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Das Land der Glannau Môr

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Blitzend im hellen Sonnenlicht fuhr Oronêls Axt hervor. Der Waldelb ließ den flachen Stein fallen, den er zuvor aufgehoben hatte und nahm eine Kampfhaltung ein. Auch Kerry zog ihre Waffe: ein kurzes Schwert, das sie an den Furten des Isen erhalten hatte. Es war nach Art der Rohirrim gefertigt und besaß einen Griff, der mit einem geschnitzten Pferdekopf verziert war.
Mit klopfendem Herzen starrte Kerry auf die Lichtung hinaus. Gemeinsam mit Oronêl war sie bis auf wenige Schritte bis an den Rand der Klippen zurückgewichen, als die Priesterinnen ihren Kreis um die beiden geschlossen hatten. Die Krieger, die mit gezogenen Waffen langsam näher kamen, schienen es nicht sonderlich eilig zu haben. Sie wirkten teilnahmslos, ihre Blicke waren leer und gingen geradewegs durch Oronêl und Kerry hindurch.
Es war warm, wie Kerry feststellte. Ungewöhnlich warm für einen Januartag. Obwohl die Sonne ihren Zenit erreicht hatte und hoch über der Lichtung stand, sollten ihre Strahlen im Winter eigentlich niemals ausreichen, um eine derartige Wärme zu erzeugen. Kerry streifte Gwŷras Umhang ab und er landete mit einem leisen Rascheln im weichen Gras. Dabei bemerkte Kerry, wie still es auf der Lichtung war. Oronêl schien es ebenfalls zu bemerken. Der Waldelb blickte sich alarmiert um, als die Krieger sich ihnen bedrohlich nahe kamen.
"Bleibt zurück," warnte er sie mit erhobener Axt. "Es muss nicht in einem Blutvergießen enden!"
"Närrischer Môrysbryd," gackerte eine der Priesterinnen. "Es ist dein Blut, das fließen wird."
"Du hast diesen Ort mit deiner Anwesenheit beschmutzt!" ereiferte sich eine andere der Frauen.
"Entweiht!" empörte sich die Dritte.
Die Priesterinnen waren bei den aufrechten Steinen stehen geblieben, die Kerry bei ihrem ersten Besuch auf der Lichtung in der vergangenen Nacht gar nicht aufgefallen waren - die Schatten der nahen Bäume hatten sie verborgen. Ihre Gesichter waren von hämischem Grinsen verzerrt. Alle drei waren bei dem nächtlichem Treffen, dem Kerry beigewohnt hat, anwesend gewesen. Doch entweder erkannten sie Kerry nicht wieder, oder sie gingen einfach nicht darauf ein. Der Großteil ihrer Agression schien sich gegen Oronêl zu richten.
Die ersten Krieger waren heran und Oronêl und Kerry standen Schulter an Schulter, beinahe bis zum drohenden Rand der Klippe zurückgedrängt. Kerry sah, wie sich kleine Schweißperlen auf Oronêls Stirn bildeten. Der Elb schien mehr wahrzunehmen als es Kerry tat - setzte ihn das etwa weiteren Angriffen aus, die Kerry gar nicht mitbekam?
Sie beschloss, etwas zu unternehmen. Mit dem Mut der Verzweiflung trat sie einen Schritt nach vorne, auf den vordersten Feind zu. Kerrys Schwert schoss vorwärts, auf Bauchhöhe geführt, und mit einem Schrei stieß sie es dem Krieger mitten durch den Oberkörper.
...oder hätte es zumindest getan, doch zu ihrer vollständigen Überraschung, traf ihre Klinge auf keinerlei Widerstand. Der mit Schwung geführte Stich riss Kerry aus dem Gleichgewicht, denn sie hatte ihre gesamte Kraft in den Angriff gelegt. Das Schwert sauste durch den Krieger hindurch, gefolgt von Kerrys Arm, und dem Rest ihres Körpers. Der Länge nach schlug sie im weichen Gras vorwärts hin. Völlig verdutzt blickte sie auf und sah den Menschen, der ihr gerade eben noch gegenüber gestanden hatte, über sich stehen - vollkommen unverletzt. Von einer Verletzung fehlte jegliche Spur...
"Oronêl!" rief Kerry und versuchte angestrengt, gleichzeitig einen Blick auf ihren Freund zu erhalten und mühsam wieder auf die Beine zu kommen. Vier Krieger hatten Oronêl gegen den oberen Rand der Klippe gedrängt und er hatte bereits Schwierigkeiten, das Gleichgewicht zu halten. Seine Axt hielt die Feinde noch in Schach, doch für wie lange?
"Oronêl!" schrie Kerry erneut, als ihr endlich ein Licht aufging. "Sie - sie sind nicht echt!"
Oronêl blinzelte, für einen Augenblick überrascht. In diesem Moment ging ein schwerer Streithammer auf seinen Kopf nieder - nur um durch den Elben hindurchzufahren ohne Schaden zu hinterlassen. Oronêl erholte sich von seinem Schock und reagierte blitzschnell. Eine geschickte Rolle vorwärts - durch seine Gegner hindurch - brachte ihn aus der Gefahrenzone, weg vom Klippenrand. Lechtfüßig kam Oronêl neben Kerry wieder auf die Beine.
"So ist das also," sagte er und ein kleines Lächeln stahl sich auf sein Gesicht. "Eine Illusion."
Wütendes Gezeter erinnerte Oronêl und Kerry daran, dass die vermeintlichen Krieger nicht die einzige Gefahr auf der Lichtung gewesen waren. "Alles muss man selbst erledigen," giftete die erste Priesterin und zog einen langen, gezackten Dolch. Ihre Begleiterinnen taten es ihr gleich.
"Die Geisterklippe hätte ihn dahinraffen sollen!"
"Wir werden ihn eigenhändig töten müsen."
"Hinter mich, Kerry," befahl Oronêl. Er stürmte los, auf die Priesterinnen zu, die nun ihre Positionen an den aufrechten Felsen aufgegeben hatten und lauernd näher gekommen waren. Doch Kerrys Hoffnungen auf ein rasches Ende des Kampfes wurden jäh enttäuscht. Obwohl Oronêl den Frauen als Elb an Stärke und Geschicklichkeit weit überlegen sein sollte, gelang es ihm nicht, auch nur einen Treffer zu landen. Jedem Angriff Oronêls wurde ausgewichen, als wären die Priesterinnen selbst Elben oder besäßen ähnlich schnelle Reflexe. Da sie zu dritt waren, umkreisten sie Oronêl bald wie ein Rudel hungriger Wölfe und fügten ihm immer wieder kleinere Schnitte zu, wenn er nicht schnell genug parieren konnte.
Kerry war klar, dass sie etwas unternehmen musste. Sie fasste den Plan, sich an eine der Priesterinnen anzuschleichen, denn offenbar schienen die Frauen derzeit keine Notiz von Kerry zu nehmen. Ihr Hass auf den Môrysbryd schien sie blind zu machen. Kerry ließ sich vorsichtig in die Hocke nieder. Halte noch einen Augenblick durch, Oronêl, dachte sie. Dabei stieß ihre Hand auf etwas Warmes inmitten des Grases. Staunend stellte sie fest, dass es sich um den flachen, glasigen Stein handelte, den Oronêl fallen gelassen hatte. Als sie ihn aufhob, flackerte ein Schatten über die Oberfläche des Steins und die Wärme in Kerrys Hand nahm zu. Einen Augenblick lang fragte sie sich, was es wohl damit auf sich haben könnte, doch die Kampfgeräusche sorgten dafür, dass Kerry besorgt zu Oronêl hinüber blickte. Ein Schnitt am Oberarm des Waldelben blutete und Kerry sah, wie Oronêl die Zähne zusammenbiss. Da erregte eine Bewegung jenseits des Kampfgeschehens Kerrys Aufmerksamkeit. Erst glaubte sie, eine weitere Illusion gesehen zu haben, doch dann wiederholte sich die Bewegung: Ein schlanker, blitzschneller Schatten flackerte über die Oberfläche eines der drei aufrechten Felsen, hinter denen die Priesterinnen gestanden waren - genau derselbe Schatten, wie ihn Kerry auf dem kleinen Stein in ihrer Hand gesehen hatte.
Noch ehe sie sich darüber Gedanken machen konnte, hatte sich ihr Körper bereits in Bewegung gesetzt. Etwas zog sie wie magisch zu diesem geheimnisvollen Felsen hin. So leise sie konnte, umrundete sie den Kampf und stand nur noch wenige Schritte vor dem Felsen, als den Priesterinnen endlich aufgefallen war, was Kerry da tat.
"Bleib fort!"
"Weg davon!"
"Fass das nicht an!"
Alle drei brachen sie den Angriff auf Oronêl ab und stürzten sich auf Kerry. Diese kreischte entsetzt auf und tat das Erste, was ihr einfiel: Sie sprang vorwärts und legte die freie Hand auf die vordere, aufrechte Fläche des Felsens.

Es war, als hätte ein Blitz auf der Lichtung eingeschlagen. Kerrys Augen tränten, als sie geblendet wurde und für eine lange Minute gar nichts mehr sah. Sie spürte, wie eine Hand nach ihrem Bein schnappte, aber dann mit Gewalt fortgezogen wurde. Doch sie konnte sich nicht bewegen. Erst nach und nach ließ der Schmerz nach und ihr blieb nur der Stein, der warm in ihrer Hand pulsierte. Staunend blickte sie sich auf der Lichtung um, als sie langsam in dem hellen Licht mehr erkennen konnte. Die Priesterinnen waren fort, ebenso wie Oronêl. Über dem Meer war ein halb durchsichtiger Regenbogen zu sehen und überall auf der Lichtung schimmerte das Sonnenlicht in den unterschiedlichsten Farben, die ständig wechselten. Im Zentrum der Lichtung stand ein steinerner Sockel, ungefähr halb so hoch wie Kerry, auf dem eine Kugel aufgebahrt lag, die dem Stein in ihrer Hand glich, aber viel größer und schwerer war. Und neben dem Sockel stand eine Gestalt in weißen Gewändern. Nein - nicht weiß. Beim zweiten Hinsehen erkannte Kerry, dass Robe und Umhang ebenso vielfarbig schimmerten, wie das Licht das sie umgab.
"Ich kenne dich," sagte Saruman.
Er war es. Oder handelte es sich um eine weitere Illusion?
"Du bist das Mädchen, das mir Helluin abspenstig gemacht hat," fuhr der Zauberer fort. "Was tust du an diesem Ort?"
Kerry schluckte. "Ich bin... ich bin gekommen, um die Menschen hier von deinem Einfluss zu befreien, Saruman," erwiderte sie.
"Befreien," wiederholte er. "Das klingt, als wären sie Gefangene."
"Sie dienen dir ganz gewiss nicht freiwillig."
Sarumans Blick war beinahe gütig, als wäre Kerry eine fehlgeleitete Schülerin, für die er trotz ihrer Fehler nichts als Wertschätzung empfand. "Du täuschst dich, Kerevalline. Die Menschen Dunlands und Enedwaiths haben sich mir aus freien Stücken angeschlossen, nachdem ich sie besucht hatte."
"Das glaube ich nicht," hielt Kerry dagegen. "Du hast ihren Verstand behext." Sie machte einen vorsichtigen Schritt auf den Sockel zu, denn irgend etwas schien sie davon anzuziehen.
"Diese Priesterinnen halten die Stämme unter deiner Kontrolle. Und du hast Gwŷra gefangen nehmen lassen, um sie gefügig zu halten."
Sanft schüttelte Saruman den Kopf. Er wirkte wie ein weiser König, der noch viel Arbeit vor sich hat, bis sein Reich wieder ein Reich des Friedens werden würde. "Du verstehst meine Absichten nicht. Wie könntest du es auch? Du bist nur ein Mädchen. Jene, die dich umgeben, haben dich mit ihren Lügen fehlgeleitet. Beinahe fürchte ich, es wird für dich zu spät sein, um die Wahrheit überhaupt erkennen zu können."
"Zu spät?" wiederholte Kerry und tat einen weiteren Schritt vorwärts.
"Wenn du dich von deinen sogenannten Freunden abwendest und zu mir kommst, dann werde ich dir helfen können. Doch diese Gelegenheit wird bald verstreichen."
"Ich werde nicht zu dir kommen, Saruman," stieß Kerry hervor. "Ich werde dich aufhalten!"
"Dann bist du verloren, fürchte ich," sagte der Zauberer bekümmert, als sich gleichzeitig eine unsichtbare Hand in Kerrys Schulter krallte und eine zweite Klaue ihren Arm packte. Sie schrie auf und stolperte, doch so rasch wie der Angriff gekommen war, verschwanden die unsichtbaren Finger wieder. Erneut kam es Kerry vor, als wären sie mit Gewalt fortgerissen worden.
Sie rappelte sich auf und stand Saruman nun direkt gegenüber. Der Zauberer schien etwas sagen zu wollen, doch Kerry war schneller. Sie sprang vorwärts und packte den schweren runden Stein auf dem Podest mit beiden Händen - und riss ihn mit aller Kraft aus seinem Sockel.
Erneut flammte ein gleißender Blitz auf und Kerry kehrte in die wirkliche Welt zurück. Schwer atmend landete sie im weichen Gras, die geheimnisvolle Kugel noch immer fest umklammert. Oronêl beugte sich besorgt über sie. Die drei Priesterinnen lagen offenbar bewusstlos ganz in der Nähe. Von Saruman jedoch fehlte jegliche Spur.
In Oronêls Augen standen unzählige Fragen, doch als er sah, was Kerry mit sich gebracht hatte, stellte er nur eine einzige:
"Ist das etwa das, wofür ich es halte?"

Eandril:
Kerry blinzelte verwirrt und schien den glänzenden Stein, denn sie fest umklammerte, jetzt erst richtig wahrzunehmen.
"Ich... ich habe keine Ahnung", erwiderte sie. "Wofür hältst du es denn?"
Oronêl streckte ihr eine Hand entgegen und sie ließ sich von ihm in die Höhe ziehen, mit der freien Hand den Stein noch immer fest an sich gedrückt.
"In meinem ganzen Leben habe ich so etwas nie selbst gesehen", begann Oronêl zu erklären. "Doch ich habe von den Steinen gehört, die die Númenorer aus dem Westen mitgebracht haben - den Palantíri. Doch ich habe nur davon gehört, dass sie dazu dienten, in weite Ferne zu sehen, und ihren Benutzern ermöglichten, über große Entfernungen hinweg miteinander zu sprechen. Nicht... was immer dieser hier getan hat."
"Also glaubst du, es ist einer dieser Palan... Palan-Dings?", fragte Kerry, und betrachtete den Stein versonnen. "Was immer es ist, er ist hübsch."
Oronêl beobachtete sie besorgt, denn dieses Verhalten erinnerte ihn zu sehr an die Zeit, als sie auf der Avalosse den Ring des Hexenkönigs in ihrem Besitz gehabt hatte. "Leg ihn einen Augenblick hin, Kerry", schlug er ruhig vor. Kerry wirkte abwesend, und konnte ihren Blick nicht von dem Stein losreißen. "Aber warum denn? Da sind so schöne Muster..."
"Déorwyn", sagte Oronêl scharf, und beim Klang ihres Geburtsnamens zuckte Kerry zusammen und hob den Blick. "Richtig. Ich sollte ihn hinlegen." Vorsichtig legte sie den Stein ins hohe Gras, das ihn teilweise verbarg. Dann schüttelte sie den Kopf, als wäre sie gerade aus tiefem Wasser aufgetaucht, und sagte: "Ich hatte vollkommen vergessen, woher ich ihn hatte. Ich konnte nur noch sehen... wie schön er ist."
"Die Palantíri sind mächtige Dinge", stellte Oronêl ernst fest. "Wenn es denn einer ist, denn ich habe nie gehört, dass sie dazu dienten, einen Bann über ein ganzes Volk zu legen, oder Illusionen, wie wir sie gesehen haben, zu erzeugen." In diesem Moment wünschte er sich, er hätte nicht so viel Zeit seines Lebens an einem Ort verbracht, sondern schon viel eher damit begonnen, die Welt zu bereisen und über alles darin zu lernen - nicht erst, als es schon beinahe zu spät war.
"Aber du weißt ja noch gar nicht alles!", stieß Kerry hervor. "Ich habe Saruman gesehen! Er war hier... oder doch nicht?"
Bei der Erwähnung Sarumans zog sich etwas in Oronêls Innerem zusammen, denn der Gedanke an den Zauberer erinnerte ihn an vieles, woran er sich nicht gerne erinnern wollte. Er zog die Augenbrauen zusammen und sagte: "Saruman war hier? Erzähl mir alles, woran du dich erinnerst."
"Nun, als ich den Stein berührt habe, warst du plötzlich verschwunden, genau wie die Hexen. Überall waren Regenbögen - so sah es zumindest aus - und vor mir stand Saruman. Aber er war gar nicht mehr weiß, sondern seine Roben schimmerten in ganz verschiedenen Farben. Er wollte mich überreden, nichts mehr gegen ihn zu tun, aber... das konnte ich nicht machen. Nicht mehr. Also habe ich mir den Stein geschnappt, und war plötzlich wieder hier."
"Du warst nie weg", erwiderte Oronêl. Kerrys Erzählung hatte einige Fragen beantwortet, die er sich gestellt hatte. "Du hast die ganze Zeit reglos an der Klippe gestanden. Die Priesterinnen sind beinahe verrückt geworden - verrückter als normalerweise, sollte ich wohl dazu sagen. Sie haben die ganze Zeit versucht, dich zu packen, und haben sich kaum noch auf mich konzentriert. Vermutlich konnte ich sie nur deswegen besiegen", schloss er nachdenklich. Ihm kam ein weiterer Gedanke. "Zweimal hat eine von ihnen dich erreicht und gepackt, bevor ich sie fortziehen konnte. Einmal direkt nachdem du den Stein berührt hattest, und einmal kurz bevor du ihn an dich genommen hast."
"Das habe ich gespürt!", stellte Kerry fest, und schien von dem Gedanken überrascht. "Wie Klauen, die mich packten und dann weggezogen wurden."
Oronêl zuckte mit den Schultern. "Ich sagte ja, du warst nie wirklich weg." Er warf einen nachdenklichen Blick hinunter auf den Boden, wo der Stein lag. Kerry folgte seinem Blick, sah aber schnell wieder weg. "Selbst wenn es kein echter Palantír ist sondern eine Nachahmung Sarumans, scheint er dich in die Lage versetzt zu haben, mit Saruman zu sprechen. Andererseits... wissen wir das nicht. Ich habe nicht davon gehört, dass die Palantíri den Gegenüber erscheinen lassen, als wäre er tatsächlich dort. Vielleicht hast du nicht mit Saruman selbst gesprochen, sondern nur mit einer Täuschung, einem Abbild vielleicht. Das würde auch erklären, warum seine Stimme keine Macht über dich hatte."
Kerry verschränkte die Arme, und erwiderte ein wenig gekränkt: "Du meinst also nicht, dass ich seiner Stimme nach allem was passiert ist widerstehen könnte?"
Oronêl schüttelte den Kopf. "Ich glaube durchaus, dass du in der Lage wärst, das zu tun. Nur, dass es dich offenbar kaum Mühe gekostet hat, finde ich seltsam."
"Also schön", meinte Kerry, und wirkte besänftigt. "Eine Frage hätte ich aber noch. Wieso meinst du, du konntest die Hexen nur besiegen, weil sie sich auf mich konzentriert haben? Es sind doch eigentlich nur alte Frauen."
Diese Frage beunruhigte Oronêl selbst, und bei dem Gedanken schmerzten die oberflächlichen Schnitte, die die Messer der Priesterinnen ihm beigebracht hatten. "Sie... sie waren schneller, als sie hätten sein dürfen, und es war... als ob sie ein wenig im Voraus wüssten, was ich tun werde." Er schüttelte den Kopf. "Ich weiß nicht, wie so etwas möglich ist, doch es ist in keinem Fall gut für uns."
"Meinst du, es hat etwas mit Saruman und diesem Stein zu tun?", fragte Kerry, und Oronêl nickte ein wenig zögerlich. "Ich hoffe es zumindest. Das würde die Wahrscheinlichkeit senken, dass alle Diener Sarumans zu so etwas in der Lage sind."
Kerry warf einen raschen Seitenblick auf den Stein. "Und was machen wir jetzt mit dem Ding? Wir können es schlecht hier liegen lassen."
"Ich werde ihn für den Moment an mich nehmen", erwiderte Oronêl. "Und dann werde ich ihn an einen sicheren Ort bringen - nach Bruchtal vielleicht."

Er hob den Stein auf, und im gleichen Augenblick hörte er Geräusche aus dem Wald um die Lichtung herum. Rascheln, zerbrechende Zweige, gedämpftes Klirren von Metall.
Kerry schien es auch gehört zu haben, denn sie ächzte und sagte: "Nicht schon wieder." Oronêl klemmte den Stein unter den linken Arm und hob mit der Rechten Hatholdôr auf. Aus dem Wald in Richtung des Dorfes trat eine Gruppe Krieger hervor, angeführt vom Häuptling Myndrag. Sie wirkten jedoch eher verwirrt als angriffslustig.
"Was, beim Blutmond, geht hier vor sich?", fragte der Häuptling, als er und seine Krieger ein Stück über die Lichtung herangekommen waren. "Wieso greift ihr unsere Priesterinnen an, Môrysbryd?"
"Nun, zuallererst haben sie uns angegriffen", erwiderte Oronêl ruhig. "Außerdem ist ihnen kein wirkliches Leid geschehen - sie sind nur bewusstlos."
"Und dieser Zustand kann ihrer Intelligenz nur förderlich sein", mischte sich eine weitere, wohlbekannte Stimme ein. Zwischen den Kriegern trat Aelwyd, auf ihren Stab gestützt, hervor, gefolgt von Gwŷra. Das Mädchen wirkte ein wenig wackelig auf den Beinen und trug einen dicken Verband um die linke Hand, doch sie hatte den Kopf erhoben und ihre Augen funkelten.
Bei Myndrag hielt Aelwyd an, und stieß mit ihrem Stab auf den Boden. "Was glaubst du, was du tust, Myndrag, du junger Narr?"
Myndrag verzog das Gesicht. "Hör auf, Aelwyd. Ich... ich fühle mich merkwürdig", stellte er fest, sichtlich überrascht über seine eigene Aussage.
"Das dürfte der Zauber gewesen sein", murmelte Kerry leise vor sich hin, und Aelwyd lachte gackernd auf. "Diese junge Närrin hat Recht. Der Weiße hatte einen Zauber über unser Land gelegt, und jetzt ist er gebrochen."
"Verzeih mir, Aelwyd...", mischte Gwŷra sich ein. "Aber wir sollten anerkennen, dass Kerry und Oronêl den Zauber gebrochen haben. Beim Blutmond, ihretwegen sind die Glannau Môr frei von dem Weißen - von Saruman." Sie blickte Myndrag fest ins Gesicht und richtete sich zu ihrer ganzen geringen Größe auf. "Fühlst du dich besser, großer Häuptling Myndrag orr Gallayn? Hast du noch immer den Wunsch, gegen alle Feinde des Weißen zu kämpfen, selbst wenn es unser Volk das Leben kostet? Glaubst du noch immer, deine Tochter wäre eine Täuschung?"
Erst bei den letzten Worten hatte sich ein unmerkliches Beben in Gwŷras Stimme geschlichen.
Myndrag blinzelte verwirrt. "Gwŷra", sagte er leise. "Mein kleines Mädchen ist nach Hause gekommen." Er wollte Gwŷra in die Arme schließen, doch Aelwyd trat dazwischen. Sie hatte den kurzen Austausch mit einem wissenden, beinahe stolzen Lächeln beobachtet, doch nun war ihre Miene ernst.
"Nein, Myndrag. Nicht dein kleines Mädchen ist nach Hause gekommen, sondern Gwŷra Feuerhand, die die Hohepriesterin der Glannau Môr zu sein bestimmt ist." Sie hob die Arme, und sagte mit lauter, tragender Stimme: "Hört, Krieger der Glannau Môr, was ich euch zu sagen habe. Ich, Aelwyd, habe lange nach einer würdigen Nachfolgerin gesucht. Doch heute steht sie hier vor euch. Gwŷra Feuerhand war einst meine Schülerin, und sie hat sich dieses Amtes als würdig erwiesen. Die alten Götter selbst haben sie ausgewählt und für würdig befunden. Es ist ihr Wille, dass Gwŷra, Tochter des großen Myndrag orr Gallayn, die Priester der Glannau Môr in die Zukunft führt. Beim Blutmond, so soll es sein."
Gwŷra selbst wirkte von Aelwyds Worten wenig überrascht, und sie nahm den Stab, den Aelwyd ihr entgegenstreckte, ohne Zögern entgegen. Umso überraschter wirkten dafür ihr Vater und seine Krieger, und ein verwirrtes Raunen erhob sich unter ihnen - bis Gwŷra mit dem Stab auf den Boden schlug und sagte: "Genug! Aelwyd selbst hat mich als ihre Nachfolgerin ausgewählt, und es bleibt euch nichts anderes übrig, als ihre Wahl zu akzeptieren."
"Aber Gwŷra, meine Kleine. Du bist noch sehr jung, und...", begann Myndrag, doch ein feuriger Blick Gwŷras brachte ihn zum Schweigen. "Es gibt kein Gesetz, nachdem die Hohepriesterin eine alte Frau zu sein hat", gab sie zurück. "Aelwyd hat ihre Zeit gehabt, doch vielleicht ist es an der Zeit etwas zu ändern."
"Aaach, dieses Mädchen wird eine Menge Ärger machen", meinte Aelwyd, die zurückgetreten war und nun neben Oronêl stand, leise. Sie wirkte sehr zufrieden mit sich.
"Ich hätte nicht gedacht, dass ihr das gut heißen würdet", erwiderte Oronêl ebenso leise, und Aelwyd gluckste in sich hinein. "Oh, solange ich noch lebe, werde ich mich sicherlich über vieles ärgern, was Gwŷra tut. Das heißt nicht, dass es nicht trotzdem getan werden muss. Ich bin alt und weise genug, zu erkennen wenn jemand anderes besser als ich weiß, was das Beste zu tun ist. Du bist noch viel älter als ich, Môrysbryd. Aber bist du auch weiser?"
Oronêl erwiderte nichts, doch ihm entging nicht, dass Kerry sich ein Grinsen verkneifen musste.

Schließlich hatten Myndrag und seine Krieger offenbar genug von Gwŷras Vorwürfen, und zogen langsamen Schrittes ab. Gwŷra wandte sich zu Oronêl und Kerry um. Sie wirkte erschöpft, aber gleichzeitig hochzufrieden mit sich selbst. "Beim Blutmond... es wird ein Stück Arbeit, Ordnung in diese Sache zu bringen."
"Aber dir geht es besser!", stellte Kerry glücklich fest. "Ist das nicht die Hauptsache?"
Zur Antwort umarmte Gwŷra sie plötzlich fest, und sagte dann: "Ohne deine Hilfe wäre es vermutlich nicht dazu gekommen." Dann schloss sie auch Oronêl kurz in die Arme, der die Umarmung über sich ergehen ließ - er hatte sich zwar inzwischen ein wenig daran gewöhnt, dass Menschen sehr viel großzügiger mit körperlicher Nähe umgingen als Elben, doch ein wenig unangenehm war es ihm hin und wieder doch.
"Beim Blutmond, ich bin euch zu großem Dank verpflichtet", sagte Gwŷra dann. "Und nicht nur verpflichtet - ich will euch danken. Ich hätte mich niemals sträuben sollen, als ihr mich begleiten wolltet."
"Es war uns eine Freude", meinte Oronêl lächelnd. "Immerhin waren wir dir ebenfalls etwas schuldig."
"Langsam werden wir richtig gut darin, Probleme zu lösen", stellte Kerry fest, doch ihre Miene verdüsterte sich sofort ein wenig, und Oronêl ahnte, dass sie an die Arme, die sich angeblich gegen Eregion in den Bergen sammelte, dachte.
Gwŷra schien davon nichts zu bemerken. "Ihr könnt selbstverständlich so lange wie ihr wollt im Land der Glannau Môr bleiben - beim Blutmond, wir müssten uns schämen, euch unsere Gastfreundschaft nicht anzubieten."
Oronêl wechselte einen Blick mit Kerry, der ihm augenblicklich verriet, dass an einen längeren Aufenthalt bei den Glannau Môr nicht mehr zu denken war - der Gedanke an einen bevorstehenden Angriff auf Eregion ließ auch ihn selbst nicht los.

Oronêl und Kerry nach Dunland

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