Cyneric kam sich vor, als träume er noch. Das trübe, grünliche Licht, das die Höhle zumindest soweit erleuchtete, dass er ein wenig sehen konnte, sorgte dafür, dass er sich etwas schwummrig fühlte. Es war ein unnatürliches, kränkliches Licht, das von den Felswänden rings umher reflektiert wurde.
"Milva!"
Sein Ruf hallte in der Höhle wieder, doch es kam Cyneric so vor, als würde der Klang seiner Stimme schon nach wenigen Metern von der dicken, schweren Luft erstickt. Er stemmte sich hoch und sah sich aufgebracht um.
"Wo bist du?" Es kam keine Antwort. Cyneric spürte, wie sich sein Kiefer verkrampfte. Er sollte nicht hier sein. Wenn alles nach Plan gelaufen wäre, säße er jetzt mit Milva in Dorwinion, in relativer Sicherheit, und würde bereits Pläne schmieden, um Salia zu finden. Salia hatte in ihrem Brief, den sie Cyneric in Gortharia hinterlassen hatte, nur gesagt, sie wolle ihre einstige Meisterin Mêril nach Dorwinion verfolgen. Cyneric hatte jedoch nicht vor, Salia bei diesem gefährlichen Unterfangen im Stich zu lassen.
Doch nun war er hier gestrandet, an einem zeitlos wirkenden Ort, von dem er keinerlei Ahnung hatte, wo er sich überhaupt befand.
Ob die Wellen des Sturms uns bis an eines der Ufer des Binnenmeeres gespült hat? Ich frage mich, ob diese Höhlen hier unterhalb der Klippen liegen, die am Südufer des Meeres zu finden sind..."Dir darüber den Kopf zu zerbrechen, bringt dich jetzt nicht weiter," sagte er leise zu sich selbst. "Ich muss Milva finden."
Mühsam stapfte er los, nachdem er sich entschieden hatte, in die Richtung zu gehen, von der er glaubte, das grünliche Licht kommen zu sehen.
Wie lange er durch nie enden wollende Gänge geirrt war wusste Cyneric nicht. Doch als er an einer Weggabelung stehen blieb, glaubte er mit einem Mal, dumpfe Stimmen zu hören. Er stolperte darauf zu, den linken Gang entlang. Das Licht begann nun wieder zuzunehmen, und schon bald erhellte der grünliche Schein den gesamten Gang und Cyneric musste sich eine Hand vor die Augen halten, um nicht geblendet zu werden.
Die Stimmen wurden deutlicher, und Cyneric fühlte, wie eine gewaltige Last von seinen Schultern fiel, als er Milvas Stimme zu erkennen glaubte. Was gesprochen wurde konnte er nicht verstehen, denn einerseits war er noch zu weit entfernt und andererseits wurden Worte gesprochen, die einer Sprache entstammten, die Cyneric nicht kannte.
Endlich konnte er etwas sehen. Durch einen Höhleneingang gelangte er in eine riesige Kaverne. Das Licht fiel von oben auf ihn herab. Es schien Cyneric, als sein einer der Sterne unter die Erde herabgestiegen, denn über ihm hing in großer Höhe eine gewaltige, leuchtende Kugel, die der Ursprung des grünlichen Lichts war. Soweit Cyneric es abschätzen konnte, war der kreisrunde Stein ungefähr zweimal mannshoch, seine Oberfläche war ebenso grün wie das düstere Licht, das er von sich gab. Die Kugel glich nichts, was Cyneric je zuvor gesehen hatte. Über ihr lag nichts als eine dunkle Höhlendecke. Sechs eiserne, gebogene Stangen hielten die Kugel an ihrem Sitz und umschlossen sie wie eine eigens angefertigte Halterung.
Die Stimmen rissen Cyneric wieder aus seinen Gedanken und er sah, dass in der Mitte der großen Grotte Milva und Rúnaeluin standen und sich unterhielten. Ehe er sich bemerkbar machen konnten, kamen die beiden bereits auf ihn zu.
"Endlich bist du wach," sagte Milva und nahm Cynerics Hand. "Ich dachte schon, du wachst gar nicht mehr auf."
"Wo bist du gewesen?" wollte er wissen und es gelang ihm nicht, jeglichen Vorwurf aus seiner Stimme fernzuhalten.
"Ich habe tagelang an deiner Seite gesessen und auf dich Acht gegeben," antwortete Milva. "Doch ich kann nicht ewig stillsitzen. Ich war nur für eine Stunde fort..."
"Tage..lang?" wiederholte Cyneric langsam.
"Dein Gebein hat nach Ruhe verlangt," ergriff Rúnaeluin das Wort. "Du bist nun vollkommen erholt von den Verletzungen, die dir im Sturm zugefügt worden sind."
Cyneric wusste nicht, wie er darauf reagieren sollte. Daher stellte er die erste Frage, die ihm in den Sinn kam. "Was.. ist das für ein Ort? Und... diese Kugel? Woraus besteht sie?"
"Dies ist die Halle der Strömungen," sagte Rúnaeluin bedeutungsvoll. "Das Herz meines Reiches. Hier hüte ich jenes, was mir einst zur Verwahrung anvertraut wurde: einen der sieben
Vandassarì."
"Er hat mir vieles erzählt und erklärt, wo wir sind," sagte Milva. "Cyneric, wir... befinden uns unter dem Meeresgrund des Binnenmeeres!"
Cyneric sah sich sprachlos um. "Aber..."
"Und er kann uns nach Dorwinion bringen," redet Milva ungerührt weiter.
"Wenn ihr beide dies wünscht, werde ich es gerne in die Wege leiten," bestätigte Rúnaeluin ruhig.
"Nun, wir wären dankbar..." brachte Cyneric undeutlich hervor. Erneut ging sein Blick zu der Kugel über ihren Köpfen. "Und was ist ein... Vanda...?"
"Ein Eid-Stein," erklärte Rúnaeluin schlicht. "Einer von sieben. Sie alle hatten jeder eine ihm eigene Farbe inne: grün, wie dieser hier, aber auch rot, gold, silber, blau und schwarz. An den Grenzen des alten Reiches wurden sie aufgestellt, nachdem man sie über das Trennende Meer gebracht hatte. Und dort schworen die Menschen den Herren der Vandassarì einen Bündniseid - einen Eid, den nur die Schändlichsten unter ihnen jemals zu brechen wagten. Denn er verfolgte sie selbst über ihren Tod hinaus."
"Unheimlich," sagte Milva. "Wer hätte gedacht, dass das Licht von dieser Kugel stammt? Kaum zu glauben, dass sie von Menschenhand geschaffen sein soll!"
"Ihr... habt gesagt, Ihr könntet uns nach Dorwinion bringen," sagte Cyneric. "Hat Milva Euch erzählt, weshalb wir dorthin gelangen müssen?"
"Ich weiß, was euch verfolgt und welche Schatten in jenem Land auf euch warten. Aber ich weiß auch, wer von Ferne über diese, die auch
Maranya genannt wird, wacht. Ich kenne die Kunde, die meine Zuflüsse mir bringen."
Cyneric starrte den Fremden an. "Wer seid Ihr, Herr?"
"Ich höre die Worte der Wasserläufe, die hier über uns zusammenströmen. Einst sah ich dich, in Kalevin, wie du für jene eingetreten bist, die nicht selbst für sich eintreten konnten," sagte Rúnaeluin und sah Cyneric durchdringend an. "Und dir hörte ich dabei zu, wie du deine frühen Jahre an den Ufern des Eilenden verbrachtest," sagte er zu Milva. "Bis hoch zu den Zwergenstätten im Nordwesten und den vergessen geglaubten Mooren der Avari im Nordosten und zu den Quellen ein jeden Bächleins und Rinnsaals ringsum jenen kleinen Überrest, der heute von meinem einst so gewaltigen Reich noch geblieben ist. Als einst der gewaltige Helcar umgestürzt wurde, schuf er das Gewässer, das ich noch immer meine Heimat nenne, und von Almaren kam ich hierher, als alle anderen westwärts flüchteten. Hier habe ich über meine Ströme gewacht und gewartet, bis die Welt wieder zu ihrer natürlichen Ordnung gefunden hat."
Darauf wussten weder Cyneric noch Milva eine Antwort, aber offenbar war auch gar keine von ihnen erwartet worden. "Folgt mir, dann bringe ich euch an den Strand nahe der Zwillingsstädte..." sagte Rúnaeluin, und ohne auf sie zu warten, marschierte er im eiligen Tempo los, auf einen der auf der entfernten Seite der Höhle gelegenen Tunneleingänge zu. Sie sahen einander an und dann hasteten sie ihm hinterher.
Es kam Cyneric so vor, als wäre nicht mehr als eine halbe Stunde vergangen, in der sie Rúnaeluin durch den Tunnel hindurch gefolgt waren. Dabei glaubte er zu spüren, dass irgend etwas seine Schritte beschleunigte; teilweise kam es ihm sogar so vor, als würde er... geschoben, obwohl in dem Höhlengang nichts zu sehen war bis auf nackten Fels und das immer schwächer werdende, grünliche Licht des fernen Steins. Schließlich blieb Rúnaeluin ohne Vorwarnung stehen, und als Milva einen Schritt an ihm vorbei machte, trat ihr Fuß ins Leere; sie hätte das Gleichgewicht verloren wenn Cyneric sie nicht an der Schulter gepackt und zurückgezerrt hätte. Milvas Stiefel war durchnässt, denn vor ihnen endete der Gang in einem kleinen, kreisrunden Becken schwarzen Wassers.
"Dies ist das Tor nach Dorwinion," sagte Rúnaeluin. "Durchquert es, und ihr werdet unfern des Hafens von Holmgard auftauchen."
"Aber..." begann Milva.
"Entweder ihr durchquert das Wasser, oder ihr kehrt zur Halle der Ströme zurück." Rúnaeluin drehte sich bereits um, um davonzumarschieren. Doch dann hielt er noch einmal inne. "Eine letzte Warnung gebe ich euch mit auf den Weg. Hütet euch vor der verlorenen Schwester und ihren Dienern... selbst wenn sie vorgeben, eure Freunde zu sein." Damit ließ er sie stehen und verschwand.
Cyneric und Milva blieben mit mulmigem Gefühl am Ufer des Beckens stehen. "Ich weiß nicht recht," sagte Cyneric. "Ich habe kein gutes Gefühl dabei, aber... es scheint keinen anderen Weg zu geben."
"Dann müssen wir hindurch," stellte Milva klar.
"Ich werde zuerst gehen," beschloss Cyneric. "Wenn es sicher ist, folgst du mir."
"Nein," hielt Milva dagegen. "Entweder gehen wir gemeinsam, oder gar nicht."
Und so tauchten sie gemeinsam in das Becken ein, Hand in Hand, ehe das Wasser sie zu Schwimmbewegungen zwang und sie einander loslassen mussten. Einen Boden schien das Becken nicht zu haben, und ehe sie es sich versahen, wurden sie von einer starken Strömung gepackt und nach unten gezogen. Cyneric verlor Milva aus den Augen, als er kopfüber gewirbelt wurde und wenige Herzschläge später mit einer großen Welle krachend auf überraschend harten Sandboden geschleudert wurde. Die Welle zog sich zurück und Cyneric stellte hustend fest, dass er an einem dunklen Strand angespült worden war. Zu seiner Rechten blinkten in der Ferne die vielen Lichter einer großen Hafenstadt auf. Er drehte sich zum Meer um und sah mit an, wie Milva von der nächsten Welle ebenfalls auf den Strand befördert wurde. Er half ihr auf und mehrere Minuten starrten sie schweigend und frierend auf das Meer hinaus, das weder von Mond noch Sternen erhellt wurde. Es schien sich wieder beruhigt zu haben, und nur noch ganz kleine Wellen schwappten hier und da den Strand hinauf.
"Komm," sagte Cyneric. "Gehen wir in die Stadt und suchen uns einen trockenen Ort, ehe wir uns noch den Tod hier draußen holen."
Milva nickte und gemeinsam stapften sie los, vollkommen durchnässt wie sie waren.
Cyneric und Milva nach Dorwinion