiseite als wären sie Spielzeuge. Und als Córiel gerade zu einem zweiten Hieb ausholen wollte, schüttelte der Drache Jarbeorn ab und bäumte sich unter Aufbietung seiner gesamten Stärke zur vollen Größe auf. Ketten peitschten unkontrollierbar über das Plateau und zerstörten viele der Kriegsmaschinen, mit denen sie noch immer verbunden waren. Einem unaufhaltsamen Schrecken gleich ragte der Drache über seinen Angreifern auf. Hass und Mordlust funkelten in seinen Augen auf, als sich sein Maul öffnete, um tödliche Flammen auszuspucken.
Drei von den intakt gebliebenen Maschinen verschossene Speere rauschten dicht über die Köpfe der Zwerge hinweg und trafen den Sternendrachen genau in dem Augenblick, als er sein Feuer über das Plateau ergießen wollte. Eines der Geschosse prallte an den scharfen Zähnen ab, ein zweites riss einen Fangzahn heraus und das dritte bohrte sich tief in das ungeschützte Fleisch des Drachenmauls. Die Flammen erstarben, als der Drache vor Schmerz brüllte und rückwärts taumelte - über den Rand des Plateaus hinweg.
Córiel sah, wie der Sternendrache im Fallen noch versuchte, mit den teilweise zerfetzten Flügeln zu schlagen, ehe er mit einem gewaltigen Donnern gegen die steile Felskante unter sich prallte und mit einem letzten Brüllen im dichten Wolkenmeer unter ihm verschwand.

Eine unheimliche Stille legte sich über das Lager der Zwerge. Heiler begannen, sich um die vielen Verletzten zu kümmern, während Córiel sich auf die Suche nach Jarbeorn machte. Sie fand ihn schließlich am Rande des Abgrundes stehen, in dem der Sternendrache verschwunden war. Der Beorninger atmete schwer, doch er schien bis auf einige Schnitte unverletzt zu sein. Er hatte sich bereits zurück verwandelt und war in einen langen, pelzbesetzten Umhang gehüllt.
"Ich glaube nicht, dass diese übergroße Eidechse tot ist," sagte Jarbeorn.
"Das klingt, als wärst du enttäuscht, dass der Kampf schon vorbei ist," meinte Córiel.
"Das bin ich. Ich hätte ihm gerne seine lügende Zunge herausgerissen," murmelte der Beorninger. "Aber nun wird er seine Wunden lecken und Palisor erneut angreifen."
"Das wissen wir nicht," entgegnete Córiel. "Vielleicht hat der Sturz ihm das Genick gebrochen."
"Ich bezweifle es, Stikke," sagte Jarbeorn, doch er schenkte der Hochelbin dabei ein schiefes Lächeln. "Ich schätze, wir werden es sehen."
Durin hatte sich unbemerkt genähert. Kleinlaut blickte der Zwerg zu Boden, als er Córiels Blick bemerkte. "Es tut mir wirklich Leid," sagte der junge Zwerg leise. "Ich hätte nicht..."
"Ich weiß," unterbrach Córiel ihn. "Du hast getan, was du für dein Volk am besten hieltest."
Durin nickte, ohne etwas zu sagen.
"Du hättest mit uns darüber sprechen können, Durin," sagte Jarbeorn, ohne dabei vorwurfsvoll zu klingen. "Ich bin mir sicher, Stikke hätte sich freiwillig dafür gemeldet, den Drachen herzulocken, wenn die Zwerge sie freundlich gefragt hätten."
Ehe Córiel dieser Behauptung widersprechen konnte, kniete Durin sich vor der Hochelbin in den Schnee. "Verzeih mir," bat er. "Ich... habe all dies nicht gewollt. Ich hatte nur den Erebor im Sinn. Es war töricht, das Wohlergehen meiner Freude der Erfüllung meiner Träume zu opfern."
Córiel seufzte. "Steh schon auf, du närrischer Zwerg. Es ist gut. Ich vergebe dir."
Durin sprang erleichtert auf. "Also, was jetzt?"
"Ich für meinen Teil habe genug von Zwergen," sagte Córiel. "Es wird Zeit, dass wir zu den Hwenti zurückkehren und sehen, wie die Dinge stehen. Doch du, Durin, solltest noch ein Weilchen bei den Orocarni-Zwergen bleiben. Mein Herz sagt mir, dass der Drache noch nicht besiegt ist, und vermutlich werden wir ihre Hilfe brauchen, sollte er Palisor weiterhin bedrohen."
Durin fügte sich und machte sich auf die Suche nach Garik und den anderen Anführern der Zwerge. Córiel, die keine große Lust hatte, mit den Zwergenherren zu sprechen, schickte Jarbeorn los, um die Ortskundigen nach dem schnellsten Weg zurück in die Wilden Wälder zu fragen, in denen die Avari lebten.
Anstatt einer Entschuldigung der Zwerge erhielt der Beorninger jedoch nur großzügige Verpflegungen für die Reise und das Versprechen, den Elben eine Nachricht zu senden, falls der Drache erneut gesichtet würde.
So brachen sie zu zweit von der Frostspitze aus auf, einem stetig nach Osten hin ins Tal hinab führenden Pfad folgend, der sie schließlich zurück zu den wilden Wäldern Palisors führte...


Córiel und Jarbeorn ins Tal von Dalvarinan
« Letzte Änderung: 12. Aug 2019, 16:28 von Fine »
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