Minas Tirith (Gondor)
Sanya und Mithrendan in einer Taverne in Minas TirithWie erwartet hatte Sanya Mithrendan in einer der Tavernen im untersten Stadtring aufgestöbert. Anstatt jedoch, wie es für sie üblich war, früh ins Bett zu gehen, blieb sie noch eine ganze Weile bei ihrem alten Freund an dem kleinen Tisch in der Ecke des "Rostigen Nagels" sitzen und wunderte sich gemeinsam mit ihm über viele Dinge, nicht zuletzt den ungewöhnlichen Namen der Schänke in der sie saßen.
"Wieso benennt man sein Etablissement nach einem rostigen Nagel?" fragte sich Sanya und zupfte nachdenklich eine widerspenstige Haarsträhne aus ihrem Gesicht. Sie trank normalerweise nicht, aber Mithrendan hatte sie überredet, ihre Beförderung zumindest mit einem Krug Met zu würdigen. Besagter Krug war mittlerweile zu zwei Dritteln leer, nachdem eine aufmerksame Bedienung ihn bereits einmal ungefragt wieder aufgefüllt hatte, ehe Sanya widersprechen konnte.
"Da muss eine ziemlich komische Geschichte dahinterstecken," sagte Mithrendan amüsiert. Er hatte die Füße auf den Tisch hochgelegt und die Arme entspannt hinter dem Kopf verschränkt. Sowohl er als auch Sanya trugen hier unten nicht ihre Rüstungen, denn sie wollten nicht auffallen. Stattdessen waren sie in Kleidung gehüllt, die sie wie normale Bürger der Stadt wirken ließ.
Sanya stütze die Ellbogen auf dem Tisch ab und legte ihre Hände unter ihr Kinn. "Vielleicht fand der Wirt einen rostigen Nagel, und..." Sie winkte ab. "Nein... ach, ich weiß auch nicht."
"Du wirkst so durcheinander," sagte Mithrendan. "Was ist denn los mit dir?"
Anstelle einer Antwort nahm Sanya einen großen Schluck aus ihrem Krug. Sie spürte, wie ihr innerlich warm wurde. Normalerweise nahm sie gar keinen Alkohol zu sich, selbst die beim Adel so beliebten Weine waren nicht wirklich ihr Fall. "Weiß' nicht," gab sie etwas undeutlich zurück nachdem sie ihr Getränk abgesetzt hatte. "Ich komm' mir... komisch vor."
"Mehr als sonst?" neckte Mithrendan sie.
"Idiot," schoss Sanya zurück. Sie war nicht in Stimmung für Scherze, stattdessen fühlte sie sich als könnte sie losheulen. "Wieso hat sie das getan?"
"Wer hat was getan?" fragte Mithrendan nach. Er hatte verwundert die Brauen zusammengezogen und setzte sich nun aufrechter hin. "Erzähl's mir."
"Kiana! Ich... ich meine, die Königin," korrigierte sich Sanya hastig und senkte ihre Stimme. "Wieso hat sie mich befördern lassen?"
"Na, weil du sehr gut in dem bist, was du tust, Sanya."
"Aber... ich hab' versagt."
"Du meinst, weil Octavia tot ist? Und wie genau soll das deine Schuld gewesen sein?"
"Sie war in meiner Obhut als sie starb," sagte Sanya niedergeschlagen. "Der Reichsmarschall hat sich da ganz klar ausgedrückt, von ihm habe ich so ziemlich das zu hören bekommen, was ich von der Königin erwartet hatte. Aber..."
"Aber...?" hakte Mithrendan nach.
Sanya leerte ihren Krug und wischte sich den Mund ab. Kaum hatte sie das Gefäß abgestellt, kam eine der Bedienungen vorbei und füllte es ungefragt. Sanya hob noch einen Finger, um Widerspruch einzulegen, doch sie war viel zu langsam. Verdutzt ließ sie die Hand wieder sinken. "Ist... ist das normal hier?" fragte sie leise.
"Wenn du nicht möchtest, dass sie dir automatisch nachschenken, darfst du deinen Krug nicht leer auf den Tisch stellen," erklärte Mithrendan grinsend. "Sondern ihn kopfüber drehen, sobald er leer ist."
Wie automatisch griff Sanya nach ihrem Becher und wollte ihn schon umdrehen, als ihr klar wurde, dass er ja noch voll war. Kopfschüttelnd starrte sie auf ihre Hände. Hatte sie das Denken verlernt?
"Also, was ist jetzt mit meiner Frage?" wollte ihr alter Freund wissen. "Was war denn so seltsam an dem, was die Königin gesagt hat?"
"Sie war... naja, sie hat mich so sehr gelobt und dann befördert, als hätte ich... keine Ahnung, ihr das Leben gerettet oder so," meinte Sanya. "Dabei hat sie Octavia doch lebendig haben wollen, oder?"
"Ja, so lautete der Befehl," bestätigte Mithrendan.
"Aber stattdessen hat sie sich bei mir bedankt und gesagt, es wäre ihr lieber wenn ich ihre Schwester wäre und nicht diese Verräterin."
Mithrendan kratzte sich nachdenklich am Kinn. "Hmm... nun, es geht das Gerücht um, dass die Königin nicht viele... Freunde hat, dort oben im Palast?"
"Wie meinst du das?" Sanya nahm einen kleinen Schluck und beobachtete Mithrendan abwartend.
"Sie hat natürlich ihre treuen Ostlinge und andere Untergebene, sowie den Reichsmarschall als engen Vertrauten, aber... hast du sie schon einmal mit einer Freundin sprechen sehen?"
"Ich habe sie selbst erst drei- oder viermal gesehen."
"Stimmt auch wieder. Aber der Punkt ist, dass man sagt, dass Kiana Vaneryen keine gute Freundin hat, um es mal so direkt zu sagen." Er schaute Sanya bedeutungsvoll an.
"Du meinst... sie hat mich befördert, weil sie sich mit mir anfreunden will?" murmelte Sanya etwas undeutlich.
"Vielleicht. Es ist nur so eine Ahnung," sagte Mithrendan. "Wer weiß?"
"Dann hab' ich diese blöde Schärpe nicht verdient," ärgerte Sanya sich. "Ich habe noch kaum etwas erreicht... der Silberne Schwan läuft weiter frei herum und im Norden ist eine echte bewaffnete Rebellion im Gange."
"Die Rebellen sind aber nicht deine Aufgabe, sondern die Aufständischen hier in Gondor," erinnerte Mithrendan sie sanft.
"Und Kiana?" Sanya vergaß, die Königin bei ihrem Titel anzusprechen. "Sie ... sie ist so anders als ich erwartet habe. Freundlich... irgendwie zutraulich? Ganz anders als die Aufständischen sie immer darstellen."
Mithrendan lachte. "Du solltest dich mal hören, Sanya. Da spricht die Königin einmal mit dir und schon bist du vollkommen durcheinander?"
"Das ist dieses Gesöff, das ist schuld," knurrte Sanya und leerte ihren Krug, dann knallte sie ihn verkehrt herum auf den Tisch.
"Oho!" amüsierte sich Mithrendan. "So eine heftige Reaktion, spricht da nur der Alkohol aus dir, oder steckt da mehr dahinter?"
Sanya blickte ihn böse an. "Wenn du weißt was gut für dich ist, hältst du jetzt besser den Mund," warnte sie ihn. Innerlich verstand sie sich selbst nicht, wieso wurde sie so gereizt wenn es um Kiana ging? Und wieso waren ihre Wangen so warm? Sie schob es auf den Alkohol, den sie nicht gewohnt war. Aber ein Teil von ihr ahnte, dass das nicht ganz stimmen konnte.
"Schon gut, schon gut," sagte Mithrendan und hob abwehrend die Hände, doch sein Grinsen verschwand nicht. "Was ist nach deiner Beförderung noch passiert?"
"Wir... wir waren in diesem kleinen Garten, Kiana und ich," sagte Sanya undeutlich.
Mithrendan hob die linke Augenbraue. "Und...?"
"Wie, und? Sie wollte mich überreden, noch ein Weilchen in Minas Tirith zu bleiben. Aber das geht nicht, wir müssen doch unsere Pflicht erfüllen und den Silb-"
Ihr alter Freund hob einen Finger und brachte Sanya zum Schweigen. Sie starrte ihn irritiert an, doch er schien angestrengt auf etwas zu lauschen, das Sanya nicht hören konnte. Sie ließ die Schultern sinken und schloss für einen Moment die Augen.
Was mache ich hier eigentlich? fragte sie sich nicht zum ersten Mal an diesem Tag. Sie sah Kiana vor sich, mit ihrem hellblonden Haar, das immer in sehr komplex wirkenden Frisuren getragen hatte. Erschrocken bemerkte Sanya, wie sie ihre Herrscherin nun auch in Gedanken schon mit ihrem Namen ansprach, und nicht länger als "Euer Gnaden".
"...Lieferung nach Lossarnach soll morgen eintreffen..."
"...sicher, dass dir niemand gefolgt ist? Wenn die königlichen..."
"...gegen Mitternacht hinter dem großen Wachturm außerhalb der Stadt..."
"...ihr endlich etwas Feuer unterm Hintern machen, damit..."
Fetzen eines Gepräches drangen an Sanyas Ohr, und mit einem Mal war ihre Trunkenheit wie weggeblasen. Sie öffnete vorsichtig die Augen und stellte fest, dass Mithrendan anscheinend derselben Unterhaltung zuhörte. Er nickte Sanya kaum merklich zu. Mit Mühe gelang es ihr, den Hintergrundlärm der Taverne besser auszublnden und sich zu konzentrieren.
"Und du bist dir sicher, dass die Aktion funktionieren wird? Immerhin würde das alles mitten in der Hauptstadt passieren."
"Ja, so ist es beabsichtigt. Das wird für großen Aufruhr sorgen und allen zeigen, dass die Drachenschlange machtlos ist."
"Nun gut... und du bist dir sicher, dass das so funktionieren wird? Sind die Wachen am Tor geschmiert worden?"
"Natürlich. Der Schwan ist da nicht knausrig mit seinem Geld... jetzt sei nicht so besorgt und trink noch einen mit mir, ja? Vier Tage noch... dann wird es uns besser gehen. Viel besser."
"Vier Tage, ja... und dann rollen hoffentlich ein paar Köpfe."
"Wirst es sehen, wirst es sehen!"
Sanya stand auf und gab dabei vor, mehr zu schwanken als sie es sonst getan hätte. Dabei warf sie so unauffällig es ging einen Blick in die Richtung, aus der die Stimmen kamen. Zwei Männer saßen dort, einer trug die Rüstung eines Stadtwächters, der andere sah wie ein einfacher Reisender in einem braunen Mantel aus. Schnell löste Sanya ihren Zopf, um sich nicht zu verraten, und stolperte zur Bar hinüber. Der Wirt, der gerade einige Krüge abspülte, musterte sie gelassen, ohne etwas zu sagen. Sanya war dem Gespräch dadurch näher gekommen und legte den Kopf auf den Tresen ab, ihre Arme als Kissen verwendend, und lauschte weiter.
"Wo habt ihr eigentlich so viel von diesem Zeug herbekommen? Wie nennt man es doch gleich? Isen....feuer?"
"Leise, leise!" zischte der Andere und senkte seine Stimme. "Mach dir deswegen keine Gedanken, selbst ich weiß nicht wo es herkommt. Der Schwan hat es beschaffen lassen."
"Und es ist sicher, ja?"
"Wenn man sich nicht wie ein Idiot anstellt, schon. Steh nicht daneben wenn es hochgeht!"
"Hab' ich nicht vor... ich kenne die Geschichten die man sich darüber erzählt."
"Bald werden es die Menschen von Minas Tirith noch besser kennen als es ihnen lieb ist! Ich kann's kaum erwarten."
"Wenn der Thronsaal nur noch eine rauchende Ruine ist, werden wir uns alle besser fühlen, das versprech' ich dir. Viel besser."
Sanya hörte, wie die Männer aufstanden und die Taverne verließen. Sie blieb noch ein Weilchen in ihrer Position, bis Mithrendan zu ihr kam und ihren Arm über seine Schulter legte. "Ich glaub', das Mädel hier hatte genug für heute," raunte er dem Wirt verschwörerisch zu, dann half er Sanya dabei, vom Tresen wegzugehen. Sie spürte ihr Herz klopfen, als ihr die ganze Wahrheit langsam klar wurde. Zwar trübte der Alkohol noch immer ein wenig ihre Gedanken, doch dennoch war ihr unmissverständlich klar, was die Aufständischen planten: In vier Tagen wollten sie mit dem Isenfeuer den Thronsaal Kianas zum Einsturz bringen!