Oronêl, Kerry, Elea, Finjas, Arwen und Pippin von Norden...Sie schlugen ihr nächstes Nachtlager am Rand der nördlichen Rand der Ebene von Eregion auf, am Grund einer tiefen, mit Heidekraut bewachsenen Mulde. Der kleine Bach, dem sie seit einiger Zeit nach Süden gefolgt waren, bildete hier einen flachen Tümpel, dessen Ufer mit Schilfrohr bestanden waren. Da der Lagerplatz gut geschützt war, hatte Oronêl nichts gegen ein Feuer einzuwenden, das Finjas mit einigem Geschick bald in Gang gebracht hatte.
Als sie eine karge, aber immerhin warme Mahlzeit eingenommen hatten war die Nacht bereits weit fortgeschritten.
"Schlaft", kam Oronêl den Menschen zuvor, die gerade bedeutsame Blicke gewechselt hatten. "Ich übernehme die Wache - ihr werdet eure Kräfte für die Weiterreise brauchen." Kerry öffnete den Mund, vermutlich um wie üblich zu widersprechen, doch statt Worten wurde ein herzhaftes Gähnen daraus. Oronêl hob bedeutungsvoll eine Augenbraue, und spürte seinen Mundwinkel amüsiert zucken.
"Na schön", erwiderte Kerry, musste aber selbst lächeln. "Das heißt wohl, du bekommst deinen Willen."
Elea jedoch schüttelte den Kopf. "Selbst das ältere Volk benötigt Ruhe, wenn schon keinen Schlaf. Ich werde dich in ein paar Stunden ablösen." Ihr Tonfall war ruhig, aber unmissverständlich bestimmt, und Oronêl kam nicht umhin sich vorzustellen, wie Elea einen jungen Helluin in eben jenem Tonfall zurecht wies. Er verdrängte den Gedanken rasch wieder, denn er wollte eigentlich nicht an Helluin denken.
Oronêl tauschte einen Blick mit Arwen, die leicht belustigt wirkte, und zuckte dann mit den Achseln. "Meinetwegen."
Die Nacht war noch nicht besonders weit fortgeschritten, als er leise, raschelnde Schritte hinter sich hörte - zu leise für die Menschen oder den Hobbit Peregrin. So war er auch wenig überrascht, als Arwen sich anmutig neben ihm auf dem breiten, flachen Felsen, den er als Sitzplatz ausgewählt hatte, niederließ. Sie schwiegen einen Augenblick, bevor Arwen, den Blick nach Süden gerichtet, fragte: "Was glaubst du wird in Eregion geschehen?"
"Ich weiß es nicht", erwiderte Oronêl. "Es ist eine seltene Gabe, in die Zukunft blicken zu können, und mir ist sie nicht gegeben." Als Arwen schwieg, fügte er hinzu: "Vielleicht ist die Schlacht um Eregion längst geschlagen. Vielleicht finden wir nur noch Asche und Ruinen vor. Oder die siegreichen Manarîn. Vielleicht geschieht eines der beiden erst, wenn wir dort sind. Vielleicht wird Eregion gar nicht angegriffen, und wir haben uns geirrt. Ist das denn wichtig?"
Arwen schwieg noch eine weitere Weile, bevor sie antwortete: "Nein, ich denke... nicht." Sie klang verwundert. "Lange Zeit war ich mir sicher in meinem Wissen über die Zukunft. Nur wenig hat mich überrascht, bis... die Nachricht aus dem Süden kam. Über die Schlacht am Schwarzen Tor, und Saurons Triumph." Die ohnehin schon kalte Luft schien noch ein wenig abzukühlen, als Arwen den Namen aussprach. "Und nun breche ich das erste Mal in meinem Leben ins vollkommen Unbekannte auf."
"Manchmal muss man den Sprung ins Unbekannte wagen, um ans Ziel zu kommen", meinte Oronêl. "Wichtig ist nur, dass wir die Hoffnung bewahren, dass, egal was passiert, am Ende jede Dunkelheit besiegt werden kann." Er senkte den Blick, und ergänzte leise: "Es hat einige Zeit gedauert, bis ich das begriffen habe. Und manchmal fällt es mir noch immer schwer, es zu glauben."
Als er wieder auf sah, war Arwen bereits wieder fort, doch sie hatte etwas zurückgelassen. Auf dem Stein lag eine Brosche in Form eines einzelnen goldenen Mallornblattes.
Als schließlich Elea kam um Oronêl abzulösen, hatte es leicht zu schneien begonnen, und weiße Flocken wirbelten durch die Nacht. Oronêl hatte die Hand um die Brosche, die Arwen ihm dagelassen hatte, geschlossen und war in Gedanken versunken, doch als Elea sich ihm mit leise im Schnee knirschenden Schritten näherte, stand er auf.
"Jetzt wünsche ich mir beinahe, ich hätte nicht auf der zweiten Wache bestanden", sagte Elea halb scherzhaft, und zog die Decke, die sie vom Lager mitgenommen hatte, ein wenig enger um sich. Tatsächlich war es im Laufe der Nacht empfindlich kalt geworden, und ihnen beiden stand der Atem in kleinen Wölkchen vor dem Mund.
"Du musst es nicht tun, nur um dich nützlich zu fühlen", erwiderte Oronêl, aber ohne großen Nachdruck. Elea zuckte mit den Schultern und ließ sich auf dem schneefreien Fleck, auf dem Oronêl zuvor gesessen hatte, nieder, die Decke fest um den Oberkörper gewickelt. "Ich weiß." Offensichtlich hatte sie nicht den Wunsch, weiter darüber zu sprechen. Oronêl legte ihr nur kurz die Hand auf die Schulter und sagte: "Ich habe mir dich und die anderen als meine Gefährten für diese Reise freiwillig ausgewählt - ich wusste, worauf ich mich einlasse."
Er nahm die Hand von Eleas Schulter, und ging ohne eine Antwort abzuwarten in Richtung des kleinen Lagers davon, blieb allerdings auf halber Strecke stehen, als er ein Geräusch aus nördlicher Richtung hörte. Die Augen zusammengekniffen starrte er angestrengt in die Dunkelheit und den immer dichter fallenden Schnee. In der Dunkelheit bewegte sich etwas.
Oronêl blickte kurz über die Schulter zurück, wo Elea mit den Rücken zu ihm saß und Wache hielt, bevor er mit vorsichtigen Schritten in die Richtung der Bewegung zu gehen begann, die Hand auf Hatholdôrs Griff gelegt. Als er die Stelle erreicht hatte, an der seiner Schätzung nach die Bewegung gewesen sein musste, blieb er stehen, und lauschte. Einen Augenblick lang war nur das beinahe unhörbare Geräusch des fallenden Schnees zu vernehmen, und Oronêl begann zu glauben, seine Wahrnehmung habe ihm einen Streich gespielt.
Und doch... sein Blick blieb an etwas vor ihm im Schnee hängen. Ein einzelner Fußabdruck, groß, mit gekrümmten Zehen und offenbar langen, krallenartigen Nägeln. Oronêl ging in die Hocke, um den Abdruck genauer zu betrachten. Im selben Augenblick hörte er etwas hinter sich klirren, ein heftiger Schlag traf ihn am Hinterkopf und alles wurde dunkel.
Oronêl erwachte in beinahe vollständiger Dunkelheit. Er wollte sich instinktiv den schmerzenden Hinterkopf reiben, musste jedoch feststellen, dass seine Hände mit einem groben Seil auf dem Rücken aneinander gefesselt waren. Schlagartig wurde sein Kopf klar, und er begann seine Umgebung wahrzunehmen. Seine Augen gewöhnten sich schnell an die Dunkelheit. Keine Sterne schimmerten über ihm, also nahm Oronêl an, dass er sich in einer Höhle befand - dafür sprachen auch die abgestandene Luft und der felsige, feuchte Untergrund.
Trotz seiner gefesselten Hände kam Oronêl ohne größere Mühe auf die Füße, musste allerdings leicht geduckt stehen, um mit dem Kopf nicht gegen die Decke zu stoßen. Die Höhle öffnete sich nur in einer Richtung, wo er nur wenige Schritte entfernt ein hölzernes, aber stabil wirkendes Gitter entdeckte, dass den weiteren Weg versperrte. Er blieb am Gitter stehen, und lauschte. Von vorne vernahm hallten grobe, unangenehme Stimmen in der Höhle wieder, und Oronêl verzog das Gesicht, gleichzeitig angewidert und zornig auf sich selbst. Er hatte sich von Orks beschleichen lassen - ausgerechnet.
Sein Ärger wurde allerdings beinahe sofort von der Sorge um seine Gefährten verdrängt. Waren sie auch irgendwo in diesen Höhlen eingesperrt, oder waren sie den Orks auf irgendeine Weise entkommen? An die letzte Möglichkeit wollte Oronêl gar nicht erst denken.
Er hörte ein leises Rascheln hinter sich, und bemerkte erst jetzt die Gestalt, die in einer Ecke auf dem Boden lag - schlafend oder bewusstlos. Vorsichtig trat Oronêl näher und ging auf die Knie hinunter. Sofort schnellte der vorgeblich Bewusstlose wie eine Sprungfeder hoch, und Oronêl konnte nur mit Mühe dem Stein ausweichen, der nach seinem Kopf geschwungen wurde. Er rollte sich rückwärts ab, kam auf die Füße und stockte, als er das Gesicht seines Angreifers unter den langen, dunkelbraunen Haaren erkannte.
"Haleth?"
Sie erstarrte mitten in der Bewegung, und blickte aus ihrer halb sitzenden, halb liegenden Position zu ihm auf, die Augen weit aufgerissen. Dann schüttelte sie den Kopf.
"Oronêl." Sie stieß einen halb belustigten, halb verzweifelten Laut aus. "Ich fürchte du bist nicht hier, um mich zu befreien?"
Oronêl drehte ihr wortlos die gefesselten Hände zu, und schüttelte den Kopf. Haleth kam auf die Füße, und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Selbst in der Dunkelheit sah sie blass aus, und hatte mehrere Schnitt- und Schürfwunden im Gesicht.
"Was ist passiert?", fragte sie, während sie sich mit dem offenbar scharfkantigen Stein an Oronêls Fesseln zuschaffen machte, und dabei immer wieder nervöse Blicke den Tunnel entlang zum Gitter warf. "Wie kommst du hierher?"
Oronêl biss die Zähne aufeinander, bevor er antwortete: "Jemand - ich nehme an, ein Ork - schlug mich in der Nacht nieder. Ich... nun, man könnte sagen, ich habe mich beschleichen lassen wie ein Anfänger."
Die Fesseln rissen mit einem Knirschen, und Oronêl rieb sich dankbar die wunden Handgelenke. Er lehnte sich mit dem Rücken gegen die Höhlenwand, und betrachtete Haleth einen Augenblick lang. Bislang hatte er sie eher aus der Ferne wahrgenommen und kannte sie nicht gut. Doch auf der Reise von Isengart nach Dunland hatte er Rilmir zu schätzen gelernt, und die Unbeugsamkeit, die er trotz der Erschöpfung und Verzweiflung in Haleths Blick erkannte verriet ihm, dass sie aus dem gleichen Holz geschnitzt war.
Als sie sich ihm gegenüber gesetzt hatte, erzählte Oronêl weiter: "Wir waren auf dem Weg nach Süden - Finjas, Elea, Arwen und... Kerry." Mit jedem Namen wurden Haleths Augen größer vor Schrecken. "Ich weiß nicht, was mit ihnen geschehen ist, ob es ihnen gut geht oder..." Er verstummte, und schüttelte den Kopf.
"Die Orks haben keine weiteren Gefangenen hergebracht, also..." Haleth unterbrach sich abrupt. "Ich denke, es geht ihnen gut. Vielleicht... hatten die Orks nur Interesse an dir. Seit meiner Gefangennahme habe ich das ein oder andere gehört.
Blut der Ersten und
Blut der Zweiten."
"Das verheißt nicht wirklich gutes", meinte Oronêl, und massierte sich die schmerzende Stirn. "Wie bist du überhaupt gefangen genommen worden? Wir glaubten, du wärst mit Rilmir in Fornost."
Bei seinen Worten hob Haleth ruckartig den Kopf. "Rilmir ist im Süden, bei Tharbad. Nicht in Fornost."
"Das war er", erwiderte Oronêl, und berichtete in knappen Worten, wie er und Kerry Rilmir in Isengard begegnet waren, und dass er schließlich über Bruchtal nach Arnor zurückgekehrt war. Während seiner Erzählung wurde Haleth immer blasser, und vergrub schließlich das Gesicht in den Händen.
"Ich habe geahnt, dass er in irgendwelche Schwierigkeiten geraten sein muss", sagte sie dumpf zwischen ihren Händen hervor. "Das Leben in Fornost hat mich rastlos gemacht, und ich konnte Belens Wichtigtuerei nicht länger ertragen, also habe ich Fornost in der Nacht verlassen und bin nach Süden aufgebrochen. Vermutlich habe ich Rilmir nur knapp verpasst." Sie nahm die Hände vom Gesicht, und fuhr sich mit einer Hand nach hinten durch die Haare, eine hilflose Geste. "Ich habe die Straße gemieden, doch in den südlichen Höhen haben mich vor ein paar Tagen diese Orks erwischt und mit sich geschleppt."
Haleth hatte gerade ausgesprochen, als schwere Schritte und metallisches Klirren aus dem Höhlengang zu vernehmen waren.
"Drück die Fesseln zusammen, sodass es aussieht, als wären deine Hände noch gefesselt", zischte sie Oronêl zu, und nur einen Augenblick später trat ein großer Ork an das Holzgitter heran. Er hatte ein langes Gesicht mit nur einem Ohr und zwei eisernen Ringen in der Nase, und auf seinem Kopf sprossen einzelne lange schwarze Haare. Seine schwarzen Augen funkelten boshaft, als sein Blick auf Oronêl fiel.
"Sieh an, unser neuer Gast ist wach." Der Ork kicherte heiser. "Dann hat Gûldrak seinen Teil des Auftrags erledigt. Auf die Füße, hohe Gäste. Wir haben einen weiten Weg vor uns..."