Das Schicksal Mittelerdes (RPG) > Eregion
Tan Hollinór / Nördliches Eregion
Eandril:
Die Spuren der Menschen waren im frischen Schnee so deutlich zu erkennen, dass selbst ein Blinder ihnen hätte folgen können - für die Elben war es erst recht kein Problem. Sie führte zunächst beinahe schnurgerade nach Norden, bog dann am Ende des schmalen Tales nach Osten über den Hügelkamm hinweg an.
Am höchsten Punkt des Hügels hielt Oronêl an und ließ seinen Blick über das Land schweifen. Dunkle Wolken waren über ihnen aufgezogen, und es würde vermutlich noch innerhalb der nächsten Stunde wieder zu schneien beginnen. "Ein paar Meilen östlich von hier liegt ein dichter Wald aus Hulstbäumen", sagte er, und deutete in Richtung der dunkel in der Ferne aufragenden Kette des Nebelgebirges. "Der Pfad nach Imladris am Fuß des Gebirges führt hindurch."
"Ihr nehmt an, dass die Gruppe aus Imladris dort überfallen werden soll?", fragte einer der Manarîn, und Oronêl nickte knapp. "Ich habe den Wald zweimal auf dem Weg nach Norden durchquert, er bietet sich hervorragend für einen Überfall an. Wir sollten uns beeilen."
Tatsächlich befanden sie sich ein wenig nördlicher, als Oronêl vermutet hatten, und sie näherten sich dem Wald eher von Nordwesten als direkt aus westlicher Richtung. Die Spur ihrer Feinde teilte sich hier auf - jeweils ungefähr die Hälfte der Menschen schien in nördlicher und südlicher Richtung um den Wald herum marschiert zu sein. Oronêl beschloss, den nördlichen Spuren zu folgen, denn er wollte seinen ohnehin schon kleinen Trupp Krieger nicht noch weiter aufteilen. Nach gerade mal einer halben Meile öffnete sich der Wald zu ihrer Rechten ein wenig und die Spur bog in den schmalen Pfad ab. Oronêl betrachtete den zertrampelten Schnee ausführlich, vor allem in nördlicher Richtung.
"Hier waren nicht nur Sarumans Diener unterwegs", stellte er fest. Von Norden führte eine zweite Spur auf den Wald zu, die weniger einheitlich als die der Menschen war. Da waren Abdrücke von schweren, eisenbeschlagenen Stiefeln, aber auch deutlich schwächere und solche, die selbst im Schnee kaum zu sehen waren. "Zwerge, Elben und Menschen. Die Gruppe aus Imladris."
"Und die Feinde direkt hinter ihnen", ergänzte einer der Elbenkrieger. "Wir sollten uns eilen." Oronêl stimmte ihm zu, und ohne weitere Worte schlugen sie den Pfad durch den Wald nach Süden ein.
Es dauerte nicht lange, bevor durch die Bäume Geräusche eines Kampfes an Oronêls Ohren drangen. Ohne ein Wort verfiel er in Laufschritt, und die Manarîn taten es ihm ohne Zögern gleich. Die Bäume wurden immer höher und dichter, öffneten sich aber schließlich unvermittelt zu einer weiten Lichtung.
Auf der Lichtung tobte ein Kampf. Eine Gruppe von wild aussehenden Menschen hatte eine deutlich kleinere Gruppe von Norden und Süden in die Zange genommen. Noch im Laufen erkannte Oronêl, der bereits seine Axt in der Hand hatte, das feuerrote Haar Celebithiels unter den Verteidigern. Er hatte keinen Befehl zum Angriff gegeben, doch die Manarîn hatten ebenso wie er bereits ihre Waffen gezogen und folgten fielen dem Feind ohne Zögern in den Rücken.
Oronêl trat dem ersten vollkommen überrumpelten Mann von hinten in die Kniekehle, bevor er sämtlichen Schwung aus dem Lauf in den Schlag mit der Axt legte und seinem Gegner den Kopf mit einem einzigen Streich den Kopf von den Schultern trennte. Oronêl drehte sich auf der Stelle um den Schwung beizubehalten, und noch bevor der abgetrennte Kopf den Boden berührt hatte, traf Hatholdôrs Klinge den zweiten Menschen in die rechte Seite. Neben ihm richteten die Manarîn ein furchtbares Gemetzel unter Sarumans Gefolgsleuten an, die von den neuen Feinden in ihrem Rücken vollkommen überrascht schienen. Sie hatten einen Hinterhalt gestellt und waren nun selbst in eine Falle geraten. Es dauerte nicht lange, und der nördliche Teil der Banditen begann zu wanken. Die ersten versuchten voller Panik zu entkommen, doch die Elbenkrieger aus Oronêls Trupp zeigten keinerlei Gnade und hieben sie systematisch und gnadenlos zusammen.
Oronêl löste sich ein wenig in westlicher Richtung aus dem Getümmel, und verschaffte sich einen Überblick über das Schlachtfeld. Im Norden war der Kampf beinahe vorbei - hier hatten sich den Banditen die Zwerge aus der überfallenen Gruppe entgegen gestellt, und so waren die Menschen zwischen diesen und Oronêl und seinen Manarîn zwischen Hammer und Amboss geraten. Doch auch im Süden lief der Hinterhalt offenbar nicht wie geplant. Dort standen nicht nur Celebithiel und Glorfindel, sondern noch einige weitere Elben, unter denen Oronêl seinen Freund Gelmir erkannte, und zwei Menschen in den Mänteln des Sternenbundes. Und auch dieser Gruppe Feinde schien jemand in den Rücken gefallen zu sein. Oronêl erkannte Anastorias, der seinen Krähenschnabel schwang, einen zweiten Manarîn und Helluin, dessen Elbenschwert furchtbar unter seinen ehemaligen Verbündeten wütete.
Sobald die Gefahr im Norden gebannt war, wandten sich die Zwerge und Oronêls Trupp gegen die verbliebenden Feinde im Süden - und nur wenig später war der Kampf endgültig vorbei. Wohl mindestens sechzig der Angreifer lagen tot und sterbend auf dem Schlachtfeld, etwas weniger als die Hälfte war nach Süden geflohen.
Celebithiel stieß ihr blutiges Schwert in den von einer dünnen, rotgefärbten Schicht Schnee bedeckten Waldboden. "Oronêl! Du hast dich umentschieden, wie ich sehe. Und kommst gerade zum richtigen Zeitpunkt."
"Ich bin sicher, ihr wärt auch ohne uns damit fertig geworden", antwortete er, und erwiderte ihr Lächeln, bevor er sie kurz in die Arme schloss. Wie immer wirkte sich Celebithiels Anblick hervorragend auf seine Laune aus, rief Erinnerungen an Dol Amroth und Lórien vor der Schlacht gegen Saruman hervor. "Aber vielleicht nicht ohne Verluste", merkte Glorfindel ernst an, bevor er Oronêl kurz zur Begrüßung die Hände auf die Schulter legte. Inzwischen waren auch die beiden Waldläufer herangekommen, und Oronêl erkannte Rilmir und Súlien. Bei ihrem Anblick wurde sein Herz schwer, denn beide wirkten ein wenig gehetzt und in tiefer Sorge. Rilmirs Hand umklammerte seinen Schwertgriff so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten. "Oronêl, ich... Haleth ist..."
Er wurde von Anastorias unterbrochen, der mit Helluin und Satariel herangekommen war. "Offenbar sind wir auf verschiedenen Wegen auf die selbe Spur gestoßen!", begann der Prinz gut gelaunt. "Helluin hier hat..."
Er brach ab, denn bei Helluins Namen war Rilmir auf der Stelle herumgewirbelt und hatte diesem die Spitze seines Schwertes an die Kehle gedrückt. Oronêl sah die Muskeln seines Armes zittern. Es hätte nicht viel gefehlt, und Rilmir hätte augenblicklich zugestoßen. Er legte dem Waldläufer eine Hand auf die Schulter. "Nicht, Rilmir", sagte er leise, und Rilmir wandte ihm das Gesicht zu. Seine blauen Augen funkelten vor Hass und Verzweiflung. "Ihr folgt Saruman? Nach allem, was geschehen ist?"
"Vorsicht, Mensch", gab Anastorias zurück. "Die Manarîn folgen niemandem außer unserer Königin. Schon gar nicht einem Zauberer, dessen Diener es gewagt haben, Hand an unsere Familie zu legen."
Rilmirs Schwertklinge, noch immer auf Helluins Hals gerichtet, zitterte ein wenig. "Und er? Was macht dieser Verräter dann an eurer Seite?"
Oronêl setzte an, etwas zu sagen, doch Helluin kam im zuvor. Zwar war er bleich im Gesicht, doch seine Stimme blieb fest als er erwiderte: "Ich habe Sarumans Dienste verlassen, Rílmir, Hádhrons Sohn. Ich bereue, was ich getan habe und ich werde alles tun, den Schaden wiedergutzumachen, den ich angerichtet habe - sofern das überhaupt möglich ist."
Súlien, die bislang geschwiegen und auch ihr Schwert nicht wieder gezogen hatte, blickte von Anastorias zu Oronêl. "Und ihr glaubt ihm?"
Anastorias zuckte mit den Schultern. "Ich habe bislang nichts Gegenteiliges beobachten können. Er war es, der uns hierher geführt hat, und er hat sich im Kampf nicht zurückgehalten."
"Mir hat der Gedanke auch nicht gefallen", begann Oronêl langsam. "Und dennoch glaube ich, dass Helluins Wunsch nach Vergebung und Wiedergutmachung ehrlich ist. Sarumans Einfluss auf ihn ist erloschen. Und wie ihr seht, ist er bereit an unserer Seite sein eigenes Leben im Kampf zu riskieren. Im tiefsten Herzen mag ich ihm nicht für die Folgen seiner Taten vergeben haben... aber ich denke nun, dass wir ihm die Gelegenheit geben sollten, Wiedergutmachung zu leisten." Seine letzten Worte waren weniger an Rilmir oder Súlien denn an Helluin direkt gerichtet gewesen. Zum ersten Mal dachte er dabei nicht an Kerry und ihre Gefühle. Stattdessen dachte er an Ardóneth in Fornost und vor allem an Amrothos. Amrothos war unter den Einfluss des Ringes gefallen, und auch das hatte schwere Folgen und Gefahren hervorgerufen. Doch Amrothos hatte er bereitwillig vergeben - vielleicht, weil sie bereits vorher Freunde gewesen waren. Vielleicht, weil durch Amrothos' Adern ein winziger Teil seines eigenen Blutes floss. Doch jetzt erkannte er, dass es ungerecht war, Helluin nicht wenigstens die Chance auf Vergebung zu gewähren.
Rilmirs Augen weiteten sich. "Oronêl, er..., er..." Er stockte, und auf seinem Gesicht verdrängte Verzweiflung den Hass. "Und Haleth, sie ist..."
"... am Leben und in Sicherheit", beendete Oronêl den Satz für ihn. Rilmir ließ vor Überraschung das Schwert fallen, und Oronêl bemerkte, wie Helluin unauffällig erleichtert aufatmete.
"In Sicherheit?", fragte Rilmir verwirrt. "Aber wo... wie? Ich war bin in Fornost gewesen... sie sagten mir, sie wäre nach Süden davon geschlichen. Ich habe die Spuren gesehen... Orks... und..."
Oronêl nickte. "Sie war in Gefangenschaft, genau wie ich. Orks haben uns nach Moria verschleppt und..." Er unterbrach sich, weil er nicht daran denken wollte, was er in den Tiefen unter dem Gebirge gesehen hatte. "Jedenfalls konnten wir nach Eregion entkommen. Haleth befindet sich in Ost-in-Edhil bei den Manarîn, ein wenig zerschlagen aber lebendig. Kerry ist ebenfalls dort."
Rilmir stieß erleichtert die Luft aus und seine Augen glänzten verdächtig. "Oronêl, ich... danke. Ich weiß nicht, was ich getan hätte, wenn... wenn ich sie verloren hätte."
Oronêl blickte zu Súlien, die offenbar in seinem Blick alles Nötige sah. Sie presste die Lippen aufeinander, schüttelte den Kopf bevor sie sich stumm abwandte und durch den blutigen Schnee über die Lichtung davon stapfte. Einen Augenblick später folgte Gelmir, der den Austausch aus ein paar Schritten Entfernung beobachtet hatte, ihr.
"Wir sollten sobald wie möglich nach Ost-in-Edhil aufbrechen", brach schließlich Glorfindel das Schweigen. "Einige dieser Banditen sind entkommen, und wo Sarumans Menschen sind, sind immer auch Orks."
"Ihr seid alle miteinander willkommen im Königreich der Manarîn", sagte Anastorias feierlich. "Klingen zu unserer Verteidigung sind immer willkommen." Glorfindel neigte leicht den Kopf. "Zu diesem Zweck sind wir nach Süden gekommen. Ich freue mich darauf, an eurer Seite zu kämpfen."
Bevor sie aufbrachen, nahm Anastorias Oronêl zur Seite. Seine Zuversicht, die er sonst zur Schau trug, schien sich ein wenig getrübt zu haben. "Ich mache mir Sorgen, dass wir den Anführer dieser Bande nicht erwischt haben, und ich fürchte, dass uns ein größerer Angriff bevorsteht. Ich..."
"Ich werde sie in die Hauptstadt führen", unterbrach Oronêl ihn. "Führe du deinen Auftrag weiter aus."
Anastorias wirkte erleichtert. "Was ist mit ihm?", fragte er, und nickte dabei diskret mit dem Kopf in Richtung Helluins, der bei Glorfindel und Celebithiel stand und sich leise mit den beiden Elben unterhielt. "Wäre es nicht besser, er käme nicht mit euch? Es scheinen doch heftige Spannungen zu bestehen..."
Oronêl zuckte mit den Schultern. "Es ist Helluins Entscheidung, ob er sich dem aussetzen möchte. Ich glaube nicht, dass er jemand ist, der einer solchen Lage aus dem Weg gehen würde...
Oronêl, Helluin, Celebithiel, Glorfindel, Rilmir, Súlien, Gelmir und die Zwerge nach Ost-in-Edhil...
Eandril:
Nicht lange, nachdem sie die Richtung verlassen hatten, begann es zu schneien. Helluin führte sie auf einem schmalen Pfad, dessen Eingang von der Lichtung aus selbst Oronêl nur mit Mühe gesehen hatte, durch den Wald nach Südwesten.
"Ich wähnte dich auf einem Schiff nach Westen. Oder zumindest in Dol Amroth, wartend." Celebithiel warf einen Blick in Helluins Richtung. "Und mir ist nicht entgangen, welche Klinge Helluin führt."
"Ein Schiff habe ich gefunden. Und nicht nur das..." Oronêl zog das Amulett mit der bernsteinfarbenen Gemme, das er neben Calenwens Andenken um den Hals trug, hervor. Bei seinem Anblick glitt ein goldener Schimmer über Celebithiels normalerweise tiefblaue Augen. "Aratinnuíre. Ihr bist du begegnet." Oronêl nickte stumm und Celebithiel seufzte. "Wie sehr wünschte ich mir, ich hätte sie sehen können. Doch alles hat seine Zeit, und vielleicht war es besser so. Mit ihr zu sprechen... vielleicht hätte es das Gegenteil deiner Entscheidung bei mir bewirkt."
Oronêl schob das Amulett zurück unter die Rüstung, und sofort schien sich der Wald ein wenig zu verdunkeln. "Sie hat mir geholfen zu begreifen, dass ich diese Entscheidung bereits ein Zeitalter zuvor getroffen habe. Zu verstehen, dass ein wenig Leid und Trauer ein kleiner Preis dafür sind, zu leben - und sei es nur für ein wenig länger. Dass es das höchste aller Ziele ist, Hoffnung in das Leben anderer zu tragen."
Er schwieg einen Augenblick, betrachtete die im Wind wirbelnden Schneeflocken. "Die Menschen, Celebithiel. Ich verstehe sie nun besser als zuvor. Sie mögen den Tod fürchten und ihm ausweichen, doch sie alle wissen tief in ihren Herzen, dass er eines Tages unvermeidlich sein wird. Und gerade dieses Gewissheit, glaube ich, ist es, die ihnen erlaubt zu leben. Ihre Spur auf der Welt zu hinterlassen. Diese Gewissheit... ich bin mir nun selbst gewiss, dass ein ähnlicher Tag auf mich wartet. Auf welche Weise sich mein Schicksal erfüllen wird... Wer kann schon mit Sicherheit sagen, welches Schicksal ihn erwartet?"
"Niemand", beantwortete Celebithiel die Frage, obwohl es nicht nötig war. "Ich verstehe, was du sagst. Das gleiche Schicksal erwartet alle Quendi, die noch in Mittelerde weilen, früher oder später."
Einen Augenblick folgten sie dem Pfad in einvernehmlichem Schweigen. Schließlich deutete Celebithiel auf das Schwert, das Helluin an der Seite trug.
"Eine Erinnerung", kam Oronêl ihrer Frage zuvor. "Nicht er mag Amrûn getötet haben, doch er trägt seinen Teil Verantwortung dafür. Wie für alles, was Lórien widerfahren ist." Er spürte, wie sich Celebithiels Hand kurz um seine schloss. Es war nicht notwendig, die Erinnerung bot kaum noch Schrecken für ihn, doch erfreute sich über die Geste. "Mag er es tragen, zur Mahnung, und als Leitstern auf seinem Weg."
Später trat Súlien neben ihn. Die Waldläuferin war noch immer blass, doch ihre Stimme war fest und zitterte nicht. "Erzähl mir, was geschehen ist", forderte sie Oronêl auf. Oronêl berichtete von seiner Gefangennahme, und wie er und Haleth sich im selben Kerker wie Valandur wiedergefunden hatten. Doch als er mit seiner Erzählung in die tiefste Halle gelangte, stockte er. "Ich will nichts genaueres sagen, während wir im Schatten der Berge sind. Der Schrecken, der dort geweckt wurde... Allein die Erinnerung scheint den Tag zu verdunkeln." Er sprach nicht weiter, doch er fürchtete um Eregion und die Manarîn. Ein Ring aus Dunkelheit schien sich um das Land gelegt zu haben, und wenn dieses Wesen aus Eis und Dunkelheit die Berge verließ - wer sollte sich ihm entgegen stellen? Und wahrscheinlich war dies nicht einmal die einzige oder größte Herausforderung, der Faelivrins Volk sich stellen musste. Ihr Königreich in Eregion war eine Provokation ungeahnten Ausmaßes an die Dunkelheit.
"Valandur... du weißt selbst, dass er ein äußerst mutiger Mann war. Und bereit, sich selbst in Gefahr zu stürzen, um andere zu schützen. Er wurde von Orks überwältigt, doch sein Tod gab Haleth und mir die Gelegenheit zu entkommen."
"Genau so hätte er es gewollt", sagte Súlien leise, und eine einzelne Träne zog eine helle Spur über ihre Wange. Keine Spur war im Augenblick von der selbstbewussten und zuversichtlichen Waldläuferin, die sie in Fornost und selbst im Eis des hohen Nordens gewesen war, zu entdecken.
"Er war... ein wirklich guter Freund. Und ich werde ihn sehr vermissen, doch..." Sie atmete tief durch. "Wenn es Zeit ist zu kämpfen, werde ich da sein. Und ich werde leben. Er braucht sich wirklich nicht einzubilden, dass ich mein Leben wegwerfe, nur weil er nicht mehr da ist..."
Oronêl sagte nichts. Es war nicht nötig zu sagen, dass Valandur es sicherlich ebenso gesehen hätte.
Súlien deutete nach vorne auf Helluin. "Nur sein Anblick erinnert mich immer an Valandur."
"Ich verstehe", erwiderte Oronêl langsam. "Dann nehme ich an, dass du Helluin ein wenig anders siehst als Rilmir es tut?" Súlien zuckte mit den Schultern. "Valandur hat uns ebenso verraten wie Helluin. Vielleicht hat er seinen Verrat früher bereut, hat früher Sarumans Täuschung durchschaut... doch wo sollen wir die Grenze ziehen? Wie entscheiden wir, wem wir Reue und Wiedergutmachung zugestehen, und wem nicht?"
"Ich konnte nicht umhin, eure Erzählung ein wenig zu belauschen." Einer der Zwerge hatte sich an Súliens Stelle an Oronêls Seite bewegt. "Ihr... habt nicht berichtet, was mit Baldin geschehen ist. Ich... wir fürchten das Schlimmste."
"Ihr fürchtet zu recht", erwiderte Oronêl schlicht, und der Zwerg strich sich mit einem tiefen Seufzer über den Bart.
"Unser Herr Bróin hat uns ausgesandt, seinen Sohn zu suchen. Fróin, zu euren Diensten", sagte der Zwerg traurig, und machte während des Laufens eine kleine höfliche Verbeugung. "Baldin und seine Gefährten waren ausgesandt worden, Meister Elronds Rat zu suchen."
"Es wird wenig Trost für euren Herrn bieten. Doch Baldin stellte sich tapfer einer vielfachen Übermacht an Orks entgegen, und... einem Wesen aus Dunkelheit, wie ich es noch nie gesehen hatte."
"Es gibt dunkle Gerüchte und Erzählungen über die Tiefen unter dem Nebelgebirge." Fróin runzelte beunruhigt die Stirn. "Ihr solltet mit uns in unsere Hallen zurückkehren. Es würde das Herz unseres Herrn erleichtern, die Erzählung über die Tapferkeit seines Sohnes aus erster Hand zu hören."
Oronêl zögerte einen Augenblick, bevor er den Kopf schüttelte. "Ich werde hier gebraucht, Meister Fróin. Doch ich war nicht allein, als Baldin fiel. Rilmirs Gefährtin, die Waldläuferin Haleth, war bei mir. Sie erholt sich im Augenblick in Ost-in-Edhil von ihren Wunden, doch vielleicht würden sie und Rilmir euch begleiten. Vielleicht ist es besser, wenn sie so viel Abstand wie möglich zwischen sich und Helluin bringen." Den letzten Satz hatte er mehr zu sich selbst gesagt, doch der Zwerg warf ihm einen durchdringenden Blick zu. "Ich weiß nicht viel über diese Angelegenheit", brummte Fróin. "Doch dieser Helluin scheint ein Verräter an seinem Volk und seinen Freunden zu sein. Ich frage mich, wieso er noch seinen Kopf auf den Schultern trägt. Wäre er einer meines Volkes, wäre ihm diese Gnade nicht zuteil geworden. Also wieso lebt er?"
Oronêl schwieg ein, zwei, drei Herzschläge lang, bevor er Antwort gab. "Vielleicht ist Leben eine kleinere Gnade als ein rascher Tod."
"Helluin." Der Dúnadan wandte sich überrascht zu Oronêl um.
"Oronêl. Ich hätte nicht gedacht, dass..." Helluin räusperte sich unbehaglich, und strich mit den Fingern der rechten Hand über den Griff seines - Amrûns - Schwertes. "Was wünschst du?"
"Du erinnerst dich an das, was ich vor unserem Aufbruch in Ost-in-Edhil zu dir gesagt habe. Als ich dir dieses Schwert übergeben habe." Es war keine wirkliche Frage, mehr eine Feststellung. Helluin nickte knapp. "An jedes Wort. Darum habe ich mich gewundert..." Er blickte Oronêl von der Seite an, fixierte ihn mit seinen eisblauen Augen. "Ich habe mich gewundert, dass du mich vor Rilmir so entschieden verteidigt hast."
"Wirklich?" Oronêl hob eine Augenbraue. "Nun ja, vielleicht nicht ohne Grund. Um die Wahrheit zu sagen... mich selbst hat es in jenem Moment auch ein wenig gewundert. Die Klarheit, mit der ich die Dinge gesehen habe."
"Und was hast du gesehen?"
"Dass die schlimmste Strafe für deine Taten dich bereits ereilt hat, Helluin. Du hast dich von der Dunkelheit verführen lassen, und du hast schrecklichen Schaden damit angerichtet. Doch dieser Einfluss auf dich ist gebrochen, und du bist in der Lage zu begreifen, was du getan hast. Und..."
Helluin biss die Zähne aufeinander. "Sehr treffend beobachtet, wie man es von einem Elben erwarten würde."
"Versuche nicht, dich hinter Zynismus zu verstecken", erwiderte Oronêl ernst. "Nichts wird dir helfen außer Ehrlichkeit dir selbst gegenüber. Ich meinte, was ich gesagt habe. Du hast die Gelegenheit zur Wiedergutmachung verdient, als du Sarumans Einfluss aus eigener Kraft abgeschüttelt hast. Schon damals, am Rand des Waldes, hast du gezeigt, dass deine Reue echt ist - warum hättest du sonst ausgerechnet mein Leben, das Leben eines der ärgsten Feinde, die du an diesem Ort hattest, schützen sollen?" Helluin blickte stumm auf den schneebedeckten Boden zu ihren Füßen. "Damals waren die Wunden, die dein Verrat geschlagen hatte, zu tief um die Wahrheit zu sehen", fuhr Oronêl fort. "Doch inzwischen ist die Lage eine andere. Inzwischen, Helluin, weiß ich, dass ich nicht dein Feind bin - trotz allem, was zwischen uns steht."
"Ich... du weißt, dass ich bereue, was ich getan habe", sagte Helluin langsam, und seine Stimme klang ein wenig heiser. "Und ich freue mich, dass nicht länger Feindschaft zwischen uns herrschen muss. Trotz allem."
In der Ferne schimmerten die Mauern von Ost-in-Edhil durch den nachlassenden Schneefall.
"Es gibt eine letzte Sache, die ich dir sagen möchte", begann Oronêl nach einem Moment der Stille. "Eine Warnung. Du hast gesagt, dass deine Gefühle für Kerry deine Angelegenheit sind - und das respektiere ich. Dennoch: Verknüpfe deine Reue, deinen Wunsch nach Wiedergutmachung, nicht zu sehr mit ihr. Was geschieht dann, wenn sie nicht so fühlt, wie du es dir wünscht? Wenn doch, was geschieht, wenn euer Band eines Tages zerreißt? Vertraue auf dich selbst, Helluin. Denn nur du selbst wirst dich am Ende retten können."
Navigation
[0] Themen-Index
[*] Vorherige Sete
Zur normalen Ansicht wechseln