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Autor Thema: Das Umland des Isen  (Gelesen 2500 mal)

Fine

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Das Umland des Isen
« am: 12. Sep 2019, 15:42 »
Oronêl, Kerry, Rilmir und Gwŷra aus Isengard


Zwei Tage voller Heimlichkeit und Hast lagen hinter ihnen. Noch vor Sonnenaufgang hatten sie das Tal von Isengard verlassen und waren in einem Eilmarsch zurück zu den Furten des Isen gewandert, wo sie am späten Nachmittag angekommen waren. Von den Ruinen des zerstörten Grenzlagers der Rohirrim am Westufer war noch immer schwacher Rauch aufgestiegen, doch einige der wenigen Überlebenden von Yvens Überfall war es gelungen, den Herrn der Westfold in Helms Klamm zu benachrichtigen, welcher sofort Verstärkung an die Furten entsandt hatte. Oronêl war von einigen Rohirrim erkannt worden und es hatte nicht lange gedauert, bis man ihnen drei Pferde überlassen hatte. Kerry und Gwŷra teilten sich einen hellen Falben und waren vorausgeritten, viele Meilen am Fluss Isen entlang nach Dunland hinein, dicht gefolgt von Oronêl und Rilmir. Dabei hatten sie stets mit großer Vorsicht die Augen offen gehalten und Straßen und offene Ebenen gemieden, weshalb sie weniger schnell voran gekommen waren, als es Kerry sich wünschte.

Am Abend des zweiten Tages seit ihrem Aufbruch von Isengard aus lagerten sie nachts in einem dichten Wäldchen, kaum einen Steinwurf vom Isenfluss entfernt, der seinen Lauf inzwischen längst nach Westen hin gewendet hatte. Die breiten Nadelbäume hielten den vereinzelten Schneefall ab und boten darüber hinaus Schutz vor dem schneidenden Wind, der über beide Flussufer fegte. Kerry saß in einer bemoosten Mulde und bereitete ein einfaches Abendessen zu, während Oronêl ganz in der Nähe auf einem Baumstumpf saß und eine fremde Melodie in sich hinein summte. Rilmir war auf der Suche nach Feuerholz und Gwŷra hatte offenbar beschlossen, eine der großen Tannen zu erklettern. Immer wieder raschelte es über Kerrys Kopf und Nadeln und kleinere Äste rieselten auf sie herab. Ärgerlich zupfte sie beides aus ihrem offenen Haar und wünschte sich, sie hätte ihren Zopf zuvor nicht gelöst.
Ein sanftes Lachen erregte Kerrys Aufmerksamkeit. Oronêl blickte amüsiert zu ihr hinüber und sagte: "Das erinnert mich an eine ähnlich unterhaltsame Begebenheit, die schon eine ganze Weile zurückliegt." Der Waldelb stand gemächlich auf und schlenderte auf Kerry zu. "Mithrellas war damals noch ein Kind," fuhr er fort. "Calenwen und ich hatten sie an den Nordrand des Grenzwaldes mitgenommen, wo es ganz ähnliche Laubbäume wie hier gibt. Während ich mit Mithrellas eines ihrer Lieblingslieder übte, versuchte Calenwen, uns ein... Picknick zu richten." Er zögerte bei dem Wort, als wäre es noch neu für ihn und Kerry vermutete, dass es im Sindarin damals gewiss ein gänzlich anderes Wort für ein einfaches Essen im Freien gegeben haben musste.
Ein winziger Zweig landete auf Kerrys Wange und sie musste sich beherrschen, nicht in wütendes Geschrei auszubrechen. Das würde vermutlich nur Feinde anlocken und alles noch schlimmer machen. Also biss sie sich auf die Zunge und fragte: "Und was geschah dann?"
"Ein Eichhörnchen, das in den Ästen über uns herumtollte, sorgte dafür, dass Calenwen wieder und wieder mit Ästchen und Nadeln bombardiert wurde, was ihrer Laune ebenso wenig zuträglich war wie deiner. Also schnappte sie sich einen Tannenzapfen und... Nun, lass es mich so sagen: Seither habe ich sie nie mehr zu necken gewagt, wenn sich adäquate Wurfgeschosse in ihrer Greifreichweite befanden."
Kerry musste kichern. Die Vorstellung, wie eine würdevolle Elbin ein unschuldiges Eichhörnchen mit einem gut gezielten Tannenzapfenwurf aus den Baumkronen beförderte, war zu komisch. "Willst du damit sagen, ich sollte es Calenwen gleichtun?"
Oronêl grinste. "Ich fürchte, für dieses spezielle Eichhörnchen wird ein einfacher Tannenzapfen nicht ausreichen."

Glücklicherweise dauerte es nicht mehr lange, bis Gwŷra von selbst heruntergeklettert kam. Sie wirkte erschöpft, zerzaust, aber glücklich. "Keine Feinde in Sicht," meldete das dunkelhaarige Mädchen und schien sich nicht an den vielen Nadeln zu stören, die sich überall in ihrem langen Haar verfangen hatten.
In diesem Augenblick kehrte Rilmir zu ihnen zurück, beide Arme voller Reisig. "Das hört man gerne," merkte der Waldläufer an und begann, ein kleines Feuer zu schüren. Da die Sonne inzwischen untergegangen war, würde die Dunkelheit sowie der dichte Nebel, der langsam vom Fluss aufzusteigen begonnen hatte, den verräterischen Rauch des Lagerfeuers vor unfreundlichen Augen verbergen. Kerry hoffte, dass die sie umgebenden Bäume dafür sorgen würden, dass das Licht der Flammen von außerhalb des Wäldchens nicht bemerkt werden würde.
Die vier Gefährten versammelten sich rings um die Feuerstelle und machten sich über das Abendessen her. Als alle satt geworden waren, kamen sie auf den Fortschritt ihrer Reise zu sprechen.
"Wir sind gerade ungefähr hier," sagte Gwŷra und zeichnete mit einem Stöckchen eine grobe Karte der Region in die lockere Erde nahe des Feuers. Der Fluss Isen hatte seine Biegung nach Westen ein gutes Stück stromaufwärts abgeschlossen und ihr Nachtlager lag ungefähr auf halbem Wege bis zur Westgrenze Dunlands, wo laut Gwŷra das Gebiet des Stamms der Kette lag. In deren Hauptansiedlung, dem sogenannten "Juwel der Kette", erwartete Aéd der Tod durch Yvens Hand... wenn sie nichts unternahmen.
Rilmir zog abschätzend mit dem Finger eine Linie bis zu der Stelle im Westen, wo sich die groben Striche, die die Flüsse Isen und Adorn darstellten, kreuzten. "Ich denke, es wird nicht mehr als ein Tagesritt bis dorthin sein," meinte der Waldläufer nachdenklich. "Morgen Abend könnten wir das Juwel der Kette erreicht haben."
"Das ist nicht gut," murmelte Gwŷra. "Morgen zeigt der Blutmond seine ganze Macht. Natürlich... Deswegen haben sie bis jetzt gewartet." Alarmiert richtete sich das Mädchen auf. "Sie werden das Ritual morgen vollstrecken," erklärte sie. "Wenn der Blutmond seinen Zenit erreicht und direkt über dem Juwel zum Stehen kommt. Ja... Wir müssen uns eilen. Morgen Nacht wird es zu spät sein, um den Wolfskönig zu retten."
"Dann reiten wir noch heute weiter," entschied Oronêl. "Vier Stunden Rast, dann brechen wir wieder auf."
Niemand erhob Einwände gegen seinen Vorschlag. Stillschweigend hatte die Gruppe Oronêl bereits in Isengard als ihren Anführer akzeptiert; selbst Gwŷra behandelte den Waldelb mit einem gewissen Respekt. Auch wenn Kerry nicht sonderlich erpicht darauf war, auf so viel Schlaf zu verzichten erkannte sie doch die Wahrheit in Gwŷras Worten. Wenn der Vollmond seinen höchsten Punkt erreichte, würde Aéd sterben. Das würde Kerry nicht zulassen.

Rasch legten sich die drei Menschen nahe des Feuers schlafen, um vor dem kommenden Eilritt noch etwas Ruhe zu finden. Oronêl würde die Wachschicht übernehmen, denn wie Kerry wusste, benötigte der Waldelb deutlich weniger Schlaf. Doch obwohl sie müde von der anstrengenden Reise durch die südlichen Regionen Dunlands entlang des Isen war, fand Kerry zunächst keinen Schlaf. Jetzt, da sie eine schlüssige Vermutung darüber hatten, wieviel Zeit ihnen zu Rettung von Aéd noch blieb, wurde die Gefahr noch eine Spur realer in Kerrys Vorstellung. Voller Sorge wälzte sie sich auf dem weichen Moos unter ihr hin und her, bis auf einmal erneut Oronêls sanfte, ferne Stimme an ihr Ohr drang. Er sang eine kaum hörbare Weise in einer elbischen Sprache, die Kerry nicht verstand. Und obwohl sie die Bedeutung der Worte nicht kannte, fand sie dennoch einen gewissen Trost und Frieden darin. Bald schon kam ein tiefer Schlaf über sie.
« Letzte Änderung: 17. Sep 2019, 17:43 von Fine »
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Eandril

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Re: Das Umland des Isen
« Antwort #1 am: 13. Sep 2019, 00:27 »
Die Sonne versank rasch im Westen, und am wolkenlosen Himmel begannen bereits die ersten Sterne zu leuchten, als Gwŷra und Kerry ihren Falben anhielten. Gwŷra deutete von hinter Kerrys Rücken hervor nach Westen und sagte: "Hinter diesem Hügel ist es, am Ufer des Flusses." Dann blickte sie nach oben, und fügte hinzu: "Es wird eine klare Nacht geben. Der Blutmond wird hell über dem Land scheinen."
"Dann werden wir wenigstens keine Schwierigkeiten haben zu sehen", meinte Rilmir, und sprang leichtfüßig von seinem Pferd. Auf Kerrys Blick hin fragte er: "Was? Wir können schlecht mit drei Pferden einen Kavallerieangriff auf ein Dorf starten. Das wäre nicht sonderlich gesund." Oronêl stimmte ihm zu. "Wir dürfen nicht Eile und Hast verwechseln, Kerry. Natürlich müssen wir schnell handeln, und das werden wir, doch indem wir überhastet vorgehen werden wir nichts erreichen." Er glitt ebenfalls vom Rücken seines Pferdes, und blickte sich um. Den gesamten Tag waren sie noch langsamer vorangekommen als er es sich gewünscht hätte, denn schon bald hatten sie ein Hügelland erreicht, dessen Kämme das Land von Norden nach Süden durchzogen. Da sie beschlossen hatten den Fluss, an dessen Ufern es laut Gwŷra bereits vereinzelte Gehöfte und Lager des Stammes der Kette gab, zu meiden, war ihnen nichts anderes übrig geblieben, als immer einen Hügel hinauf und auf der anderen Seite wieder hinunter zu reiten. Die von Heidekraut überwucherte Senke, in dem sie sich jetzt befanden, verlief ungefähr in südöstlicher Richtung auf das weite Tal des Isen zu.
Oronêl wies in Richtung der westlichen Hügelkuppe. "Ich werde von dort aus einen Blick auf dieses Juwel der Kette werfen."
Rilmir nickte zustimmend. "Und ich werde aufpassen, dass sich keine vorwitzigen Dunländer an uns heranschleichen. Kerry und Gwŷra bleiben bei mir."
"Schön, dass ihr euch so einig seid", meinte Kerry, und warf einen missmutigen Blick von einem zum anderen. "Ich will etwas tun, und nicht nur darauf warten, dass ihr etwas tut."
Auch Gwŷra schien mit dem Plan nicht einverstanden zu sein. "Ich werde dich begleiten, Môrysbryd - Oronêl. Meine Augen mögen nicht magisch sein wie deine, aber ich kenne den Ort. Mein Wissen könnte dir von Nutzen sein."
"Meine Augen sind nicht...", setzte Oronêl an, winkte dann aber ab. "Schön. Du begleitest mich. Und Kerry... Der Moment für Taten wird kommen. Glaube nicht, dass ich dich nach all unseren Erlebnissen noch unterschätze." Kerry wirkte ein wenig besänftigt und begann, statt zu widersprechen, ihrem Pferd nervös mit den Fingern durch die Mähne zu fahren. Oronêl wandte sich wieder Gwŷra zu. "Also dann, lass uns gehen."

Auf der Hügelkuppe pfiff ein empfindlich kalter Wind, der ihre Haare zersauste und ins Gesicht wehte. Die dünne Schneedecke knirschte leise unter Gwŷras Füßen, doch ansonsten machte das Mädchen aus Enedwaith weitaus weniger Lärm als Oronêl befürchtet hatte.
Sie duckten sich vorsichtig ins Heidekraut, und Oronêl ließ den Blick über das vor ihnen liegende Tal des Isen schweifen. Der Fluss floss vielleicht eine knappe Meile entfernt im Süden, und die letzten Sonnenstrahlen glitzerten auf dem Wasser. Jenseits des Isen zog sich der Fluss Adorn als glänzendes Band von Westen hin, bevor er ziemlich genau südlich von ihrer Position mit dem Isen zusammenfloss. Nicht direkt am Flussufer, sondern lediglich eine Viertelmeile südlich der Hügel lag eine Ansammlung von Hütten - das Juwel der Kette. "Dort ist es", sagte Gwŷra leise. "Es ist der heilige Ort dieses Stammes, hier wählen sie ihre Häuptlinge, nachdem sie den toten Häuptling verbrannt haben."
Das hielt Oronêl für gute Neuigkeiten. An einem solchen Ort würden sie vermutlich nicht auf besonders viele Dorfbewohner stoßen, sondern nur auf Yven und seine Krieger. Die heilige Stätte bestand aus vier langgezogenen Hütten aus grobem Stein, mit Dächern aus Schilf, die sich im Kreis um einen einzelnen, mächtigen Baum, eine Eiche mit ausladenden Ästen, gruppierten. Die Querseiten der Hütten blickten dabei auf die Eiche. Mehrere Gestalten bewegten sich dort unten. Je zwei Krieger bewachten die Durchgänge zwischen den Hütten, während auf dem Platz um die Eiche herum andere dabei waren, Stangen in den Boden zu rammen.
"Fackeln für das Ritual", meinte Gwŷra, und bestätigte damit Oronêls Vermutung. "Alle die im Kreis stehen werden blind sein für das, was außerhalb geschieht." Oronêl nickte, denn seine Gedanken waren in die gleiche Richtung gegangen. "Das könnten wir uns zunutze machen. Die Nacht bricht ohnehin bald herein, und es wird nach Einbruch der Dunkelheit noch wenigstens eine Stunde dauern, bis der Mond aufgeht. Wir haben also ein wenig Zeit, wenn Yven plant, Aéd unter dem Blutmond zu opfern."
"Das wird er", erwiderte Gwŷra. "Der Blutmond hat große Macht, und ein Opfer, dass in seinem Licht erbracht wird..." Sie erschauderte ein wenig.
"Also gut", sagte Oronêl, und zählte in Gedanken die Dunländer, die er im schwindenden Licht erkennen konnte. "Yven hat dort unten wenigstens dreißig Krieger, und ich sehe Aéd nicht - also ist er vermutlich in einer der Hütten. Das erschwert unsere Aufgabe natürlich, denn wir wissen nicht, in welcher."
"Ich habe eine Idee", stellte Gwŷra fest. "Aber ich werde sie mit allen teilen, denn Kerry sollte entscheiden." Ihr Ton war endgültig, und so beschloss Oronêl, ihr nicht zu widersprechen, auch wenn er insgeheim daran zweifelte, ob Kerry in diesem Fall in der Lage sein würde, die richtige Entscheidung zu treffen.

"Yven hat dort unten wenigstens dreißig Krieger versammelt, wenn nicht mehr", schloss Oronêl seinen Bericht. "Und wir wissen nicht, in welchem der vier Häuser Aéd festgehalten wird."
"Aber es gibt einen Weg, das herauszufinden." Gwŷras schmale Gestalt war in der Dunkelheit, die sich inzwischen über sie gesenkt hatte, kaum zu erkennen, doch sie hatte sich zu ihrer vollen Größe aufgerichtet. "Wir warten, bis kurz vor der Opferung, wenn sie ihn herausbringen. Und dann schlagen wir zu, wie Schatten in der Nacht."
Eine Zeit lang herrschte Schweigen, und nur der Wind war in der Senke zu hören. Als Kerry das Schweigen schließlich brach, überraschte ihre Antwort Oronêl. "Gwŷra hat recht", sagte sie, und gab sich hörbar Mühe, ihre Stimme nicht zittern zu lassen. "Wenn wir jetzt angreifen und ihn nicht sofort finden, dann... Und die Chancen, direkt die richtige Hütte zu wählen, stehen nicht besonders gut, oder? Also... also würde ich sagen, dass wir Gwŷras Plan folgen." Sie blickte erwartungsvoll erst Oronêl und dann Rilmir an. Oronêl hob die Schultern. "Ich finde, dies ist deine Entscheidung, Kerry. Gwŷras Plan ist gut, wenn auch riskant - sind wir nur um ein weniges zu langsam, wird es zu spät sein. Doch andererseits riskieren wir auch so, zu spät zu Aéd zu gelangen."
"Es besteht in jedem Fall das Risiko, dass wir scheitern", stellte Rilmir fest. "So ist das Leben. Doch ich stimmte zu, dass Gwŷras Plan Erfolg haben könnte. Doch wie erkennen wir den richtigen Zeitpunkt zum Angriff?"
Oronêl fuhr sich mit der Hand durch die Haare. "Ich hätte da eine Idee..."

Der Mond zeigte sich als makellose Scheibe am Horizont und tauchte das Tal des Isen in ein schwaches, silbernes Licht. Neben Oronêl raschelte leise das Gras unter Kerrys Füßen, doch er hatte sich inzwischen daran gewöhnt, dass es Menschen offenbar nicht möglich war, sich einigermaßen lautlos zu bewegen. Glücklicherweise schienen die meisten Menschen gleichermaßen nicht in der Lage zu sein, derartig leise Geräusche wahrzunehmen - zumal die Dunländer im Inneren des Heiligtums die Stille der Nacht mit Lachen und Gröhlen durchbrachen, und die Wächter vermutlich ohnehin nicht in der Lage waren, ungestört in die Nacht hinein zu lauschen. Sie erreichten ungestört die Außenwand der östlichen Hütte, und Oronêl legte eine Hand auf den rauen Stein.
"Bereit?", wisperte er beinahe unhörbar, und spürte Kerry neben sich entschlossen nicken. Er verschränkte die Finger zu einer Art Steigbügel, Kerry stellte den Fuß hinein und setzte den anderen gegen die Mauer. Glücklicherweise war sie nicht schwerer als ein Elbenkrieger, also hatte Oronêl keine Schwierigkeiten, sie zu halten, bis sie flüsterte: "Los!" Oronêl gab ihr Schwung nach oben, während sie sich gleichzeitig mit dem anderen Bein von der Mauer abstieß. Kerry Oberkörper landete mit einem dumpfen Schlag auf dem niedrigen Schilfdach, und nur einen Augenblick später hatte sie sich ganz nach oben gezogen und verschwand.
Oronêl lehnte sich mit dem Rücken an die unebene Steinmauer, und lauschte auf die Geräusche aus dem Inneren des Heiligtums. Trommeln begannen durch die Nacht zu dröhnen, raue Gesänge und Gelächter ertönten.
Wenig später schälte sich Rilmirs Gestalt aus der Dunkelheit. "Gwŷra ist in Position", sagte er leise, und Oronêl erwiderte: "Kerry ebenfalls. Jetzt bleibt uns nichts, außer abzuwarten." Ganz wohl war ihm nicht bei dem Gedanken, Kerry alleine als Beobachterin auf dem Dach zu postieren, doch es war die beste Aufgabe für sie. Sobald Yvens Männer Aéd hinaus brachten, würden sie und Gwŷra den Schrei einer Eule nachahmen - eine Fähigkeit, die Gwŷra Kerry eilig zumindest einigermaßen beigebracht hatte. Sobald das Signal kam, würden Oronêl und Rilmir zuschlagen - in der Hoffnung, dass der Großteil der Dunländer zu diesem Zeitpunkt betrunken genug wäre, um sich überrumpeln zu lassen.
Über ihren Köpfen begann der Mond sich zu verdunkeln - der Blutmond begann. Und im selben Augenblick hörte Oronêl über dem Lärm der Dunländer etwas, dass zumindest annähernd wie der Ruf einer Eule klang. Und gleich darauf noch einmal von etwas weiter entfernt, dafür deutlich naturgetreuer.
"Es ist soweit", flüsterte Oronêl, denn Rilmir hatte den Ruf offenbar nicht gehört. Der Waldläufer nickte, und verschwand nach Süden um das Haus herum, während Oronêl den nördlichen Weg wählte. Die Wächter auf beiden Wegen auszuschalten würde ihre Fluchtmöglichkeiten deutlich verbessern.

Noch bevor er die Hausecke umrundet hatte, nahm Oronêl den Boden vom Rücken und hatte einen Pfeil eingelegt. Sobald er ins Freie getreten war zielte er und ließ noch im selben Atemzug die Sehne los. Der Pfeil flog beinahe lautlos durch die Nacht, und traf einen der Männer, der gelangweilt ins Dunkel starrte, in den Hals. Er ging mit einem gurgelnden Laut zu Boden, und sein Gefährte, der gespannt die Zeremonie beobachtet hatte anstatt Wache zu halten, fuhr erschreckt herum. Doch bevor er einen Laut der Warnung von sich geben konnte, traf ihn Oronêls zweiter Pfeil direkt ins Auge.
Ohne anzuhalten legte Oronêl einen weiteren Pfeil auf die Sehne, spannte den Bogen allerdings noch nicht. Die beiden Wächter waren ausgeschaltet, doch im Inneren des Kreises aus Fackeln befanden sich vierzig oder mehr weitere Dunländer. Oronêl entdeckte Yven, der vor einer an einen Pfahl gebundenen Gestalt stand, ein blutiges Messer in die Höhe reckte, und triumphierend etwas rief, dass Oronêl nicht verstehen konnte. Der Mann am Pfahl war jedoch nicht Aéd, den Oronêl jetzt erspäht hatte. Der junge Wolfskönig wurde gerade von zwei bulligen Dunländern an den mächtigen Eichenstamm gefesselt.
Yven wandte sich von dem Pfahl ab und schritt durch die Menge seiner Anhänger auf Aéd zu, während sich der Mond am Himmel zunehmen rot verfärbte. Vorsichtig näherte Oronêl sich dem Kreis der Fackeln. Auf dem Platz brannten auch mehrere Feuer, sodass das gesamte Areal um den Baum herum hell erleuchtet war, und das Licht die Dunländer blind für alles machte, was sich außerhalb in der Dunkelheit abspielte. Kurz vor den Fackeln hielt Oronêl an, und ging leicht in die Hocke. Ein Blick nach links, an der Front des Hauses vorbei verriet ihm, dass Rilmir die Wächter auf seiner Seite ebenfalls überwunden hatte, und jetzt abwartete.
"Siehst du, Wölfchen, was mit deinen Welpen geschieht", gröhlte Yven, und fuchtelte mit den blutigen Messer vor Aéds Gesicht herum. "Aber er kann sich glücklich schätzen, denn er wird überleben. Und Zeuge sein, wie wir dich unter dem Blutmond den Göttern opfern! Sie werden uns Kraft schenken, und unsere Stämme zurück zu Ruhm, zu Blut und Feuer führen!" Er hob die Hände, und die johlenden Dunländer verstummten. "Und jetzt, kleiner Wolf, wirst du für deinen Verrat am Volk der Dunländer sterben." Yven hob den Dolch, und Oronêl spannte in einer fließenden Bewegung den Bogen, zog die Sehne zurück bis an die Wange, zielte und ließ die Sehne los. Es wäre ein perfekter Schuss gewesen, der Yven direkt unter dem Schulterblatt zwischen den Rippen hindurch ins Herz getroffen hätte - hätte Aéd nicht genau diesen Augenblick gewählt, sich zusammenzukrümmen und Yven die Stirn mitten ins Gesicht zu rammen. Der verräterische Häuptling taumelte einen Schritt rückwärts, krümmte sich zusammen und im gleichen Atemzug traf Oronêls Pfeil ihn in die linke Schulter und warf ihn zu Boden.
Oronêl stieß einen Fluch, der selbst einen Zwerg hätte erblassen lassen, aus, lies den Bogen fallen und riss Hatholdôr aus dem Gürtel. Er sprang zwischen den Fackeln hindurch, streckte einen überraschten Dunländer mit einem Hieb gegen den Hals nieder, stieß zwei weitere beiseite und war mit zwei langen Sprüngen an Aéds Seite. Mit einem Hieb durchtrennte er die Seile, die den Wolfskönig an den Baum fesselten, packte Aéd an der Schulter und rief: "Lauf!"
Aéd schüttelte verwirrt den Kopf, und wäre beinahe auf die Knie gefallen. Oronêl spaltete einem Dunländer neben ihm, der träge zur Waffe griff, mit einem einzigen Hieb beinahe den Schädel, und riss Aéd wieder auf die Füße. "Los!"
Aéd schüttelte den Kopf und deutete auf den blutüberströmten Mann, der ihm gegenüber aufrecht am Pfahl stand. "Wir müssen Domnall retten." Oronêl duckte sich unter einem auf seinen Kopf gezielten Keulenhieb weg und trennte dem Angreifer als Vergeltung die Keulenhand ab. Immer mehr Dunländer schienen zu begreifen, was geschah, und griffen zu ihren Waffen. Bevor Oronêl jedoch etwas sagen konnte, ertönte aus dem Westen ein lauter Knall, und mit einem Mal stand das Dach des Hauses dort in lebhaften Flammen. In der Tür des Hauses stand Gwŷra, schwenkte lebhaft die Arme über dem Kopf und rief: "Feuer! Feuer! Es brennt!"
Dann war Rilmir da, der mit wirbelndem Schwert einen Arm abtrennte und seinen Gegner dann mit einem mächtigen Hieb quer über die Brust zu Boden schickte. Er hatte einen blutigen Kratzer quer über der Stirn und keuchte: "So war das nicht geplant, oder?" Oronêl schüttelte den Kopf. Je länger sie zögerten, desto bedrohlicher wurde ihre Situation, auch wenn sich gerade durch Gwŷras Brandstiftung Verwirrung unter den Dunländern breitmachte. Aéd hob eine Keule aus Tierknochen, die einer der Toten fallen gelassen hatte, auf, wirkte aber noch äußerst wackelig auf den Beinen als er einen Schritt auf Domnall zu machte.
"Pass auf, dass ihm nichts geschieht", sagte Oronêl zu Rilmir, bevor er zwei Dunländern auswich, sich zwischen ihnen hindurch wand, den letzten Krieger zwischen sich und Domnall zu Boden schickte und Domnalls Fesseln durchtrennte. Aéds Gefährte trug ein blutiges Muster aus Schnitten auf der nackten Brust, doch für Mitgefühl blieb keine Zeit. Oronêl stieß ihn grob in Richtung des östlichen Hauses, bevor er einem auf seinen Kopf zurasenden Hammer gerade noch ausweichen konnte. Eine Gruppe Dunländer warf sich jetzt in den Kampf, die sich deutlich von Yvens abgerissenen Getreuen unterschieden, und die vornehmlich mit mächtigen Keulen aus Eisen oder, größtenteils, Tierknochen bewaffnet waren. Oronêl traf seinen Gegner an der Schulter, doch eine zweite Keule traf ihn in den Rücken, presste ihm die Luft aus den Lungen und schleuderte ihn vorwärts. Er rollte sich geistesgegenwärtig ab, führte einen Hieb gegen ein nahes Bein und kam ein wenig unsicher wieder auf die Füße. Vor seinen Augen blitzte es, und sein Rücken fühlte sich an, als stünde er in Flammen. Bevor sich jedoch der nächste dunländische Krieger auf ihn stürzen konnte, dröhnte eine mächtige Stimme über den Platz: "Genug! Legt die Waffen nieder, oder euer kleiner Wolfskönig stirbt hier und jetzt."

Stille senkte sich über den Platz, und der Blutmond über ihnen verbreitete ein unheimliches rötliches Licht am Himmel. Vor dem Eingang des östlichen Hauses, direkt unter dem Punkt von dem aus Kerry das Ritual beobachtet hatte, stand ein Mann von riesenhaftem Wuchs, der eine mächtige Hand um Aéds Nacken gekrallt hatte und diesem mit der anderen Hand ein Messer gegen die Kehle drückte. Ein Stück von Oronêl entfernt kam Rilmir auf die Füße, und hielt sich die Hand unter die blutende Nase. Er versuchte einen Blick mit Oronêl zu wechseln, doch Oronêl wich ihm aus. Stattdessen blickte er dem Krieger, der Aéd im Griff hatte, ins Gesicht, und zwang sich zu einem Lächeln. "Nur zu, tötet ihn. Ich bin Oronêl Galion, aus dem Goldenen Wald Lothlórien. Und ich schwöre euch, wenn ihr ihn tötet, wird an diesem Ort kein Dunländer am Leben bleiben."
"Das sind große Worte, für einen Mann - und sei es einer vom Elbenvolk", erwiderte der Krieger gelassen. "Ich bin Marchod der Donnerer, Häuptling vom Stamm der Kette, und..." Marchod konnte nicht aussprechen, denn im selben Augenblick ließ sich Kerry vom Dach hinter ihm Fallen, und stieß ihm die Füße genau ins Gesicht. Alle drei gingen zu Boden, und einen Herzschlag später hatte Kerry sich wieder aufgerappelt und Aéd hinter sich gezogen. "Lass ihn in Ruhe, du... Dysig1! " Die Wirkung wurde ein wenig von ihren zitternden Händen verdorben, und Marchod lachte schallend. "HA! Seht ihn euch an, unseren Wolfskönig. Muss sich von einem Mädchen beschützen lassen, noch dazu von einer kleinen Forgoil. HA!"
"Zumindest... ermorde ich keine Männer im Schlaf. Oder entführe sie auf heimtückische, feige Weise, um sie dunklen Göttern zu opfern", erwiderte Aéd, zuerst mühsam, dann mit kräftigerer Stimme. "Das tut nur dein guter Freund Yven."
Marchod verzog das Gesicht. "Yven, diese Ratte, ist nicht mein guter Freund." Er warf einen verächtlichen Blick auf den angesprochenen, der sich gerade mit schmerzverzerrtem Gesicht aufgerappelt hatte. Aus Yvens Schulter ragte noch immer Oronêls Pfeil. "Aber er hat es geschafft, viele aus meinem Stamm auf seine Seite zu ziehen... und du, kleiner Wolfskönig, erscheinst mit schwach. Warum sollte ich einem schwachen König folgen? Und wo wir gerade über Schwäche sprechen... Du, Yven, bist ebenso schwach, nur heimtückischer. Feige. Und das kann ich ebenso wenig ausstehen." Auf einen einzigen Wink Marchods hin rammte einer der Männer hinter Yven ihm den Speer in den Rücken. Yven blickte fassungslos auf die blutige Speerspitze, die aus seiner Brust ragte, und brach dann ohne einen weiteren Laut zusammen. Seine verbliebenen Männer sahen schockiert zu, und Marchod sprach weiter: "Wer durch Hinterhältigkeit aufsteigt wird auch so fallen. So sprich Marchod der Donnerer. Wenn ihr ein Problem damit habt, seid ihr herzlich eingeladen, mit eurem Häuptling zu sterben. Nein? Dachte ich mir."
"Warum, Marchod?", meldete sich jetzt wieder Aéd zu Wort, der sich nicht länger auf Kerrys Schulter stützen musste. "Warum jetzt?"
Marchod zuckte mit den Schultern. "Warum nicht? Aber denk nicht, dass du so einfach davon kommst, kleiner Wolf. Du erscheinst mir noch immer schwach, also warum solltest du unser Wolfskönig sein und nicht Marchod der Donnerer?"
Aéd lächelte, und trotz seiner Blässe wirkte das Lächeln gefährlich. "Ich könnte dir eine Menge Gründe nennen, Marchod, aber ich weiß, dass dich keiner davon überzeugen würde. Also werde ich dich ordentlich zusammenschlagen müssen, um dich zu überzeugen."
"Ha, das möchte ich sehen. Im Augenblick hast du wohl kaum genügend Kraft, um dein Mädchen da im Kampf zu besiegen, wie willst du dann gegen mich bestehen?"
"Nicht jetzt", erwiderte Aéd. "Das wäre kaum ein gerechter Kampf. Eines Häuptlings wie dir nicht würdig. Sagen wir... beim nächsten Vollmond. Ich kehre hierher zurück, um mich dir zu stellen. Besiege ich dich, wirst du mein treuester Gefolgsmann werden. Siegst du, gehört die Krone des Wolfskönigs dir. Was sagst du?"
"Der Wolf hat ja doch Zähne", grinste Marchod. "Also schön, kleiner Wolf. Beim nächsten Vollmond. Hier. Ich werde dich auch dann zu einem Haufen Brei zusammenschlagen, aber wenigstens wird es gerecht sein. Ha!" Er wandte sich an Oronêl. "Und ihr... Befreier. Ich schenke euch ebenfalls das Leben. Selbst diesem kleinen Miststück, dass unser Dach angezündet hat." Das fragliche Dach brannte immer noch munter, während Marchod Gwŷra einen finsteren Blick zuwarf, und Gwŷra ebenso finster zurückstarrte. "Und wisst ihr warum? Weil ihr Mut gezeigt habt, und mich gut unterhalten habt. Besser als diese Ratte Yven, mit seinem Gefasel von Opfern und Sieg und Ruhm und Blut und Feuer, und bla bla bla. Ihr dürft also weiterleben, wenn ihr euch jetzt verzieht. Sofort!"

Oronêl beschloss, nicht zu widersprechen, sondern den Rückzug anzutreten. Während Kerry Aéd stützte, trug Rilmir Domnall mehr, als dass dieser selber gehen konnte. Oronêl bildete mit Gwŷra die Nachhut. "Der Blutmond bedeutet immer Tod", meinte Gwŷra nachdenklich, während sie sich langsam durch die Dunkelheit auf den Weg zu der Senke machten, wo sie die Pferde zurückgelassen hatten. "Und doch leben wir noch alle. Wie kann das sein?"
"Glück, Gwŷra", erwiderte Oronêl. "Wir hatten eine Menge Glück. Das Schicksal hat offenbar noch andere Pläne mit uns allen."
"Hm", machte Gwŷra. "Ich weiß, was es mit mir vorhat. Ich muss heimkehren."

1 rohirrisch Narr, Idiot
« Letzte Änderung: 30. Sep 2019, 07:59 von Fine »

Oronêl - Edrahil - Hilgorn -Narissa - Milva

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Das Volk der Küsten
« Antwort #2 am: 23. Sep 2019, 14:55 »
Bei den Pferden angekommen ließ sich Kerry erschöpft in das weiche, kühle Heidekraut der kleinen Senke fallen. Rilmir begann derweil, Domnalls Wunden so gut es ging zu verbinden.
"Also, was jetzt?" fragte Kerry in die Runde.
Oronêl, der gerade nach den Pferden gesehen hatte, kehrte zum Rest der Gruppe zurück und sagte: "Ich denke, es wäre am Besten, wenn wir Domnall zu seinem Stamm bringen."
Aéd, der inzwischen wieder problemlos auf eigenen Beinen stehen konnte, nickte zustimmend. "Ich muss ohnehin dorthin und die Häuptlinge zusammenrufen."
"Dann reiten wir so schnell es geht zum Dorf des Stammes des Schildes?" fragte Kerry. Zwar mussten sie dafür Dunland beinahe in seiner gesamten Länge durchqueren, doch nun, da Yven tot war, sollte das Land wenigstens wieder sicher für sie sein.
"Liegt es nicht in der Nähe der Grenze von Eregion?" fragte Rilmir, was von Oronêl und Kerry bejaht wurde. Der Waldläufer strich sich nachdenklich über das Kinn. "Nun, dann werde ich bis dorthin mitkommen. Ich habe immer noch einen Auftrag zu erfüllen."
Interessiert blickte Aéd bei diesen Worten auf. "Worum geht es dabei, wenn ich fragen darf?"
Rilmir verschränkte die Arme vor der Brust. "Ich bin ein Abgesandter des Sternenbundes, einer Gruppe von Dúnedain des Nordens, die dafür kämpfen, Eriador von Sarumans Unterdrückung zu befreien. Unser Anführer ist der Meinung, dass sich bei unseren Zielen eine Zusammenarbeit mit den freien Dunländern für beide Seiten auszahlen könnte."
Aéd lächelte etwas gequält. "Wie ich auf schmerzhafte Weise erfahren musste, ist Sarumans Einfluß hier in Dunland noch immer stark," sagte er. "Ich weiß nicht, wieviel Hilfe meine Leute derzeit leisten können, aber ich denke, wir sollten uns in Ruhe unterhalten, wenn wir mein Heimatdorf erreicht haben."
Rilmir nickte zufrieden. "Dann reiten wir gemeinsam."

Gwŷra tauchte aus den Schatten der Nacht auf. Offenbar hatte sie den letzten Satz mitangehört, denn sie verkündete: "Wenn dem so ist, dann trennen sich unsere Wege hier. Nicht nach Norden hin, sondern nach Westen liegt mein Schicksal. Ich habe es dem Môrysbryd bereits gesagt."
"Wovon sprichst du?" wollte Kerry wissen.
Gwŷra streckte den Arm aus und zeigte westwärts. "Dort liegt meine Heimat. Die Weiße Hand ist dort stark. Doch wenn mein Vater erfährt, dass ich frei bin, werden sich seine Krieger gegen die Diener des Zauberers erheben. Es wird Krieg geben und der Blutmond wird viele Seelen einfordern. Aber es muss sein. Die Glannau Môr müssen wieder frei sein."
Oronêl rührte sich und sagte: "Du solltest nicht alleine gehen, Gwŷra. Ich werde dich begleiten."
"Môrysbryd..." Gwŷra machte ein betroffenes Gesicht. "Das ist keine gute Idee..."
"Wieso nicht?" mischte Kerry sich ein.
Gwŷra wirkte, als fiele es ihr schwer darüber zu sprechen. Leise sagte sie: "Mein Volk hat viele Monde lang kaum Kontakt zu den Reichen und Ländern dieser Welt gehabt, bis die Weißhände zu uns kamen. Am Anfang brachten sie fremde Waren und Waffen und gaben sich freundlich, doch im Laufe der Zeit änderte sich ihr Verhalten. Bald schon waren die Küstenstämme gezwungen, Schiffe für den Zauberer zu bauen und die Sturmsee jenseits der Mündung des Schattenflusses zu befahren. Das taten sie, bis eines Tages drei Schiffe vor dem Delta erschienen. Und der Befehl zum Angriff erging."
Ein Schatten zog über Oronêls Gesicht. "Ich glaube, ich weiß, was du sagen willst."
Kerry hingegen verstand es nicht. "Könnte mir bitte jemand erklären, worauf sie hinauswill?"
Gwŷra warf ihr einen kurzen Blick zu. "Drei Schiffe waren es, doch zwei reichten aus, um unsere Flotte zu vernichten. Es waren gewaltige, schwimmende Festungen, gebaut für den Krieg und mit schrecklichen Waffen bestückt. Die Zahl der Seelen, deren Blut den Fluss rot tränkte, lag in den Hunderten. Und gesteuert wurden jene Todesmaschinen von..."
"Von Elben," schloss Oronêl. "Es waren die Schiffe der Manarîn, Kerry. Erinnerst du dich? Du warst dort, an jenem Tag, als wir durch die Blockade der Gwathló-Mündungen brachen."
Gwŷra keuchte erschrocken auf. "Ihr wart dort? Seid ihr... klebt also auch an euren Händen das Blut der Glannau Môr?"
Kerry schluckte. "Wir befanden uns auf dem kleineren Schiff, das nicht an der Schlacht teilgenommen hat," beeilte sie sich zu sagen.
"Ist das so," meinte Gwŷra zweifelnd und schien Kerry schier mit ihren Blicken zu durchbohren. "Es macht keinen Unterschied. Wir haben so viele an jenem Tag verloren. Und auch wenn die meisten von uns wissen, dass es des Zauberers Befehle waren, die unsere Krieger in eine Schlacht warfen, die sie nicht gewinnen konnten..." Ihr Blick blieb an Oronêl hängen.
"Ich verstehe," sagte dieser. "Elben sind bei deinem Volk derzeit nicht gerne gesehen."
"Das ist noch untertrieben," meinte Gwŷra.
"Dennoch ändert dies meinen Entschluss nicht," fuhr Oronêl unbeirrt fort.
"Was?" entfuhr es Gwŷra. "Beim Blutmond, welch Torheit ist dies?"
"Du hast uns geholfen, Aéd zu retten. Diese Hilfe soll nicht unbeantwortet bleiben. Also, Gwŷra von den Glannau Môr: Ich werde mit dir gehen."
"Und ich auch," sagte Kerry und überraschte sich damit selbst. Doch je länger sie darüber nachdachte, desto entschlossener wurde sie, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. Gwŷra hatte ihr auf ihre eigene, merkwürdige Weise in den Verließen Isengards Mut gemacht und - ob sie nun wirklich geheimnisvolle Kräfte besaß oder nicht - irgendwie dazu verholfen, aus ihrer Zelle auszubrechen. Und sie hatte dafür gesorgt, dass Aéd nicht von Yven erdolcht worden war. Allein das würde Kerry ihr niemals vergessen.
Gwŷra warf Kerry einen sehr zweifelnden Blick zu. "Du?" Sie stieß lautstark die Luft aus. "Von welcher Hilfe könntest du mir sein?"
Kerry stemmte die Fäuste in die Hüften. "Das wirst du schon noch sehen," gab sie etwas patzig zurück. Ja, Gwŷra würde es noch sehen. Sie wollte dem merkwürdigen Mädchen beweisen, dass sie, auch wenn sie kein Schwert so wie Oronêl oder Rilmir schwingen konnte, trotzdem kein hilfloses Kind mehr war. Sie würde mit Gwŷra und Oronêl gehen und Sarumans Einfluss über die Küstenstämme ein Ende setzen.
Oronêl lachte leise. "Das ist die richtige Einstellung," befand er. "Dann sei es so. Wir reiten nach Westen, während Rilmir und Aéd Domnall zu einem Heiler bringen."
"Ich werde in meinem Heimatdorf auf euch und euren Bericht der kommenden Abenteuer warten," sagte dieser und zwinkerte Kerry zu, was sie errötend beiseite blicken ließ.
Gwŷra gab ihren Widerstand auf. "Oh blutiger Mond, ihr rennt in euer Verderben. Hindern kann ich euch nicht, also füge ich mich eben. Morgen früh stehen wir mit der Sonne auf und reiten nach Westen."

In dieser Nacht sprach Kerry noch lange mit Aéd über alles, was sie seit ihrer Trennung in Isengard erlebt hatte und über die Pläne, die der Wolfskönig nun hatte. Er würde die Loyalität seiner Häuptlinge auf die Probe stellen müssen und sich auf den Kampf gegen Marchod den Donnerer vorbereiten. Aéd nahm Kerry das Versprechen ab, ihn zu besuchen, ehe sie sich nach Eregion aufmachte - ein Versprechen, das sie ihm nur allzu gerne gab.
Als sie sich endlich schlafen legte, war es bereits nach Mitternacht und Kerry sank beinahe augenblicklich in einen tiefen Schlummer. Sie träumte von unzusammenhängenden Bildern von Reitern, die über eine Ebene gen Osten galoppierten, von gerüsteten Kriegern, die durch einen schwach beleuchteten Tunnel marschierten und von einer großen Flotte mit hellblauen Segeln, die mit dem Sonnenuntergang im Rücken über ein unruhiges Meer glitten. Zuletzt glaubte sie, einen dichten, alles erstickenden Nebel zu sehen, der vom Fluss her aufstieg und jegliches Licht zu verlöschen drohte.
Als Kerry aufwachte, hatte sie keine Erinnerung mehr daran. Rasch machte sie sich abreisefertig. Erneut würde sie sich ein Pferd mit Gwŷra teilen müssen. Sie verabschiedeten sich von Aéd, Rilmir und Domnall und ritten los, als die ersten Sonnenstrahlen das Flachland zu beiden Ufern des Isen zu streicheln begannen und den Morgentau einem glitzernden Meer gleich aufleuchten ließen...


Oronêl, Kerry und Gwŷra zum Dorf der Glannau Môr in Enedwaith
« Letzte Änderung: 4. Okt 2019, 13:44 von Fine »
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