Das Schicksal Mittelerdes (RPG) > Palisor

Taurannor

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Curanthor:
Náriels Start

Nach dem kurzen Schlagabtausch hatte Náriel erst einmal genug von Gesellschaft. Sie zog es wieder in den Wald. Die gedämpften Stimmen ihrer Begleiter begleiteten sie noch ein wenig, bis genügend Bäume zwischen ihnen waren und sie nur die Geräusche des Waldes vernahm. Dutzende Vögel zwitscherten in den Baumkronen, irgendwo jaulte ein Wolf und das Röhren eines Hirsches antwortete. Lebhaft wie immer, dachte sie sich und atmete tief ein. Sie genoss es, dass der Wald um Amon Yúla herum immer gleich zu sein schien. Es war ihr vertraut, fast wie Heimat. Sie schüttelte den zornig den Kopf. Es war nur der Ort, an dem sie geboren wurde, ohne Liebe und Zuneigung. Die Stadt hatte sie nicht vermisst. Und auch nicht deren zahlreichen Bewohner. Oder die Erinnerungen, die daran hingen, irgendwo in ihrem Gedächtnis tief vergraben waren.

Mit einem leichten Kribbeln kehrte wieder das Gefühl in ihre rechte Hand zurück. Nachdenklich und mit gedämpftem Ärger betastete sie ihre Unterarmschiene, die zum Glück unbeschädigt waren. Sie hatte Melvendë unterschätzt, allerdings war es auch kein ernsthafter Kampf gewesen. Es kribbelte in ihren Fingern zurückzugehen und es wirklich darauf ankommen zu lassen. Ihr Herz raste bei dem Gedanken. Die Vorfreude auf einen echten Kampf, denn Melvendës überhebliche Art ging ihr mächtig gegen den Strich. Ständig sich darauf etwas einbildend, dass sie was Besseres sei, weil sie die Ältere ist. Genau wie alle anderen. Niemand hatte sie gefragt die Aufgabe einer "erwachsenen Aufpasserin" einzunehmen, die sie wohl seit dem Streit mit Caelîf ungefragt für sich beanspruchte. Wahrscheinlich erachtete sie sie noch nicht einmal als würdige Gegnerin. Zornig ballte sie die Hände zu Fäusten, dass die Lederhandschuhe leise knirschten. Schnaubend riss Náriel ihr Schwert aus der Scheide, das sie in der linken Hand getragen hatte. Nun, dass ließe sich ändern. Ihr Blick fixierte die Stelle im Wald, wo sie Lager aufgeschlagen hatten. Ein kaum vernehmbares Knacken hinter ihr ließ sie ihre Ohren spitzen. Náriel fuhr sofort herum, das Schwert beschrieb dabei einen horizontalen Bogen. Das Geräusch von klirrendem Stahl folgte. Ihr stand eine hochgewachsene Gestalt gegenüber, bewaffnet mit einem Speer, dessen Klinge zitternd gegen die Schneide des Großschwert drückte. Sie trug die Rüstung der Stadtwache von Amon Yúla. Einfache Lederrüstungen, die mit roten Leinen versehen waren.
"Sieh einmal an, wen es zurück in die Heimat treibt", ertönte eine weibliche Stimme spöttisch, die Náriel nur allzu bekannt vorkam.
Wütend trat sie der Wächterin seitlich gegen das Knie, sodass sie sofort einknickte. Náriels Elenmakil sirrte und die Spitze des Schwerts bedrohte die Kehle der Wächterin. Ein Moment der gebannten Stille folgte. Schließlich stützte ihre Gegnerin sich auf ihren Speer und hob die andere Hand, um ihre Niederlage einzugestehen.
Náriel schlich sich ein triumphierendes Grinsen aufs Gesicht.
"Du genießt das, nicht wahr?", zischte ihre alte Bekanntschaft aus Kindertagen.
"Klar und am liebsten würde ich dich mit der Breitseite grün und blau prügeln, dafür ist mir aber meine Klinge zu schade." Náriel packte das Schwert mit einer Hand am Griff und bedrohte weiterhin die ungeschützte Kehle.
"Du warst schon immer ein Miststück."
Náriel schlug ihrer Widersacherin mit der freien Faust prompt auf die Nase, die sofort zu bluten begann. "Gleichfalls. War schön, alte Erinnerungen aufzufrischen", mit den Worten wandte sie sich ab, "Wenn auch in umgekehrten Rollen."
"Verca", zischte ihre Bekannte aus Kindheitstage, was eher wie ein Fluch klang, als wie ein unrühmlicher Spitzname.
Náriel legte sich ihr Schwert über die Schulter und blickte flüchtig zurück. "Spiele nicht mit dem Feuer, es kann dich verbrennen. Will heißen: Geh' mir nicht auf die Nerven, sonst blutet nicht nur die Nase."
Ihr Blick fiel auf ihren Handschuh, an dem etwas Blut haftete. Angewidert wischte sie es an einigen Büschen ab. Náriel bahnte sich einen Weg durch das Unterholz zurück zum Lager, einen zufriedenen Gesichtsausdruck unter dem Helm tragend.

Dort angekommen erblickte sie ihre übrigen Weggefährten, die wohl den Rest der Stadtwache kennengelernt hatten. Der Hauptmann der Wache, dessen Gesicht von einem schwarzen Tuch verdeckt wurde, sprach gerade mit Melvendë. Náriel straffte sich und bemühte sich erst gar nicht, das Schwert wieder zu verstauen. Caelîf warf ihr einen Blick zu, der fragte, was geschehen war. Sie ignorierte ihn.
"Náriel, Ihr seid zurück", begrüßte Alcôr sie, woraufhin sie nur genervt ausatmete.
Er jetzt bemerkte sie der Rest ihrer Gefährten. Die Soldaten der Kinn-Lai, die kurz vor den Hwenti-Landen zu ihr dazu gestoßen waren, nickten ihr knapp zu. Sie packte ihre wenigen Sachen und gingen voraus. Ihre Aufgabe war erfüllt: Náriel zu begleiten, bis sie wieder sicher in Amon Yúla angekommen war. Viel hatte sie mit ihnen sowieso nicht zu tun gehabt. Auch Melvendë warf ihr einen Blick zu, den Náriel mit Verachtung erwiderte.
"Worum geht's?", fragte sie stattdessen an den Hauptmann gewandt, "Seid Ihr nicht ein wenig weit draußen?"
"Ich habe der Herrin Melvendë bereits erklärte, dass-"
"Herrin?" ", unterbrach Náriel, die glaubte sich verhört zu haben, "Sie ist keine Königin, keine Stammesfürstin und niemand, der sich diese Bezeichnung verdient hat. Erzählen kann sie viel, Respekt verdient man sich aber mit Taten und nicht mit Erzählungen darüber. Sie und ihre Gefährten müssen sich erst den Kinn-Lai beweisen, so wie es der Brauch verlangt. Außerdem, sind sie meine Gäste und ich entscheide, wie weit sie sich der Stadt nähern dürfen."
Der Hauptmann schien zu zögern, fing sich aber rasch und antwortete steif: "Nun, die Axan sagten, dass wir die Besucher respektvoll behandeln sollen. Und mit Verlaubt, Ihr habt nicht das Recht..."
Náriels Augen verengten sich zu Schlitzen und sie musste an sich halten, um ihn für diese Respektlosigkeit nicht am Kragen zu packen. Sie machte stattdessen einen bedrohlichen Schritt auf den Hauptmann zu, trotzdem sie dadurch zu dem Elb hinaufblicken musste.
"Ich habe jedes Recht, in meinem Rin-Tael einem einfachen Hauptmann der Wache in seine Schranken zu weisen, habt Ihr mich verstanden, Soldat?", zischte sie bedrohlich.
Erst jetzt fiel der Blick ihres Gegenübers auf den stilisierten Stern mit Rubin im Zentrum auf ihrem Brustpanzer. Ein unübersehbares und unter den Kinn-Lai bekanntes Zeichen des Ordens der Tempelwachen von Àyaninvë. Damit war ihr Stand unter den Kinn-Lai höher als der eines einfachen Hauptmannes der Stadtwache, da allein die brutale Ausbildung des Ordens Respekt einbrachte, erst Recht, wenn man kurz davor war diese abzuschließen.
Der Hauptmann nickte knapp seinen Soldaten zu, die ihre Hände an die Griffe ihrer Schwerter gelegt hatten. "Verzeiht meine Respektlosigkeit", entschuldigte sich der Elb, auch wenn es deutlich war, dass er es nur tat, um nicht mit dem Orden aneinander zu geraten. Sie schnaubte leise, wohl wissen, dass der Hauptmann sie von früher erkannt hatte. Es gab nicht viele kleine Elben und noch weniger bei den Kinn-Lai.
"Dann hättet Ihr nicht Maice zu mir schicken sollen", antwortete sie stattdessen, als diese just in dem Moment aus dem Unterholz auftauchte, noch immer die blutende Nase haltend. Náriel verkniff sich ein Grinsen, auch wenn trotzdem ein Mundwinkel zuckte. Nebenbei Rache nehmen für vergangene Erniedrigung hatte erstaunlich gut getan. Der Hauptmann hob eine Braue, sagte jedoch nichts. Náriel erinnert ihn an ihre vorherige Frage, was sie soweit hier draußen machten.
"Die Axan entsandten uns, nachdem die Späher von eurer Ankunft berichteten."

"Sie wollen nicht, dass wir uns der Stadt nähern", schaltete sich Melvendë ein, hörbar unzufrieden. Es war schwer zu sagen, was ihr diesmal nicht in den Kram passte.
Náriel warf ihr einen unergründlichen Blick zu, hakte dann aber dann nach dem Warum nach. Der Hauptmann antwortete nur ausweichend. Sie hatte das Gefühl, dass er etwas verschwieg. Maice schien im Hintergrund schadenfroh zu grinsen, auch wenn ihr Gesicht ebenfalls von einem Tuch bedeckt wurde. Jedoch um die blutende Nase zu beruhigen, wie Náriel hämisch bemerkte.
"Dann werde ich sie selbst fragen", beschloss sie nach einer unfruchtbaren Diskussion mit dem Hauptmann, "Und meine Gäste kommen selbstverständlich mit."
"Aber...", setzte der Elb an, doch Náriel packte ihr Großschwert, das bisher locker über der Schulter gelegen hatte. Ein Moment der Spannung lag in der Luft, doch Náriel hatte keinesfalls die Absicht Blut zu vergießen, sondern den Hauptmann in seine Schranken zu weisen. Der Augenblick verging, als sie betont langsam das Schwert in die Scheide schob.
"Der Großmeister hat mich befugt eine Krise abzuwenden; wie ich das mache, liegt bei mir", stellte sie unmissverständlich klar, "Und wir beide wissen, dass die Großmeister gleichgestellt sind mit den Axan... mindestens das."
Im Hintergrund hörte sie, wie Alcôr oder Caelîf murmelte: "Das gefällt mir nicht."
Die Stadtwachen blickten sich kurz an, bis der Hauptmann nachgab und geschlagen nickte. Er gab Befehl zum Abziehen. Eher er sich ins Unterholz begab, drehte er sich noch einmal um und warnte: "Glaubt nicht, dass ihr herzlich empfangen werdet."
"Davon ging ich auch nicht aus", entgegnete Náriel, wohl wissend um die Spannung zwischen den Orden und den Axan.

Fine:
Melvendë hatte den Austausch zwischen Náriel und den Stadtwachen Amon Yúlas schweigend beobachtet. Dass Náriel nach ihrer vorherigen Auseinandersetzung nun plötzlich Partei für die Gesandtschaft der Hwenti ergriff, war zwar eine willkommene Überraschung, dennoch war sich Melvendë über die Gründe dafür nicht im Klaren. Náriel kam ihr mehr und mehr wie ein schwelender Brand vor, der jeden Moment in einer flammenden Explosion aufgehen konnte. Sie hoffte, dass die Anführer der Kinn-lai mehr Geduld vorweisen würden.
Caelîf rührte sich neben ihr, sagte allerdings nichts. Die Wachen gaben den Weg frei und Náriel marschierte mit entschlossener Miene voraus, ohne darauf zu warten, ob der Rest der Reisegesellschaft ihr folgte. Sie ließen das dicht bewaldete Gebiet hinter sich und kamen nach kurzer Zeit in die Außenbezirke der Stadt von Amon Yúla, dem Machtsitz der Kinn-lai, welcher auf einem flachen Plateau inmitten der Wälder gelegen war. Im Gegensatz zu den hölzernen Bauten der Hwenti und den beinahe baumartigen Konstrukten der Cuind in den Mooren waren die Gebäude hier aus Stein. Melvendë fiel dabei auf, dass es keine gedeckten Dächer zu geben schien - alle Behausungen besaßen flache Dächer ohne Ziegel. Stattdessen waren die meisten Oberflächen begrünt und bepflanzt worden. Sogar einige Bäume wuchsen hier und da auf so manchem Gebäude.
Ein Wald aus Häusern, dachte Melvendë. Sie fragte sich, was Jarbeorn wohl davon gehalten hätte, wenn er diesen Ort gesehen hätte.

Als sie Náriel entlang einer der Hauptstraßen durch die Stadt folgten, bemerkte Melvendë, dass so gut wie jeder Elb, der ihren Weg kreuzte, bewaffnet war. Überall waren Schwerter, Schilde und Speere zu sehen. Der Großteil trug teilweise oder sogar vollständige Rüstungen. Bögen und Köcher sah man nur selten, stattdessen schienen die Kinn-lai Wurfspeere zu bevorzugen. Über der ganzen Stadt lag die übliche Geräuschkulisse einer belebten Siedlung, doch ein Geräusch mischte sich konstant hinein, was in den meisten Städten eher eine Seltenheit war: Das scharfe Klirren von Metall. Die Kinn-lai trugen ihre Waffen nicht nur ständig bei sich - sie setzten sie auch ein. Zweikämpfe waren beinahe an jeder Straßenecke zu beobachten, und überall gab es Schmieden und Rüstkammern, wo Waffen hergestellt und geschärft wurden. Es wirkte, als befände sich das gesamte Volk Náriels in einem permanenten Kriegszustand.
Caelîf, der neben Melvendë herging, beobachtete das Treiben mit staunendem Blick. Mehr als die vielen waffentragenden Elben schienen ihn aber die bewachsenen Gebäude zu faszinieren. Immer wieder fixierte sein Blick die Bäume, die den Dächern entsprangen, und schließlich sagte er: "Wenn wir wüssten, wie sie dies bewerkstelligt haben, könnten wir etwas Ähnliches mit den Bauten in Nurthaenar anstellen."
"Gefällt dir der Baustil?" fragte Melvendë.
"Das tut er," bestätigte Caelîf. "Wir haben in meiner Heimat nicht viele Bäume, denn der Platz ist begrenzt. Das Tal in dem die Stadt steht, ist klein..."
Melvendë sah ihn an, ließ ihn jedoch aussprechen. Derweil bog Náriel weiter vorne um eine scharfe Kurve, und als sie ihr folgten, tauchte vor ihnen ein großer Gebäudekomplex auf, zu dem aus drei Richtungen breite Stufen hinaufführten. Auch hier wuchsen Bäume rings um die Mauern und standen auf den flachen Dächern. Prunkvolle Banner hingen zu beiden Seiten der Eingänge herab, sie waren so lang, dass sie beinahe den Boden berührten. Wächter in schwarzen Mänteln, verhüllten Gesichtern und langen Piken standen schweigend entlang der Treppen aufgereiht. Offenbar war ihre Ankunft erwartet worden.

Náriel blieb stehen, ehe sie die unterste Treppenstufe erreicht hatten. Sie drehte sich um und sah Melvendë an, der Blick war herausfordernd. Ein Feuer schien in ihren Augen zu glimmen, doch noch während Melvendë hinsah, erstarben die Flammen und die Schultern Náriels senkten sich um eine Winzigkeit. "Wir sind da," sagte sie, dann presste sie die Lippen aufeinander. "Jetzt werden wir sehen, was die Pläne der Hwenti wert sind."
Sie trat beiseite, um Melvendë und Caelîf den Vortritt zu lassen. Ihr Blick schien Melvendë schier durchbohren zu wollen; die Flammen loderten wieder etwas auf. Doch kein Wort kam mehr über Náriels Lippen.
"Das werden wir," sagte Melvendë. Sie beschlich mehr und mehr das Gefühl, dass sie sich mit Náriel einen Feind gemacht hatte, ohne es zu beabsichtigen. Dennoch verbarg sie ihre Zweifel und begann die Stufen zu erklimmen. Als sie gerade den Fuß auf die oberste Stufe setzte, packte ein plötzliches Grauen ihr Herz und sie erstarrte für einen Augenblick. Dann spürte sie Caelîfs Präsenz hinter sich und der Moment verging, so schnell wie er gekommen war. Dennoch nahm Melvendë wahr, dass noch immer eine seltsame Angst unter der Oberfläche ihres Bewusstseins schlummerte.
Hier stimmt etwas nicht, dachte sie. Ihre linke Hand ballte sich zur Faust, dann entspannte sie die Muskulatur wieder, atmetete tief durch und nahm die letzte Stufe. Sie hatte einen Auftrag erhalten und würde ihn erfüllen, ganz egal ob dieser Ort ihr Furcht einjagte oder nicht.
Vor ihnen öffnete sich eine mit Eisen beschlagene Tür mit großen Flügeln, die nach innen aufschwangen. Eine helle, große Halle lag dahinter, ebenfalls mit langen Bannern behangen. Licht fiel von beiden Seiten durch große Aussparungen in den beiden Seitenwänden hinein. Melvendë konnte durch diese Aussparungen hindurch beinahe die gesamte Stadt von Amon Yúla überblicken, so breit und offen waren sie. Dabei fielen ihr zwei große Gebäude auf, die aus den bewaldeten Dächern hervorstachen: Ein schlanker Turm, der auf einem nur wenig bebauten Hügel stand, sowie ein breites Gebäude, von dem eine dünne Rauchfahne aufstieg und dessen Bauweise in Melvendë an eine Kaserne erinnerte. Sie betrachtete das Bauwerk einen Moment lang, während sie die Halle durchschritt, dann richtete sie den Blick wieder nach vorne. Besonders erleuchtet war der hintere Teil der Halle, der wie auf einem erhöhten Podest stand. Dort war ein Halbkreis aus verzierten Sitzen aufgereiht worden, in denen die Elben des Axan saßen, des Rates der Kinn-lai. Das Licht, das auf den Halbkreis fiel, kam von oben und war grünlich, als würde es durch das dichte Laub der Bäume auf dem Dach fallen und von ihnen reflektiert werden.

Melvendë, Alcor und Caelîf traten vor die fünf breiten Stufen, die zum Ratsitz hinauf führten. Die Mitglieder des Axan blickten ihre Gäste streng an, sprachen aber kein Wort. Erneut spürte Melvendë das Grauen, das sie überwinden suchte, doch sie hielt stand. Sie versteifte sich, dann nahm sie Haltung an und machte eine knappe Verbeugung vor dem Axan.
"Herion von den Hwenti schickt uns," sagte sie mit klarer Stimme. Ein Echo begleitete ihre Stimme, die Worte verhallten zwischen den vier großen Säulen, die das Dach der Halle trugen. "Palisor wird bedroht. Die Herren der Avari sind aufgerufen worden, sich in Ayanínve zu versammeln und Rat zu halten. Meister Herion bittet um die Teilnahme der Kinn-lai, und-"
Das Ratsmitglied in der Mitte des Halbkreises hob die linke Hand und brachte Melvendë zum Schweigen. Sie nahm an, dass es sich dabei um den Fürsten der Kinn-lai handelte. "Bereits bekannt ist uns eure Nachricht," sagte er mit kühler Stimme. "Jene Worte sind leer. Wir sind es gewesen, die als Einzige der Pflicht nicht müde wurden, den heiligen Ort der Zusammenkunft zu bewachen."
Nicht Worte sind es, die die Kinn-lai überzeugen werden, sondern Taten, dachte Melvendë. "Würdet Ihr tatenlos zusehen, wie die anderen Stämme dem Verderben anheim fallen?" fragte sie herausfordernd.
Die Augen des Fürsten blitzten auf, und die Miene verhärtete sich. "Eine gerechte Strafe wäre es," antwortete er. "Doch so herzlos sind wir nicht. Den fehlgeleiteten Avari wird die Gelegenheit zur Umkehr gegeben werden." Er machte eine bedeutungsvolle Pause und sah Melvendë an, dann blieb sein Blick an Caelîf hängen. "Wir werden nach Ayanínve kommen... aber nicht um dem Aufruf der Hwenti zu folgen. Sondern um die Stämme zu vereinen - unter der Vorherrschaft der Kinn-lai."
Melvendë fühlte, wie sich ihre unguten Gefühle bestätigten. Sie hoffte, dass der Axan nicht wirklich plante, die anderen Stämme zu unterwerfen. Dennoch wusste sie nicht, was sie sagen sollte. Der Fürst schien allerdings gar keine Antwort erwartet zu haben. "Ihr mögt für eine Nacht unsere Gastfreundschaft in Anspruch nehmen, doch mit dem ersten Sonnenlicht müsst ihr Amon Yúla verlassen haben."
Dein Widerstand ist zwecklos, kleine Melvendë.
Der Schatten, der sich auf ihr Herz gelegt hatte, nahm endlich Gestalt an. Melvendë erkannte die Stimme, die, während der Fürst noch sprach und erneut hervorhob, wie sehr die Kinn-lai Stärke schätzten, unversehends in ihren Gedanken aufgetaucht war. Der Drache klang... belustigt.
Diese Elben respektieren Macht und Kampfkraft. Über beides verfüge ich in unermesslichem Maße.
Ein Schatten huschte über die Halle und das Licht über den Sitzen des Rates erlosch. Ein gewaltiges Rauschen fegte durch die Fenster herein, was dafür sorgte, dass Caelîf und Alcor erschraken und Náriel, die ihnen in die Halle mit etwas Abstand gefolgt war, ihr Schwert zog.
Die Kinn-lai werden erkennen, wer der wahre Herrscher Palisors ist. Ihre Anführer sind weitsichtiger als der Rest dieser Narren...
Der Hügel zur Linken, auf dem der schlanke Turm stand, erbebte, und mit einem Mal kam es Melvendë vor, als verfärbte sich der helle Stein schwarz, als wäre er verkohlt worden. Sie fühlte sich, als würde es ihr schwarz vor Augen werden. Der Drache war hier - er musste ganz in der Nähe sein. Er war vor ihnen in Amon Yûla angekommen, und begann bereits, seinen Schatten auf die Stadt zu werfen...

Eine Hand packte Melvendë an der Schulter und zerrte sie weg. Es war Náriel. "Das ist nicht richtig," zischte sie. "Hier geht etwas vor sich, das mir ganz und gar nicht gefällt, wir... der Orden! Wir müssen uns zu ihnen begeben, jetzt, sofort!"
Náriel war ohne Vorwarnung in die große Halle geplatzt und löste damit einen Aufruhr aus. Wachen regten sich und verließen ihre Posten, um sich ihnen zu nähern - erst langsam, dann immer schneller. Erbostes Geschrei erhob sich. So wie es schien war Náriels Eindringen ein schwerer Tabubruch. Die Kriegerin schien das nicht zu stören. Sie schlug kurzerhand den ersten Gardisten der ihr nahe kam mit der blanken Faust nieder, sodass er ein Hindernis für den Rest der Wächter bildete, zumindest für einen Moment. Diese kurze Ablenkung nutze sie, um die Halle im Laufschritt zu verlassen. Melvendë, Caelîf und Alcor blieb nichts anderes übrig, als ihr zu folgen, denn die Wachen waren ihnen sogleich dicht auf den Fersen. Man jagte sie durch die gesamte Stadt, aber dank Náriels guter Ortskenntnis hatten sie die meisten Wächter schließlich abgehängt, als sie den Stadtrand erreichten und im dichten Gehölz des Waldes am Fuße des Plateaus verschwanden...

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