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Autor Thema: Das Land der Glannau Môr  (Gelesen 3227 mal)

Eandril

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Das Land der Glannau Môr
« am: 4. Okt 2019, 11:58 »
Oronêl, Kerry und Gwŷra aus dem Umland des Isen

"Du hättest nicht zurückkehren sollen, Gwŷra-graig. Nicht nur, dass dein Fluch uns alle vernichten wird, führst du auch noch Feinde in unser Land. Schande über dich!" Der Sprecher, ein hochgewachsener Krieger mit zotteligen, braunen Locken, spuckte auf den Boden vor Gwŷras Füßen. Oronêl hatte sich den Empfang in Gwŷras Heimat trotz allem etwas freundlicher vorgestellt, und Kerry dachte offenbar ähnlich, denn sie fixierte den Krieger mit verengten Augen.
Gwŷra jedoch ließ sich kein bisschen von dieser unfreundlichen Begrüßung. Sie stemmte die Hände in die Seiten und beugte sich ein wenig vor. "Es gibt keine schlimmere Schande als ein Feigling zu sein, Elgar. Ich lebe mit meinem Fluch seit vielen Mondzyklen, und siehst du mich zittern wie ein altes Weib?" Elgar wich einen unmerklichen Schritt zurück, und Gwŷra wirkte sehr zufrieden mit sich selbst. "Beim Blutmond, Elgar. Ich habe keine Zeit, mich mit Feiglingen abzugeben. Wo ist mein Vater, der große Myndrag orr Gallayn?"
"Hier!", ertönte eine mächtige Stimme, und ein kräftiger Mann, der Gwŷras dunkles Haar teilte, ihr ansonsten aber kein bisschen ähnlich sah, schob sich durch die Menschenmenge nach vorne. Doch Myndrags Freude, seine Tochter zu sehen, schien nicht ungetrübt. Beinahe glaubte Oronêl, auch in seinen Augen einen Anflug von Furcht zu sehen.
"Meine Tochter ist zurückgekehrt", stellte der Häuptling fest, ohne einen Schritt auf Gwŷra zu zu gehen. "Oder ist sie das nicht?" Kerry wechselte einen verwirrten Blick mit Gwŷra, doch diese zuckte mit den Schultern. Offenbar wusste auch sie nicht, was hier gespielt wurde.
Schon bei der ersten unfreundlichen Begrüßung war Oronêl ein warnender Schauer über den Rücken gelaufen, und Myndrags Worte waren die Bestätigung, dass etwas ganz und gar nicht so war, wie es sein sollte. Er hatte auch eine Ahnung, wer dahinter steckte: Saruman. Der Einfluss der Weißen Hand war lange Zeit stark in Enedwaith gewesen, das wusste er, und Saruman war ein Meister der Tricks und Täuschung.
"Wieso sollte ich nicht ich sein?", fragte Gwŷra. "Ich bin hier, aus Fleisch und Blut - beim Blutmond, was sollte ich sonst sein?"
"Eine Täuschung", gab ihr Vater zurück. "Ein Gespinst aus Lügen, geschickt von arglistigen Göttern, um uns zum Verrat an der Weißen Hand anzustiften. Wir sind gewarnt worden. Meine Tochter steht zur Rechten des Weißen, und offenbart ihm die Ratschläge unserer Götter."
"Was für ein Unsinn." Kerry konnte sich offensichtlich nicht länger beherrschen. "Gwŷra war mit mir gemeinsam in den Verliesen unter Isengard eingesperrt, auf Sarumans Befehl. Sie..." Weiter kam sie nicht, denn Myndrag, der zu ersten Mal jemanden außer Gwŷra bewusst wahrzunehmen schien, unterbrach sie. "Und was ist das? Du bist eine von den Pferdemenschen, nicht wahr?"
Kerry schüttelte empört den Kopf. "Ich stamme aus Rohan, das ist richtig, aber es ist nicht besonders höflich..." Erneut wurde sie unterbrochen, denn Myndrags Blick war auf Oronêl gefallen, und der Häuptling erbleichte.
"Môrysbryd", stieß er hervor, und wandte sich Gwŷra zu. "Du bringst einen jener, die so viele deiner Verwandten, unseres Volkes, ermordeten, hierher? Das Blut der Glannau Môr klebt an seinen Händen!"
"Das Blut der Glannau Môr klebt an den Händen Sarumans, der Weißen Hand", erwiderte Oronêl ruhig, und richtete sich zu seiner vollen Größe auf, womit er den Häuptling um einen Kopf überragte. "Er sandte euch in eine Schlacht, die ihr verlieren musstet, gegen jene, die eure Freunde sein könnten - und sollten. Doch sie hatten keine Wahl, als an jenem Tag gegen euch zu kämpfen." Myndrag öffnete den Mund um etwas zu sagen, doch Oronêl sprach unbeirrt weiter. "Ich selbst habe keinem einzigen eurer Krieger ein Leid zugefügt, denn auch wenn ich die Schlacht mit eigenen Augen gesehen habe, habe ich doch an jenem Tag nicht gekämpft. Ihr könnt mich nicht für Taten verantwortlich machen, die andere meiner Art begangen haben."
Myndrag wich seinem Blick aus, beharrte aber stur: "Das Blut der Glannau Môr..."
Dieses Mal war er es, der von Gwŷra unterbrochen wurde. "... klebt an deinen Händen ebenso wie an denen des Môrs... Oronêls. Du hast den Befehl gegeben, Schiffe zu bauen. Du den Befehl gegeben, sich den Schiffen an der Mündung entgegenzustellen. Du hast eingewilligt, mich dem Zauberer als Geisel zu geben. Dein einziges überlebendes Kind!" Für einen Augenblick wirkte Gwŷra, als wüsste sie nicht, ob sie in Tränen ausbrechen oder ihren Vater erwürgen sollte. Dann straffte sich ihre zierliche Gestalt, und in ihren Augen flammte ein Feuer auf.
"Beim Blutmond, ich werde beweisen, dass ich keine Täuschung bin. Ich werde tun, was immer nötig ist."
"Das ist gefährlich, Gwŷra-graig", erklang eine neue, weibliche Stimme. Obwohl die Sprecherin alt und gebeugt war, wohnte ihrer Stimme Kraft inne. Verwundert stellte Oronêl fest, dass sie über und über tätowiert war - gepunktete, rötliche Linien durchzogen ihr Gesicht und liefen über ihre Hände zu jeder Fingerspitze. Sie stützte sich auf einen knorrigen Eschenstock, der aussah, als hätten ihn bereits ihre Vorfahren geführt. "Du kennst unsere Götter besser als jeder andere - außer mir, versteht sich." Die Alte gestattete sich ein heiseres Kichern. "Du weißt, was sie verlangen könnten."
Gwŷra war ein wenig blass geworden, doch ihre Miene blieb entschlossen. "Ich weiß, Aelwyd. Doch ich bin bereit."
"Aaaah, Gwŷra. Niemand ist je wirklich zu seiner Prüfung bereit... aber nun ja..." Aelwyd trat, auf ihren Stock gestützt, in die Mitte des Kreises, den die Glannau Môr um Gwŷra, Oronêl und Kerry gebildet hatten. "Männer und Frauen der Glannau Môr, hört was ich euch zu sagen habe! Gwŷra-graig, einzige Tochter des großen Myndrag orr Gallayn, wird sich dem Urteil unserer Götter stellen, um zu beweisen, dass sie ist, wer sie behauptet zu sein. Und ich habe noch etwas zu sagen."
Sie legte eine Pause ein, sichtlich zufrieden mit dem erwartungsvollen Schweigen, dass sich über die Menschenmenge gelegt hatte. "Wenn sie sich als wahrhaftig erweist... werde ich zu den Göttern gehen, und sie wird meinen Platz einnehmen."
Das Schweigen, dass auf diese Worte folgte, erschien Oronêl nun eher schockiert als erwartungsvoll. Schließlich begann Myndrag zaghaft: "Aelwyd, hohe Priesterin, bist du sicher dass..." Die Alte bedachte ihn mit einem Blick, der den Häuptling augenblicklich zum Schweigen brachte. "Ich bin sicher, Myndrag, du junger Narr. Stelle meine Entscheidungen nicht in Frage." Sie wandte sich Gwŷra zu, die trotzig das Kinn hob, und dem Blick der Priesterin nicht auswich. "Und du, meine Schülerin... wenn du es denn bist, he he... Am Tag deiner Geburt flüsterten die Flammen deinen Namen, und von jenem Tag an wusste ich, dass du mir eines Tages nachfolgen würdest. Ebenso wusste ich, dass dein Element das Feuer ist, zum Guten und Bösen zugleich. Deine Probe wird eine Feuerprobe sein. Du wirst den Kelch deines Vaters mit bloßen Händen aus dem Feuer holen, und du wirst ihn sieben Schritte weit tragen." Aelwyd zögerte einen Augenblick, als würde sie eine Anwandlung von Mitleid niederkämpfen, und fuhr dann fort: "Die Wunden, die du davontragen wirst, werden heilen, wenn du die Wahrheit sagst. Wenn sie aber brandig werden... lügst du."
Gwŷra zögerte einen Augenblick - einen Augenblick, den Kerry nutzte um ihrer Empörung Luft zu machen. "So etwas könnt ihr nicht tun! Was seid ihr nur für... für... Monster! Ihr seid kein bisschen besser als Orks, wenn ihr das tut!"
Aelwyd warf ihr einen markerschütternden Blick zu. "Schweig, Mädchen aus dem fernen Rohan. Dein Schicksal wird sich mit dem Gwŷras entscheiden. Wird sie als Lügnerin überführt, wirst du ihr Schicksal teilen, ebenso wie des Môrysbryd."
Kerry warf Oronêl einen Blick zu, der eindeutig Tu etwas! besagen sollte, doch es gab nichts, was er hätte tun können. Die Krieger der Glannau Môr waren eindeutig zu viele, um sie im Kampf zu besiegen, und Gwŷra schien fest entschlossen, die Feuerprobe anzutreten.
Wie um Oronêls Eindruck zu bestätigen, sagte Gwŷra leise, aber mit fester Stimme: "Beim Blutmond, wenn das nötigt ist, um mich zu beweisen... Ich werde die Probe bestehen, Aelwyd."
Zum ersten Mal zeigte die alte Priesterin den Hauch eines Lächelns. "Nichts anderes erwarte ich von dir, Gwŷra-graig."

Die Sonne war untergegangen, als die Glannau Môr alles für Gwŷras Probe vorbereitet hatten. Der Kelch des Häuptlings war ein eiserner Trinkpokal, der interessanterweise mit elbischen Runen nach der Art Eregions verziert war. Vermutlich war das Gefäß vor Jahrhunderten aus Eregion nach Enedwaith gelangt - entweder noch vor dem Fall Eregions durch Handel, oder später als Beute von Plünderern oder Schatzsuchern. In jedem Fall versuchte Oronêl sich vorzustellen, wie die Glannau Môr reagieren würden, wenn sie wüssten, dass ihr heiliges Trinkgefäß von den verhassten Môrysbryd gefertigt worden war...
Der Kelch wurde auf einem kleinen Podest aufgestellt, um das herum Holz für ein Feuer aufgeschichtet und dann angezündet worden war. Als der Kelch unheimlich rot zu glühen begann, hob Aelywyd die knorrigen Arme, und sprach: "Mögen die Götter sprechen, und die Unschuld Gwŷra-graigs beweisen... oder sie verdammen." Sie blickte erwartungsvoll zu Gwŷra, die nur wenige Schritte von den Flammen entfernt stand.
"Du musst das nicht tun, Gwŷra", stieß Kerry leise hervor. "Wir... wir finden einen anderen Weg. Darin sind wir gut."
Gwŷra lächelte ein wenig traurig, und im Schein des Feuers glänzten Schweißperlen auf ihrer Stirn. "Es gibt keinen anderen Weg, ich muss es tun. Aber... beim Blutmond, ihr sollt wissen, dass ich euch meine Freunde erachte. Gleich was passiert."
Damit machte sie zwei Schritte auf das Feuer zu, und packte entschlossen zu. Oronêl hörte das Zischen ihrer Haut auf dem heißen Metall über das Knistern des Feuers und das Raunen der Glannau Môr hinweg, und biss die Zähne zusammen. Kerry stieß einen erstickten Schreckenslaut aus, und packte Oronêls Arm so fest, dass es schmerzte.
Gwŷra ging, auf das zweite Podest zu, sieben Schritte vom Feuer entfernt. Ein Schritt. Zwei. Drei.
Im Schein der Flammen wirkte das Gesicht des Mädchens erschreckend bleich, und die hatte die Lippen so fest zusammengepresst, dass jegliche Farbe daraus gewichen war.
Vier. Fünf.
Gwŷra wankte, und Oronêl hielt den Atem an. Doch sie fing sich wieder, und ging weiter.
Sechs. Sieben.
Gwŷra stellte den Kelch ab, und als sie ihre Hand mit einiger Mühe vom Metall löste, blieben Hautfetzen daran kleben, und kleine Rauchfähnchen stiegen in die Luft auf. Kerry sah aus, als wäre ihr schlecht - ein Gefühl, dass Oronêl nur zu gut nachvollziehen konnte.
Gwŷra blickte ihren Vater herausfordernd an, öffnete den Mund um etwas zu sagen, doch brach dann ohne einen weiteren Laut zusammen.
Aelwyd blickte mit steinerner Miene auf sie herab. "Bringt sie in meine Hütte", befahl sie. "Die Götter werden entscheiden." Bevor einer der Glannau Môr eine Bewegung machen konnte, war Oronêl bereits dort, und nahm Gwŷra auf die Arme. Zu seinem Erstaunen wog sie kaum mehr als ein Kind. Als er ihre verbrannte Hand streifte, stieß sie einen kleinen Laut des Jammers aus, erwachte allerdings nicht aus ihrer Ohnmacht.
Die alte Priesterin blickte ihn missbilligend an, sagte aber: "Na schön. Bring sie in meine Hütte, Môrysbryd." Oronêl folgte ihrem langsamen Gang. Er war sich der Blicke durchaus bewusst, hielt seinen eigenen Blick jedoch stur auf Aelwyds gebeugten Rücken vor sich gerichtet. Er hörte Kerrys leisen Schritt hinter sich, und wusste, dass sie ihnen folgte - nichts anderes hatte er erwartet.

Aelwyds Hütte war ein kreisrundes, niedriges Gebäude am Rand des Dorfes, von dessen Decke getrockneter Kräuter vieler Art herunterbaumelten. Über einer schwachen Glut stand ein großer, kupferner Kessel. "Leg sie dort ab", befahl Aelwyd, und deutete auf ein Lager an der runden Hüttenwand. Oronêl tat, wie ihm geheißen. Als sein Blick auf Gwŷras Hand fiel, wurde ihm unerwartet flau im Magen. Er hatte schon allerhand verschiedener Wunden gesehen, doch das hier war etwas anderes.
Kerry fiel neben Gwŷra auf die Knie, und strich ihr sanft die Haare aus der feuchten Stirn. "Was können wir tun, um zu helfen?"
"Gar nichts", verkündete die Priesterin kalt. "Sie ist in der Hand der Götter. Sie werden zeigen, ob sie schuldig ist, oder nicht. Und du, Mädchen, solltest gar nicht hier sein."
Oronêl kam auf die Füße, und fand sich der gebeugten Priesterin direkt gegenüber.
"Ich möchte eure Götter nicht beleidigen", erwiderte er mit mühsam beherrschter Stimme. "Doch sicherlich weißt du, dass Brandwunden dieser Art sich auch entzünden können, wenn sie gepflegt werden - wenn sich niemand darum kümmert jedoch immer." Aelwyd nickte widerwillig. "Also haben deine Götter selbst dann die Möglichkeit, zu entscheiden ob sie lügt oder nicht, wenn wir die Wunde versorgen. Gwŷra hat jemandem, der mir sehr teuer ist - nämlich Kerry dort - geholfen aus Sarumans Kerkern zu entkommen. Sie hat uns geholfen, den Wolfskönig von Dunland, einen Mann, der euer Freund und Verbündeter sein könnte, vor der Hinrichtung zu retten. Ich bin ihr etwas schuldig, also muss ich für sie tun, was ich kann."
Aelwyd zögerte, bevor sie den Blick abwandte, und leise antwortete: "Ich liebe dieses Kind wie die Tochter, die ich niemals hatte." Davon zeigte sie ziemlich wenig, dachte Oronêl bei sich, sprach es aber nicht aus. "Also schön. Ich werde euch gestatten, euch um sie zu kümmern - die Götter wird es nicht stören, sie werden so oder so entscheiden. Doch es muss geheim bleiben, denn mein Volk würde es nicht verstehen und nicht akzeptieren."
Oronêl nickte zum Zeichen, dass er verstanden hatte, bevor er sich Kerry, die noch immer an Gwŷras Seite kniete, zuwandte. "Ich muss bei Gwŷra bleiben, Kerry, doch ich brauche deine Hilfe." Er kniete sich neben sie. "Ich benötigte einige Kräuter - und frische helfen besser als getrocknete. Ich weiß nicht, was du zu dieser Jahreszeit noch finden wirst, doch besser es zu versuchen." Er beschrieb ihr, was er brauchte, und Kerry hörte aufmerksam zu. Dann sagte sie: "Ich werde mir Mühe geben, so viel wie möglich zu finden." Sie blickte auf Gwŷras bleiches Gesicht hinunter. "Sie ist mir oft auf die Nerven gegangen, mit ihrem komischen Gerede. Doch das... das hätte nicht sein dürfen."
Oronêl schüttelte den Kopf. "Nein, das finde ich auch." Er warf einen Blick über die Schulter, doch Aelwyd hatte sich abgewandt und war mit irgendetwas anderem beschäftigt. "Ich habe noch einen Auftrag für dich", fuhr er leise an Kerry gerichtet fort. "Dass Myndrag glaubt, seine Tochter wäre nicht echt, sondern eine Täuschung feindlicher Götter, stinkt geradezu nach Sarumans Ränken. Irgendein Zauber liegt über diesem Ort. Finde heraus, was hier vor sich geht, und wie Saruman dieses Volk kontrolliert." Kerry nickte eifrig, und wollte bereits auf die Füße kommen, doch Oronêl hielt sie an der Hand zurück. "Wenn du es herausgefunden hast, komm zu mir", schärfte er ihr ein. "Stelle dich dem auf keinen Fall alleine. Hast du verstanden?" In Kerrys Augen blitzte ein Funke Unwillen auf, doch sie nickte und erwiderte: "Natürlich. Und jetzt lass mich endlich gehen."
Oronêl blickte ihr hinterher, wie sie aus der Tür der Hütte hinaus in die Nacht trat, und fragte sie, ob sie sich tatsächlich an seine Warnung halten würde...
« Letzte Änderung: 8. Okt 2019, 10:04 von Fine »

Oronêl - Edrahil - Hilgorn -Narissa - Milva

Fine

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Kräutersuche im Mondschein
« Antwort #1 am: 7. Okt 2019, 17:47 »
Kerry suchte sich hastig ihren Weg durch das Unterholz nahe des Dorfes der Glannau Môr. Sie fror trotz der Kälte nur wenig, denn in weiser Voraussicht hatte sie Gwŷras Pelzumhang mitgenommen, sich eng in den dicken, weichen Stoff gehüllt und die dazu gehörige Fellkapuze aufgesetzt. Einen Teil der Kräuter, die Oronêl benötigte, hatte sie bereits gefunden - die Wälder, in denen Gwŷras Volk lebte, waren voll von Pflanzen, die die unterschiedlichsten Wirkungen besaßen. Da es Winter war, besaßen die Baumkronen über Kerrys Kopf keine Blätter mehr und konnten somit das helle Mondlicht nicht verdunkeln. Keine drei Tage war es her, dass der Blutmond über dem Juwel der Kette gestanden hatte, und auch in dieser Nacht spendete der Himmelskörper Kerry mehr als genug Licht, um sich im Wald zurecht zu finden.

Während sie weitersuchte, spielte sie in Gedanken die sich überschlagenden Ereignisse des Tages erneut ab. Sie waren nach ihrem Abschied von Aéd und Rilmir auf den nur leicht bewaldeten Ebenen westlich von Dunland dank Gwŷras Führung gut voran gekommen und waren so nach nur zwei Tagesritten in das Gebiet der Glannau Môr, tief nach Enedwaith hinein gekommen. Eine Gruppe von Stammesjägern, angeführt von dem Krieger, den Gwŷra als Elgar angesprochen hatte, hatte Oronêl, Kerry und Gwŷra in der Wildnis getroffen und sie nach etwas Überzeugungsarbeit rasch zu Myndrags Dorf eskortiert.
Frischere Eindrücke huschten vor Kerrys innerem Auge vorbei, während sie den feuchten Waldboden nach Schlingwurzeln abtastete. Das tätowierte Gesicht der Priesterin Aelwyd. Gwŷras verbrannte Hand. Der grimmige Blick in den Augen ihres Vaters. Oronêls entschlossener Gesichtsausdruck. Das Misstrauen der Dorfbewohner...

Sie blinzelte heftig, um sich wieder auf die Gegenwart zu konzentrieren. Kaum drei Schritte weiter vorne, unter einer Eiche mit ausladenden Ästen entdeckte Kerry einen niedrig wachsenden Strauch mit auffallend hellgrünen Blättern. Milchdistel, dachte sie zufrieden. Zweige raschelten empört, als Kerry sich durch das Unterholz pirschte und mit einem Messer ein Büschel der Distel abschnitt. Fehlt nur noch etwas Waidkraut, hakte sie innerlich Oronêls Liste ab, ehe sie sich suchend umblickte. Zur Rechten versperrte ihr ein dorniges Brombeergebüsch den Weg und zur Linken lag eine Pfütze mit schwarzem Schlamm - der Beginn eines übel riechenden Waldmoores, wie Kerry vermutete. Also legte sie beide Hände an den dicken Stamm der Eiche, der breiter als sie selbst war, und tastete sich vorsichtig um den Baum herum. Auf der anderen Seite wurde das Gelände wieder etwas weniger unwegsam und sie stellte entzückt fest, dass sich etwas weiter vorne eine kleine Gasse im Wald aufgetan hatte, die direkt zu einem Fleck zwischen zwei Birken führten, der von hellem Mondlicht beschienen war. Weiches Moos wuchs rings um einen unscheinbar wirkenden, zierlichen Busch, den Kerry als Waidpflanze erkannte. Ihre Schritte hinterließen nur ein sanftes Federn im Boden, als sie sich darauf zubewegte.
Erneut zog Kerry das kleine Messer und wollte gerade einen Teil des Waidkrautbusches abschneiden, als ohne Vorwarnung eine Hand aus dem Dunkeln hervorschnellte und ihr einen festen, flachen Schlag auf den Unterarm versetzte, dass sie das Messer vor Schmerz fallen ließ.
Es gelang Kerry gerade noch, einen Schrei zu unterdrücken, auch wenn ihr beinahe das Herz stehen geblieben war. Aus dem Schatten der Birke zu ihrer Linken trat eine Gestalt, die Kerry für einen kurzen Augenblick glauben ließ, die Alte aus dem Dorf, Aelwyd, wäre ihr gefolgt. Aber die Frau, die sich da vor ihr aus der Dunkelheit schälte, war etwas größer und auch etwas jünger als das Weib aus dem Dorf der Glannau Môr. Doch genau wie Aelwyd war ihre Haut mit roten Tattoo-Linien überzogen und sie trug ähnliche Kleidung.
"Junge Närrin," schalt die Fremde Kerry mit Geringschätzung in der Stimme. "Haben sie dir denn nicht beigebracht, dass die Kraft des Waidkrautes verloren geht, wenn man die Pflanze verletzt?"
Kerry war viel zu verblüfft, um gleich zu antworten. Sie hätte mit allem gerechnet - aber nicht mit so etwas.
"Haben die Geister dir die Sprache gestohlen?" wunderte sich die Fremde und musterte Kerry von oben bis unten. "Bist wohl noch nicht lange Aelwyds Schülerin, hmm? Du trägst zwar den Umhang, aber hast dir ja noch nicht einmal die Blutlinien verdient." Missmutig steckte die Frau einen ausgestreckten Zeigefinger in eine ihrer Taschen, um ihn sogleich wieder hervorzuziehen und dann mitten in Kerrys Gesicht zu schieben. Ehe Kerry überhaupt reagieren konnte, hatte die Fremde ihr einige schmale, rote Striche auf Wangen, Stirn und Nase gemalt. "So. Das sollte für den Augenblick reichen. Jetzt sprich schon, Mädchen, wenn du nicht stumm bist. Sag' mir deinen Namen, damit ich nicht vom Fluch getroffen werde.“
"K-Kerevalline," brachte Kerry stockend hervor.
"Mhhrm. Was für ein absonderlicher Name. Ungewöhnlich. Hast du dir den etwa selbst ausgedacht? Wo hat Aelwyd dich denn bloß aufgestöbert? Eine Schande, dass der Weiße ihre einstige Schülerin zu sich holen ließ. Aber wer könnte es ihm verdenken? Gwŷra-graig besitzt eine so enge Verbindung zu den Geistern, dass sie die Stimme der Götter so deutlich wie keine andere zu hören vermag. Sicherlich weißt du, dass du gegen sie nur ein erbärmliches Würmchen bist. Nun, das macht nichts. Immerhin bist du klug genug, zu warten, bis der Blutmond nicht länger seine volle Macht zeigt, ehe du unter seinem Blick nach Kräutern suchst. Lass mich mal sehen, was du da hast." Sie griff nach Kerrys Tasche, doch inzwischen hatte diese sich weit genug von ihrem Schock erholt, um wieder zu Reaktionen im Stande zu sein. Sie zog die Tasche rasch weg. Doch sie wusste, dass ihr jetzt keine Wahl blieb und sie mitspielen musste.
Was würde Gwŷra jetzt sagen? dachte sie sich. "Ich kann nicht offenbaren, wozu mich meine Meisterin ausgeschickt hat," sagte sie und bemühte sich, ihrer Stimme einen festen Klang zu geben.
"Aaah. Aelwyld, du verfluchte Geheimniskrämerin. Na schön - dann behalte es eben für dich. Aber lass dir von Weirild einen Rat geben, Mädchen: Waidkraut und andere Heilpflanzen werden ihre volle Wirkung erst dann entfalten, wenn du sie an der Geisterklippe gesegnet hast. Komm - es nicht sehr weit. Einige Andere sind schon dort. Wahrscheinlich hat dir Aelwyld nichts davon gesagt, so wie ich sie kenne, aber sie ist nicht hier, oder?" Wie um ihre eigene Frage zu beantworten blickte sich Weirild ein wenig gehetzt um und schien beinahe aufzuatmen, als sich rings um die beiden Frauen herum nur die Stille des Nachtwaldes zeigte. "Wie dem auch sei," fuhr die Hexe fort. "Du kommst jetzt mit mir, dann zeige ich dir, was du mit den Kräutern machen musst - du brauchst mir nicht zu danken. Aller Anfang ist schwer." Sie schenkte Kerry ein schiefes Grinsen, das wohl freundlich wirken sollten. Dann schnappte Weirild sich Kerrys Hand und zog das verdutzte Mädchen kurzerhand mit sich durch den Wald.

Wie die Fremde gesagt hatte mussten sie nicht weit gehen. Kaum eine Viertelstunde später öffnete sich der Wald ohne Vorwarnung auf eine große Lichtung hin. Kerry riss überrascht die Augen auf als sie sah, dass auf der anderen Seite der Lichtung keine Bäume lagen, sondern nur eine gähnende Leere. Erst als sie die Reflektion des Vollmondes in der Ferne sah, wurde ihr klar, dass Weirild sie ans Ufer des Meeres gebracht hatte. Eine kühle, salzige Brise riss Kerry die pelzige Kapuze vom Kopf, ehe sie sie hastig wieder aufsetzte. Der grasige Boden der Lichtung ging am hinteren Ende jäh in eine beinahe senkrechte, steile Klippe über und als Kerry einen Blick darüber hinweg nach unten riskierte, wurde ihr schwindlig. Mehr als hundert Meter ging es dort in die Tiefe hinab, wo kalte, grausame Wellen gegen die im Mondlicht fahl schimmernden weißen Felsen krachten.
Das muss die Geisterklippe sein, fuhr es Kerry durch den Kopf.
Drei andere Hexen waren bereits auf der Lichtung. Weirild schien rasch das Interesse an Kerry verloren zu haben und unterhielt sich leise mit den anderen Frauen. Während Kerry noch überlegte, was sie nun tun sollte - Oronêls Warnung hallte ihr nur allzu deutlich in Gedanken wider - stießen vier weitere Gestalten dazu, die ähnliche Umhänge trugen und die gleichen Tätowierungen wie Aelwyld und Weirild besaßen. Rasch hatten die Hexen ein Feuer entzündet, dessen Flammen kränklich und grün vor sich hin flackerten und weder Wärme noch Helligkeit spendeten. Der Wind sorgte dafür, dass Kerry nun doch zu frieren begonnen hatte. Sie zog den Umhang enger um sich, als sie Weirild wieder auf sich zukommen sah.
"Hier," sagte die Frau und drückte Kerry ein unscheinbares Stück Stoff in die Hand, das im Mondlicht einen milchigen Farbton besaß. "Lege das Waidkraut darauf aus, aber damit die Winde der Geisterklippe es nicht davonwehen, musst du vier Finger darauf pressen. Nicht mehr, und nicht weniger, hast du verstanden?"
Kerry schluckte die Fragen herunter, die in ihr aufstiegen und tat wie geheißen. "Und jetzt musst du dem Kraut seinen Zweck verraten," fuhr Weirild geheimnisvoll fort. "Sag ihm, wozu du es einsetzen willst."
Um Gwŷras arme Hand zu heilen, dachte Kerry und wusste sofort, dass sie das nicht laut sagen konnte. Erneut stellte sie sich vor, was das merkwürdige Mädchen aus Enedwaith an ihrer Stelle sagen würde. Sie räusperte sich und sprach: "Ich brauche dich, um jenes, das versengt worden ist, wieder unversehrt zu machen."
Weirild bedachte Kerry mit einem neugierigen Blick. "Oh? Hat sich einer von Myndrags Kriegern etwa eine nette Verbrennung zugezogen? Oder gar der große Häuptling selbst?" Sie lachte gackernd, was ihre Kameradinnen anlockte. Interessiert blickten die Frauen zu Kerry hinüber, der es nur mit Schwierigkeiten gelang, ihre Angst nicht offen zu zeigen. Sie hatte gesehen, dass die meisten Hexen lange Messer im Gürtel trugen. Vermutlich würden keine von ihnen ein Problem damit haben, Kerry kurzerhand die Kehle durchzuschneiden, wenn sie ihnen einen Grund dazu gab.
"Ich darf nicht darüber sprechen," verkündete sie ernst.
"Natürlich nicht, Liebes, natürlich nicht," mischte sich eine Hexe ein, die wahrscheinlich sogar noch älter als Gwŷras Meisterin war. "Aelwyld würde das niemals zulassen." Sie spuckte aus. "Ich frage mich, wo sie nur steckt. Sie hat nie eines der Ratsfeuer verpasst. Wenn sie dich an ihrer Stelle geschickt hat, sollte sie besser einen triftigen Grund dafür haben."
"Was schert uns das? Soll sie doch die Beratung verpassen. Es wird unser Schaden nicht sein," sagte eine andere Frau, die gerade frisches Holz aufs Feuer gelegt hatte. "Wenn das Kind später zu ihr zurückläuft, wird sie schon das Wichtigste erfahren - und nicht mehr als das." Sie schenkte Kerry ein bösartiges Grinsen.
"Schwestern, wir sollten beginnen," sagte Weirild und ergriff Kerrys Hand, um sie in einen Kreis rings um das Feuer zu zerren. Die Hexen nahmen auf dem weichen Grasboden Platz. "Rigu, du bist nach langen Wanderungen durch Dunland endlich zu uns zurückgekehrt. Sag, was gibt es Neues aus dem Osten?" fragte Weirild an ihre linke Sitznachbarin gerichtet.
Die Angesprochene - eine Frau die deutlich jünger als der Großteil der Anwesenden war, aber dennoch einige Jahr älter als Kerry - blickte auf. Bis jetzt hatte sie geschwiegen.
"Vieles geht dort vor, was uns zur Sorge gereichen vermag," sprach sie mit ungewöhnlich tiefer Stimme. "Véca ist verschwunden, und mit ihr unsere direkte Verbindung zum Weißen. Der Wolfswelpe ringt noch immer um die Kontrolle über die Stämme, doch nun ist Yven Yvenssohn gefallen. Wenn keine Unterstützung kommt, werden die Getreuen des Weißen gezwungen sein, in den Untergrund zu fliehen."
Dieser Bericht rief so einiges verärgertes Gebrumme hervor, doch Rigu fuhr ungehindert fort. "Die Môrysbrydar jenseits des Flusses hingegen ahnen wohl nur wenig von der Streitmacht, die sich im Gebirge sammelt. Bald schon wird der Meister ihr Land verheeren, und seine Armeen werden weiter nach Westen vordringen und auch die Städte der Verräter wieder einnehmen."
Zufriedene Laute folgten. Eine der Hexen fragte: "Und was ist mit dem Weißen selbst? Du sagst, dass Véca fort ist. Gibt es denn Nachrichten aus den Minen, oder von den Kriegszügen jenseits der Berge?"
Rigu schüttelte den Kopf. "Es gab viele widersprüchliche Gerüchte in letzter Zeit. Aus den Landen jenseits des Gebirges hörte ich, dass der Weiße sich in die südliche Waldfestung zurückgezogen hat. Manche sagen, er würde dort belagert. Andere behaupten, Orks aus dem Norden hätten das jenseitige Tor der Minenstadt eingenommen. Doch ich glaube nicht daran. Unser Herr hat stets einen Plan. Ich weiß, dass wir bald wieder Nachricht von ihm erhalten werden, ganz gleich auf welchem Wege."
"Bis es soweit ist, halten wir uns an die bestehenden Anweisungen, Schwestern," sagte Weirild. "Die Häuptlinge der Küstenstämme schöpfen keinen Verdacht. Sie hören auf uns. Und das wird auch so bleiben, wenn wir uns der Macht, die der Weiße Herr uns verliehen hat, weiterhin bedienen und diese einfältigen Narren damit beeindrucken. Illusionen und Täuschungen sind die Werkzeuge unseres Herren, und nur allzu gerne bedienen wir uns ihrer, um die Stämme auf den richtigen Weg zu leiten."
So ist das also, dachte Kerry bei sich. Die Hexen üben für Saruman Kontrolle über die Menschen Enedwaiths aus. Einem plötzlichen Einfall folgend presste sie die Hände an die Schläfen und schloss die Augen. "Meine Meisterin ruft mich," wisperte sie, indem sie Gwŷras Tonfall imitierte. "Ich spüre es ganz deutlich."
Als sie die Augen vorsichtig öffnete, sah sie, dass Weirild sie misstrauisch musterte. "Wie unschicklich von Aelwyld," kommentierte die Hexe. "Vermutlich hat sie alles gehört, worüber wir gesprochen haben." Sie machte ein Gesicht, als hätte jemand ihre innersten Geheimnisse ausgeplaudert.
"Worauf wartest du dann noch, kleine Närrin?" sagte die älteste der Frauen. "Kusch! Zurück in den Schoß deiner Meisterin. Gewiß wird sie dir die Ohren lang ziehen, wenn du trödelst. Verdient hättest du es allemal!"

Kerry sprang auf und hastete über die Lichtung hinweg, zurück in den Wald. Gerade rechtzeitig war ihr eingefallen, das Waidkraut wieder einzustecken. Sie fand die beiden Birken, zwischen denen ihr Weirild begegnet war ohne Schwierigkeiten, doch der Rückweg zum Dorf der Glannau Môr erwies sich als weniger einfach. Mehrmals verirrte Kerry sich in der zunehmenden Finsternis des Waldes, denn der Vollmond war inzwischen hinter eine dunkle Wolke geglitten. Als sie endlich aus dem Dickicht am Rande des Dorfes hervor taumelte, hatte sie das Gefühl, ganze Tage oder Wochen dort drinnen gefangen gewesen zu sein.
Nur wenige Menschen waren noch wach, als sich Kerry vorsichtig ihren Weg durch das weitläufige Dorf suchte. Es lag ebenfalls am Ufer des Meeres, doch anstelle einer Klippe lag am Rande des Dorfes ein steiniger Strand, an dem die Dorfbewohner mehrere Fischerboote auf dem Ufer verstaut hatten. Nachtwächter mit Fackeln streiften zwischen den Hütten umher, doch niemand schenkte Kerry mehr als nur einen beiläufigen Blick. So kam sie schließlich wieder zurück zu Aelwyds Hütte, in der Oronêl und Gwŷra auf sie warten mussten.
Im Inneren der Hütte herrschte Totenstille. Vorsichtig sah sich Kerry um. Dennoch sah sie den Schatten nicht kommen, der wie aus dem Boden gewachsen vor ihr auftauchte.
"Aaah!" stieß Kerry hervor und glaubte, ihr Herz würde gar nicht mehr anfangen, zu schlagen.
"Du!" zischte Aelwyld bösartig. Die Alte hielt in der Hand ein langes Messer, das sie drohend gegen Kerry gerichtet hatte. "Wo bist du gewesen, und weshalb trägst du die heiligen Blutlinien der Geister im Gesicht?"
« Letzte Änderung: 7. Okt 2019, 20:02 von Fine »
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Eandril

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Re: Das Dorf der Glannau Môr
« Antwort #2 am: 7. Okt 2019, 22:29 »
Schon bald, nachdem Kerry in der Nacht verschwunden war, trat das ein, was Oronêl befürchtet hatte - Gwŷra bekam Fieber.
"Habt ihr ein Tuch, Aelwyd?", fragte er so höflich wie möglich. "Und frisches, kaltes Wasser?"
"Ein sauberes Tuch habe ich, Môrysbryd. Wasser gibt es in einem Bach gleich neben der Hütte", antwortete die Priesterin mit dem Mindestmaß an Höflichkeit. "Ich fürchte, ich kann euch nicht dazu überreden, welches zu holen?"
Aelwyd starrte ihn grantig an. "Wer bin ich, euer Hausmädchen? Ich habe wichtigere Dinge zu tun. Ihr wolltet euch um Gwŷra kümmern, also ist es eure Sache, was ihr tut. Und zwar eure allein."
Oronêl seufzte ergeben, und kam auf die Füße. Er hatte nicht wirklich eine andere Antwort erwartet, doch einen Versuch war es wert gewesen. Gwŷra ging es schlecht - eine derartige Verbrennung hatte ihrem Körper einen heftigen Schock versetzt, so heftig, dass sie daran sterben konnte, wenn die Wunde sich entzündete. Es wäre ihm lieber gewesen, die ganze Zeit über bei Gwŷra zu bleiben, denn die Nähe eines anderen Lebewesens zu spüren konnte Kranken und Verwundeten Kraft spenden.
"Habt ihr ein Gefäß, mit dem ich das Wasser transportieren kann?", fragte er, und Aelwyd wies mit einer unwilligen Kopfbewegung auf ein Regal neben der Tür, auf dem einige Tongefäße aufgereiht standen. Oronêl wählte ein leeres von passender Größe auf, und öffnete die Tür. "Ich danke euch, Aelwyd. Schließlich kann selbst ein Môrysbryd kein Wasser in seinen Händen tragen." Als er in die Dunkelheit hinaus trat, glaubte er Aelwyd ein ersticktes Kichern ausstoßen zu hören.

Der Bachlauf, den Aelwyd erwähnt hatte, befand sich tatsächlich nur wenige Schritte von ihrer Hütte entfernt. Oronêl kniete nieder, und füllte seinen Krug mit dem klaren, kalten Wasser. Als er wieder aufstand, blickte er nach oben an den Nachthimmel. Der Mond schien immer noch hell und klar, doch im Osten waren die Sterne von Wolken verhüllt. Es würde Schnee geben, was, soweit er wusste, hier an der Küste ein wenig ungewöhnlich war. Wenn es so weit im Westen schneite, würde es vermutlich ein harter Winter werden.
Mit raschen Schritten kehrte er zu Aelwyds Hütte zurück. Aelwyd, die neben ihrem Kessel auf einem hölzernen Schemel saß und die Augen geschlossen hatte, gab mit keiner Regung zu erkennen, dass sie seine Rückkehr bemerkt hatte, doch Oronêl war es gleich. Das saubere Tuch, um das er gebeten hatte, lag sorgfältig gefaltet neben Gwŷra auf dem Boden.
Oronêl legte dem Mädchen eine Hand auf die Stirn, und zog sie rasch zurück. In der kurzen Zeit, die er fort gewesen war, war das Fieber rasch gestiegen. Er wusste, dass er rasch handeln musste, also schnitt er mit seinem Messer das Tuch in zwei gleich große Hälften und tränkte sie mit dem kalten Wasser. Dann schob er sanft Gwŷras Beinkleider bis über die Knie hoch, und umwickelte ihre nackten Waden mit dem nassen Stoff. Gwŷra regte sich sacht im Schlaf, erwachte aber nicht.
"Das wird nicht reichen", sagte Oronêl leise zu sich selbst, als er im schwachen Licht der Glut ihre verletzte Hand betrachtete. Die Haut war auf der gesamten Handfläche und die Finger entlang bis zu den Fingerspitzen rot verbrannt, und am Handballen und den Fingerspitzen waren Hautfetzen am heißen Metall kleben geblieben, und dort schimmerte jetzt rosa das nackte Fleisch. Der Anblick verursachte Oronêl einen trockenen Mund, und er wünschte sich, er hätte die langen Jahre seines Lebens besser genutzt. Selbstverständlich hatte er sich die Grundlagen der elbischen Heilkunst schon vor langer Zeit angeeignet - auf dem Schlachtfeld war es unumgänglich, Wunden verschiedenster Art zumindest vorsorglich versorgen zu können, bevor man den verwundeten zu einem richtigen Heiler bringen konnte. Doch viel mehr hatte Oronêl nicht gelernt, und darüber ärgerte er sich. Vor allem in seiner Jugend hatte er sich zu viel dafür interessiert, wie man Wunden schlug, und nicht, wie man sie heilte.

Ein wenig ungeduldig blickte er zur Tür, doch von Kerry war noch nichts zu hören oder zu sehen. Schon bald begannen Gwŷras Brandwunden zu nässen, und als er sie mit einem Rest des Tuches so vorsichtig wie möglich trocknete, stieß das Mädchen erbarmungswürdige Jammerlaute aus. Ihre Augenlider flatterten.
"Das Feuer...", murmelte sie beinahe unhörbar. "Feuer... Flammen verbrennen... sie brennen. Feuer härtet... es reinigt." Oronêl legte ihr sanft eine Hand auf die Stirn. "Schsch. Schlaf, Gwŷra. Heile."
Gwŷras Augenlider entspannten sich wieder, und ihr Mund zuckte ein letztes Mal, bevor sie wieder ruhig lag. Oronêl blickte sich um. Die Glut unter dem Kessel war fast völlig erloschen, und Aelwyd saß noch immer stumm und ungerührt auf ihrem Schemel, ob sie schlief oder wachte, war nicht zu erkennen. "Verflucht, Kerry", flüsterte Oronêl. "Wo bleibst du nur?"

Er musste nicht mehr lange warten. Langsam öffnete sich die Tür, und vor dem hereinfallenden Mondlicht war eine unförmige Silhoutte zu sehen - Kerry in Gwŷras Pelzen. Bevor Oronêl jedoch etwas sagen konnte, war Aelwyd schon ohne einen Laut zu machen, aufgesprungen. Oronêl sah sie Klinge des Messers in ihrer Hand aufblitzen, und war ebenfalls auf den Beinen, als Kerry einen überraschten Schrei ausstieß.
"Du!", zischte Aelwyd, und richtete das Messer direkt auf Kerry. "Wo bist du gewesen, und weshalb trägst du die heiligen Blutlinien der Geister im Gesicht?"
Kerry wich einen Schritt vor der Klinge zurück. "Ich, ich, ich... ich war im Wald, und da war eine Hexe, wie ihr, und..."
Aelwyd machte einen Schritt vor, und Kerry einen weiteren zurück, sodass sie nun auf der Schwelle stand. "Wen nennst du hier eine Hexe, törichtes Mädchen?", stieß die Priesterin zornig hervor.
Inzwischen hatte Oronêl die beiden erreicht, legte eine Hand auf Aelwyds Arm und zwang die Alte mit sanftem Druck, das Messer zu senken. Kerry fuhr erneut erschrocken zusammen, und ihm wurde klar, dass sie ihn in der dunklen Hütte nicht hatte sehen können. "Ich denke, ihr habt der armen Kerry genug Angst eingejagt, Aelwyd", meinte er freundlich. Aelwyd schnaubte nur verächtlich, ließ das Messer aber gesenkt. "Und was Aelwyds Fragen angeht", fügte er an Kerry gewandt hinzu. "Die Antworten darauf würden mich auch interessieren."

Seit die Glut unter Aelwyds Kessel beinahe vollständig herunter gebrannt war, war die Kälte der Nacht in die Hütte gekrochen, und als Kerry den Pelzumhang ablegte, rieb sie sich fröstelnd über die Arme. Oronêl warf Aelwyd einen Blick zu, und diese verdrehte die Augen, begann allerdings, unter dem Kessel herumzustochern und Holzscheite in die Glut darunter zu schieben. Schon bald brannte wieder ein kleines, munteres Feuer, und Wärme und Licht breiteten sich in der Hütte aus.
"Schon viel besser", murmelte Oronêl, als er sich wieder neben Gwŷra kniete. Die tiefen Stunden der Nacht waren die gefährlichsten, und Licht konnte helfen, sie am Leben zu erhalten.
Kerry legte den Beutel mit den gesammelten Kräutern neben ihm zu Boden. "Ich habe alles gefunden, was du gesagt hast - jedenfalls bin ich mir fast vollständig sicher." Sie warf einen Blick auf Gwŷras Beine, an denen die Stoffwickel inzwischen fast vollständig getrocknet waren. "Und die sollten gewechselt werden, wenn sie noch immer Fieber hat."
Oronêl legte eine Hand auf Gwŷras Stirn. Das Mädchen hatte eindeutig immer noch Fieber, wenn auch ein wenig schwächer als zuvor. Er machte eine einladende Geste in Kerrys Richtung. "Nur zu. Du musst allerdings frisches Wasser holen gehen - ich brauche ohnehin ebenfalls welches. Da ist ein Bach hinter der Hütte." Kerry griff nach dem Tonkrug und wollte die Hütte verlassen, als Aelwyd sich ihr in den Weg stellte, und ihr einen vom Alter gekrümmten Finger in die Brust stach.
"Nicht so schnell, törichtes Mädchen. Du hast noch einiges zu erklären." Kerry blickte hilfesuchend zu Oronêl, und er seufzte. "Ihre Erzählung interessiert mich ebenso sehr wie euch, Aelwyd. Doch sie wird noch ein paar Augenblicke warten können, nicht wahr? Ich glaube nicht, dass Kerry die Gelegenheit nutzen wird, um zu flüchten." Allein der Gedanke schien Kerry zu empören, und mit unwilliger Miene machte Aelwyd den Weg frei.
Als Kerry nur kurze Zeit später mit dem gefüllten Krug zurückkehrte und sich sofort daran machte, die Wickel zu lösen, räusperte Aelwyd sich vernehmlich.
"Also schön", begann Kerry zu erzählen, während sie weiter arbeitete. "Ich hatte schon fast alle Kräuter gefunden, nur Waidkraut fehlte mir noch..." Als sie erzählte, wie die Priesterin Weirild sie davon abgehalten hatte, das Waidkraut einfach abzuschneiden, musste Oronêl sich ein Lächeln verkneifen. Welchen Unterschied sollte es schon machen, auf welche Art und Weise man diese Pflanze sammelte? Es ging schließlich lediglich um die verborgenen Stoffe in ihren Blättern, die verhindern konnten, dass sich Wunden entzündeten. Mehr nicht. Er unterbrach Kerrys Erzählung, in dem er Aelwyd fragte: "Ihr besitzt doch sicher Mörser und Stößel, nicht wahr?"
Aelwyds Gesicht hatte sich bei Weirilds Erwähnung verdüstert, und sie schien große Lust zu haben, seine Frage zu ignorieren, doch schließlich deutete sie stumm auf eine Stelle in ihren Regalen und bedeutete mit einer unwirschen Geste Kerry fortzufahren.
Während Oronêl den Teil der Kräuter, die zu einer Salbe für Gwŷras Brandwunden werden sollten, im Mörser vermischte und zerkleinerte, erzählte Kerry weiter.
Auf die Tatsache, dass Weirild Kerry für ihre Schülerin gehalten und ihr die Blutlinien aufgezeichnet hatte, reagierte die Priesterin mit einem unwilligen Schnauben, doch als Kerry von der Ratsversammlung der Priesterinnen berichtete, glommen Aelwyds Augen unheilvoll auf, und ihr faltiges Gesicht verzog sich zu einem bösartigen Lächeln. "Was ist Weirild nur für eine Närrin. Vielleicht bist du doch nicht so töricht, Mädchen. Vielleicht hast du der alten Aelwyd gerade einen großen Dienst erwiesen. Nur weiter, nur weiter."
Oronêl hatte inzwischen die Kräuter zerstoßen und mit ein wenig Wasser zu einer dicken Salbe verarbeitet, die er nun dünn auf Gwŷras Brandwunden strich. Das Rezept für diese Salbe hatte ihm vor so langer Zeit seine Mutter verraten, die es im alten Beleriand, in Doriath gelernt hatte. Er hoffte nur, dass er sich richtig an die Zutaten und die Zusammensetzung erinnert hatte... Doch schaden konnte Gwŷra immerhin keine der Pflanzen.
"Sie sprachen... über Dinge, die weiter im Osten passiert sind", berichtete Kerry, die inzwischen Gwŷras Wadenwickel erneuert hatte, weiter. "Sie wussten, dass wir Aéd befreit haben, und dass Yven getötet wurde." Das überraschte Oronêl, denn er hatte nicht erwartet, dass diese Nachricht so schnell hier eintreffen würde. "Eine von ihnen - Rigu - erzählte auch etwas von einer Véca, die offenbar verschwunden ist, und dass die Elben jenseits des Flusses nichts von der Streitmacht ahnen, die... sich im Gebirge sammelt", schloss sie, und schlug erschrocken die Hand vor den Mund. Offenbar war ihr die Bedeutsamkeit dieser Nachricht erst jetzt, wo sie es selbst ausgesprochen hatte, bewusst geworden. "Oronêl, glaubst du, sie meinten..."
"Ja", schnitt er ihr das Wort ab, und warf einen warnenden Blick in Aelwyds Richtung. Für den Augenblick wäre es besser, die wahre Natur zu den Elben in Eregion geheim zu halten, glaubte er. Die alte Priesterin blickte misstrauisch drein, sagte aber nichts. Kerry fuhr fort, wirkte jedoch, als wäre sie mit einem Teil ihrer Gedanken bereits in Eregion. "Sie üben also für Saruman die Kontrolle über Enedwaith aus." Bei diesen Worten warf sie einen herausfordernden Blick in Richtung Aelwyd, doch diese verzog keine Miene. "Dann habe ich so getan, als würde meine Meisterin - also ihr - mich rufen, und habe mich so schnell wie ich konnte davongemacht."
"Und das hast du gut gemacht", warf Oronêl ein, und wurde mit einer strahlenden Kerry belohnt. An Aelwyd gewandt fügte er hinzu: "Für euch ist vieles davon nicht besonders überraschend, nicht wahr?"
"Wenn ihr meint, dass ich Bescheid wusste, wie der Weiße mein Volk beeinflusst: Ja. Und wenn ihr euch fragt, ob ich mich daran beteiligt habe, dann lautet die Antwort ebenfalls ja. Doch wenn ihr fragt, ob ich noch immer auf seiner Seite stehe, so lautet die Antwort... nein."

"Ihr wart auf Sarumans Seite?", fragte Kerry empört, und Oronêl fragte beinahe gleichzeitig: "Was hat sich geändert?"
Aelwyd seufzte, und stocherte ein wenig im bereits wieder niederbrennenden Feuer herum. "Ich fürchte, ich bin euch Antworten schuldig, ob es mir gefällt oder nicht. Der Weiße, er... er macht es den Menschen leicht, ihm zu folgen. Er hat etwas an sich, das... man glaubt, einen weißen Anführer vor sich zu sehen... einen personifizierten Gott. Ihr könntet es nicht verstehen."
Kerry und Oronêl wechselten einen Blick. Dann meinte Oronêl: "Besser als ihr glaubt, fürchte ich."
"Umso besser könnt ihr euch vorstellen, warum wir ihm gefolgt sind", erwiderte Aelwyd. "Er versprach und Macht, Reichtum, Land... wir sind weder ein reiches Volk noch ein besonders mächtiges. Eigentlich ist es ein gutes Leben, das wir führen. Doch als er zu uns sprach, wurden wir unzufrieden, mit dem, was wir hatten. Wir wollten mehr, und er versprach, es uns zu geben. Wir alle sind ihm bereitwillig gefolgt - auch ich, und damit die Glannau Môr."
"Bis zu dem Tag, als die Schiffe der Manarîn eure Flotte an der Mündung des Gwathló zerschmetterte", vermutete Oronêl. Aelwyd schien ins Leere zu blicken, doch sie nickte. "Ja - oder eigentlich, bis zu dem Tag ein wenig später, als Véca bei uns erschien, und uns hieß, neue Schiffe zu bauen. Uns für einen Krieg bereit zu machen gegen unsere Nachbarn im Osten, die Stämme der Dunländer. Und als seine Diener zum ersten Mal Geiseln nahmen, um sich unserer Treue zu versichern. Darunter meine beste Schülerin." Sie blickte auf die schlafende Gwŷra hinab. "An jenem Tag verlor ich den Glauben in die Sache des Weißen, doch ich konnte ohne weiteres nichts tun. Ich nahm weiter an den Ratsversammlungen teil, als wäre nichts geschehen, doch Stück für Stück habe ich meine Rache vorbereitet."
Aelwyd lächelte bitter, und in ihrem zerfurchten Gesicht mischten sich Reue und Zorn. "Ich bedauere das, was ich Gwŷra-graig antun musste. Doch es gab keinen anderen Weg, das Lügengespinst des Weißen zu zerreißen."
"Ich bin mir sicher, dass es irgendeinen weniger grausamen Weg gegeben hätte", murmelte Kerry, und betrachtete Gwŷras selbst im Schlaf angespanntes Gesicht.
Aelwyd verzog missmutig das Gesicht. "Du verstehst nichts von unserem Leben, törichtes Mädchen. Was ich getan habe, ist das beste für uns - niemand wird Gwŷras Autorität anzweifeln können, wenn sie meinen Platz einnimmt."
"Dazu muss sie erst einmal überleben", meinte Oronêl, und befühlte erneut die Stirn des Mädchens. Das Fieber war nicht weiter gesunken. Er deutete auf den Beutel mit den Kräutern. "Wir müssen einen Sud aus den übrigen Kräutern bereiten, der das Fieber senken wird. Kerry, würdest du..."
Als Kerry am Feuer stand und in Aelwyds Kessel den Fiebersud umrührte, musste Oronêl unwillkürlich lachen. Kerry warf ihm einen irritierten Blick zu. "Was ist?"
"Mit deinen Zeichen... wie war das noch? Mit den heiligen Blutlinie der Geister siehst du beinahe aus wie eine Priesterin der Glannau Môr. Ihr müsst aufpassen, dass nicht sie euch ersetzt, Aelwyd."
Aelwyd presste missgelaunt die Lippen zusammen. "Ich denke nicht, dass sie das Zeug dazu hätte." Kerry, die zuerst noch erschrocken die Hand zum Gesicht gehoben hatte, als wollte sie die Punkte fortwischen, blickte die Priesterin mit gefährlich verengten Augen an. "Vielleicht ja doch. Immerhin habe ich es geschafft, Saruman zu begegnen und mich nicht auf seine Seite ziehen zu lassen - im Gegensatz zu euch."

Oronêl - Edrahil - Hilgorn -Narissa - Milva

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Ein Ohr an Aelwyds Tür
« Antwort #3 am: 9. Okt 2019, 14:58 »
Sie verabreichten Gwŷra den fertigen Sud und Oronêls besorgte Miene entspannte sich etwas, als die Atemzüge des Mädchens regelmäßiger wurden und die Anspannung in ihrem Gesicht nachzulassen begann. Schon bald wirkte Gwŷra so, als würde sie tatsächlich einfach nur schlafen.
"Das wäre geschafft," murmelte Oronêl. "Ich glaube, den schlimmsten Teil des Fiebers hat sie überstanden. Hoffen wir, dass die Genesung ihrer Hand ähnlich glatt läuft..."
Kerry gelang es nicht, ein Gähnen zu unterdrücken. Sie wusste nicht, wie spät es mittlerweile war. Aelwyd warf ihr einen missbilligenden Blick zu, doch Oronêl sagte: "Du kannst dich ruhig etwas aufs Ohr legen, Kerry. Für heute hast du genug getan."
Aelwyd rührte sich und sagte etwas widerwillig: "Die Hütte nebenan steht leer. Du wirst dort ein vorbereitetes Bett finden. Gwŷra hat dort einst geschlafen, als sie noch an meiner Seite war."
"Ich werde noch ein Weilchen hier bleiben," stellte Oronêl klar.
"Das würde ich Euch auch geraten haben," brummte die Priesterin. "Ihr solltet Euch nicht allzu oft im Dorf zeigen. Je länger die Menschen denken, ich würde mit dem Môrysbryd fertig werden, desto besser. Spaziert Ihr draußen herum, wird es bald schon Ärger geben."
"Wie Ihr meint," hörte Kerry Oronêl noch antworten, ehe sie mit einem letzten Blick auf die friedlich schlafende Gwŷra aus dem Raum schlüpfte.

Wie Aelwyd gesagt hatte fand Kerry in der Nebenhütte tatsächlich ein gemachtes Bett vor. Sie beschloss, die seltsamen Linien auf ihrem Gesicht erst später abzuwaschen - in der Dunkelheit der Nacht würde sie am kleinen Bach hinter Aelwyds Behausung sowieso nicht genug dafür sehen können. Mit einem Seufzen streifte sie Gwŷras Pelzumhang ab und kroch in das Bett, das dabei laut knarzte. Kaum hatte sie sich hineingelegt und die Augen geschlossen, driftete sie bereits in einen tiefen Schlummer davon.
Jäh fuhr sie einige Zeit später aus dem Schlaf auf, als eine Hand sie schüttelte.
"So ein schreckhaftes Ding," sagte eine fremde Stimme amüsiert, die Kerry erst nach und nach als die der Priesterin Weirild erkannte, die eine winzige Lampe mit sich trug. Die Frau kauerte neben Kerrys Bett und besaß die Frechheit, ihr mit einem spitzen Finger über das Gesicht zu tasten.
"Was soll denn das?" beschwerte Kerry sich schlaftrunken. Das Licht der Lampe spendete gerade so viel Licht, dass sie grob erkennen konnte, was rings um das Bett herum geschah.
"Psst, nicht so laut, kleine Närrin. Wenn Aelwyd dich hört, ist dein Leben verwirkt."
Wie bitte? dachte Kerry entsetzt. "Was... was willst du hier?"
"Ich will herausfinden, was Aelwyd treibt. Seit einiger Zeit verhält sie sich merkwürdig. Und da kommst du mir gerade recht, kleine Kerevalline. Du wirst meine Ohren an Aelwyds Tür sein."
"Wieso sollte ich meine... ähm, Meisterin verraten?"
Selbst im Halbdunkel konnte Kerry den Blick erkennen, mit dem Weirild sie ansah: Als hätte sie gefragt, warum der Himmel blau sei. "Natürlich um ihren Platz einzunehmen, du dummes Ding," stellte die Priestrin klar. "Das ist doch alles, wovon Aelwyd in letzter Zeit faselt, und wenn du keine Rüben in den Ohren stecken hast, musst du es auch schon gehört haben. Ihre geliebte Gwŷra-graig ist fort, und nun sucht sie verzweifelt nach einer neuen Nachfolgerin."
"Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist," wagte Kerry zu widersprechen. "Sie wird es sowieso herausfinden."
"Wird sie nicht, wenn du es schlau anstellst," drängte Weirild. "Du musst nichts weiter tun, als dich in regelmäßigen Abständen mit mir zu treffen und mir alles davon zu erzählen, was Aelwyd tut. Mehr nicht. Behaupte einfach, du gingest zum Kräutersammeln in den Wald."
Kerry zögerte einen Augenblick. Sollte sie Ja sagen, damit Weirild sie in Ruhe ließ? Sie glaubte ohnehin nicht, dass sie noch sonderlich viele Tage im Dorf der Glannau Môr bleiben würde - es zog sie zurück nach Dunland, wo Aéd auf sie wartete, und weiter nach Eregion, denn sie hatte das dringende Gefühl, die Manarîn warnen zu müssen.
"Was ist, hat es dir etwa die Sprache verschlagen?" wollte Weirild ungeduldig wissen.
"Nein," entgegnete Kerry. "Und ich werde Aelwyd nicht für dich ausspionieren."
Weirild zischte böse. "Du wagst es dich mir zu widersetzen? Ich werde..."
Weiter kam sie nicht. Aus der Dunkelheit sauste ein dünner Pfeil, der sich in Weirilds Oberarm bohrte. Die Frau kreischte entsetzt auf, ehe sich ihre Augen nach oben rollten und sie an Ort und Stelle zusammebrach. Ihre Lampe fiel klirrend zu Boden und zerbrach, was das Licht der Kerze im Inneren freisetzte und die Hütte etwas mehr als zuvor erhellte. Kerry blickte sich mit klopfendem Herzen um und entdeckte Aelwyd, die im Türrahmen der Hütte stand. Die Priesterin setzte ein geschnitztes Blasrohr von den Lippen an, die sich zu einem bösartigen Lächeln verzogen hatten.
"Gut gemacht, Mädchen. Das hast du wirklich sehr gut gemacht," lobte die Alte. "Zu schade, dass Weirild nicht mehr in der Lage sein wird, dir dafür zu danken."
"Was habt Ihr mit ihr gemacht?" wollte Kerry wissen.
"Oh? Sorgst du dich etwa um sie? Sie hätte dir bei lebendigem Leib die Kehle herausgerissen, wenn ich sie nicht aufgehalten hätte. Sie wird schlafen, bis ich ihr befehle, zu erwachen. Komm - starr mich nicht so an und hilf mir, Weirild nach drüben zu schaffen."
Kerry blinzelte zweimal, dann kletterte sie aus dem Bett und fügte sich. Sie war erstaunt, wie leicht Weirilds schlaffer Körper war. Trotz beinahe überwältigender Müdigkeit gelang es Kerry, die schlafende Priesterin gemeinsam mit Aelwyd bis an die Feuerstelle zu zerren und dort etwas unsanft abzulegen.
Oronêl blickte von seinem Sitzplatz an Gwŷras Seite auf. Im rötlichen Licht der Glut konnte Kerry seinen interessieren Gesichtsausdruck erkennen. "Sieht aus, als hättet Ihr unerwarteten Besuch erhalten, Aelwyd."
"Nicht gänzlich unerwartet, Môrysbryd," entgegnete die alte Priesterin. "Ich hatte schon so eine Ahnung, dass eine von diesen durchtriebenen Schnepfen versuchen würde, über das Mädchen an mich heranzukommen, wenn sie sie wirklich für meine Schülerin hielten. Deshalb habe ich Augen und Ohren offen gehalten, und wie man sehen kann, war meine Vorsicht nicht unbegründet. Aaah, Weirild, du Närrin. Du konntest einfach nicht widerstehen, nicht wahr?"
Kerry beschloss, all ihre Fragen für den Moment hinunterzuschlucken. Sie war viel zu müde, um noch klar genug dafür denken zu können. Also ließ sie Aelwyd stehen und warf Oronêl einen entschuldigenden Blick zu, ehe sie erneut die Hütte der Priesterin verließ.

Sie schlief bis weit in den Vormittag hinein. Schließlich war es Oronêl, der Kerry sanft weckte. "Du solltest so langsam in die Gänge kommen," scherzte er einigermaßen gut gelaunt. "Gwŷra ist ebenfalls schon wach. Sie hat nach dir gefragt."
"Hat sie das?" wunderte sich Kerry. Rasch kletterte sie aus dem Bett und folgte Oronêl in die größere Hütte nebenan. Draußen sah sie nur wenige Menschen, die auf den Straßen unterwegs waren. Eine unheilvolle Stimmung schien über dem Dorf der Glannau Môr zu liegen.
Gwŷra saß mit nachdenklichem Blick auf dem Bett, auf dem sie die vergangene Nacht verbracht hatte. Sie sah noch immer blass im Gesicht aus. Als sie aufblickte und Kerry sah, spiegelte sich ein so komischer, verwirrter Ausdruck auf ihrem Gesicht wieder, dass Kerry beinahe laut gelacht hätte.
"Du trägst die Blutlinien?" murmelte Gwŷra durcheinander. "Also träume ich noch?"
"Nein, Gwŷra-graig," sagte Aelwyd barsch. "Eine wie sie wäre der Blutlinien niemals würdig."
Ermattet sank Gwŷra auf ihr Bett zurück. Sie hielt ihre Hand umklammert, die in einen dicken Verband gehüllt war. "Wie geht es dir?" fragte Kerry vorsichtig.
Gwŷra schwieg lange, ehe sie antwortete. "Ich weiß es nicht. Der Schmerz kann mir nichts anhaben - ich habe ihn in dem Augenblick akzeptiert, als ich Aelwyds Herausforderung annahm. Und doch fühle ich mich... als hätte ich einen Fehler gemacht. Beim Blutmond... nichts ergibt mehr einen Sinn."
"Du brauchst Ruhe," sagte Oronêl. "Und während du dich ausruhst, werden wir dafür sorgen, dass der Zauber, den Saruman über das Küstenvolk gelegt hat, gebrochen wird."
"Nehmt euch vor den Priesterinnen in Acht," murmelte Gwŷra. "Sie sind mächtiger als sie erscheinen." Sie legte sich wieder hin, um Ruhe zu finden.
Kerry suchte Oronêls Blick. Sie wusste nicht, was der Waldelb als Nächstes vorhatte. Doch sie wusste, dass sie sich auf ihn verlassen konnte.
RPG:

Eandril

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Re: Das Land der Glannau Môr
« Antwort #4 am: 12. Okt 2019, 21:17 »
"Ich wüsste jemanden, der euch dabei helfen kann, diesen Zauber zu brechen, Môrysbryd", sagte Aelwyr unvermittelt, und hob dem Kopf von dem Krug, in dem sie bislang gerührt hatte. Sie deutete auf die noch immer bewusstlose Weirild. "Sie."
Oronêl verzog das Gesicht. "Ich würde ungern auf Folter zurückgreifen, um an Informationen zu kommen."
"Folter? Wer redet von Folter?", winkte Aelwyd ab, und kicherte in sich hinein. "Was glaubt ihr, was ich hier zubereite? Tee? Sobald die gute Weirild das hier getrunken hat, wird sie euch alles verraten, was ihr wissen wollt." Sie fuhr mit der flachen Hand über die Öffnung des Kruges, und murmelte einige Wörter in einer fremden Sprache. Zu Oronêls Überraschung glaubte er, einen unnatürlichen Hauch, der durch die Hütte fuhr, zu spüren.
"So." Mit knackenden Gelenken erhob Aelwyd sich, kniete sich neben Weirild und setzte der bewusstlosen Priesterin den Krug an die Lippen. Dann zwang sie Weirild zu schlucken, und erhob sich wieder, als das Gefäß leer war. "Sobald sie aufwacht, wird sie euch alle Fragen beantworten, die ihr habt."
Oronêl kniete sich ein wenig zögerlich neben Weirild auf den Boden. Er fragte sich, ob Aelwyds Gebräu wirklich halten würde, was die Alte sich davon versprach...
Aelwyd schnippte mit den Fingern, und Weirilds Lieder öffneten sich langsam. Ihre Augen hatten einen trüben Glanz, und sie blickte starr an die Decke.
"Wir... suchen nach einem Weg, Sarumans Zauber zu brechen", begann Oronêl ein wenig unsicher. "Kannst du uns helfen?"
"Ich weiß nichts von einem Zauber", erwiderte Weirild ausdruckslos, ohne den Blick von der Decke zu wenden. Das war eine Überraschung. Oronêl versuchte gerade, sich eine weitere Frage zu überlegen, als Kerry ihn unerwarteter Weise sanft zur Seite schob, und sich über Weirild beugte.
"Meisterin", sagte sie. "Erkennt ihr mich?"
"Ja. Du bist... Aelwyds Schülerin. Du trägst meine Blutlinien."
"Gut, dass ich noch nicht dazu gekommen bin, das Zeug abzuwaschen", murmelte Kerry, und sagte dann lauter: "Ich bin gekommen, um dir über Aelwyds Geheimnisse zu berichten."
"Aelwyds Geheimnisse... gut. Ich begehre dieses Wissen. Ich muss ihre Geheimnisse ergründen."
Auf ihrem Hocker gackerte Aelwyd leise und hämisch. "Ha, diese Närrin. Sie wird meine Geheimnisse niemals erfahren."
Oronêl legte Kerry eine Hand auf die Schulter. "Was tust du?", fragte er leise, und Kerry schüttelte den Kopf. "Keine Ahnung. Ich... improvisiere."
"Hm. Frag sie... frag sie nach einem verbotenen Ort", schlug Oronêl vor. Kerry wandte sich wieder Weirild zu. "Aelwyd weiß... von dem geheimen Ort, den niemand aufsuchen darf. Sie wird dorthin gehen."
"Die alte Närrin", erwiderte Weirild noch immer vollkommen ausdruckslos. "Die Macht des Weißen ist stark dort auf der Lichtung. Er wird sie vernichten."
"Wisst ihr, wovon sie spricht?", fragte Oronêl an Aelwyd gewandt. "Lichtungen gibt es in diesem Land viele", antwortete die Priesterin. "Ich nehme jedoch an, sie spricht von der Lichtung, wo wir dem Weißen zuerst begegnet sind - westlich des Dorfes, über den Klippen. Einst war es ein heiliger Ort."
Kerry nahm das Stichwort auf. "Die heilige Lichtung, nicht wahr?", fragte sie Weirild. "Wo... wo der Weiße zuerst zu uns kam?"
"Ja. Niemand darf dorthin."
Aelwyd machte eine Geste, und Weirilds Augen schlossen sich erneut. "Mehr werdet ihr von ihr ohnehin nicht erfahren."
Oronêl erhob sich leichtfüßig, und streckte Kerry die Hand entgegen. "Ich denke, wir sollten dieser Lichtung einen Besuch abstatten." Kerry blickte erschrocken von der erneut bewusstlosen Weirild zu Oronêl. "Aber... meinst du nicht, es könnte, nun ja... gefährlich sein?"
Oronêl hob einen Augenbraue. "Seit wann fürchtet sich die unerschrockene Kerry vor einer Lichtung?" Sie stieß ihn sanft mit der flachen Hand vor die Brust. "Ich fürchte mich nicht. Soweit kommt es noch. Aber... was ist, wenn Saruman dort ist? Oder einer seiner Diener?"
"Ich glaube nicht, dass das der Fall ist", meinte Oronêl nachdenklich. "Erinnere dich daran, was du gehört hast, als du Weirild und die anderen Priesterinnen belauscht hast. Saruman hat sich in die Waldfestung zurückgezogen - vermutlich Dol Guldur. Er ist also nicht hier. Außerdem haben sie darüber gesprochen, dass ihr Kontakt zu Saruman abgerissen ist, also glaube ich nicht, dass einer seiner Diener hier ist."
"Etwas anderes sollte euch Sorgen bereiten", mischte sich Aelwyd ein. "Weirild weiß eindeutig über mehr Bescheid, als sie preisgegeben hat. Die Antwort auf eure erste Frage war eine Lüge, Môrysbryd." Zu zeigen, dass ihr Trank offenbar nicht vollständig gewirkt hatte wie gedacht, gefiel der Priesterin sichtlich wenig.
"Ein weiteres Zeichen, dass Saruman irgendeinen Einfluss auf sie ausübt", stellte Oronêl fest. "Ich frage mich nur, warum sich dieser Einfluss nicht auf euch erstreckt, Aelwyd. Immerhin habt ihr bis vor einiger Zeit noch selbst auf seiner Seite gestanden."
"Ich bin nicht so einfach zu beherrschen", gab Aelwyd zurück, und kicherte geheimnisvoll. "Nicht einmal von einem Zauberer."
Oronêl zuckte mit den Schultern, und sah Kerry an. "Na los. Sehen wir uns diese geheimnisvolle Lichtung einmal an."

Sie verließen das Dorf in westlicher Richtung, wo sich der Wald dicht bis an die Grenze des Dorfes heran schob. Oronêl fiel auf, dass wie wenigen Dorfbewohner, die sie trafen, sowohl ihn als auch Kerry mit einer Mischung aus Argwohn und Ehrfurcht betrachteten. Offenbar hatte Gwŷras Feuerprobe einigen Eindruck auf die Glannau Môr gemacht, der sich sogar auf ihre Gefährten erstreckte.
Jenseits des Dorfes mussten sie sich einen Weg durchs Unterholz bahnen - Oronêl entdeckte zwar einen Pfad, der jedoch beinahe verschwunden und fast vollständig zugewuchert war. Offenbar gingen die gewöhnlichen Dorfbewohner diesen Weg schon seit Jahren nicht mehr.
"Was glaubst du, was wir auf dieser Lichtung finden werden?", fragte Kerry im Flüsterton. Sie hatte sich vor ihrem Aufbruch endlich die Blutlinien aus dem Gesicht gewaschen, und sah wieder aus wie immer.
"Ich habe keine Ahnung", gab Oronêl zu. "Aber aus irgendeinem Grund hat Saruman selbst den Priesterinnen verboten, dorthin zu gehen. Also muss irgend etwas besonderes daran sein."
Urplötzlich lichtete sich der Wald, und Oronêl trat auf eine mit hohem Gras bewachsene Lichtung hinaus. Am Rand der Lichtung waren in regelmäßigen Abständen mehr als mannshohe Steine aufgestellt, die allmählich von Efeu und Waldrebe überwuchert wurden. In dem Moment, in dem Oronêl die Lichtung betreten hatte, spürte er, dass etwas ungewöhnlich war - wie ein unhörbares Summen in der Luft.
"Spürst du das auch?", fragte er Kerry, doch sie schüttelte ratlos den Kopf. "Nein, gar nichts. Wieso, was ist?"
"Ich bin mir nicht sicher...", erwiderte Oronêl, und ging langsam durch das hohe Gras, den Blick auf den Boden vor sich gerichtet. Etwas blitzte in der Sonne auf, und er bückte sich danach. In seiner Hand lag ein vollkommen glatter, runder Stein, der beinahe wie Glas glänzte. Auf seiner Oberfläche schienen sich Schatten zu bewegen.
Kerry blickte neugierig an seinem Rücken vorbei. "Das sieht verdächtig aus", stellte sie fest. "Glaubst du, es hat mit Saruman zu tun?"
"Ich bin mir sogar sicher, dass das der Fall ist." Oronêl schloss die Hand um den Stein, als er ein Rascheln am Rande der Lichtung hörte - aus drei Richtungen zugleich. Hinter den stehenden Steinen traten in lange Gewänder gekleidete Gestalten hervor. Frauen, auf deren Gesichter die Blutlinien der Priesterinnen deutlich zu sehen waren.
"Was haben wir denn hier?", fragte eine der Frauen, deren Stimme überraschend tief war. "Ihr stört diesen Ort", stellte eine andere fest, und eine dritte fügte hinzu: "Stört den Zauber des Meisters!" Inzwischen hatten die Priesterinnen einen Halbkreis um Oronêl und Kerry, der nur die Westseite, wo steile Klippen zum Meer hinabfielen, offen lies, gebildet.
"Und dafür..." sprach die erste Priesterin wieder. "Müsst ihr sterben."
Aus dem Wald hinter den Priesterinnen traten Krieger hervor. Das Metall ihrer Waffen blitzte in der Sonne.

Oronêl - Edrahil - Hilgorn -Narissa - Milva

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Die geheimnisvolle Lichtung
« Antwort #5 am: 16. Okt 2019, 15:41 »
Blitzend im hellen Sonnenlicht fuhr Oronêls Axt hervor. Der Waldelb ließ den flachen Stein fallen, den er zuvor aufgehoben hatte und nahm eine Kampfhaltung ein. Auch Kerry zog ihre Waffe: ein kurzes Schwert, das sie an den Furten des Isen erhalten hatte. Es war nach Art der Rohirrim gefertigt und besaß einen Griff, der mit einem geschnitzten Pferdekopf verziert war.
Mit klopfendem Herzen starrte Kerry auf die Lichtung hinaus. Gemeinsam mit Oronêl war sie bis auf wenige Schritte bis an den Rand der Klippen zurückgewichen, als die Priesterinnen ihren Kreis um die beiden geschlossen hatten. Die Krieger, die mit gezogenen Waffen langsam näher kamen, schienen es nicht sonderlich eilig zu haben. Sie wirkten teilnahmslos, ihre Blicke waren leer und gingen geradewegs durch Oronêl und Kerry hindurch.
Es war warm, wie Kerry feststellte. Ungewöhnlich warm für einen Januartag. Obwohl die Sonne ihren Zenit erreicht hatte und hoch über der Lichtung stand, sollten ihre Strahlen im Winter eigentlich niemals ausreichen, um eine derartige Wärme zu erzeugen. Kerry streifte Gwŷras Umhang ab und er landete mit einem leisen Rascheln im weichen Gras. Dabei bemerkte Kerry, wie still es auf der Lichtung war. Oronêl schien es ebenfalls zu bemerken. Der Waldelb blickte sich alarmiert um, als die Krieger sich ihnen bedrohlich nahe kamen.
"Bleibt zurück," warnte er sie mit erhobener Axt. "Es muss nicht in einem Blutvergießen enden!"
"Närrischer Môrysbryd," gackerte eine der Priesterinnen. "Es ist dein Blut, das fließen wird."
"Du hast diesen Ort mit deiner Anwesenheit beschmutzt!" ereiferte sich eine andere der Frauen.
"Entweiht!" empörte sich die Dritte.
Die Priesterinnen waren bei den aufrechten Steinen stehen geblieben, die Kerry bei ihrem ersten Besuch auf der Lichtung in der vergangenen Nacht gar nicht aufgefallen waren - die Schatten der nahen Bäume hatten sie verborgen. Ihre Gesichter waren von hämischem Grinsen verzerrt. Alle drei waren bei dem nächtlichem Treffen, dem Kerry beigewohnt hat, anwesend gewesen. Doch entweder erkannten sie Kerry nicht wieder, oder sie gingen einfach nicht darauf ein. Der Großteil ihrer Agression schien sich gegen Oronêl zu richten.
Die ersten Krieger waren heran und Oronêl und Kerry standen Schulter an Schulter, beinahe bis zum drohenden Rand der Klippe zurückgedrängt. Kerry sah, wie sich kleine Schweißperlen auf Oronêls Stirn bildeten. Der Elb schien mehr wahrzunehmen als es Kerry tat - setzte ihn das etwa weiteren Angriffen aus, die Kerry gar nicht mitbekam?
Sie beschloss, etwas zu unternehmen. Mit dem Mut der Verzweiflung trat sie einen Schritt nach vorne, auf den vordersten Feind zu. Kerrys Schwert schoss vorwärts, auf Bauchhöhe geführt, und mit einem Schrei stieß sie es dem Krieger mitten durch den Oberkörper.
...oder hätte es zumindest getan, doch zu ihrer vollständigen Überraschung, traf ihre Klinge auf keinerlei Widerstand. Der mit Schwung geführte Stich riss Kerry aus dem Gleichgewicht, denn sie hatte ihre gesamte Kraft in den Angriff gelegt. Das Schwert sauste durch den Krieger hindurch, gefolgt von Kerrys Arm, und dem Rest ihres Körpers. Der Länge nach schlug sie im weichen Gras vorwärts hin. Völlig verdutzt blickte sie auf und sah den Menschen, der ihr gerade eben noch gegenüber gestanden hatte, über sich stehen - vollkommen unverletzt. Von einer Verletzung fehlte jegliche Spur...
"Oronêl!" rief Kerry und versuchte angestrengt, gleichzeitig einen Blick auf ihren Freund zu erhalten und mühsam wieder auf die Beine zu kommen. Vier Krieger hatten Oronêl gegen den oberen Rand der Klippe gedrängt und er hatte bereits Schwierigkeiten, das Gleichgewicht zu halten. Seine Axt hielt die Feinde noch in Schach, doch für wie lange?
"Oronêl!" schrie Kerry erneut, als ihr endlich ein Licht aufging. "Sie - sie sind nicht echt!"
Oronêl blinzelte, für einen Augenblick überrascht. In diesem Moment ging ein schwerer Streithammer auf seinen Kopf nieder - nur um durch den Elben hindurchzufahren ohne Schaden zu hinterlassen. Oronêl erholte sich von seinem Schock und reagierte blitzschnell. Eine geschickte Rolle vorwärts - durch seine Gegner hindurch - brachte ihn aus der Gefahrenzone, weg vom Klippenrand. Lechtfüßig kam Oronêl neben Kerry wieder auf die Beine.
"So ist das also," sagte er und ein kleines Lächeln stahl sich auf sein Gesicht. "Eine Illusion."
Wütendes Gezeter erinnerte Oronêl und Kerry daran, dass die vermeintlichen Krieger nicht die einzige Gefahr auf der Lichtung gewesen waren. "Alles muss man selbst erledigen," giftete die erste Priesterin und zog einen langen, gezackten Dolch. Ihre Begleiterinnen taten es ihr gleich.
"Die Geisterklippe hätte ihn dahinraffen sollen!"
"Wir werden ihn eigenhändig töten müsen."
"Hinter mich, Kerry," befahl Oronêl. Er stürmte los, auf die Priesterinnen zu, die nun ihre Positionen an den aufrechten Felsen aufgegeben hatten und lauernd näher gekommen waren. Doch Kerrys Hoffnungen auf ein rasches Ende des Kampfes wurden jäh enttäuscht. Obwohl Oronêl den Frauen als Elb an Stärke und Geschicklichkeit weit überlegen sein sollte, gelang es ihm nicht, auch nur einen Treffer zu landen. Jedem Angriff Oronêls wurde ausgewichen, als wären die Priesterinnen selbst Elben oder besäßen ähnlich schnelle Reflexe. Da sie zu dritt waren, umkreisten sie Oronêl bald wie ein Rudel hungriger Wölfe und fügten ihm immer wieder kleinere Schnitte zu, wenn er nicht schnell genug parieren konnte.
Kerry war klar, dass sie etwas unternehmen musste. Sie fasste den Plan, sich an eine der Priesterinnen anzuschleichen, denn offenbar schienen die Frauen derzeit keine Notiz von Kerry zu nehmen. Ihr Hass auf den Môrysbryd schien sie blind zu machen. Kerry ließ sich vorsichtig in die Hocke nieder. Halte noch einen Augenblick durch, Oronêl, dachte sie. Dabei stieß ihre Hand auf etwas Warmes inmitten des Grases. Staunend stellte sie fest, dass es sich um den flachen, glasigen Stein handelte, den Oronêl fallen gelassen hatte. Als sie ihn aufhob, flackerte ein Schatten über die Oberfläche des Steins und die Wärme in Kerrys Hand nahm zu. Einen Augenblick lang fragte sie sich, was es wohl damit auf sich haben könnte, doch die Kampfgeräusche sorgten dafür, dass Kerry besorgt zu Oronêl hinüber blickte. Ein Schnitt am Oberarm des Waldelben blutete und Kerry sah, wie Oronêl die Zähne zusammenbiss. Da erregte eine Bewegung jenseits des Kampfgeschehens Kerrys Aufmerksamkeit. Erst glaubte sie, eine weitere Illusion gesehen zu haben, doch dann wiederholte sich die Bewegung: Ein schlanker, blitzschneller Schatten flackerte über die Oberfläche eines der drei aufrechten Felsen, hinter denen die Priesterinnen gestanden waren - genau derselbe Schatten, wie ihn Kerry auf dem kleinen Stein in ihrer Hand gesehen hatte.
Noch ehe sie sich darüber Gedanken machen konnte, hatte sich ihr Körper bereits in Bewegung gesetzt. Etwas zog sie wie magisch zu diesem geheimnisvollen Felsen hin. So leise sie konnte, umrundete sie den Kampf und stand nur noch wenige Schritte vor dem Felsen, als den Priesterinnen endlich aufgefallen war, was Kerry da tat.
"Bleib fort!"
"Weg davon!"
"Fass das nicht an!"
Alle drei brachen sie den Angriff auf Oronêl ab und stürzten sich auf Kerry. Diese kreischte entsetzt auf und tat das Erste, was ihr einfiel: Sie sprang vorwärts und legte die freie Hand auf die vordere, aufrechte Fläche des Felsens.

Es war, als hätte ein Blitz auf der Lichtung eingeschlagen. Kerrys Augen tränten, als sie geblendet wurde und für eine lange Minute gar nichts mehr sah. Sie spürte, wie eine Hand nach ihrem Bein schnappte, aber dann mit Gewalt fortgezogen wurde. Doch sie konnte sich nicht bewegen. Erst nach und nach ließ der Schmerz nach und ihr blieb nur der Stein, der warm in ihrer Hand pulsierte. Staunend blickte sie sich auf der Lichtung um, als sie langsam in dem hellen Licht mehr erkennen konnte. Die Priesterinnen waren fort, ebenso wie Oronêl. Über dem Meer war ein halb durchsichtiger Regenbogen zu sehen und überall auf der Lichtung schimmerte das Sonnenlicht in den unterschiedlichsten Farben, die ständig wechselten. Im Zentrum der Lichtung stand ein steinerner Sockel, ungefähr halb so hoch wie Kerry, auf dem eine Kugel aufgebahrt lag, die dem Stein in ihrer Hand glich, aber viel größer und schwerer war. Und neben dem Sockel stand eine Gestalt in weißen Gewändern. Nein - nicht weiß. Beim zweiten Hinsehen erkannte Kerry, dass Robe und Umhang ebenso vielfarbig schimmerten, wie das Licht das sie umgab.
"Ich kenne dich," sagte Saruman.
Er war es. Oder handelte es sich um eine weitere Illusion?
"Du bist das Mädchen, das mir Helluin abspenstig gemacht hat," fuhr der Zauberer fort. "Was tust du an diesem Ort?"
Kerry schluckte. "Ich bin... ich bin gekommen, um die Menschen hier von deinem Einfluss zu befreien, Saruman," erwiderte sie.
"Befreien," wiederholte er. "Das klingt, als wären sie Gefangene."
"Sie dienen dir ganz gewiss nicht freiwillig."
Sarumans Blick war beinahe gütig, als wäre Kerry eine fehlgeleitete Schülerin, für die er trotz ihrer Fehler nichts als Wertschätzung empfand. "Du täuschst dich, Kerevalline. Die Menschen Dunlands und Enedwaiths haben sich mir aus freien Stücken angeschlossen, nachdem ich sie besucht hatte."
"Das glaube ich nicht," hielt Kerry dagegen. "Du hast ihren Verstand behext." Sie machte einen vorsichtigen Schritt auf den Sockel zu, denn irgend etwas schien sie davon anzuziehen.
"Diese Priesterinnen halten die Stämme unter deiner Kontrolle. Und du hast Gwŷra gefangen nehmen lassen, um sie gefügig zu halten."
Sanft schüttelte Saruman den Kopf. Er wirkte wie ein weiser König, der noch viel Arbeit vor sich hat, bis sein Reich wieder ein Reich des Friedens werden würde. "Du verstehst meine Absichten nicht. Wie könntest du es auch? Du bist nur ein Mädchen. Jene, die dich umgeben, haben dich mit ihren Lügen fehlgeleitet. Beinahe fürchte ich, es wird für dich zu spät sein, um die Wahrheit überhaupt erkennen zu können."
"Zu spät?" wiederholte Kerry und tat einen weiteren Schritt vorwärts.
"Wenn du dich von deinen sogenannten Freunden abwendest und zu mir kommst, dann werde ich dir helfen können. Doch diese Gelegenheit wird bald verstreichen."
"Ich werde nicht zu dir kommen, Saruman," stieß Kerry hervor. "Ich werde dich aufhalten!"
"Dann bist du verloren, fürchte ich," sagte der Zauberer bekümmert, als sich gleichzeitig eine unsichtbare Hand in Kerrys Schulter krallte und eine zweite Klaue ihren Arm packte. Sie schrie auf und stolperte, doch so rasch wie der Angriff gekommen war, verschwanden die unsichtbaren Finger wieder. Erneut kam es Kerry vor, als wären sie mit Gewalt fortgerissen worden.
Sie rappelte sich auf und stand Saruman nun direkt gegenüber. Der Zauberer schien etwas sagen zu wollen, doch Kerry war schneller. Sie sprang vorwärts und packte den schweren runden Stein auf dem Podest mit beiden Händen - und riss ihn mit aller Kraft aus seinem Sockel.
Erneut flammte ein gleißender Blitz auf und Kerry kehrte in die wirkliche Welt zurück. Schwer atmend landete sie im weichen Gras, die geheimnisvolle Kugel noch immer fest umklammert. Oronêl beugte sich besorgt über sie. Die drei Priesterinnen lagen offenbar bewusstlos ganz in der Nähe. Von Saruman jedoch fehlte jegliche Spur.
In Oronêls Augen standen unzählige Fragen, doch als er sah, was Kerry mit sich gebracht hatte, stellte er nur eine einzige:
"Ist das etwa das, wofür ich es halte?"
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Eandril

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Re: Das Land der Glannau Môr
« Antwort #6 am: 23. Okt 2019, 12:00 »
Kerry blinzelte verwirrt und schien den glänzenden Stein, denn sie fest umklammerte, jetzt erst richtig wahrzunehmen.
"Ich... ich habe keine Ahnung", erwiderte sie. "Wofür hältst du es denn?"
Oronêl streckte ihr eine Hand entgegen und sie ließ sich von ihm in die Höhe ziehen, mit der freien Hand den Stein noch immer fest an sich gedrückt.
"In meinem ganzen Leben habe ich so etwas nie selbst gesehen", begann Oronêl zu erklären. "Doch ich habe von den Steinen gehört, die die Númenorer aus dem Westen mitgebracht haben - den Palantíri. Doch ich habe nur davon gehört, dass sie dazu dienten, in weite Ferne zu sehen, und ihren Benutzern ermöglichten, über große Entfernungen hinweg miteinander zu sprechen. Nicht... was immer dieser hier getan hat."
"Also glaubst du, es ist einer dieser Palan... Palan-Dings?", fragte Kerry, und betrachtete den Stein versonnen. "Was immer es ist, er ist hübsch."
Oronêl beobachtete sie besorgt, denn dieses Verhalten erinnerte ihn zu sehr an die Zeit, als sie auf der Avalosse den Ring des Hexenkönigs in ihrem Besitz gehabt hatte. "Leg ihn einen Augenblick hin, Kerry", schlug er ruhig vor. Kerry wirkte abwesend, und konnte ihren Blick nicht von dem Stein losreißen. "Aber warum denn? Da sind so schöne Muster..."
"Déorwyn", sagte Oronêl scharf, und beim Klang ihres Geburtsnamens zuckte Kerry zusammen und hob den Blick. "Richtig. Ich sollte ihn hinlegen." Vorsichtig legte sie den Stein ins hohe Gras, das ihn teilweise verbarg. Dann schüttelte sie den Kopf, als wäre sie gerade aus tiefem Wasser aufgetaucht, und sagte: "Ich hatte vollkommen vergessen, woher ich ihn hatte. Ich konnte nur noch sehen... wie schön er ist."
"Die Palantíri sind mächtige Dinge", stellte Oronêl ernst fest. "Wenn es denn einer ist, denn ich habe nie gehört, dass sie dazu dienten, einen Bann über ein ganzes Volk zu legen, oder Illusionen, wie wir sie gesehen haben, zu erzeugen." In diesem Moment wünschte er sich, er hätte nicht so viel Zeit seines Lebens an einem Ort verbracht, sondern schon viel eher damit begonnen, die Welt zu bereisen und über alles darin zu lernen - nicht erst, als es schon beinahe zu spät war.
"Aber du weißt ja noch gar nicht alles!", stieß Kerry hervor. "Ich habe Saruman gesehen! Er war hier... oder doch nicht?"
Bei der Erwähnung Sarumans zog sich etwas in Oronêls Innerem zusammen, denn der Gedanke an den Zauberer erinnerte ihn an vieles, woran er sich nicht gerne erinnern wollte. Er zog die Augenbrauen zusammen und sagte: "Saruman war hier? Erzähl mir alles, woran du dich erinnerst."
"Nun, als ich den Stein berührt habe, warst du plötzlich verschwunden, genau wie die Hexen. Überall waren Regenbögen - so sah es zumindest aus - und vor mir stand Saruman. Aber er war gar nicht mehr weiß, sondern seine Roben schimmerten in ganz verschiedenen Farben. Er wollte mich überreden, nichts mehr gegen ihn zu tun, aber... das konnte ich nicht machen. Nicht mehr. Also habe ich mir den Stein geschnappt, und war plötzlich wieder hier."
"Du warst nie weg", erwiderte Oronêl. Kerrys Erzählung hatte einige Fragen beantwortet, die er sich gestellt hatte. "Du hast die ganze Zeit reglos an der Klippe gestanden. Die Priesterinnen sind beinahe verrückt geworden - verrückter als normalerweise, sollte ich wohl dazu sagen. Sie haben die ganze Zeit versucht, dich zu packen, und haben sich kaum noch auf mich konzentriert. Vermutlich konnte ich sie nur deswegen besiegen", schloss er nachdenklich. Ihm kam ein weiterer Gedanke. "Zweimal hat eine von ihnen dich erreicht und gepackt, bevor ich sie fortziehen konnte. Einmal direkt nachdem du den Stein berührt hattest, und einmal kurz bevor du ihn an dich genommen hast."
"Das habe ich gespürt!", stellte Kerry fest, und schien von dem Gedanken überrascht. "Wie Klauen, die mich packten und dann weggezogen wurden."
Oronêl zuckte mit den Schultern. "Ich sagte ja, du warst nie wirklich weg." Er warf einen nachdenklichen Blick hinunter auf den Boden, wo der Stein lag. Kerry folgte seinem Blick, sah aber schnell wieder weg. "Selbst wenn es kein echter Palantír ist sondern eine Nachahmung Sarumans, scheint er dich in die Lage versetzt zu haben, mit Saruman zu sprechen. Andererseits... wissen wir das nicht. Ich habe nicht davon gehört, dass die Palantíri den Gegenüber erscheinen lassen, als wäre er tatsächlich dort. Vielleicht hast du nicht mit Saruman selbst gesprochen, sondern nur mit einer Täuschung, einem Abbild vielleicht. Das würde auch erklären, warum seine Stimme keine Macht über dich hatte."
Kerry verschränkte die Arme, und erwiderte ein wenig gekränkt: "Du meinst also nicht, dass ich seiner Stimme nach allem was passiert ist widerstehen könnte?"
Oronêl schüttelte den Kopf. "Ich glaube durchaus, dass du in der Lage wärst, das zu tun. Nur, dass es dich offenbar kaum Mühe gekostet hat, finde ich seltsam."
"Also schön", meinte Kerry, und wirkte besänftigt. "Eine Frage hätte ich aber noch. Wieso meinst du, du konntest die Hexen nur besiegen, weil sie sich auf mich konzentriert haben? Es sind doch eigentlich nur alte Frauen."
Diese Frage beunruhigte Oronêl selbst, und bei dem Gedanken schmerzten die oberflächlichen Schnitte, die die Messer der Priesterinnen ihm beigebracht hatten. "Sie... sie waren schneller, als sie hätten sein dürfen, und es war... als ob sie ein wenig im Voraus wüssten, was ich tun werde." Er schüttelte den Kopf. "Ich weiß nicht, wie so etwas möglich ist, doch es ist in keinem Fall gut für uns."
"Meinst du, es hat etwas mit Saruman und diesem Stein zu tun?", fragte Kerry, und Oronêl nickte ein wenig zögerlich. "Ich hoffe es zumindest. Das würde die Wahrscheinlichkeit senken, dass alle Diener Sarumans zu so etwas in der Lage sind."
Kerry warf einen raschen Seitenblick auf den Stein. "Und was machen wir jetzt mit dem Ding? Wir können es schlecht hier liegen lassen."
"Ich werde ihn für den Moment an mich nehmen", erwiderte Oronêl. "Und dann werde ich ihn an einen sicheren Ort bringen - nach Bruchtal vielleicht."

Er hob den Stein auf, und im gleichen Augenblick hörte er Geräusche aus dem Wald um die Lichtung herum. Rascheln, zerbrechende Zweige, gedämpftes Klirren von Metall.
Kerry schien es auch gehört zu haben, denn sie ächzte und sagte: "Nicht schon wieder." Oronêl klemmte den Stein unter den linken Arm und hob mit der Rechten Hatholdôr auf. Aus dem Wald in Richtung des Dorfes trat eine Gruppe Krieger hervor, angeführt vom Häuptling Myndrag. Sie wirkten jedoch eher verwirrt als angriffslustig.
"Was, beim Blutmond, geht hier vor sich?", fragte der Häuptling, als er und seine Krieger ein Stück über die Lichtung herangekommen waren. "Wieso greift ihr unsere Priesterinnen an, Môrysbryd?"
"Nun, zuallererst haben sie uns angegriffen", erwiderte Oronêl ruhig. "Außerdem ist ihnen kein wirkliches Leid geschehen - sie sind nur bewusstlos."
"Und dieser Zustand kann ihrer Intelligenz nur förderlich sein", mischte sich eine weitere, wohlbekannte Stimme ein. Zwischen den Kriegern trat Aelwyd, auf ihren Stab gestützt, hervor, gefolgt von Gwŷra. Das Mädchen wirkte ein wenig wackelig auf den Beinen und trug einen dicken Verband um die linke Hand, doch sie hatte den Kopf erhoben und ihre Augen funkelten.
Bei Myndrag hielt Aelwyd an, und stieß mit ihrem Stab auf den Boden. "Was glaubst du, was du tust, Myndrag, du junger Narr?"
Myndrag verzog das Gesicht. "Hör auf, Aelwyd. Ich... ich fühle mich merkwürdig", stellte er fest, sichtlich überrascht über seine eigene Aussage.
"Das dürfte der Zauber gewesen sein", murmelte Kerry leise vor sich hin, und Aelwyd lachte gackernd auf. "Diese junge Närrin hat Recht. Der Weiße hatte einen Zauber über unser Land gelegt, und jetzt ist er gebrochen."
"Verzeih mir, Aelwyd...", mischte Gwŷra sich ein. "Aber wir sollten anerkennen, dass Kerry und Oronêl den Zauber gebrochen haben. Beim Blutmond, ihretwegen sind die Glannau Môr frei von dem Weißen - von Saruman." Sie blickte Myndrag fest ins Gesicht und richtete sich zu ihrer ganzen geringen Größe auf. "Fühlst du dich besser, großer Häuptling Myndrag orr Gallayn? Hast du noch immer den Wunsch, gegen alle Feinde des Weißen zu kämpfen, selbst wenn es unser Volk das Leben kostet? Glaubst du noch immer, deine Tochter wäre eine Täuschung?"
Erst bei den letzten Worten hatte sich ein unmerkliches Beben in Gwŷras Stimme geschlichen.
Myndrag blinzelte verwirrt. "Gwŷra", sagte er leise. "Mein kleines Mädchen ist nach Hause gekommen." Er wollte Gwŷra in die Arme schließen, doch Aelwyd trat dazwischen. Sie hatte den kurzen Austausch mit einem wissenden, beinahe stolzen Lächeln beobachtet, doch nun war ihre Miene ernst.
"Nein, Myndrag. Nicht dein kleines Mädchen ist nach Hause gekommen, sondern Gwŷra Feuerhand, die die Hohepriesterin der Glannau Môr zu sein bestimmt ist." Sie hob die Arme, und sagte mit lauter, tragender Stimme: "Hört, Krieger der Glannau Môr, was ich euch zu sagen habe. Ich, Aelwyd, habe lange nach einer würdigen Nachfolgerin gesucht. Doch heute steht sie hier vor euch. Gwŷra Feuerhand war einst meine Schülerin, und sie hat sich dieses Amtes als würdig erwiesen. Die alten Götter selbst haben sie ausgewählt und für würdig befunden. Es ist ihr Wille, dass Gwŷra, Tochter des großen Myndrag orr Gallayn, die Priester der Glannau Môr in die Zukunft führt. Beim Blutmond, so soll es sein."
Gwŷra selbst wirkte von Aelwyds Worten wenig überrascht, und sie nahm den Stab, den Aelwyd ihr entgegenstreckte, ohne Zögern entgegen. Umso überraschter wirkten dafür ihr Vater und seine Krieger, und ein verwirrtes Raunen erhob sich unter ihnen - bis Gwŷra mit dem Stab auf den Boden schlug und sagte: "Genug! Aelwyd selbst hat mich als ihre Nachfolgerin ausgewählt, und es bleibt euch nichts anderes übrig, als ihre Wahl zu akzeptieren."
"Aber Gwŷra, meine Kleine. Du bist noch sehr jung, und...", begann Myndrag, doch ein feuriger Blick Gwŷras brachte ihn zum Schweigen. "Es gibt kein Gesetz, nachdem die Hohepriesterin eine alte Frau zu sein hat", gab sie zurück. "Aelwyd hat ihre Zeit gehabt, doch vielleicht ist es an der Zeit etwas zu ändern."
"Aaach, dieses Mädchen wird eine Menge Ärger machen", meinte Aelwyd, die zurückgetreten war und nun neben Oronêl stand, leise. Sie wirkte sehr zufrieden mit sich.
"Ich hätte nicht gedacht, dass ihr das gut heißen würdet", erwiderte Oronêl ebenso leise, und Aelwyd gluckste in sich hinein. "Oh, solange ich noch lebe, werde ich mich sicherlich über vieles ärgern, was Gwŷra tut. Das heißt nicht, dass es nicht trotzdem getan werden muss. Ich bin alt und weise genug, zu erkennen wenn jemand anderes besser als ich weiß, was das Beste zu tun ist. Du bist noch viel älter als ich, Môrysbryd. Aber bist du auch weiser?"
Oronêl erwiderte nichts, doch ihm entging nicht, dass Kerry sich ein Grinsen verkneifen musste.

Schließlich hatten Myndrag und seine Krieger offenbar genug von Gwŷras Vorwürfen, und zogen langsamen Schrittes ab. Gwŷra wandte sich zu Oronêl und Kerry um. Sie wirkte erschöpft, aber gleichzeitig hochzufrieden mit sich selbst. "Beim Blutmond... es wird ein Stück Arbeit, Ordnung in diese Sache zu bringen."
"Aber dir geht es besser!", stellte Kerry glücklich fest. "Ist das nicht die Hauptsache?"
Zur Antwort umarmte Gwŷra sie plötzlich fest, und sagte dann: "Ohne deine Hilfe wäre es vermutlich nicht dazu gekommen." Dann schloss sie auch Oronêl kurz in die Arme, der die Umarmung über sich ergehen ließ - er hatte sich zwar inzwischen ein wenig daran gewöhnt, dass Menschen sehr viel großzügiger mit körperlicher Nähe umgingen als Elben, doch ein wenig unangenehm war es ihm hin und wieder doch.
"Beim Blutmond, ich bin euch zu großem Dank verpflichtet", sagte Gwŷra dann. "Und nicht nur verpflichtet - ich will euch danken. Ich hätte mich niemals sträuben sollen, als ihr mich begleiten wolltet."
"Es war uns eine Freude", meinte Oronêl lächelnd. "Immerhin waren wir dir ebenfalls etwas schuldig."
"Langsam werden wir richtig gut darin, Probleme zu lösen", stellte Kerry fest, doch ihre Miene verdüsterte sich sofort ein wenig, und Oronêl ahnte, dass sie an die Arme, die sich angeblich gegen Eregion in den Bergen sammelte, dachte.
Gwŷra schien davon nichts zu bemerken. "Ihr könnt selbstverständlich so lange wie ihr wollt im Land der Glannau Môr bleiben - beim Blutmond, wir müssten uns schämen, euch unsere Gastfreundschaft nicht anzubieten."
Oronêl wechselte einen Blick mit Kerry, der ihm augenblicklich verriet, dass an einen längeren Aufenthalt bei den Glannau Môr nicht mehr zu denken war - der Gedanke an einen bevorstehenden Angriff auf Eregion ließ auch ihn selbst nicht los.

Oronêl und Kerry nach Dunland
« Letzte Änderung: 3. Nov 2019, 15:11 von Fine »

Oronêl - Edrahil - Hilgorn -Narissa - Milva